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Gideon und Eva sind zurück
Gideon und Eva - der reiche attraktive Geschäftsmann und seine junge Ehefrau sind verbunden durch ein verzweifeltes Verlangen, eine grenzenlose Liebe und das Versprechen für die Unendlichkeit. Mittlerweile hat Gideon sich ganz auf Eva eingelassen, und es scheint, als könnte sie nichts mehr trennen. Doch ihre Entscheidung für die Liebe war nur der Anfang. Für diese Liebe zu kämpfen wird sie entweder befreien … oder zerstören.
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Seitenzahl: 654
DAS BUCH
Eva und Gideon haben sich das Ja-Wort gegeben. Sie waren überzeugt, dass nichts sie mehr trennen kann. Doch seit der Hochzeit sind ihre Unsicherheiten und Ängste größer denn je. Eva spürt, dass Gideon ihr entgleitet und dass ihre Liebe in einer Weise auf die Probe gestellt wird, wie sie es niemals für möglich gehalten hätte. Plötzlich stehen die Liebenden vor ihrer schwersten Entscheidung: Wollen sie die Sicherheit ihres früheren Lebens wirklich gegen eine Zukunft eintauschen, die ihnen immer mehr wie ein ferner Traum erscheint?
DIE AUTORIN
Die Nummer-1-Bestsellerautorin Sylvia Day stand mit ihrem Werk an der Spitze der New York Times-Bestsellerliste sowie 23 internationaler Listen. Sie hat über 20 preisgekrönte Romane geschrieben, die in mehr als 40 Sprachen übersetzt wurden. Weltweit werden ihre Romane millionenfach verkauft, die Serie Crossfire ist derzeit als TV-Verfilmung in Planung. Sylvia Day wurde nominiert für den Goodreads Choice Award in der Kategorie bester Autor.
LIEFERBARE TITEL
Crossfire. Versuchung
Crossfire. Offenbarung
Crossfire. Erfüllung
Geliebter Fremder
Sieben Jahre Sehnsucht
Dream Guardians – Verlangen
Stolz und Verlangen
Dream Guardians – Begehren
Eine Frage des Verlangens
Spiel der Leidenschaft
SYLVIA DAY
Crossfire
Vollendung
Band 5
Roman
Aus dem Amerikanischen
von Nicole Hölsken
WILHELM HEYNE VERLAG
MÜNCHEN
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Die Originalausgabe erschien unter dem Titel ONE WITH YOU
bei St. Martin’s Griffin, New York
Copyright © 2016 by Sylvia Day
Copyright © 2016 der deutschen Ausgabe
by Wilhelm Heyne Verlag, München,
in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,
Neumarkter Straße 28, 81673 München
Redaktion: Anita Hirtreiter
Covergestaltung: Nele Schütz Design
Covermotiv: Gettyimages/James Guilliam, shutterstock/Fotovika
Satz: KompetenzCenter, Mönchengladbach
ISBN: 978-3-641-16549-9V007
www.heyne.de
Dieses Buch ist Hilary Sares gewidmet,
die von Crossfire gebannt war –
vom ersten bis zum letzten Wort.
New York – die Stadt, die niemals schlief,wurde noch nicht mal müde. Meine Wohnung auf der Upper West Side war schallisoliert, wie es sich für eine Immobilie gehörte, die mehrere Millionen Dollar wert war, aber die Geräusche von draußen drangen dennoch hinein – das rhythmische Pochen der Reifen über die ausgefahrenen Straßen, das Protestieren überlasteter Bremsen und das unaufhörliche Hupen der Taxis.
Als ich aus dem Café an der Ecke auf den stets belebten Broadway trat, wurde ich vom Lärm der Stadt förmlich überspült. Wie hatte ich je ohne die Kakofonie Manhattans leben können?
Wie hatte ich jemals ohne ihn leben können?
Gideon Cross.
Ich legte die Hände um sein Kinn, spürte, wie er sich in meine Berührung ergab. Die Verletzlichkeit und Zuneigung dieser Geste ging mir durch und durch. Vor wenigen Stunden noch hatte ich geglaubt, dass er sich niemals ändern würde, dass ich mich zu sehr würde verbiegen müssen, wenn ich mein Leben mit ihm teilte. Doch als ich ihm jetzt in die Augen sah, entdeckte ich seinen Mut darin und zweifelte an meinem eigenen.
Hatte ich mehr von ihm verlangt, als ich selbst zu geben in der Lage war? Ich schämte mich, weil ich ihn unter Druck gesetzt hatte. Ich hatte ihn gezwungen, sich weiterzuentwickeln, ich selbst hingegen war weitgehend die alte geblieben.
Da stand er nun vor mir, so groß und so stark. In Jeans und T-Shirt, die Baseballmütze tief in die Stirn gezogen. Niemand hätte in diesem Moment den berühmten Multimillionär in ihm erkannt, aber dennoch war seine Erscheinung so faszinierend, dass sich jedermann nach ihm umdrehte. Aus den Augenwinkeln bemerkte ich, wie die Menschen in unserer Umgebung nach dem ersten Blick gern noch einen zweiten riskierten.
Ob lässig gekleidet oder im maßgeschneiderten dreiteiligen Anzug, seine Ausstrahlung war schon aufgrund seiner Größe unglaublich. Seine Körperhaltung, die Autorität, seine nie nachlassende Selbstkontrolle – das alles verhinderte, dass er unauffällig mit seiner Umgebung verschmolz.
New York verleibte sich einfach jeden ein, doch bei Gideon war es umgekehrt: Er hatte die Stadt im Griff.
Und er gehörte mir. Obwohl ich seinen Ring am Finger trug, konnte ich es manchmal kaum glauben.
Er war nicht einfach nur ein Mann. Nach außen hin wirkte er elegant und glatt, einfach perfekt, aber er hatte auch eine animalische Seite und seine Ecken und Kanten. Er war der Nabel meiner Welt, der Nabel der Welt.
Doch er hatte gerade bewiesen, dass er sich bis an die Grenze der Belastbarkeit beugen und nachgeben konnte, nur um mit mir zusammen zu sein. Deshalb war ich wild entschlossen, ihm zu beweisen, dass ich den Schmerz wert war, den ich ihm bereitet hatte.
Nach und nach öffneten die Geschäfte am Broadway ihre Pforten. Der Verkehr wurde wieder dichter, schwarze Autos und gelbe Taxis holperten ungestüm über die unebene Straße. Anwohner begannen die Gehsteige zu bevölkern, um ihre Hunde auszuführen, oder strebten in Richtung Central Park, um eine Runde zu joggen und sich noch ein wenig Zeit für sich zu nehmen, bevor der harte Arbeitsalltag ihnen keine Gelegenheit mehr dazu ließ.
Der Benz fuhr genau in dem Augenblick vor, als wir am Bordstein anlangten. Ich konnte Raúls großen Schatten erkennen, der am Lenkrad saß. Dahinter steuerte Angus den Bentley. Gideon und ich fuhren nach Hause, in getrennte Wohnungen. Was für eine Ehe war das?
Aber es war unsere Ehe, auch wenn keiner von uns es so wollte. Ich hatte Abstand von Gideon gewinnen müssen, als er meinen Boss von der Werbeagentur, für die ich arbeitete, abgeworben hatte.
Gideon wünschte sich, dass ich in seine Firma einstieg, und das verstand ich. Dass er mich allerdings zu dieser Entscheidung zwingen wollte, indem er hinter meinem Rücken Maßnahmen ergriff? … Das konnte ich nicht zulassen, nicht bei einem Mann wie Gideon. Entweder waren wir zusammen – trafen gemeinsam die Entscheidungen – oder wir waren zu weit voneinander entfernt, um eine funktionierende Beziehung führen zu können.
Ich legte den Kopf in den Nacken und sah in sein faszinierendes Gesicht. Dort las ich sowohl Reue als auch Erleichterung. Und Liebe. So viel Liebe.
Er war atemberaubend gut aussehend. Seine dichte und glänzende schwarze Mähne hatte eine sexy Länge, die ihm bis auf den Kragen herabfiel, und seine Augen waren tiefblau. Seine Gesichtszüge waren fein geschnitten, er hatte eine gerade Nase und wohlgeformte Lippen. Er sah so makellos aus, dass sein Anblick hypnotisch wirkte und jeden vernünftigen Gedanken so gut wie unmöglich machte. Ich war vom ersten Moment an von seinem Aussehen fasziniert gewesen, und auch heute noch stockte mir jedes Mal der Atem, wenn ich in seiner Nähe war. Gideon blendete mich einfach.
Ich liebte den Mann, der sich hinter diesem Äußeren verbarg, seine unermüdliche Energie und Kraft, seinen scharfen Verstand und seine Unbarmherzigkeit, gepaart mit einem Herzen, das so weich sein konnte …
»Danke.« Mit den Fingerspitzen strich ich über seine dunkle Augenbraue. Meine Haut prickelte, wie immer, wenn ich die seine berührte. »Dass du mich angerufen hast. Dass du mir von deinem Traum erzählt hast. Dass du dich hier mit mir getroffen hast.«
»Ich würde mich überall mit dir treffen.« Die Worte waren wie ein Schwur – voller Leidenschaft und Feuer.
