Corona Geschichten - aus der Krise für die nächste Krise lernen - Paulina Tsvetanova - E-Book

Corona Geschichten - aus der Krise für die nächste Krise lernen E-Book

Paulina Tsvetanova

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Beschreibung

Wie gehst Du persönlich mit der Corona Krise um? Wie war Corona (bisher) für Dich? Was hat sich seitdem in Deinem Leben geändert, in Deiner Einstellung dem Leben gegenüber, in Deiner Arbeit? Was hast Du aus der Corona Krise fürs Leben gelernt? Dieses emotionale Buch vereint die höchstpersönlichen Corona Schicksale von 22 Autoren, die nicht unterschiedlicher sein könnten. Diese Geschichten sind das unverfälschte Ergebnis einer öffentlichen Ausschreibung. Sie könnten unendlich sein, denn jeder von uns hat eine Geschichte zu erzählen und sie bilden das ab, was wir nicht aus den Medien erfahren. An diese Geschichten werden wir uns mit Sicherheit auch in der Zeit nach Corona erinnern. 23 Geschichten von 22 Autoren: Paulina Tsvetanova, Hristo Dishev, Friederike Rohse, Peter Schlangenbader, Tania Becker & Christoph von Falckenstein, Daniel Kujawa, David Stechern, Johannes Rehmet, Hubertus A. Jonas, Paraskewa Nikoltschewa, Pola, Maria Veleva, xhristin, Falko Hennig, Rinetta Klinger, Sirie King, Uli Strobl, Petra Owen, Marcus Zisenis, Stefan Höppe, Sanja Zivo and einige mehr, die lieber anonym bleiben möchten...

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Inhalt

Corona-Flüchtling auf Teneriffa

Covid-Tote oder wie ich meine Oma verlor

Annie findet den Weg

Was übrig bleibt

Entschleunigung und eBay

Was sich geändert hat!

Querdenker? Quer denken…

Meine Corona Geschichte

Covid. Im Hasenberg. (Auszug aus Fade 8)

Menschen werden zu Hexen – Fröschen – Kröten. Und alles in der Welt

Die C-Wörter – Schimpfen in der Pandemie

Anonyme Corona-Geschichten

Was möchtest Du gerade?

Höhenluft

Corona – und die Welt wird (hoffentlich!) nie wieder so sein wie vorher

„Corinna“-Zeiten

Corona und die Suche nach Freiheit

Über das, was man nicht in Worte fassen kann…

LUXY FLUXI

ach gustav

Corona

Rezept

A French Sandwich

Mit beiden Beinen auf dem Boden bleiben - Coronatagebuch einer alleinerziehenden Mutter

Die Ständegesellschaft der Zukunft

Kunstprojekt_mensch ist mensch*

Corona-Flüchtling auf Teneriffa

Ich erzähle Euch, wie mein Leben aussieht, rückwirkend zurück bis zum Beginn der Corona-Krise. Seit Januar 2021 befinde ich mich auf der paradiesischen Insel Teneriffa. Wie lange ich hier bleibe, überlasse ich dem Schicksal und ein wenig auch der künftigen Corona-Politik. Anfangs war die Reise für vier Wochen geplant, mein längster Urlaub bisher. Ich brauchte dringend Urlaub von meinem vierten Laden (mit integriertem Schneideratelier), den ich pünktlich zum Beginn des „Lockdowns Light“ eröffnet habe. Er war erstaunlicherweise ein sensationeller Erfolg. Trotz oder vielleicht gerade wegen der Corona-Absurditäten: Ein Besucher auf zehn qm war erlaubt (meine Ladenfläche war nur zehn qm insgesamt groß, daher musste ich den Laden verlassen, sobald ein Kunde reinkam…)

Der Umsatz stimmte, da die meisten Kunden Einkaufen mit Seelsorge verwechselten. Ich habe die Seelsorge gratis zusätzlich zum Kauf angeboten. Mehrfach musste ich, aufgrund einer Messerstecherei vor meinen Augen, die Polizei holen, wegen des inadäquaten Verhaltens von psychisch und körperlich nicht ausgelasteten Jugendlichen, die mich mit Bier bespritzten, wegen Diebstahl und sexueller Belästigung vor den Augen meiner Kunden. Kurz: Die Menschen drehten wegen Corona komplett am Rad!

