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Eigentlich heißt COUCH ja Matthias-Georg. Doch der 15-Jährige ist ein echter Couch-Potato. Der bekennende Faulpelz liebt sein Smartphone, arbeitet wenig für die Schule und scheut auch sonst jede Anstrengung – was man ihm ansieht. Ausgerechnet an dem Tag, an dem seine Mutter in den Streik tritt, weil sie keine Lust mehr hat, ihm hinterherzuräumen, reißt ihn noch ein Ereignis aus seiner geliebten Ruhe: Vor den Augen eines Mädchens schlägt er der Länge nach hin und bemerkt nicht, dass er dabei sein Smartphone verliert. Die Zeugin seiner peinlichen Bruchlandung heißt Yayo, ist Halbjapanerin und ehrliche Finderin. Zudem sieht sie aus wie COUCHs Lieblings-Anime-Charakter. Als er sie zur Telefonübergabe trifft, fängt er sofort Feuer – und dies bringt ihn an die Grenzen seiner phlegmatischen Lebensweise …
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Seitenzahl: 196
Heidemarie Brosche
1. KAPITEL
Ich ziehe die Wohnungstür hinter mir ins Schloss, steige aus meinen Sneakers und schleudere den Rucksack in die Ecke.
Im nächsten Moment weiß ich: Das war ein Fehler. Die blöde Glasflasche hat den Aufprall nicht überlebt.
Wieso steckt meine Mutter mir auch ständig dieses Glaszeug in den Rucksack?! Seit sie sich die Sendung über Plastikflaschen angesehen hat, ist sie total hysterisch drauf.
»Willst du noch schlechter in der Schule werden?«
»Kopfweh, Verdauungsstörungen, Hautausschläge – willst du das wirklich?«
Und wenn sie ganz übel drauf ist: »Du willst doch wohl nicht zeugungsunfähig werden. «
Ich weiß nicht, wofür ich mich entscheiden soll. Ich glaube, ich will am liebsten schlecht in der Schule sein.
Was ich aber ganz sicher weiß: Ich hasse Glasflaschen.
Wenn meine Mutter hier wäre, müsste ich jetzt die Scherben auf der Stelle aus dem Rucksack schaufeln. Mit Handschuhen! Damit ich mir auch ja kein Splitterchen in die Fingerspitzen ramme. Gott sei Dank ist sie noch mindestens eine Stunde in der Arbeit. Ich gönne dem gecrashten Glas also die Ruhe in den Tiefen meines Rucksacks und mache mich erst mal auf den Weg zu meiner Couch.
An einem Tag wie heute koste ich ihn ganz besonders aus, diesen wunderbaren Moment: Hintern auf die Sitzfläche sinken lassen, leichte Rechtsdrehung, Kopf auf die Erhöhung und gleichzeitig Beine hoch! Durch nichts auf der Welt ist dieses Gefühl zu toppen.
Erleichterung! Wohlbefinden! Entspannung!
Doch lange kann ich die grausamen Tatsachen nicht verdrängen: Der Glasflaschen-Crash ist bereits die vierte Katastrophe des heutigen Tages! Dabei haben wir gerade mal Nachmittag. Ehe ich mich mit Punkt 1 bis 4 meiner ganz persönlichen Verzweiflungsliste befasse, greife ich nach der Fernbedienung. Irgendetwas werden die doch wohl bringen, was mich nach einem langen und beknackten Schultag aufmuntern kann. Leider greife ich ins Leere. Jemand hat die Fernbedienung von ihrem Platz auf der Fensterbank entfernt. Das kann ja wohl nicht wahr sein! Ich muss meinen Oberkörper heben. Der Blick auf die Fensterbank hinter der Couchlehne ist ernüchternd: drei leer gelöffelte Puddingbecher, ein halb leer gelöffelter Joghurtbecher, ein voll geschneuztes Papiertaschentuch, eine Bananenschale in Tiefschwarz, keine Fernbedienung.
Was ist denn hier los? Am Nachmittag noch Müll auf der Fensterbank? Ist nicht mal mehr auf meine Mutter Verlass?
Dann kommt mir ein schrecklicher Gedanke: Ist ihr bei ihrer frühmorgendlichen Aufräumaktion eine nette kleine Verwechslung passiert?! Fernbedienung statt Müll entsorgt?
Ich werde panisch. Ohne Fernbedienung – das geht gar nicht. Aber wenn die wirklich im Abfalleimer liegt – igitt!