Jeder hat seine Dämonen. Solange er wach war, hatte Gideon die seinen eisern im Griff. Wenn er schlief, quälten sie ihn in heftigen, furchtbaren Albträumen, von denen er mir partout nicht hatte erzählen wollen. Wir hatten so viel gemeinsam, nicht nur den Missbrauch in unserer Kindheit. Doch Letzteres war ein Trauma, das uns gleichzeitig aneinanderkettete und auseinanderbrachte. Deshalb wollte ich härter um Gideon kämpfen, um das, was uns miteinander verband. Unsere Peiniger hatten uns schon zu viel genommen.
»Eva … Du bist die einzige Macht der Welt, die mich von dir fernhalten kann.«
»Auch dafür danke«, raunte ich. Mir wurde die Brust eng. Unsere Trennung auf Zeit war für uns beide eine Tortur gewesen. »Ich weiß, es war nicht leicht für dich, mir meinen Freiraum zu lassen, aber den brauchten wir. Und ich weiß, ich habe dich sehr bedrängt …«
»Zu sehr.«
Über diese kleine Spitze musste ich lächeln. Gideon war es nicht gewohnt, dass man ihm seine Wünsche abschlug. Aber sosehr es ihm verhasst war, keinen Kontakt zu mir haben zu dürfen, jetzt waren wir zusammen, denn gerade dieser Entzug hatte ihn weitergebracht. »Ich weiß. Und du hast mich gewähren lassen, weil du mich liebst.«
»Es ist mehr als Liebe.« Seine Hände umfingen meine Handgelenke, umspannten sie auf jene gebieterische Weise, die mich dahinschmelzen ließ.
Ich nickte, hatte nicht länger Angst zuzugeben, dass wir einander brauchten, in einem Maße, das manche Menschen für ungesund halten würden. Das machte uns aus, das war es, was uns aneinanderband. Und es war kostbar.
»Wir fahren zusammen zu Dr. Petersen.« Diese Worte waren ein unmissverständlicher Befehl, aber seine Augen suchten die meinen, als ob er mir eine Frage gestellt hätte.
»Du hast das Sagen«, neckte ich ihn, denn ich wollte eine entspannte Atmosphäre schaffen, bevor wir jetzt auseinandergingen. Voller Hoffnung. Unser allwöchentlicher Termin mit Dr. Lyle Petersen stand in wenigen Stunden an und hätte nicht passender sein können. Wir sind einen wichtigen Schritt weitergekommen. Nun konnten wir ein wenig Hilfe brauchen, um herauszufinden, welche Richtung wir als Nächstes einschlagen sollten.
Seine Hände umfassten meine Taille. »Das liebst du doch an mir.«
Ich griff nach dem Saum seines Shirts, umklammerte das weiche Material. »Ich liebe dich.«
»Eva.« Ich spürte seinen schaudernden Atem an meinem Hals. Manhattan umgab uns, konnte jedoch nicht eindringen. Wenn wir zusammen waren, gab es nichts anderes.
Ein leiser, hungriger Laut entfuhr mir. Ich sehnte mich nach ihm, verlangte nach ihm, erschauerte vor Wonne, weil er sich endlich wieder an mich presste. Ich atmete ihn in tiefen Zügen ein, meine Finger bearbeiteten die harten Muskeln an seinem Rücken. Es war wie ein schwindelerregender Rausch. Ich war süchtig nach ihm – nach seinem Herzen, seinem Körper, seiner Seele –, und ich war jetzt tagelang ohne meine Dröhnung ausgekommen, sodass ich zittrig und unausgeglichen, nicht mehr ganz ich selbst war.
Er hüllte mich ein, sein Körper so viel größer und härter als meiner. Ich fühlte mich sicher in seinen Armen, geliebt und beschützt. Nichts konnte mich berühren oder verletzen, wenn er mich festhielt. Ich wollte, dass er sich bei mir genauso sicher fühlte. Ich wollte ihm klarmachen, dass er sich bei mir fallen lassen konnte, dass er durchatmen konnte, dass ich uns beide beschützen konnte.
Ich musste stärker sein. Klüger. Furchterregender. Wir hatten Feinde, denen sich Gideon bisher allein in den Weg gestellt hatte. Es lag in seiner Natur, andere zu beschützen. Es war sein Wesen, das ich bewunderte. Aber ich musste den Menschen langsam zeigen, dass ich ein ebenso Respekt einflößender Gegner sein konnte wie mein Mann.
Und was noch wichtiger war: Ich musste es Gideon beweisen.
Ich schmiegte mich an ihn, nahm seine Wärme in mich auf. Seine Liebe. »Wir sehen uns um fünf, Ace.«
»Keine Minute später. Sonst passiert was«, befahl er barsch.
Ich musste unwillkürlich lachen, betört von seiner Grobheit. »Was denn?«
Er zog sich zurück und warf mir einen Blick zu, bei dem sich mir die Nackenhaare aufstellten.
»Dann komme ich und hole dich.«
❊ ❊ ❊
Um nicht bemerkt zu werden, hätte ich mit angehaltenem Atem auf Zehenspitzen ins Penthouse meines Stiefvaters schleichen müssen, denn um diese Uhrzeit – es war sechs Uhr morgens – war es wahrscheinlich, dass man erwischt wurde. Aber ich nahm mich bewusst nicht in Acht. Meine Gedanken kreisten um die Veränderungen, die ich jetzt vornehmen musste.
Ich hatte noch ein wenig Zeit für eine Dusche, beschloss allerdings, darauf zu verzichten. Es war so lange her, dass Gideon mich berührt hatte. Zu lange, seit seine Hände auf mir lagen, er in mir war. Ich wollte die Erinnerung an seine Berührung einfach nicht abwaschen. Allein das würde mir die Kraft geben, das zu tun, was getan werden musste.
Eine Tischlampe wurde eingeschaltet. »Eva.«
Ich fuhr zusammen. »Mein Gott.«
Ich wirbelte herum und sah meine Mutter auf einem der Sofas im Wohnzimmer sitzen.
»Du hast mich zu Tode erschreckt!«, rief ich anklagend und rieb mir mit der Hand über das rasende Herz in meiner Brust.
Sie erhob sich. Ihr bodenlanger elfenbeinfarbener Satinmorgenmantel umfloss schimmernd ihre straffen, leicht gebräunten Beine. Ich war ihr einziges Kind, doch wir wirkten wie Schwestern. Monica Tramell Barker Mitchell Stanton war zwanghaft mit ihrem Äußeren beschäftigt. Sie war eine Vorzeigefrau; ihre jugendliche Schönheit war ihr Kapital, mit dem sie ihren Lebensunterhalt sicherte.
»Bevor du was sagst«, fing ich an, »ja, wir müssen über die Hochzeit sprechen. Aber ich muss gleich zur Arbeit, muss mich anziehen und meine Sachen packen, damit ich heute Abend nach Hause zurück kann.«
»Hast du etwa eine Affäre?«
Ihre barsche Frage verletzte mich mehr als die Tatsache, dass sie mir aufgelauert hatte. »Was? Nein!«
Sie stieß den Atem aus. Ihre Schultern entspannten sich sichtlich. »Gott sei Dank. Sagst du mir, was zum Teufel hier läuft? Wie schlimm war dieser Streit, den du mit Gideon hattest?«
Schlimm. Eine Zeit lang hatte ich das Gefühl, dass er unserer Beziehung durch seine Entscheidungen den Garaus gemacht hatte. »Wir kriegen das wieder hin, Mom. Alles halb so wild.«
»Ach ja? Und trotzdem hast du dich tagelang von ihm ferngehalten? Das ist nicht der richtige Weg, um mit Problemen umzugehen, Eva.«
»Das ist eine lange Geschichte –«
Sie verschränkte die Arme vor der Brust. »Ich habe es nicht eilig.«
»Na ja, ich schon. Ich muss ins Büro.«
Sie wirkte verletzt. Und ich bereute meine Worte auf der Stelle.
Früher wollte ich unbedingt erwachsen werden, um so zu sein wie meine Mutter. Ich verbrachte Stunden damit, ihre Kleider anzuprobieren, in ihren Pumps herumzustöckeln, mein Gesicht mit ihren teuren Cremes und Kosmetika einzuschmieren. Ich versuchte, ihre belegte Stimme zu imitieren, ebenso wie ihre sinnlichen Eigenarten, weil ich davon überzeugt war, dass meine Mutter die fantastischste und vollkommenste Frau der Welt war. Mir imponierte, wie die Männer ihrem Zauber erlagen, wie diese sie ansahen und für sie sorgten … nun ja, ich wollte dieselbe Anziehungskraft auf das andere Geschlecht ausüben.
Schließlich war ich abgesehen von ihrer Frisur und meiner Augenfarbe zu ihrem Ebenbild geworden. Aber das war rein äußerlich. Als Menschen hätten wir unterschiedlicher nicht sein können, und bedauerlicherweise war ich sogar stolz darauf. Ich wandte mich nicht länger ratsuchend an sie, außer wenn es um Kleidung und Inneneinrichtung ging.