Zumindest war meine Miete sehr günstig, da ich den Laden von jemandem untergemietet hatte, der unbedingt raus wollte. Viele der Nachbarläden kämpften verzweifelt ums blanke Überleben und waren, gelinde gesagt, frustriert und wütend. Die Gastronomie war geschlossen, aber wie soll der Einzelhandel ohne Gastro bei Minustemperaturen laufen?

Nun ja, nach dem Beschluss des harten Lockdowns ab dem 16.12.2020 brach das Weihnachtsgeschäft zusammen, obwohl ich kurzzeitig glücklich war, dass man mir eine größere Ladenfläche zur Zwischen nutzung angeboten hatte. Dann zum Schluss zog man das Angebot zurück. Das Bikini-Haus stand plötzlich leer. Ich zog meinen kompletten Ladenauszug in drei Stunden durch. Im Nachhinein betrachtet war das eine der besten Entscheidungen, die ich je treffen konnte. Denn nun liege ich in der Sonne bei 25 Grad in einer Luxusanlage im marokkanischen Stil mit super Pool und Blick auf den Teide (allerdings ist das schon die vierte Wohnung auf Teneriffa, in der ich lebe, denn die davor waren im Vergleich zu dieser eine nackte Katastrophe). Ich habe mir eine Nähmaschine ausgeliehen: Die kanarischen Karnevalsstoffe sind so verführerisch, dass ich bald einen extra Koffer für sie brauche. Aktuell arbeite ich zusätzlich an meiner Doktorarbeit (Gott sei Dank muss ich keinen Präsenzunterricht geben). Glücklicherweise habe ich dafür ein Promotionsstipendium bekommen, das meine Existenz aktuell sichert. Hoffentlich schaffe ich diese Mammutaufgabe!

Warum entschied ich mich zu promovieren? Eigentlich wollte ich ja nur meine Mode machen. Zur Erklärung hole ich ein wenig aus. Ich musste jonglieren, schon wieder in der Not kreativ werden. Ein kurzer Überblick über alles, was letztes und dieses Jahr aufgrund der Corona-Pandemie abgesagt wurde: 90 % meiner Veranstaltungen (Kunstmessen, Modenschauen, Fotoshootings, Buchpräsentationen) finden offline statt. Mein Umsatz wird ausschließlich über „Live-Veranstaltungen” (https://paulinasfriends.com/veranstaltungen-und-verkaufsstellen/) generiert, da ich emotionale Produkte verkaufe (zum Beispiel Kunstmode & Bücher im Selbstverlag über www.paulinasfriends.com/buecher)und zwar ausschließlich an Stammkunden und Menschen, die ich persönlich davon überzeugen muss. Online-Verkauf ist im Falle meiner extravaganten Künstlermode (www.paulinasfriends.com/online-boutique/) kaum möglich. Auch musste ich wegen Corona meine sogenannten „Zufallssalone“ – Unternehmertreffs (www.paulinasfriends.com/zufallssalon) absagen: eine Jury-Teilnahme in Amsterdam, einen Kongress mit Modenschau in einem 5-Sterne-Hotel in Berlin. Sämtliche Nähkurse, bei denen ich meine Designerhandwerkskunst verbessern wollte, wurden ebenfalls gestrichen. Man schreibt monatelang Konzepte, kommuniziert, gewinnt Menschen, akquiriert Teilnehmer, Models, Stylisten, Fotografen, Presse, tätigt Investitionen etc. und steht zum Schluss allein im Homeoffice da.