Ich beschließe, mich erst mal wieder hinzulegen, meiner Minusliste einen neuen Punkt hinzuzufügen und mich nun endgültig meinem Elend zu widmen.
ART DER KATASTROPHE/ ANZAHL DER MINUSPUNKTE
1)Ich bin mit einem Riesenpickel auf der Nase aufgewacht. /3
2)Ich musste in diesem Zustand vor die Klasse treten und sollte eine Matheaufgabe lösen, von der ich keinen Peil hatte. /4
3)Ich bin auf dem Nachhauseweg über eine Bordsteinkante von ca. 1 cm Höhe gestolpert, der Länge nach hingeschlagen und dabei von einem Mädchen beobachtet worden, das bestimmt jetzt noch lacht. /5
4)Ich habe einen Scherbenhaufen in meinem Schulrucksack. /3
5)Die Fernbedienung ist weg. /6
Na gut, dann hole ich eben mein Smartphone aus der Hosentasche und spiele ein bisschen. Ich hebe meinen Hintern an und greife zu. Doch es ist wie verhext: Schon wieder ein Griff ins Leere! Das gibt’s doch nicht! Mein Handy trage ich immer rechts. Dennoch klopfe ich alle anderen Hosentaschen ab. Aber das Teil glänzt durch Abwesenheit. Meine Panik steigert sich. Ist dies mein ganz persönlicher Tag X? Der Tag, an dem alles über mir zusammenbricht?
In diesem Moment läutet das Telefon. Natürlich hat meine Mutter das Ding heute Morgen in die Ladeschale gesteckt. Ich müsste aufstehen. Soll ich das wirklich tun? Oh nein, so wichtig kann kein Anruf sein!
Mitten ins Läuten meldet sich nun auch noch mein Magen. Alter, hab ich Hunger! Das Zeug auf der Fensterbank kann man vergessen. Es bleibt mir tatsächlich nichts anderes übrig, als doch noch aufzustehen. Während ich losschlurfe, kreisen in meinem Hirn drei Gedanken:
‣Wo ist die Fernbedienung?
‣Wo ist mein Smartphone?
‣Was gibt’s zu essen?
In der Küche will ich mich erst mal dem Kühlschrank widmen. Da fällt mein Blick auf einen Zettel, den meine Mutter auf der Arbeitsplatte deponiert hat.
Dein Essen steht im …
Für wie dumm hält meine Mutter mich eigentlich? Glaubt sie im Ernst, dass ich noch immer nicht weiß, wo man vorgekochtes Essen aufbewahrt? Empört reiße ich die Kühlschranktür auf und sehe – nichts. Na ja, nicht ganz nichts. Ein Stück Stinkekäse, vor dem mir graust. Ein halbes Stück von der Geburtstagstorte meiner Mutter, das eindeutig schon bessere Zeiten gesehen hat. Drei schrumpelige Radieschen, die ich auch nicht essen würde, wenn sie prall und frisch wären. Ansonsten: nichts!
Aber meine Mutter hat doch sogar diesen Zettel … Allmählich mache ich mir ernsthafte Sorgen um ihren Geisteszustand. Dann drehe ich den Fetzen um.
Kochbuch.
… Das ist der Moment, in dem es DOING! in mir macht. Ja, der heutige Tag ist etwas ganz Besonderes. Etwas ganz besonders Grausames! Man hat sich gegen mich verschworen.
Ratlos wanke ich zurück ins Wohnzimmer.
Kraftlos lasse ich mich wieder auf die Couch sinken.
Freudlos starre ich an die Decke.
Mein Magen knurrt jetzt erbärmlich. Und das Telefon läutet schon wieder. Ein nettes Konzert!
Da durchfährt es mich plötzlich: Das muss meine Mutter sein. Bestimmt will sie sich entschuldigen und mir das mit dem Essen erklären. Und ich kann sie nach der Fernbedienung fragen. Nur das mit dem Handy werde ich lieber für mich behalten. Auf Belehrungen hab ich jetzt echt null Bock!
So schnell ich kann, springe ich auf die Beine und sprinte in Richtung Telefon. Dann nehme ich ab und schnaufe ein gehetztes »Ja!« in den Hörer. Am anderen Ende höre ich es ebenfalls schnaufen.
»Jaja«, kommt es dann aus der Muschel. Mit einer Stimme, die nicht die meiner Mutter ist.