Das sollte sich ändern. Jetzt.
Ich hatte in meiner Beziehung zu Gideon viele verschiedene Strategien ausprobiert, aber nie hatte ich die eine mir nahestehende Person um Rat gefragt, die sich damit auskannte, wie es war, mit prominenten und mächtigen Männern verheiratet zu sein.
»Ich brauche deinen Rat, Mom.«
Meine Worte schwebten in der Luft, und dann sah ich, wie sich die Pupillen meiner Mutter weiteten. Sie hatte verstanden. Einen Augenblick später ließ sie sich aufs Sofa zurücksinken, als ob die Knie ihr den Dienst versagten. Ihr Schreck traf mich zutiefst, denn er zeigte mir, wie sehr ich sie aus meinem Leben ausgeschlossen hatte.
Es tat mir innerlich weh, das zu sehen. Ich setzte mich ihr gegenüber auf die Couch. Ich hatte gelernt, bei dem, was ich meiner Mutter erzählte, vorsichtig zu sein, hatte mich stets bemüht, ihr nichts zu sagen, wodurch endlose Debatten ausgelöst werden konnten, die mich in den Wahnsinn trieben.
So war es keineswegs immer gewesen. Mein Stiefbruder Nathan hatte mir die innige, unbeschwerte Beziehung zu meiner Mutter genommen, genau wie er mir meine Unschuld geraubt hatte. Nachdem meine Mutter von dem Missbrauch erfahren hatte, hatte sie sich verändert, hatte mich so sehr behütet, dass sie auch nicht davor zurückschreckte, mir auf Schritt und Tritt zu folgen, mich überwachen zu lassen und mich mit ihrer Überfürsorglichkeit zu ersticken. Sie war in Bezug auf sämtliche Bereiche ihres Lebens absolut souverän, nur nicht bei mir. Bei mir war sie voller Angst, mischte sich überall ein. Es grenzte teilweise fast schon an Hysterie. Mit den Jahren war ich dazu übergegangen, die Wahrheit viel zu oft zu umgehen, hatte vor jedem, den ich liebte, Geheimnisse gehabt, nur um keine Auseinandersetzungen zu riskieren.
»Ich habe keine Ahnung, wie ich die Art von Ehefrau sein soll, die Gideon braucht«, bekannte ich.
Ihre Schultern strafften sich, ihre ganze Haltung war plötzlich voller zorniger Entrüstung. »Hat er etwa eine Affäre?«
»Nein!« Ich musste gegen meinen Willen lachen. »Niemand hat eine Affäre. Das könnten wir einander nicht antun. Nie im Leben. Hör auf, dir deshalb Sorgen zu machen.«
Ich fragte mich unwillkürlich, ob der Seitensprung meiner Mutter mit meinem Vater vor einiger Zeit der Grund für ihre Besorgnis war. Hatte sie ein schlechtes Gewissen? Stellte sie ihre Beziehung zu Stanton infrage? Ich wusste nicht, wie ich dazu stand. Ich liebte meinen Dad abgöttisch, aber ich glaubte auch, dass mein Stiefvater ihr guttat und genau der Richtige für sie war.
»Eva –«
»Gideon und ich haben vor ein paar Wochen heimlich geheiratet.« Mein Gott, es war so gut, es endlich auszusprechen.
Sie blinzelte. Einmal, zweimal. »Wie bitte?«
»Ich habe es Dad noch nicht erzählt«, fuhr ich fort. »Aber ich werde ihn heute anrufen.«
In ihren Augen schimmerten Tränen. »Warum? Mein Gott, Eva … wie konnten wir uns nur so weit voneinander entfernen?«
»Nicht weinen.« Ich stand auf und setzte mich neben sie. Ich griff nach ihren Händen, aber sie zog mich in eine heftige Umarmung.
Ich atmete ihren vertrauten Duft ein und spürte jene Art von Frieden, die man nur in den Armen einer Mutter hat. Zumindest für ein paar Minuten. »Es war nicht geplant, Mom. Wir sind übers Wochenende weggefahren, und Gideon hat mich gefragt, ob ich ihn heiraten will. Er hat alles arrangiert … es war ganz spontan. Hals über Kopf.«
Sie zog sich zurück, und ich sah ein tränenverschmiertes Gesicht und ein wütendes Funkeln in ihren Augen. »Er hat dich ohne Ehevertrag geheiratet?«
Ich lachte. Ich konnte nicht anders. Wie nicht anders zu erwarten schoss sich meine Mutter auf die finanziellen Details ein. Geld war immer schon die Triebfeder ihres Lebens gewesen. »Nein, es gibt einen Ehevertrag.«
»Eva Lauren! Hast du den mal überprüfen lassen? Oder hast du ihn einfach unterzeichnet, ohne dir groß Gedanken darüber zu machen?«
»Ich habe jedes Wort gelesen.«
»Aber du bist kein Anwalt! Mein Gott, Eva … ich habe dich dazu erzogen, klüger zu sein!«
»Selbst eine Sechsjährige hätte den Vertrag verstanden«, gab ich zurück. Ich war wütend, denn das wahre Problem in meiner Ehe bestand darin, dass Gideon und ich zu viele Menschen kannten, die sich in unsere Beziehung einmischten, die uns ablenkten, sodass wir nicht die Zeit hatten, uns mit den Dingen auseinanderzusetzen, an denen wir wirklich arbeiten mussten. »Mach dir keine Sorgen wegen des Ehevertrages.«
»Du hättest Richard bitten können, ihn zu lesen. Ich verstehe nicht, warum du das nicht gemacht hast. Das ist wirklich verantwortungslos. Ich weiß einfach nicht –«
»Sie hat ihn mir gezeigt, Monica.«
Beim Klang der Stimme meines Stiefvaters wandten wir uns um. Stanton betrat das Zimmer, fertig angekleidet für den Tag. In seinem marineblauen Anzug und der gelben Krawatte sah er sehr elegant aus. Ich dachte, dass Gideon meinem Stiefvater später sehr ähneln würde: körperlich fit, distinguiert und durch und durch Alphamann.
»Tatsächlich?«, fragte ich überrascht.
»Cross hat ihn mir vor ein paar Wochen zukommen lassen.« Stanton ging zu meiner Mutter hinüber und ergriff ihre Hand. »Ich hätte keine besseren Konditionen für sie aushandeln können.«
»Es gibt immer bessere Konditionen, Richard!«, erwiderte meine Mutter scharf.
»Es sind finanzielle Gegenleistungen für zusammen verbrachte Jahre oder die Geburt von Kindern vorgesehen, und für Eva knüpfen sich keine Bedingungen an die Ehe – nur die Eheberatung. Eine Scheidung hätte eine mehr als gerechte Aufteilung der Besitztümer zur Folge. Ich war versucht, Cross zu fragen, ob er seinen hauseigenen Anwalt wirklich zurate gezogen hat. Ich nehme an, in diesem Fall hat man ihm stark von diesem Vertrag abgeraten.«
Sie blieb einen Augenblick ganz still sitzen, versuchte, diese Information zu verarbeiten. Dann jedoch erhob sie sich, ging förmlich an die Decke. »Du wusstest also, dass sie miteinander durchbrennen wollten? Du wusstest es, hast aber nichts gesagt?«
»Natürlich wusste ich nichts davon.« Er zog sie in seine Arme und gurrte sanft, wie man es mit einem Kind tut. »Ich habe angenommen, dass er nur vorausschauend handelte. Du weißt, dass derlei Dinge meist mehrmonatige Verhandlungen erfordern. Doch in diesem Fall war das nicht erforderlich.«
Ich erhob mich. Ich musste mich beeilen, wenn ich rechtzeitig im Büro sein wollte. Ausgerechnet heute wollte ich auf gar keinen Fall zu spät kommen.
»Wo gehst du hin?« Meine Mutter löste sich von Stanton und richtete sich auf. »Wir sind noch nicht fertig. Du kannst nicht einfach eine Bombe wie diese platzen lassen und dann gehen!«
Ich drehte mich zu ihr um und machte ein paar Schritte auf sie zu. »Ich muss mich jetzt wirklich beeilen. Warum treffen wir uns nicht zum Lunch und reden dann weiter?«
»Das kann nicht dein Ernst sein!«
Ich schnitt ihr das Wort ab. »Corinne Giroux.«
Die Pupillen meiner Mutter weiteten sich erst, dann verengten sie sich wieder. Ein Name. Ich musste nicht mehr sagen.
Gideons Ex war ein Problem, das keinerlei weiterer Erklärungen bedurfte.
❊ ❊ ❊
Nur wenige Menschen, die nach Manhattan ziehen, fühlen sich dort nicht sofort heimisch. Die Skyline der City wurde in unzähligen Filmen verewigt, sodass nicht nur die New Yorker selbst, sondern die ganze Welt diese Stadt liebt.
Ich war da keine Ausnahme.