Einerseits bin ich zutiefst dankbar für die großartigen Corona-Zuschusshilfen, anderseits verängstigt, ob ich sie irgendwann dann doch zurückzahlen muss. Bis vor einigen Monaten hatte ich unzählige Masken genäht und bin froh, dass ich irgendwann damit aufhörte und meine wertvollen Couture-Stoffe nicht dafür verbraucht habe. Sie hätten sowieso nicht mehr gegen Corona geschützt.

Ich hätte meine Ausbildung zur ehrenamtlichen Sterbebegleiterin nun beinahe nicht abschließen können, da ich es wagte, bei einem der letzten Ausbildungsseminare zu erzählen, dass ich gerade fünf Tage lang in meiner Heimat (zu dem Zeitpunkt war der Ort meines Aufenthaltes kein Risikogebiet) und extra wegen meiner Ausbildung zurückgekehrt war. Dass ich mich sicherheitshalber testen lassen wollte (was ich eigentlich gar nicht hätte machen müssen), aber die Teststelle am Flughafen trotz Vorschrift geschlossen war. Das Ergebnis war: Ich wurde von der Ausbildung ausgeschlossen, unfassbar, vor allem, wenn man die Tatsache bedenkt, dass ich die einzige Ausländerin in der Gruppe war. Ich habe überlegt, sie wegen Diskriminierung mit der Unterstützung der Antidiskriminierungsstelle des Bundes zu verklagen. Eigentlich ging es mir gar nicht um mein Zertifikat, sondern um das Schicksal derer, die gerade am Sterbebett liegen und allein, isoliert, vernachlässigt, ganz leise von der Welt verschwinden, wie meine geliebte Omi. Mir bricht das Herz in Gedanken daran (https:// www.paulinasfriends.com/covid-tote).

Meine anfängliche Begeisterung für den Corona-Pflichturlaub (erster Lockdown) schwand nach einigen Monaten. Doch muss ich fairerweise sagen, dass ich dank Corona schneidern gelernt habe. Ich kam genau vor einem Jahr Mitte März pünktlich zum ersten Lockdown zurück (wieder aus Teneriffa). Allerdings war ich davor vier Wochen lang in Milano, Kairo, Sharm El Sheikh, Rom und Madrid, quasi in allen Corona-Hotspots zu Beginn der Krise und hatte bereits alle Symptome und noch ein paar mehr.

Das Leben Mitte März 2020 wurde sukzessive runtergefahren, und es war höchste Zeit, dass ich meine Angst vor der Nähmaschine überwand. Letztendlich ging es um meine Lebensleidenschaft – die Mode. Die ersten ziemlich verrückten Stücke, die entstanden sind, bei denen ich nicht so recht wusste, was ich tue, sind übrigens inzwischen an eine wichtige Kunstinstitution und eine weltberühmte Automarke verkauft worden. Dann kam New York Fashion Week ins Spiel (ich wurde als nachhaltiges Modelabel eingeladen), mal sehen, ob es dieses Jahr überhaupt stattfinden wird… Auch hier handelt es sich um hohe Investitionen für die Teilnahme, die Flüge und die speziell für die Show entworfene Kollektion.