Was soll das denn? Hier will mich wohl jemand verscheißern.
»Selber jaja«, schnauze ich in den Hörer und will das Gerät in die Schale knallen. Da ertönt die Stimme noch einmal. Viel lauter. Kein bisschen veralbernd. Eher ein wenig panisch.
»Ich bin JaJO«, schreit mich ein Mädchen an und betont dabei das o am Ende. »Bist du Matthias-Georg?«
Verdammt, wo hat die denn meinen Namen her?!
»Ja«, stammle ich.
»Ich glaube, ich habe dein Smartphone gefunden. «
Der Schock sitzt. Ich versuche, meine Gedanken zu sortieren, und weiß gleichzeitig, dass ich etwas sagen muss.
»Ach so!«, ist alles, was mir auf die Schnelle einfällt.
Bestimmt denkt diese Jajo, sie hat einen Volltrottel an der Strippe. Ich reiße mich also zusammen und versuche es noch einmal.
»Wieso gefunden?«, stammle ich weiter und komme mir dabei auch nicht viel klüger vor.
»Du bist doch gestolpert«, sagt das Mädchen jetzt ganz ernst, »ich glaube, es ist dir aus der Tasche gefallen. «
Ach, du liebe Zeit! Die Zeugin meiner Bruchlandung!
»Auf jeden Fall lag es im Gras unter einem Busch«, erzählt das Mädchen und mir fällt auf, dass es manche Wörter merkwürdig betont. »Es hat so geglänzt, als die Sonne drauffiel. Deshalb hab ich’s gesehen. Aber da warst du schon weg. «
»Und wie …«, stottere ich hilflos und räuspere mich, »und wie bist du jetzt auf mich gekommen?«
»Entschuldigung«, flüstert das Mädchen fast, »ich hab deine Adressliste durchgesehen. Erst hab ich ›Home‹ angerufen. Aber es ging keiner ran. Dann hab ich deine Teddy-Oma gefunden. Die hat mir genau diese Nummer gegeben. Deshalb hab ich’s noch mal versucht. «
Oh nein – Teddy-Oma! Was die jetzt von mir denkt! Dass ich ein kleiner, kindischer Wicht bin, der noch mit Teddybären spielt und nicht geradeaus laufen kann. Ich schäme mich in Grund und Boden. Und schweige vor Scham.
»Hallo!«, kommt es erneut aus dem Hörer. »Bist du sauer, dass ich in deine Adressliste geschaut habe?«
Sag mal, tickt die noch richtig?
»Quatsch«, sage ich und dabei kippt zu allem Überfluss meine Stimme um. Es klingt wohl eher wie »Quietsch!«.
Gleich wird das Mädchen fragen, ob man mich ölen muss.
»Wollen wir uns treffen?«, schlägt sie stattdessen vor, so als habe sie mein lächerliches Kieksen nicht gehört. »Dann kann ich dir dein Smartphone geben. «
Wow, die ist ja mal anders als die Zicken, die mit mir zur Schule gehen!
Ich reiße mich zusammen.
»Jaja«, quetsche ich eilig hervor.
Jaja??? Hoffentlich fühlt sie sich jetzt nicht verarscht.
Tut sie nicht. Sie schlägt ganz lieb den Platz meiner Schmach als Übergabeort vor und nennt ihn »die Stelle, wo du gestolpert bist«. So als hätte es mich niemals auf die Schnauze gehauen.
In zehn Minuten will sie dort stehen.
Ich blicke in den Flurspiegel. Und sehe einen Jungen, dem ein wenig Wampe über die Hose quillt – und das, obwohl der Junge seit der großen Pause nichts gegessen hat. Was ich ebenfalls sehe, ist ein gelbes T-Shirt mit rotem Marmeladenfleck und eine schwarze Jeans mit grünem Knie. Na wunderbar, ein bunter Fettkloß!
So kann ich nicht zur Übergabe gehen!
Ich schnuppere an meiner Achsel und denke noch einmal: Nein!
Entschlossen reiße ich mir das bunte Zeug vom Leib und springe unter die Dusche. Ich bin so hektisch, dass mir die Flasche mit dem Duschgel durch die Finger flutscht. Beim Versuch, sie zu fangen, schlage ich mir den Ellenbogen an der Duschkabine blau. Na gut, mein Leben bleibt farbig! Was mir nicht bleibt, ist Zeit für ein Haarstyling. Meine Haare liegen nass und platt am Kopf. Ich sehe aus wie Omas Hund Taps, wenn er in der Wanne war.