Mir gefiel die Art-déco-Eleganz des Chrysler Building. Zielgenau konnte ich meinen Standort auf der Insel in Relation zum Empire State Building festmachen. Ehrfürchtig betrachtete ich die atemberaubende Höhe des Freedom Tower oder des One World Trade Center, das die City überragte. Aber das Crossfire Building war eine Klasse für sich. Das fand ich auch schon, bevor ich mich in den Mann verliebte, auf dessen Visionen es basierte.
Als Raúl den Benz am Straßenrand parkte, bestaunte ich das charakteristische saphirblaue Glas, das die Obelisken-Form des Crossfire Building umspannte. Wie von selbst legte sich mein Kopf in den Nacken, mein Blick glitt den schimmernden Bau hinauf, bis hin zu jenem Punkt an der Spitze, jenem lichtdurchfluteten Ort, der Cross Industries beherbergte. Fußgänger umwogten mich, auf dem Gehsteig wimmelte es vor Geschäftsmännern und -frauen, die mit Aktenkoffern oder Umhängetaschen in der einen Hand und dampfenden Kaffeebechern in der anderen zur Arbeit eilten.
Ich spürte Gideon, noch bevor ich ihn sah. Mein ganzer Körper vibrierte, so sehr war ich mir seiner Anwesenheit bewusst, als er aus dem Bentley stieg, der hinter dem Benz gehalten hatte. Die Luft um mich herum war elektrisch aufgeladen, voll mit jener knisternden Energie, die einem Unwetter vorausgeht.
Ich war eine der wenigen, die wussten, dass dieser Sturm Gideons ruheloser und gequälter Seele entsprang.
Ich wandte mich ihm zu und lächelte. Es war kein Zufall, dass wir gleichzeitig ankamen. Das wusste ich, noch bevor ich die Bestätigung in seinen Augen las.
Er trug einen kohlrabenschwarzen Anzug, ein weißes Hemd und eine silberfarbene Krawatte aus Köper. Sein dunkles Haar fiel ihm sinnlich und verwegen auf die Schultern. Er betrachtete mich mit dem für ihn typischen heißen Ingrimm, der mich früher immer fast versengt hatte, aber heute lagen in jenem leuchtenden Blau so viel Zärtlichkeit und Offenheit, was mir mehr bedeutete als alles andere.
Ich ging ihm entgegen. »Guten Morgen, Mr. Dunkel und Gefährlich.«
Seine Lippen verzogen sich zu einem schiefen Lächeln. Seine belustigten Augen ruhten voller Wärme auf mir. »Guten Morgen, Ehefrau.«
Ich ergriff seine Hand, spürte mich geerdet, als er mir halb entgegenkam und die meine fest umfasste. »Ich habe es meiner Mutter heute Morgen erzählt … dass wir verheiratet sind.«
Erstaunt zog er seine dunklen Augenbrauen in die Höhe, dann lächelte er triumphierend. Er war sichtlich erfreut. »Gut.«
Ich lachte über seine unverfrorene Art, mich zu vereinnahmen, und stieß ihn sanft gegen die Schulter. Er reagierte blitzschnell, zog mich dicht zu sich heran und küsste mich auf meinen lächelnden Mund.
Seine Freude war ansteckend. Sie schien in meinem Inneren zu explodieren, erhellte meine Seele, in der es in den vergangenen paar Tagen so dunkel gewesen war. »Ich werde meinen Dad in meiner ersten Pause anrufen. Und es ihm ebenfalls sagen.«
Er wurde wieder nüchtern. »Warum erst jetzt? Warum nicht schon früher?«
Er sprach leise, damit niemand uns hörte. Die Menge, die in ihre Büros strömte, rauschte weiterhin an uns vorbei, achtete kaum auf uns. Doch ich zögerte mit meiner Antwort, fühlte mich trotzdem zu sehr den Blicken ausgesetzt.
Aber dann … war es plötzlich ganz leicht, die Wahrheit zu sagen. Ich hatte einfach so viele Dinge vor den Menschen verheimlicht, die ich liebte. Kleinigkeiten, große Dinge. Ich hatte immer versucht, den Status quo aufrechtzuerhalten, obwohl ich auf Veränderung hoffte und sie brauchte.
»Ich hatte Angst«, antwortete ich.
Er kam noch näher, fixierte mich mit seinem intensiven Blick. »Und die hast du jetzt nicht mehr?«
»Nein.«
»Du musst mir heute Abend erzählen, wieso nicht.«
Ich nickte. »Das werde ich.«
Seine Hand umfing meinen Nacken, gleichzeitig besitzergreifend und zärtlich. Seine Miene war ausdruckslos, ließ keine Regung erkennen, aber seine Augen … diese blauen, blauen Augen … sie loderten vor Gefühl. »Wir werden es schaffen, mein Engel.«
Die Liebe durchströmte mich warm und wohlig wie ein guter Wein. »Ganz bestimmt.«
❊ ❊ ❊
Es war seltsam, durch die Türen von Waters Field & Leaman zu treten und zu wissen, dass meine Tage bei dieser renommierten Werbeagentur gezählt waren. Megumi Kaba winkte mir von ihrem Platz hinter der Rezeption aus zu, klopfte auf ihr Headset, um mir zu zeigen, dass sie jemanden am Apparat hatte und nicht reden konnte. Ich erwiderte das Winken und schritt energisch zu meinem eigenen Schreibtisch hinüber. Ich hatte jede Menge zu erledigen, musste meinen Neubeginn ins Rollen bringen.
Aber erst einmal eins nach dem anderen. Ich verstaute meine Tasche und meine Aktenmappe in der unteren Schublade, dann machte ich es mir auf meinem Stuhl bequem und rief die Website meines Stammfloristen auf. Ich wusste, was ich wollte. Zwei Dutzend weiße Rosen in einer tiefroten Kristallvase.
Weiß für Reinheit. Für Freundschaft. Für ewige Liebe. Und weiß war die Flagge der Kapitulation. Ich hatte Gideon den Kampf angesagt, indem ich uns beiden eine Trennung aufgezwungen hatte, und schließlich hatte ich gewonnen. Aber ich wollte mit meinem Mann nicht kämpfen.
Ich wollte den Blumen diesmal auch keine Karte mit einem schlagfertigen Spruch beilegen, wie ich es in der Vergangenheit oft getan hatte. Ich schrieb einfach von Herzen.
Du bist wunderbar, Mr. Cross.
Ich schätze und liebe Dich so sehr.
Mrs. Cross
Die Website forderte mich auf, die Bestellung abzuschließen. Ich klickte auf den Button und stellte mir einen Augenblick lang vor, was Gideon von meinem Geschenk halten würde. Eines Tages hoffte ich, ihn sehen zu können, wenn er Blumen von mir bekam. Lächelte er, wenn Scott, sein Assistent, sie hereinbrachte? Hielt er mitten im Meeting inne, um meine Nachricht zu lesen? Oder wartete er auf eine der wenigen Atempausen in seinem Terminplan, um dies in aller Stille zu tun?
Ich lächelte, als ich über die Möglichkeiten nachdachte. Wie gern machte ich Gideon Geschenke.
Und bald würde ich mehr Zeit haben, um ihm welche auszusuchen.
❊ ❊ ❊
»Du kündigst?«
Mark Garrity sah ungläubig von meinem Kündigungsschreiben auf und mich an.
Auf einmal hatte ich einen Kloß im Hals. »Tut mir leid, dass ich es dir nicht früher sagen konnte.«
»Morgen ist dein letzter Tag?« Er lehnte sich auf seinem Stuhl zurück. Seine Augen hatten ein warmes Schokoladenbraun und waren heller als seine Haut. In ihnen las ich Überraschung und Betroffenheit. »Warum, Eva?«
Ich seufzte, beugte mich vor und stützte die Ellbogen auf den Knien ab. Doch auch diesmal hielt ich mich an die Wahrheit. »Ich weiß, es ist unprofessionell, mich auf diese Weise zurückzuziehen, aber … ich muss meine Prioritäten jetzt neu ordnen, und im Moment … kann ich meinem Job nicht die volle Aufmerksamkeit widmen, Mark. Es tut mir leid.«
»Ich …« Er stieß den Atem aus und fuhr sich mit der Hand über die festen dunklen Locken. »Zum Teufel … was soll ich darauf sagen?«
»Dass du mich verstehst und nicht nachtragend sein wirst?« Ich stieß ein bedrücktes Lachen aus. »Das ist viel verlangt, ich weiß.«
Er brachte ein schiefes Lächeln zustande. »Ich finde es furchtbar, dich zu verlieren, Eva, das weißt du. Ich bin nicht sicher, ob ich dir je gesagt habe, wie wertvoll du für mich warst. Du hast hier viel bewirkt.«
»Danke, Mark. Das weiß ich zu schätzen.« Mein Gott, das hier war schwerer, als ich gedacht hatte, obwohl ich wusste, dass es die beste und einzige Entscheidung war, die ich treffen konnte.
Mein Blick wanderte an meinem gut aussehenden Boss vorbei. Als Junior Account Manager hatte er ein eigenes kleines Büro. Aus dem Fenster blickte man nur auf das gegenüberliegende Gebäude, aber dennoch sah man hier das gleiche New York wie aus der riesigen Fensterfront auf der obersten Etage, in der Gideon Cross residierte.