Also Ihr merkt schon, wie ambivalent ich aufgrund von Corona bin. Hier auf den Kanaren kann man es sich definitiv nicht leisten, im ewigen Lockdown zu verharren. Auf der Insel wird nicht diskutiert oder gegen die oft hirnrissigen Maßnahmen (aus meiner Sicht zurecht!) rebelliert. Die Wirtschaft ist am Boden, Geschäfte, Cafés, auch einige Hotels müssen offenbleiben. Es gilt Maskenpflicht überall, Sperrstunde und ein Negativtest für alle von auswärts Einreisenden. Ich wundere mich, dass Deutschland an den einfachsten Dingen scheitert, dass die öffentliche Diskussion die psychischemotionalen Aspekte der Krise komplett außer Acht lässt. Wegen der in meinen Augen übertriebenen Spaltung der Gesellschaft, der Stigmatisierung von Andersdenkenden, dem Neid vieler, warum man gewisse Dinge trotz Corona tut (wie Reisen), stelle ich mein Weiterleben in Deutschland auf lange Sicht in Frage und bleibe eben Corona-Flüchtling, der den ganzen Zirkus aus der paradiesischen Distanz betrachtet. Wenn ich Deutschland verlassen würde, wäre es der ca. fünfundzwanzigste Umzug nach Freiburg, München, Berlin, in ein drittes Land. Natürlich fühl ich mich irgendwo heimatlos, gescheitert und zwiegespalten, zumal man Berlin nicht so einfach aufgeben kann. Ich habe mich bewusst dagegen entschieden, mit Menschen, die man liebt, über Corona-Politik, Impfen etc. zu diskutieren, vor allem wenn man von vornherein weiß, dass man anderer Meinung ist. Und doch bin ich der Corona-Krise dafür dankbar, dass sie ordentlich in meinem Leben sortiert hat – Prioritäten, Menschen, Perspektiven, und dass sie viele Ängste ans Licht gebracht hat, die dringend angeschaut werden mussten. Wir brauchen Schlupflöcher, Rettungsanker für unsere Psyche, damit die Seele heil bleibt.

Paulina Tsvetanova

„Ich bin eine Patchwork-Persönlichkeit. Selfmade-Unternehmerin, Modedesignerin, Autorin, Mutmacherin, Zufallsexpertin. Dazu bin ich studierte Kunsthistorikerin, habe anfangs die vernünftige Karriere einer Kuratorin, Galeristin, Kulturmanagerin und Marketing-Leiterin gewählt. 2016 gründete ich meine Kreativagentur PAULINA’S FRIENDS – die Zufallswerkstatt. Später kam die eigene Couture-Linie tragbarer Unikate an der Schnittstelle von Mode und Kunst ins Leben. Zurzeit promoviere ich an der Hochschule Trier & Burg Giebichenstein im Bereich Gestaltung/ Designwissenschaften, gefördert mit einem Promotionsstipendium.“

www.paulinasfriends.com

Covid-Tote oder wie ich meine Oma verlor

„Lege mich wie ein Siegel auf Dein Herz. Denn, Liebe ist stark wie der Tod.“

Viktor Frankl, Der Mensch auf der Suche nach Sinn.

Meine geliebte Oma ist vor kurzem gegangen, leider ihrer sehr unwürdig: wie Tausende andere Menschen während der Covid-Pandemie. Eigentlich bin ich ausgebildete Sterbebegleiterin. Selten habe ich mich so ohnmächtig dem Tod gegenüber gefühlt – vielleicht auch weil es mich dieses Mal persönlich traf. Oma hat mich zutiefst geprägt. Ich trage den ersten Buchstaben ihres Namens („P“ – sie Panka, ich Paulina). Zeit ihres Lebens hat sie Patchwork und Upcycling gemacht. Sie hat aus alten Kleidern Stoffe zusammengeflickt (im Kommunismus hatten sie nicht viel), gehäkelt, Briefe und Notizen geschrieben, Ausstellungen initiiert, Menschen zusammengebracht. Oma war eine Geschichtenerzählerin – in Stoffen, Worten, Taten. In meiner Unikatmode (www.paulinasfriends.com) findet Ihr viele Spuren von ihr. Diese Welt braucht mehr Menschen wie sie.

Bei Oma wurde zwei Wochen zuvor, im Alter von achtundachtzig, Darmkrebs diagnostiziert, dann hat sie im Krankenhaus nach ihrer Bluttransfusion Covid bekommen. Sie hatte allerdings kein einziges Covid-Symptom. Danach wurde sie vergeblich operiert (ja, es war letztendlich ihr Wunsch, aber die Ärzte wussten, dass es sinnlos war, und haben sie trotzdem überredet), künstlich beatmet (sie hatte keinerlei Atemprobleme), ins Wachkoma versetzt (immerhin reagierte sie auf Berührungen), und zum Schluss hat das Herz im Schlaf aufgehört zu schlagen. So wollte sie gehen und hat keine Schmerzen gehabt. Ein kleiner Trost. Natürlich konnte man sich nicht von ihr verabschieden, sie wurde als Covid-Patientin statistisch geführt und isoliert, und letztendlich in einem verschlossenen, versiegelten Sarg im kleinsten Kreis verabschiedet.