Na ja, egal! Ich ziehe mir frische Sachen an. Und stürme los.
Schon von Weitem sehe ich das Mädchen. Es ist nicht sehr groß und hat dunkle Haare mit Pony.
Als ich näher komme, sehe ich noch etwas und die Erkenntnis durchfährt mich wie ein Stromstoß: Das Wesen, das da steht, sieht aus wie Hinata, meine Lieblings-Animefigur! Nie hätte ich gedacht, dass ich Hinata mal höchstpersönlich gegenübertreten würde.
Obwohl ich völlig durcheinander bin, konzentriere ich mich auf jeden meiner Schritte. Unter keinen Umständen darf ich vor den Augen dieses wunderbaren Wesens ein zweites Mal zu Boden gehen. Ich schalte eine Geschwindigkeitsstufe zurück und schlendere betont lässig auf das Mädchen zu. Meinen Bauch ziehe ich dabei ein.
Das Traumgeschöpf lächelt mich an und hält mir mein Smartphone entgegen. Ich nehme es, berühre dabei sogar ein wenig ihre Hand, sage »Danke!« und »Entschuldigung!« gleichzeitig, komme mir wie ein Idiot vor und starre das Mädchen an.
»Ich bin so froh, dass ich dich gefunden habe«, sagt sie, »das ist doch teuer, dieses Ding. «
»Und ich bin so froh, dass ich dich gefunden habe!«, möchte ich schreien, schweige stattdessen und glotze.
»Ich geh dann mal. «
Der Satz reißt mich aus meiner Starre.
»Nein!«, rufe ich erschrocken und erschrecke gleich ein zweites Mal, weil ich so laut bin.
Das Mädchen sieht mich verdattert an.
»Ich möchte …«
Verflixt, was möchte ich eigentlich? Ich kann doch nicht sagen: »Bleib stehen, ich möchte dich anschauen. «
»Ich möchte mich …«
Mir fällt nichts anderes ein als dieser altertümliche Ausdruck, den ich von meiner Mutter kenne.
»Ich möchte mich bei dir erkenntlich zeigen«, stammle ich endlich.
»Das brauchst du doch nicht«, sagt das Mädchen, »das hab ich gern getan. «
Wow, wie freundlich die redet!
»Ich möchte es aber wirklich«, sage ich eindringlich, weil ich spüre, dass dies meine letzte Chance ist. »Gibst du mir deine Handynummer?«
»Oh«, sagt das Mädchen, »die kann ich nicht auswendig. «
Hä? Die ist wohl von einem anderen Stern!
Offensichtlich schaue ich so blöde, dass das Mädchen Mitleid kriegt. Es holt einen Stift aus der Tasche und kritzelt mir etwas auf ein Fitzelchen Papier. Dann sagt sie lieb: »Hier hast du meine Adresse. Tschüss!«, und ist weg.
Ich starre ihr hinterher und dann auf den Zettel.
Yayo Wittmer, Waldweg 6
Mir schießen fünf Gedanken fast gleichzeitig durchs Hirn:
‣Man schreibt ihren Namen also »Yayo«.
‣Yayo klingt nicht deutsch.
‣Vermutlich stammt sie wirklich aus dem Land der Anime.
‣Sie hat mir ihre Adresse verraten, juhu!
‣Wenn ich sie wiedersehen will, muss ich mich vermutlich dorthin bewegen.
An dieser Stelle verbiete ich mir weitere Gedanken. Die Vorstellung, wie ich in eine fremde Straße wanke und an einer fremden Haustür klingle, gefällt mir nicht.
Na gut, als Erstes werde ich den Waldweg googeln. Aber nicht hier! Ich muss mich erst mal ausruhen. Ich sehne mich nach meiner Couch. Und Hunger habe ich auch!
Deshalb: Als Allererstes werde ich nach Hause gehen.
Als ich die Wohnung betrete, höre ich einen Höllenlärm aus der Küche. Daraus schließe ich zweierlei:
1. Meine Mutter hat sich in ihren täglichen Kampf gegen das Geschirr gestürzt.
2. Es gibt bald Abendessen.
Die Begegnung mit Yayo hat mir alles aus dem Gehirn gepustet, was vor Yayo war. Jetzt ist es wieder da: die fehlende Fernbedienung, die fehlende Ordnung, das fehlende Essen …
Auf der Stelle macht sich Erleichterung in mir breit. Alles wird gut. Alles klärt sich auf.