Auf vielerlei Weise spiegelte die Aufteilung der Stockwerke meine Beziehung zu Gideon wider. Ich wusste, wer er war. Wusste, was er war: eine Klasse für sich. Das liebte ich an ihm, und er sollte sich keinesfalls verändern; aber ich wollte aus eigener Kraft in seine luftigen Höhen emporsteigen. Nur eines hatte ich dabei nicht bedacht: Indem ich mich beharrlich weigerte zu akzeptieren, dass sich durch unsere Heirat zwangsläufig meine Pläne geändert hatten, zog ich ihn zu mir hinab.
Man würde später nicht von mir sagen, dass ich mir den Weg an die Spitze meiner Branche selbst erkämpft hatte. In der Öffentlichkeit würde es immer heißen, ich wäre nur wegen meiner Ehe erfolgreich. Damit musste ich ab sofort leben.
»Und was wirst du jetzt tun?«, fragte Mark.
»Ehrlich gesagt, … das frage ich mich selbst. Ich weiß nur, dass ich nicht bleiben kann.«
Meine Ehe konnte nur ein gewisses Maß an Druck ertragen, ohne zu zerbrechen, und ich hatte fast zugelassen, dass sie scheiterte, indem ich versucht hatte, Abstand von meinem Mann zu gewinnen. Indem ich mich an die erste Stelle gesetzt hatte.
Gideon Cross war tiefgründig und weit wie das Meer, und ich hatte vom ersten Augenblick an, da ich ihn sah, befürchtet, in ihm zu ertrinken. Aber davor hatte ich nun keine Angst mehr. Denn mir war klar geworden, dass ich mich noch viel mehr davor fürchtete, ihn zu verlieren.
Ich hatte versucht, neutral zu bleiben, und geriet prompt zwischen die Fronten. Und ich war so sauer darüber gewesen, dass ich nicht erkannt hatte, selbst über mein Schicksal entscheiden zu müssen, wenn ich die Kontrolle darüber behalten wollte.
»Ist es wegen des LanCorp-Kunden?«, fragte Mark.
»Teilweise.« Ich strich meinen Nadelstreifen-Bleistiftrock glatt, eine Geste, mit der ich im Geiste das andauernde Ressentiment darüber wegwischte, dass Gideon Mark engagiert hatte. Der Auslöser war LanCorp gewesen. Die Firma hatte sich mit einem spezifischen Auftrag für Mark – und damit für mich – an Waters Field & Leaman gewandt, eine Aktion, die Gideon mit Misstrauen beäugte. Das von Geoffrey Cross angewandte Ponzi-Schema hatte das Familienvermögen der Landons beträchtlich dezimiert, und obwohl sowohl Ryan Landon als auch Gideon das wiederaufgebaut hatten, was ihre Väter verloren hatten, wollte Landon sich immer noch rächen. »Allerdings vornehmlich aus persönlichen Motiven.«
Er richtete sich auf, stützte die Ellbogen auf den Schreibtisch und beugte sich zu mir vor. »Es geht mich ja nichts an, und ich will auch nicht neugierig sein, aber du weißt, dass Steven, Shawna und ich alle für dich da sind, wenn du uns brauchst. Wir mögen dich.«
Seine ernsten Worte trieben mir die Tränen in die Augen. Sein Verlobter, Steven Ellison, und Stevens Schwester, Shawna, waren mir in den Monaten, seit ich in New York lebte, sehr ans Herz gewachsen. Sie waren Teil des neuen Freundeskreises, den ich mir in meinem neuen Leben aufgebaut hatte. Was auch geschah, ich wollte sie nicht verlieren.
»Ich weiß.« Ich lächelte ihn traurig an. »Wenn ich euch brauche, rufe ich euch an. Das verspreche ich. Aber es wird sich schon alles regeln. Wir finden bestimmt eine Lösung, mit der alle zufrieden sind.«
Mark entspannte sich und erwiderte mein Lächeln. »Steven wird ausflippen. Vielleicht sollte ich darauf bestehen, dass du es ihm selbst sagst.«
Der Gedanke an den stämmigen geselligen Bauunternehmer vertrieb meine Traurigkeit. Steven würde mir hart zusetzen, weil ich seinen Mann im Stich ließ, aber er würde Milde walten lassen. »Ach, komm schon«, erwiderte ich leichthin. »Das würdest du mir nicht antun, nicht wahr? Die ganze Geschichte fällt mir so schon schwer genug.«
»Ich hätte nichts dagegen, es dir noch schwerer zu machen.«
Ich lachte. Ja. Ich würde Mark und meinen Job vermissen. Sehr.
❊ ❊ ❊
Als meine erste Pause begann, war es in Oceanside, Kalifornien, immer noch früh am Morgen, also schrieb ich meinem Vater eine Nachricht, statt ihn anzurufen.
Sagst du Bescheid, wenn du auf bist? Muss dir was erzählen.
Und da ich wusste, dass Victor Reyes sich als Polizist und Vater gleichermaßen Sorgen machen würde, fügte ich hinzu: Nichts Schlimmes, nur Neuigkeiten.
Ich hatte mein Handy kaum auf die Theke im Pausenraum gelegt, um mir einen Kaffee zu holen, als es schon klingelte. Das gut aussehende Gesicht meines Vaters erschien auf dem Bildschirm. Das Foto brachte seine grauen Augen, die ich von ihm geerbt hatte, gut zur Geltung.
Plötzlich war ich ganz furchtbar nervös. Als ich nach dem Handy griff, zitterte meine Hand. Ich liebte meine Eltern sehr, aber ich hatte immer das Gefühl, dass mein Vater zu tieferen Empfindungen fähig war als meine Mutter. Während meine Mutter nie zögerte, mich auf meine Fehler aufmerksam zu machen und mir Ratschläge zu geben, wie ich sie beheben konnte, schien mein Dad gar nicht zu bemerken, dass ich welche hatte. Ihn zu enttäuschen … ihn zu verletzen … allein der Gedanke daran setzte mir zu.
»Hey, Dad. Wie geht es dir?«
»Das wollte ich dich gerade fragen, Süße. Mir geht es wie immer. Und was ist mit dir? Was ist los?«
Ich ging zum nächsten Tisch hinüber und setzte mich, um ruhiger zu werden. »Ich hab dir doch gesagt, dass es nichts Schlimmes ist, und du klingst trotzdem besorgt. Habe ich dich geweckt?«
»Es gehört zu meinem Job, dass ich mir Sorgen mache«, antwortete er, und seine tiefe Stimme klang herzlich und amüsiert. »Ich wollte mich gerade zum Joggen aufmachen, bevor ich mich in die Arbeit stürze. Du hast mich also nicht geweckt. Und jetzt erzähl mir von deinen Neuigkeiten.«
»Also …« Ich schluckte schwer, und mir kamen die Tränen. »Mein Gott, das ist schwieriger, als ich gedacht hätte. Ich habe Gideon gesagt, dass ich mir Sorgen wegen Mom mache und dass du schon damit klarkämst, aber jetzt versuche ich –«
»Eva.«
Ich holte tief Luft. »Gideon und ich haben heimlich geheiratet.«
In der Leitung war es mit einem Mal unheimlich still.
»Dad?«
»Wann?« Seine Stimme klang so heiser, dass es mich fast umbrachte.
»Vor ein paar Wochen.«
»Bevor du mich besucht hast?«
Ich räusperte mich. »Ja.«
Schweigen.
Oh Gott. War das brutal. Vor wenigen Wochen erst hatte ich ihm von Nathans Missbrauch berichtet, und er war fast zusammengebrochen. Und jetzt das …
»Dad – du machst mir Angst. Wir waren auf dieser Insel, und dort war es schön, so schön. In dem Ferienort, wo wir wohnten, werden dauernd Hochzeiten abgehalten. Es ist ganz leicht … wie in Las Vegas. Dort ist ein Priester fest angestellt, und es gibt jemanden, der sich um die Papiere kümmert. Es war der perfekte Augenblick, weißt du. Die perfekte Gelegenheit.« Meine Stimme brach. »Dad … bitte sag was.«
»Ich … ich weiß nicht, was ich sagen soll.«
Eine heiße Träne rann meine Wange hinab. Mom hatte sich für den Wohlstand und gegen die Liebe entschieden, und Gideon war der Prototyp des Mannes, den meine Mutter meinem Vater vorgezogen hätte. Ich wusste, dass mein Vater deshalb voreingenommen war, eine Hürde, die wir erst noch nehmen mussten.
»Wir werden trotzdem noch feiern«, sagte ich zu ihm. »Wir möchten, dass unsere Freunde und unsere Familien dabei sind, wenn wir unser Eheversprechen wiederholen …«
»Das würde ich dir auch raten, Eva«, sagte er grollend. »Verdammt. Ich habe das Gefühl, dass Cross mir etwas gestohlen hat! Ich muss dich ja irgendwann loslassen. Ich war dabei, mich innerlich zu wappnen, aber dann läuft er einfach mit dir davon und nimmt dich mir weg? Und du sagst es mir nicht einmal? Du warst hier, in meinem Haus, und hast mir nichts gesagt? Das tut weh, Eva. Das tut sehr weh.«
Danach ließen sich die Tränen einfach nicht mehr aufhalten. Die heiße Flut strömte mir das Gesicht hinab, vernebelte meine Sicht, schnürte mir die Kehle zu.