Leider habe ich von ihrem Tod nur indirekt über Facebook erfahren. Grauenvoll. Meine Familie auf dem Balkan wollte uns angeblich verschonen. Obwohl ich die letzten zehn Tage nonstop jedes Detail mit denen besprochen, mitgefiebert und gebetet habe, Rituale machte (wie beispielsweise die Fahrt auf den Teide auf dreitausendachthundert Meter…). Krass war noch, dass meine Verwandten die Beerdigung innerhalb von eineinhalb Tagen (!) geplant und durchgezogen haben. Es musste schnell vom Tisch sein. Blinder Aktionismus in meinen Augen. Kein Raum für Trauern. Hauptsache, keine Emotionen an sich herankommen zu lassen, denn man kann jetzt eh nichts ändern, selbst wenn man da vor Ort erscheinen würde. Oder waren es die Covid-Restriktionen?

Darf man einem vorschreiben, so blitzschnell einen geliebten Menschen zu verabschieden? Kann ein Toter so gefährlich für die Lebenden sein? Keine Ahnung. Ach ja, meine Zwillingsschwester und ich (ich zurzeit auf Teneriffa, sie in Paris) hatten gar keine Möglichkeit, einen PCR-Test zu machen, um fliegen zu können. Allein der Flug von Teneriffa nach Sofia plus Fahrt bis zum Dorf meiner Oma hätte mindestens fünfundzwanzig Stunden gedauert plus vierundzwanzig Stunden warten auf den Negativtest.

Ich hätte auch zwei Tage im Flieger gesessen, auch Tausend Euro für einen Flug bezahlt, wenn ich genug Zeit gehabt hätte, rechtzeitig bei dir zu sein … Naja, immerhin fand die Beerdigung für uns beide virtuell über Facebook statt (juhuuu!). Ist das nicht absurd, menschenunwürdig, pietätlos? Wollte die Oma vielleicht so schnell und unbemerkt von der Bildfläche verschwinden? Sie wollte niemandem zur Last fallen, niemanden behelligen. Sie war so sanftmütig, bescheiden und keusch, sie hat uns vorgelebt, dass man danach streben sollte, stets ein besserer Mensch zu sein. Sie hat hundert Euro Rente gehabt und fragte mich neulich am Telefon, ob sie mir Geld schicken soll. Ich, die seit vier Monaten auf Teneriffa überwintert…

Sie hatte sich auf ihre große Reise vorbereitet und in einem Päckchen mehrere Sachen für ihre Aufbahrung und diese Zeilen hinterlassen:

„Irgendwann kommt auch dieser Moment (der Tod). Wenn ich Euch mit etwas verletzt habe, bitte ich um Verzeihung. Wenn Ihr Erinnerungen an mich habt, erwähnt mich. Ich habe Euch sehr geliebt, auch wenn ich es nicht immer zeigen konnte“.

Man hat im Krieg und später im Kommunismus nicht so viel über Emotionen gesprochen. Geistiges Erbe wurde großgeschrieben. Trotz alldem: Sie war eine, zwar auf lokaler Ebene, sehr wichtige Frau (ehemalige Bürgermeisterin). Sie wurde respektiert, geliebt, gebraucht. Sie hat so viele Menschenherzen berührt. Deshalb hat sie einen anderen Abschied verdient, und nicht so einen emotionslosen, unpersönlichen, unvollständigen. Mir blutet das Herz, wenn ich an die Würde dieses großen Menschen denke und all die Blumen, die sie in die Seelen ihrer Mitmenschen eingepflanzt hat. Ich bin maßlos wütend, zornig, ohnmächtig über all die unglücklichen Fügungen am Ende eines so würdevollen Lebens!