Ich will die Vorfreude genießen, rufe »Hallo!« und wende mich meiner Couch zu.
»Matthias-Georg!«
Das ist die Stimme meiner Mutter.
»Möchtest du etwas essen?«, fragt sie mich lächelnd.
»Ja klar«, sage ich hoffnungsvoll, drehe mich zu ihr um und nicke zur Bekräftigung mit dem Kopf.
»Ich auch!«
Es ist meine Mutter, die dies ausspricht. Anders als sonst. Irgendwie ohne Mutter-Wärme.
»Was ist denn eigentlich los?«, frage ich und versuche, empört zu klingen, obwohl mir ein wenig unheimlich zumute ist.
»Was los ist?«, sagt meine Mutter sehr ruhig. »Es reicht. Es reicht mir mit deiner Faulheit, Matthias-Georg!«
Und dabei überreicht sie mir ein Blatt Papier.
Im ersten Moment denke ich: »Zettelübergabe Nr. 2!«
Im zweiten erschrecke ich. Was ist denn nur in meine Mutter gefahren?
Dann blicke ich auf den Zettel.
Lieber Matthias-Georg!
Ich habe an deine Vernunft appelliert, ich habe dich angefleht, ich habe dir die Leviten gelesen. All dies hat null Komma nichts gebracht. Du bist faul und bequem. Du lässt dich bedienen. Dein Zimmer sieht aus wie Sau. Die Schule ist dir so was von egal.
Ich möchte dir nicht länger zusehen, wie du dich um NICHTS kümmerst – noch nicht mal um deinen Hamster. Deshalb ist mit MEINEM Kümmern jetzt erst mal SCHLUSS.
Mama
Ich lese den Brief. Mir ist nicht ganz klar, was meine Mutter mir damit sagen will. Ich lese ihn ein zweites Mal und sehe aus den Augenwinkeln, dass meine Mutter sich eine Stulle in den Mund schiebt.
In der nächsten Sekunde beginne ich zu ahnen, was auf mich zukommt.
Das ist zu viel! Ich werfe mich auf die Couch und starre auf den Fernseher.
»Wo ist eigentlich die Fernbedienung?«, krächze ich kraftlos.
»Weiß ich nicht«, sagt meine Mutter mit vollem Mund.
Mir schießen die Tränen in die Augen. Dieser verdammte Tag ist einfach zu viel für mich. Ich starre gegen die Zimmerdecke. Eine Spinne macht sich dort zu schaffen. Sie seilt sich ab und verbreitet sofort eine unglaubliche Hektik. Vermutlich hat meine Mutter sie engagiert, um mir vorzuführen, was es heißt zu arbeiten. Ich mag ihr nicht länger zusehen.
In meinem Zimmer ist alles still. Von Hams, dem Hamster, ist nichts zu sehen oder zu hören.
Ich setze mich vor den Käfig, weil ich mich nach seelischem Beistand sehne. Vielleicht erbarmt sich Hams und leistet mir Gesellschaft.
Ich sitze noch keine fünf Sekunden dort, da meldet meine Nase Alarm. Ich kann nicht anders, ich muss es zugeben: Aus Hams’ Käfig riecht es streng.
Wieso ist mir das bisher nicht aufgefallen? Wenn Hams nur ausgerechnet heute sein Deo vergessen hätte, würde es ganz bestimmt nicht so stinken! Hat meine Mutter am Ende wirklich recht? Bin ich drauf und dran, Hams zu vernachlässigen? Muss mein Hamster wegen mir leiden?
Wann habe ich Hams eigentlich das letzte Mal gefüttert? Und wann seinen Käfig ausgemistet?
Mein Herzschlag beschleunigt sich. Bin ich ein Hamsterquäler?
Mit hektischen Handbewegungen werfe ich meinen PC an. Dann google ich: Wie oft muss ich meinen Hamster misten?
Über acht Millionen Treffer! Verdammt, was denken die sich eigentlich? Ich kann doch nicht mein restliches Leben lang nur noch Hamster-Webseiten lesen! Erschöpft scrolle ich mich durch die ersten Seiten. Endlich lese ich etwas, was mich freut.