Ich fuhr zusammen, als die Tür zum Pausenraum sich öffnete und Will Granger hereinkam. »Wahrscheinlich ist sie hier drin«, sagte mein Kollege. »Und richtig, da –«
Er verstummte, als er mein Gesicht sah, seine Augen hinter den rechteckigen Gläsern lächelten nicht länger.
Ein dunkel gekleideter Arm schoss hervor und schob ihn zur Seite.
Gideon. Er füllte den Türrahmen aus, seine Augen richteten sich auf mich und wurden eiskalt. Er wirkte plötzlich wie ein Racheengel, sein feiner Anzug ließ ihn sowohl kompetent als auch gefährlich erscheinen. Sein Gesicht war ausdruckslos, eine schöne Maske.
Ich blinzelte, mein Verstand versuchte zu ergründen, wie und warum er hier war. Aber bevor ich noch zu einem Schluss gelangen konnte, stand er vor mir, mein Handy in seiner Hand, und sein Blick fiel auf den Bildschirm, ehe er es ans Ohr hielt.
»Victor« – der Name meines Vaters klang wie eine Warnung –, »du scheinst Eva aufgeregt zu haben, deshalb bin ich jetzt dran.«
Will zog sich zurück und schloss die Tür.
Trotz der Schärfe in Gideons Worten strichen seine Fingerspitzen mir voller Zärtlichkeit über die Wange. Er sah mich unverwandt an, die blauen Augen voller eisigen Zorns, der mich fast erschauern ließ.
Zum Teufel, war Gideon wütend. Und mein Dad ebenfalls. Ich konnte ihn am anderen Ende der Leitung schreien hören.
Ich umfasste Gideons Handgelenk, schüttelte den Kopf, plötzlich voller Panik, dass die beiden Männer, die ich am meisten liebte, sich letztlich nicht mehr mögen – vielleicht einander sogar hassen würden.
»Schon gut«, flüsterte ich. »Es geht mir gut.«
Seine Pupillen verengten sich, und er formte mit den Lippen die Worte: Nein, tut es nicht.
Als er wieder mit meinem Vater sprach, war seine Stimme fest und kontrolliert – und deshalb umso Furcht einflößender. »Sie haben das Recht, wütend und verletzt zu sein. Das will ich gern zugeben. Aber ich werde nicht zulassen, dass meine Frau sich deswegen so aufregt … Stimmt, das kann man vermutlich nur nachvollziehen, wenn man selber Kinder hat.«
Ich versuchte zu hören, was mein Vater sagte, hoffte, der mittlerweile leisere Ton würde bedeuten, dass mein Vater sich langsam beruhigte.
Gideon wurde plötzlich ganz steif, seine Hand glitt von mir ab. »Nein, ich wäre nicht glücklich, wenn meine Schwester heimlich heiraten würde. Trotzdem würde ich es nicht an ihr auslassen …«
Ich zuckte zusammen. Das hatten mein Mann und mein Vater gemeinsam: Sie schützten diejenigen, die sie liebten.
»Ich stehe Ihnen jederzeit zur Verfügung, Victor. Ich würde sogar zu Ihnen kommen, wenn es das ist, was Sie brauchen. Als ich Ihre Tochter geheiratet habe, habe ich die volle Verantwortung für sie und ihr Glück übernommen. Wenn ich die Konsequenzen tragen muss, habe ich keine Probleme damit.«
Seine Pupillen verengten sich, als die Antwort kam.
Dann setzte sich Gideon mir gegenüber, legte das Handy auf den Tisch und schaltete den Lautsprecher ein.
Die Stimme meines Dad erfüllte die Luft. »Eva?«
Ich holte tief und unsicher Atem und drückte die Hand, die Gideon mir hinhielt. »Ja, ich bin hier, Dad.«
»Süße …« Auch er holte tief Luft. »Reg dich nicht auf, ja? Ich bin nur … ich muss das erst einmal verarbeiten. Ich habe das nicht erwartet, und … ich muss darüber nachdenken. Können wir heute Abend noch mal reden? Nach meiner Schicht?«
»Ja, natürlich.«
»Gut.« Er hielt inne.
»Ich hab dich lieb, Daddy.« Meine Stimme klang tränenerstickt, und Gideon rückte näher an den Tisch heran. Seine Schenkel umfingen die meinen. Es war der Wahnsinn, wie viel Kraft ich aus ihm schöpfte, was für eine Erleichterung es war, mich bei ihm anlehnen zu können. Es unterschied sich vollkommen von Carys Unterstützung. Mein bester Freund war ein guter Zuhörer, heiterte mich auf und trat mir zuweilen in den Hintern. Aber Gideon war mein Schutzschild.
Und ich musste zugeben, wenn ich einen Schutzschild brauchte. Auch das war eine Form von Stärke.
»Ich hab dich auch lieb, mein Kleines«, antwortete mein Dad mit schmerz- und trauererfüllter Stimme, die mir einen Stich ins Herz versetzte. »Ich rufe dich später an.«
»Okay. Ich –« Mir fehlten die Worte. Ich hatte keine Ahnung, wie ich wieder alles in Ordnung bringen konnte. »Tschüss.«
Gideon legte auf, dann nahm er meine zitternden Hände in die seinen. Er sah mich an, und seine Augen blickten nicht mehr eisig, sondern waren voller Zärtlichkeit. »Du wirst dich dafür nicht schämen, Eva. Ist das klar?«
Ich nickte. »Nein, werde ich nicht.«
Er nahm mein Gesicht in beide Hände, seine Daumen strichen mir die Tränen von den Wangen. »Ich ertrage es nicht, dich weinen zu sehen, mein Engel.«
Ich schob meine Traurigkeit beiseite. Damit würde ich mich später befassen. »Warum bist du hier? Woher wusstest du –«
»Ich wollte dir nur für die Blumen danken«, murmelte er.
»Oh. Gefallen sie dir?« Ich brachte ein Lächeln zustande. »Ich wollte, dass du an mich denkst.«
»Die ganze Zeit. Jede Minute.« Er schob seinen Stuhl neben mich, packte mich an den Hüften und zog mich dichter zu sich heran.
»Du hättest mir auch einfach nur eine Nachricht schicken können.«
»Ah.« Bei seinem schwachen Lächeln machte mein Herz einen Satz. »Aber dann hätte ich das hier nicht tun können.«
Gideon zog mich auf seinen Schoß und küsste mich bis zur Besinnungslosigkeit.
❊ ❊ ❊
Hast du immer noch vor, heute Abend nach Hause zu fahren?, schrieb Cary, während ich mittags am Aufzug wartete, der mich nach unten in die Lobby bringen sollte. Meine Mom wartete bereits auf mich, und ich versuchte, mich zu konzentrieren. Wir hatten einiges zu bereden. Gott, ich hoffte nur, dass sie mir helfen konnte, mit dem allen klarzukommen.
Das habe ich vor, antwortete ich meinem geliebten, manchmal total nervigen Mitbewohner. Ich habe allerdings nach der Arbeit noch einen Termin, dann Abendessen mit Gideon. Könnte spät werden.
Abendessen? Muss ich was wissen?
Ich lächelte. Erzähl ich dir später.
Trey hat angerufen.
Ich atmete scharf aus, als hätte ich die Luft angehalten. Wahrscheinlich hatte ich das sogar.
Ich konnte Carys On-off-Freund keinen Vorwurf daraus machen, sich zurückgezogen zu haben, als er erfahren hatte, dass Carys Betthäschen schwanger war. Trey hatte mit Carys Bisexualität sowieso schon immer gehadert, und ein Baby bedeutete, es würde immer eine dritte Person in ihrer Beziehung geben.
Fraglos hätte Cary sich früher für Trey entscheiden sollen, statt sich sämtliche Möglichkeiten offenzuhalten, aber ich konnte auch verstehen, dass er Angst gehabt hatte. Nur zu gut kannte ich die Gedanken, die einem durch den Kopf gingen, wenn man – wie wir – tiefe Lebenskrisen durchgestanden hatte und plötzlich trotzdem einen tollen Menschen kennenlernte, der einen liebte.
Es war einfach zu schön, um wahr zu sein, und man glaubte es nicht wirklich!
Auch mit Trey hatte ich Mitgefühl, und ein Schlussstrich seinerseits wäre durchaus verständlich gewesen. Aber er war das Beste, das Cary seit Langem passiert war. Ich würde es sehr bedauern, wenn die beiden sich endgültig trennten. Was hat er gesagt?
Erzähl ich dir, wenn wir uns sehen.
Cary, das ist grausam!
Seine Antwort kam erst, als ich die Drehkreuze in der Lobby passierte. Wem sagst du das.
Mir sank das Herz, denn diese Antwort konnte man kaum als gute Nachricht interpretieren. Ich trat beiseite, damit andere an mir vorbeikonnten, und tippte: Ich liebe dich über alles, Cary Taylor.