Immerhin durfte ich einen persönlichen Brief von mir ins Grab mitgeben (wohlgemerkt nicht in den verschlossenen, versiegelten Sarg, sondern in ihr Päckchen … am Ende nimmt man wohl nur ein Päckchen mit):

„Liebe Oma, ich weiß, dass Du uns nicht traurig sehen magst, aber dieses Mal geht es nicht anders. Du fehlst uns unheimlich! Und ja, ich weiß, dass Du uns noch mehr liebst, als wir Dich, und dass es Dir immer besser geht. Als ich erfahren habe, dass Dein Zustand sich während des Komas gebessert hätte, dachte ich mir: Sie will uns austricksen (und vertrösten), sie möchte eigentlich gehen und deswegen täuscht sie uns vor, dass es ihr besser geht, damit wir sie endlich loslassen. Ich wusste nicht, dass es so schwer ist, jemanden, den man liebt, gehen zu lassen. Ich hoffe inbrünstig, dass Deine Seele nun frei ist, so wie Dein Geist Zeit Deines Lebens war. Für mich warst Du immer eins meiner größten Vorbilder – für Bescheidenheit, Dankbarkeit, Güte, für Dein Streben, stets ein besserer Mensch zu sein. Du hattest immer genug, Du hast nie gejammert. Warum habe ich Dir nicht öfters handgeschriebene Briefe geschickt? Warum habe ich Dich nicht öfters mit Kamera angerufen (wie absurd, wir haben uns über den Account meiner Tante über Facetime gesehen und nun erfahre ich von Deinem Tod über Facebook und verabschiede Dich über „Facebook Live“)? Warum habe ich Dich nicht häufiger besucht? Wer wird nun meinen Kaffeesatz lesen? Wer wird mir Anekdoten aus der Kindheit erzählen? Wer wird mir von unbekannten Menschen berichten und mich mit denen vernetzen? Von Anfang an warst Du Teil meiner Modekollektion und das wird weiterhin so bleiben – Du wirst die Welt mit mir erobern! Ich freue mich, dass ich wegen Dir mein erstes Buch „Vom Glück des Zufalls. Das Nichtstun genießen oder warum wir das Leben dem Zufall überlassen sollten“ (www.paulinasfriends.com/buecher) ins Bulgarische übersetzen konnte, damit Du es lesen kannst (wie peinlich, dass ich nicht in meiner Muttersprache schreibe!) All das tröstet mich extrem. Ich werde nie Dein Motto vergessen: Im Leben zählt nur, wie viele Blumen Du in die Seelen Deiner Mitmenschen eingepflanzt hast. Das kann man nie oft genug wiederholen. In meiner Seele hast Du jedenfalls einen riesigen Paradiesgarten eingepflanzt. Ich hoffe, ich kann den hüten, beschützen und seine Samen weiter streuen. Ich schicke Dir tausende von zarten Umarmungen von Engelsflügeln – diese sehe ich permanent am Himmel hier auf Teneriffa, wenn ich an Dich denke ... wie auch ab und zu ein Regenbogenlicht, ohne zu wissen, wo es herkommt … Ach ja, und ich habe einen Tag nach Deiner Beerdigung von Dir geträumt, wie Du und ich auf einem fliegenden Teppich Popcorn essen und kichern. Dein Humor ist einmalig!“