Ha! Triumph!!! Ich springe auf und lasse mich im nächsten Moment wieder auf meinen Hintern plumpsen. Quatsch! Mit meiner Mutter werde ich heute nicht mehr reden! Ich werde sie mit ihren eigenen Waffen schlagen. Auge um Auge, Brief um Brief!
Ich drucke das Zeug also aus und garniere es noch ein wenig mit gestelzten Worten.
Für einen Goldhamster ist es extrem stressig, wenn man sein Zuhause komplett sauber macht, denn durch das Reinigen sind plötzlich alle seine Duftspuren weg. Der Hamster fühlt sich fremd in seiner Umgebung und kann sich nur schwer orientieren. Untersuchungen haben ergeben, dass Hamster nach der Komplettreinigung ihres Geheges eine stark erhöhte Herzfrequenz hatten, die Tiere bekamen teilweise sogar Fieber.
Dies wird meine Mutter morgen früh zu lesen bekommen. Morgen! Heute werde ich hart und konsequent bleiben. Kein Kontakt mehr. Die kann ihren Abend alleine verbringen!
Obwohl in meinem Magen inzwischen eine grausam gähnende Leere herrscht, muss ich auch plötzlich gähnen. Ja, das ist es! Ich werde ins Bett gehen. Ohne Essen.
Das hat meine Mutter jetzt davon. Ich wünsche ihr, dass mein Magen heute Nacht so laut knurrt, dass sie wach wird.
Sofort reiße ich mir die Klamotten vom Leib und haue mich aufs Bett. Ich versuche, im Kopf eine aktualisierte und erweiterte Katastrophenliste des Tages anzufertigen. Doch weiter als zur Sache mit dem Handy schaffe ich es nicht.
Ich dämmere weg. Weg zu Yayo. Ich habe heute tatsächlich ein Wunderwesen kennengelernt. Auch wenn es ein bisschen seltsam ist, ein bisschen seltsam heißt und ein bisschen seltsam redet. Ein Mädchen, das mir seine Adresse gegeben hat!
Plötzlich bin ich wieder hellwach. Leide ich etwa unter Gehirnschrumpfung? Ich wollte doch den Waldweg suchen.
Ich greife nach dem Handy und google, dass der Waldweg nur ein paar Straßen weiter ist. Mein Herz klopft. Ich will das Klopfen in Ruhe genießen. Da fällt mir wieder etwas ein. Wieso habe ich nicht an Facebook gedacht? Wieso habe ich überhaupt meine abendliche Facebook-Sitzung vergessen? Dieser Tag hat einfach alles durcheinandergebracht!
Auf den ersten Blick sehe ich, dass kein Hahn nach mir gekräht hat. Kein einziges rotes Kästchen! Offensichtlich bin ich heute ein soziales Nichts. Kein Mensch auf dieser großen weiten Welt hat mir etwas zu sagen. Noch nicht mal ein einziges neues »Gefällt mir« gab es auf meinen letzten Post.
Na ja, vielleicht wird jetzt alles anders. Ich gebe Yayos Namen ein und spüre noch im Tippen, wie mein Herz beschleunigt. Doch es gibt keine Yayo Wittmer auf Facebook.
Am liebsten würde ich posten:
Loser Couch grüßt den Rest der Welt.
Na ja, ich lasse es lieber bleiben. Womöglich würde ich auf Anhieb 132 »Likes« bekommen.
Frustriert lausche ich dem Knurren meines Magens. Mit einer Hand greife ich matt unter das Bett und fingere nach Essbarem. Plötzlich raschelt es. Hoffnung! Gierig schnappe ich mir die alte Chipstüte und kippe mir den gesamten Inhalt auf einmal in den Mund.
Eine Überforderung ist das nicht: Die dreieinhalb Krümel, die in meiner Mundhöhle landen, werden sich dort sehr einsam fühlen. Die restlichen Bruchstücke landen in meinem Bett. Na prima, wenigstens bin ich jetzt nicht mehr allein!
2. KAPITEL
Als ich wieder zu mir komme, ist es 6:03 Uhr. Bin ich krank? Um diese Zeit ist doch kein gesunder Mensch wach!
Dann fällt mir ein, wie früh ich ins Bett gegangen bin. Vermutlich fühlt es sich so an, wenn man am Morgen ausgeschlafen ist.