Love u2, Kleine.
»Eva!«
Meine Mutter kam auf ihren eleganten hochhackigen Sandaletten auf mich zu. Eine Frau wie sie konnte man in der Menschenmenge der Lobby kaum übersehen. So zierlich Monica Stanton auch war, ging sie doch in dieser Flut von Anzügen und Kostümen nicht unter, sondern zog die Aufmerksamkeit auf sich.
Charisma. Sinnlichkeit. Zerbrechlichkeit. Es war diese Sexbomben-Kombination, die Marilyn Monroe zum Star gemacht hatte und sich auch in meiner Mutter manifestierte. Sie trug einen ärmellosen marineblauen Jumpsuit, sah erheblich jünger aus, als sie war, und wirkte viel selbstbewusster, als ich sie kannte. Die Cartier-Panther an ihrem Hals und ihrem Handgelenk sollten demonstrieren, dass sie etwas auf sich hielt.
Sie kam geradewegs auf mich zu und umarmte mich fest, was mich überraschte.
»Mom.«
»Geht’s dir gut?« Sie zog sich zurück und musterte mein Gesicht.
»Was? Ja. Warum?«
»Dein Vater hat angerufen.«
»Oh.« Ich sah sie misstrauisch an. »Er hat die Neuigkeiten nicht gut aufgenommen.«
»Nein.« Sie hakte mich unter, und wir verließen das Gebäude. »Aber er kommt damit klar. Er war nur noch nicht bereit, dich loszulassen.«
»Weil ich ihn an dich erinnere.« Mein Vater war der Ansicht, dass die Trennung von meiner Mutter ausschließlich von ihr ausgegangen war. Er liebte sie immer noch, obwohl sie seit mehr als zwei Jahrzehnten nicht mehr zusammen waren.
»Unsinn, Eva. Es gibt sicher eine gewisse Ähnlichkeit, aber du bist viel interessanter.«
Ich lachte erstaunt auf. »Gideon sagt auch, ich wäre interessant.«
Sie lächelte strahlend, sodass der Mann, der an ihr vorbeiging, fast über seine eigenen Füße gestolpert wäre. »Natürlich. Er ist ein Frauenkenner. So wundervoll du auch aussiehst, es ist mehr als Schönheit erforderlich, um ihn dazu zu bringen, dich zu heiraten.«
Wir standen jetzt vor der Drehtür, und ich ließ meine Mutter zuerst hinausgehen. Eine schwüle Hitzewelle traf mich, als ich neben ihr auf den Gehsteig trat, weshalb mir sogleich der Schweiß ausbrach. An diese feuchte Wärme würde ich mich wahrscheinlich nie gewöhnen, aber das war wohl der Preis dafür, in der Stadt zu leben, die ich so sehr liebte. Der Frühling war herrlich gewesen, und ich wusste, auch der Herbst würde es sein. Der perfekte Zeitpunkt, um mein Gelübde mit dem Mann zu erneuern, dem mein Herz und meine Seele gehörten.
Ich dankte Gott für die Erfindung der Klimaanlage, als ich Stantons Sicherheitschef entdeckte, der in einem schwarzen Auto am Straßenrand wartete.
Benjamin Clancy begrüßte mich mit einem gelassenen, selbstbewussten Nicken. Sein Verhalten war geschäftsmäßig wie immer. Ich hingegen empfand so viel Dankbarkeit ihm gegenüber, dass es mir schwerfiel, mich zurückzuhalten und ihn nicht zu umarmen und zu küssen.
Gideon hatte Nathan getötet, um mich zu beschützen. Clancy hatte dafür gesorgt, dass Gideon nicht dafür zur Rechenschaft gezogen wurde.
»Hey«, sagte ich und sah das Spiegelbild meines Lächelns in seiner Pilotenbrille.
»Eva, schön, Sie zu sehen.«
»Ja, Sie auch.«
Nach außen hin lächelte er nicht. Das war nicht seine Art. Doch ich spürte, dass er sich freute.
Meine Mom schlüpfte als Erste ins Auto, dann setzte ich mich neben sie auf die Rückbank. Bevor Clancy den Kofferraum umrunden konnte, wandte sie sich mir schon zu und ergriff meine Hand. »Mach dir um deinen Vater keine Sorgen. Das ist das aufbrausende Latino-Temperament, aber so ein Ausbruch dauert nie lang. Er will einfach nur sicher sein, dass du glücklich bist.«
Sanft drückte ich ihre Hand. »Ich weiß. Aber ich wünsche mir wirklich so sehr, dass Dad und Gideon miteinander klarkommen.«
»Sie sind beide sehr eigensinnig, Liebling. Sie werden immer mal wieder aneinandergeraten.«
Da hatte sie recht. Ich hätte mir gern vorgestellt, dass die beiden wie normale Männer miteinander herumhingen, sich über Sport oder Autos unterhielten, sich gegenseitig neckten und auf die Schulter klopften, wie Jungs es eben tun. Doch die Wirklichkeit würde womöglich anders aussehen, und ich musste mich damit abfinden.
»Du hast recht«, räumte ich ein. »Die beiden sind erwachsen. Sie werden schon klarkommen.« Hoffentlich.
»Natürlich werden sie das.«
Seufzend sah ich aus dem Fenster. »Ich glaube, ich habe mir eine Lösung für das Corinne-Giroux-Problem überlegt.«
Meine Mom schwieg einen Augenblick. »Eva, du musst dir diese Frau aus dem Kopf schlagen. Indem du überhaupt an sie denkst, räumst du ihr eine Macht ein, die sie nicht verdient hat.«
»Wir haben ja dazu beigetragen, dass sie zum Problem wurde, indem wir unsere Beziehung weitgehend geheim gehalten haben.« Ich sah meine Mutter wieder an. »Die Welt hat einen ungeheuren Wissensdurst, vor allem in Bezug auf Gideon. Er sieht fantastisch aus, ist reich, sexy und brillant. Die Menschen wollen alles von ihm wissen, aber er hat seine Privatsphäre so extrem geschützt, dass sie fast gar nichts wissen. Das hat es Corinne überhaupt erst ermöglicht, diese Biografie über ihre Zeit mit Gideon zu schreiben.«
Sie sah mich misstrauisch an. »Was meinst du damit?«
Ich wühlte in meiner Tasche und holte ein Tablet hervor. »Wir brauchen mehr davon.«
Ich drehte den Bildschirm um und zeigte ihr das Bild von Gideon und mir, das nur wenige Stunden zuvor aufgenommen worden war und auf dem wir beide vor dem Crossfire Building zu sehen waren. Die Art, wie er meinen Nacken umfing, war gleichzeitig sanft und besitzergreifend, während in meinem Gesicht Liebe und Bewunderung zu lesen waren. Eigentlich drehte sich mir der Magen um, dass jetzt die ganze Welt einen dermaßen privaten Augenblick begaffen konnte, aber ich musste darüberstehen. Ich musste ihnen sogar mehr davon geben.
»Gideon und ich müssen aufhören, uns zu verstecken«, erklärte ich. »Man muss uns sehen. Wir verbringen viel zu viel Zeit im Verborgenen. Die Öffentlichkeit will den millionenschweren Playboy, der sich plötzlich in Prince Charming verwandelt. Sie wollen Märchen, Mom, mit Happy End. Ich muss den Menschen die Geschichte geben, die sie sich wünschen. Dann kommen ihnen Corinne und ihr Buch irgendwann armselig vor.«
Meine Mutter straffte die Schultern. »Diese Idee ist abscheulich.«
»Nein, das ist sie nicht.«
»Doch, Eva! Du darfst deine mühsam erkämpfte Privatsphäre nicht einfach so aufs Spiel setzen. Wenn du die sensationshungrige Öffentlichkeit fütterst, wird deren Gier nur noch größer. Um Himmels willen, du willst doch nicht zum Dauerthema der Klatschpresse werden!«
Ich biss energisch die Zähne zusammen. »So wird es nicht werden.«
»Warum willst du dieses Risiko eingehen?« Ihre Stimme wurde laut und schrill. »Wegen Corinne Giroux? Ihr Buch wird schnell vergessen sein, aber wenn du die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit auf dich lenkst, kriegst du sie nie mehr los!«
»Ich versteh dich nicht! Man kann doch nicht mit Gideon verheiratet sein und keine Aufmerksamkeit bekommen! Und dann kann ich doch genauso gut die Kontrolle übernehmen und das Szenario selbst bestimmen.«
»Es gibt einen Unterschied zwischen prominent sein und ständig in der Klatschpresse auftauchen!«
Jetzt war ich ziemlich aufgebracht. »Du übertreibst mal wieder maßlos.«
Sie schüttelte den Kopf. »Ich sage dir, das ist der falsche Weg, um mit dieser Situation umzugehen. Hast du schon mit Gideon darüber gesprochen? Ich glaube nicht, dass er damit einverstanden wäre.«
Ich starrte sie an, war von ihrer Reaktion wirklich erschüttert. Ich hatte erwartet, dass sie die Idee gut fand, zumal sie ja selbst aus Überzeugung reich geheiratet hatte und die Konsequenzen gern trug.