Last but not least: Es tut mir im Herzen weh, dass geliebte Menschen dermaßen würdelos verabschiedet werden – aufgrund von hirnrissigen, politischen Corona-Restriktionen. Es ist ein Skandal, dass letztendlich die „Unschuldigen“, die Älteren/Sterbenden den Preis dafür bezahlen müssen. Gerade zu Corona-Zeiten brauchen diese Menschen dringend viel Nähe und Zuneigung. Ich hätte mich freiwillig mit Covid angesteckt, wenn ich nur gewusst hätte, dass ich die Hand meiner Oma ein letztes Mal halten könnte, dass ich sie umarmen, dass ich eine letzte Feier mit ihren Fans organisieren dürfte. Weil ich seit meinem siebzehnten Lebensjahr entwurzelt bin, seitdem ich nach Deutschland ohne Familie und Geld, als die Grenzen noch geschlossen waren, ausgewandert bin. Weil ich so sehr eine Familie an meiner Seite vermisse – nach über zwanzig Umzügen in drei Bundesländern, jetzt während der Pandemie seit Monaten als Corona-Flüchtling in Spanien, auf einer Insel mitten im Ozean, fernab von Familie und Verwandtschaft. Ein Luxusleben könnte man denken – ist es auch, aber auch eine Flucht von der Familie auf der verzweifelten Suche nach echter Liebe und Zuwendung. Diese hatte ich von meiner Oma bekommen.

Paulina Tsvetanova

Annie findet den Weg

Annie hat uns 15 Jahre lang begleitet und ist am Tag des Supermondes, am 8. April 2020, am Anfang der Corona-Krise von uns gegangen. Der Abschied war schmerzvoll und noch schmerzvoller war die Zeit danach ohne sie. An unsere gemeinsamen Jahre erinnert vieles: ihr Körbchen, Bälle, Kratzer an den Türen, Fettflecken an den Scheiben, Haare in den versteckten Ecken und viele Bilder, die gespeichert auf den Festplatten liegen und beim Öffnen scheinbar schon längst Vergessenes wach werden lassen.

Hier ist also eine Geschichte über Annie. Das ist in diesen Zeiten von Krankheit, Elend und Tod nur eine Erinnerung an einen alten Hund, aber die Wahrhaftigkeit der Zuneigung ereignet sich überall.

Es war an einem jener Septembernachmittage, die das Mittelmeer so magisch leuchten lassen. Wir hatten mit Annie, unserer kleinen Hündin, den Vormittag in einem duftenden, kleinen Kiefernwald in der südlichsten Ecke von Istrien verbracht, der die Fundamente einer römischen Villa aus augusteischer Zeit bedeckte. Annie liebte es zu schwimmen, und das Meer war in der angrenzenden Bucht niedrig und kristallklar. Wir nutzten die etwas kühleren Stunden gerne für kleine Wanderungen, so auch diesmal.

Vertieft in Gespräche und die Betrachtung der wunderschönen See liefen wir eine gute Weile am Strand entlang, Annie federte um uns herum. Eine Leine hatte sie nie gebraucht, so etwas wäre unserem Verhältnis nicht angemessen gewesen, allerhöchstens als Referenz an die amtlichen Erfordernisse.

Irgendwann bemerkten wir, dass wir die vertrauten Wege verlassen hatten und die Dämmerung hereinbrach. Im Vertrauen auf unsere allgemeine Orientierung jedoch traten wir nicht den Rückweg an, sondern versuchten, einen abkürzenden Bogen durch das Landesinnere zu schlagen. Wie töricht! Die Saison war beendet und die Straßen leer. Kein Café oder Restaurant waren für einen Hinweis auf den rechten Weg geöffnet. Und, heutzutage unvorstellbar, die Mobiltelefone waren noch nicht smart! Es wurde stockfinster, eine gewisse Unruhe schlich sich ein. Aber wir hatten doch unseren kleinen Erdgeist mit seinen unfehlbaren Instinkten. Annie spürte genau, was zu tun war. Wir folgten ihr durch die Finsternis, einem kleinen, hellen, wippenden Fünkchen vor uns in der Dunkelheit.

In diesem Moment vertrauten wir ihr völlig, so wie sie auch uns stets vertraut hat, von jenem Moment an, als wir sie zum ersten Male als Welpe in die Arme geschlossen hatten.