Ich überlege, ob ich duschen soll, und verwerfe die Idee. Nicht schon wieder! Ich schmeiße mich in meine Klamotten und schlurfe in die Küche. Sofort sehe ich, dass meine Mutter den Tisch nicht gedeckt hat.
Pah! Ich schnappe mir eine Müslischüssel und greife in den Schrank mit den Kellogg’s-Packungen. Leider wieder ein Griff ins Leere. Außer Vollkornhaferflocken steht da nichts. Meine Mutter weiß genau, dass ich die nicht ausstehen kann.
Unter keinen Umständen kann ich noch einmal aufs Essen verzichten. Ich öffne die Klappe der Brotbox und entdecke einen halben Laib Brot. Vollkornbrot!
Ich reiße die Kühlschranktür auf und rechne mit dem Schlimmsten: Womöglich hat meine Mutter für mich Vollkornmilch eingekauft! Doch das Schicksal ist mir gnädig. Eine fast volle Packung Tütenmilch lehnt sich an die Kühlschranktür und wartet auf mich. Ich schnappe sie mir und trinke direkt aus dem Tetra Pak. Herrliche kalte Milch! Besser als nichts! Und besser als Vollkorn!
Nach einem kräftigen Rülpser gehe ich zurück in mein Zimmer, um meinen Rucksack zu holen. So bald wie möglich will ich aus der Wohnung verschwunden sein. Vielleicht macht meine Mutter sich wenigstens Sorgen.
Doch der Rucksack versteckt sich. Ich kann ihn nirgendwo finden. Angestrengt denke ich nach: Wann hatte ich das letzte Mal mit ihm zu tun? Wann waren wir beide zuletzt gemeinsam unterwegs?
Die Erinnerung durchfährt mich wie der Vollkornschock: Ich habe das Ding gestern Nachmittag zum Scherbenheim gemacht.
Mit einem Funken Hoffnung in der Seele schleiche ich in den Flur. Vielleicht hat meine Mutter gestern Abend noch einen ihrer Kontrollblicke in den Rucksack geworfen. Vielleicht hat sie aus Sorge um meine körperliche Unversehrtheit die Scherben ausgeräumt. Vielleicht tut ihr der Brief schon leid.
Doch die Hoffnung ist trügerisch. Der Rucksack sitzt am Boden wie ein fetter Buddha, ein Buddha mit einem Scherbensalat im Magen.
Ich stöhne. Ich jammere. Aber es hilft mir nichts. Die Schlafzimmertür meiner Mutter bleibt verschlossen. Kein Laut dringt nach draußen zu mir. Die kann doch nicht allen Ernstes schlafen, wenn ihr Kind leidet!
Mir bleibt nichts anderes übrig, als mich selbst an die Arbeit zu machen.
Am Ende liegt der Scherbenhaufen auf den Fliesen und ich erspähe noch jede Menge Splitter am Rucksackboden. Hmph! Ich trage die Scherben zum Abfalleimer. Ich räume die Schulsachen aus dem Rucksack. Ich nehme den Rucksack und kippe die Splitter in den Abfalleimer. Mindestens fünf Splitter fallen daneben. Ich hole Kehrschaufel und Besen und fege die Splitter in die Schaufel. Ich leere die Schaufel in den Abfalleimer. Ich bin – puh! – fertig.
Fertig mit der Welt!
Und das schon am Morgen!
So kann man doch keinen Tag beginnen. So kann ein Schüler doch keinen Tag beginnen!
Meine Mutter ist selbst schuld, wenn ich in der Schule nichts leiste. Bei diesem Gedanken fällt mir der Brief meiner Mutter wieder ein. Und meiner. Ja, meiner! Den werde ich ihr noch so richtig schön servieren.
Auf dem Weg zur Schule fällt mir ein, dass ich Vokabeln hätte lernen sollen. Na ja, ich bin so früh dran, dass ich mir das Zeug im Klassenzimmer noch mal anschauen kann.
Als ich vor dem Tor ankomme, öffnet der Hausmeister gerade die Eingangstür. Bei meinem Anblick fällt er fast in Ohnmacht.
»Haben sie dich zu Hause vor die Tür gesetzt?«, fragt er und grinst gehässig.
Ich grunze ihm etwas entgegen. Nur weil ich sonst immer spät komme, braucht der noch lange nicht so blöd daherzureden.
Ich trample hoch zum Klassenzimmer. Schon von Weitem sehe ich, dass die Tür offen steht.