Ich sah den angstvollen Zug um ihren Mund und in ihren Augen.
»Mom.« Meine Stimme klang nun weicher, und ich hätte mich ohrfeigen mögen, weil ich es nicht vorher kapiert hatte. »Wir müssen uns um Nathan keine Sorgen mehr machen.«
Sie erwiderte meinen Blick. »Nein«, stimmte sie mir zu, nicht im Geringsten beruhigt. »Aber wenn alles, was du getan hast … alles, was du gesagt oder entschieden hast, zur Belustigung der Öffentlichkeit auseinandergenommen wird, ist das der nächste Albtraum.«
»Ich werde nicht zulassen, dass andere das Bild von meiner Ehe bestimmen!« Ich war es leid, mich ständig wie ein … Opfer zu fühlen. Ich wollte in die Offensive gehen.
»Eva, du bist nicht –«
»Schlag mir entweder eine Alternative vor, bei der ich nicht untätig herumsitzen muss, oder lass es einfach gut sein, Mom.« Ich wandte mich ab. »Wir werden uns nicht einig, und ich werde meine Meinung nicht ändern, solange es keinen Plan B gibt.«
Sie schnaubte frustriert, dann schwieg sie.
Meine Finger zuckten förmlich, so sehr hatte ich das Bedürfnis, Gideon eine Nachricht zu schicken und Dampf abzulassen. Er hatte mir einmal gesagt, dass meine Stärke im Krisenmanagement lag. Er hatte mir vorgeschlagen, in diesem Bereich für Cross Industries zu arbeiten.
Was sprach also dagegen, nicht auf einem privateren und wichtigeren Gebiet damit anzufangen?
»Noch mehr Blumen?«, fragte Arash Madani gedehnt, als er durch die geöffnete Glas-Doppeltür in mein Büro schlenderte.
Mein Chefanwalt ging hinüber zur Sitzgruppe, wo Evas weiße Rosen standen. Ich hatte sie auf den Beistelltisch direkt in Sichtweite platziert. Dort hatten sie mich erfolgreich von den Börsentickern an den hinter ihnen hängenden Bildschirmen abgelenkt.
Die Karte, die den Blumen beigefügt worden war, lag auf dem dunkel getönten Glas meines Schreibtisches, und ich nahm sie immer wieder in die Hand, las die Worte bestimmt schon zum hundertsten Mal.
Arash zog eine Rose heraus und hielt sie sich an die Nase. »Was muss man dafür tun, um solch einen Strauß geschickt zu bekommen?«
Ich lehnte mich zurück, bemerkte geistesabwesend, dass seine smaragdgrüne Krawatte zu den mit Edelsteinen besetzten Dekantierern auf der Bar passte. Bis zu seiner Ankunft waren die leuchtend bunten Karaffen und Evas rote Vase die einzigen Farbkleckse in der monochromen Weite meines Büros gewesen. »Der richtigen Frau begegnen.«
Er stellte die Blume in die Vase zurück. »Okay, Cross, reib es mir nur weiter unter die Nase.«
»Dann halte ich mich eben in Zukunft zurück. Hast du jetzt was für mich?«
Er kam auf meinen Schreibtisch zu und grinste so breit, dass mir mal wieder klar wurde, wie sehr er seinen Job liebte, was ich allerdings auch nie bezweifelt hatte. Seine Raubtierinstinkte waren fast genauso ausgeprägt wie meine eigenen.
»Beim Morgan-Deal ist alles paletti.« Er rückte seine maßgeschneiderte Hose zurecht und ließ sich in einem der beiden Sessel gegenüber von meinem Schreibtisch nieder. Sein Stil war etwas auffälliger als meiner, aber trotzdem gab es nichts daran auszusetzen. »Wir haben die größeren Probleme aus dem Weg geräumt. Jetzt feilen wir noch an ein paar Klauseln herum, doch in der kommenden Woche sollten wir die Sache in trockene Tücher bringen.«
»Gut.«
»Du bist heute ziemlich wortkarg.« Dann fragte er beiläufig: »Hast du Lust, am Wochenende was zu unternehmen?«
Ich schüttelte den Kopf. »Eva will vielleicht ausgehen. Aber ich will ihr das ausreden.«
Arash lachte. »Eins sage ich dir: Ich habe erwartet, dass du irgendwann die richtige Frau findest und die Beziehung über alles andere stellst – irgendwann geht uns das allen so –, aber ich dachte, du würdest mich vorwarnen.«
»Hab ich ja auch gedacht.« Was nicht ganz der Wahrheit entsprach. Ich hatte nie erwartet, mein Leben irgendwann mit einer Frau zu teilen. Ich hatte nie abgestritten, dass meine Vergangenheit meine Gegenwart überschattete, aber vor Eva hatte ich meine persönliche Geschichte auch nie jemandem erzählt. Man konnte die Vergangenheit schließlich nicht mehr rückgängig machen, warum also sie wieder aufwärmen?
Ich erhob mich, ging zu einer der beiden deckenhohen Fensterfronten hinüber, die mein Büro umrahmten, und betrachtete die prachtvolle Stadt, die sich unter mir ausbreitete.
Ich hatte nicht gewusst, dass Eva da draußen war, hatte Angst gehabt, auch nur davon zu träumen, den einen Menschen auf der Welt zu finden, der mich genau so akzeptieren und lieben würde, wie ich bin.
Wie war es möglich, dass ich sie hier gefunden hatte, in Manhattan, in genau jenem Gebäude, das ich gegen jeden vernünftigen Rat und unter großen Risiken hatte erbauen lassen? Zu teuer, hatten sie gesagt, und unnötig. Aber ich wollte, dass man sich an den Namen Cross erinnerte, und zwar, indem man etwas Positives damit verband. Mein Vater hatte unseren Namen in den Schmutz gezogen. Ich hatte ihn reingewaschen, sodass er in der wichtigsten Stadt der Welt einen guten Klang hatte.
»Du hast mir nie gezeigt, dass du dich in diese Richtung entwickeln könntest«, sagte Arash hinter mir. »Wenn ich mich richtig erinnere, hast du es gleichzeitig mit zwei Frauen getrieben, als wir am Cinco de Mayo unterwegs waren, und schon ein paar Wochen später bittest du mich, einen bescheuerten Ehevertrag aufzusetzen.«
Ich ließ meinen Blick über die Stadt schweifen, nahm mir einen jener seltenen Momente, um die Vogelperspektive zu genießen, die mir die Höhe und Position meines Büros im Crossfire Building gewährte. »Hast du je erlebt, dass ich bei Vertragsabschlüssen zögere?«
»Es ist eine Sache, wenn du dein Portfolio erweiterst, aber eine andere, wenn du über Nacht dein Leben umkrempelst.« Er gluckste. »Was hast du also jetzt vor? Willst du dein neues Strandhaus einweihen?«
»Eine hervorragende Idee.« Ich wollte meine Frau tatsächlich zurück zu den Outer Banks bringen. Sie ganz für mich zu haben war der Himmel auf Erden gewesen. Ich war am glücklichsten, wenn ich mit ihr allein war. Durch sie war ich wieder lebendig und so lebenslustig wie nie zuvor.
Ich hatte mein Imperium aufgebaut, weil ich immer nur an die Vergangenheit gedacht hatte. Ihretwegen würde ich weiter daran arbeiten – allerdings im Hinblick auf unsere gemeinsame Zukunft.
Das Telefon auf meinem Schreibtisch leuchtete auf. Es war Scott auf Leitung eins. Ich drückte den Knopf, und seine Stimme erklang durch den Lautsprecher. »Corinne Giroux ist an der Rezeption. Sie sagt, sie braucht nur ein paar Minuten, um Ihnen etwas vorbeizubringen. Da es sich um etwas Privates handelt, möchte sie es Ihnen persönlich geben.«
»Ja, ganz sicher«, stimmte Arash ein. »Wahrscheinlich noch ein paar Blumen.«
Ich warf ihm einen Blick zu. »Sie ist die falsche Frau.«
»Wenn meine falsche Frau doch nur wie Corinne aussähe.«
»Wenn du jetzt zur Rezeption gehst und ihr Mitbringsel entgegennimmst, kannst du dir das ja vor Augen führen.«
Seine Augenbrauen schossen in die Höhe. »Wirklich? Autsch.«
»Wenn sie reden will, dann kann sie das mit meinem Anwalt tun.«
Er stand auf und ging hinaus. »Kapiert, Boss.«
Ich sah auf die Uhr. Viertel vor fünf. »Ich bin sicher, dass Sie sowieso zugehört haben, Scott, aber um es nochmals deutlich zu betonen: Madani wird sich um die Dame kümmern.«
»Ja, Mr. Cross.«
Durch die gläserne Wand, die mein Büro von der restlichen Etage trennte, sah ich, dass Arash um die Ecke bog und zur Rezeption ging. Dann schob ich den Gedanken beiseite. Bald würde Eva bei mir sein, und darauf wartete ich schon seit Beginn dieses Arbeitstages.
Aber natürlich konnte es nicht so einfach laufen.
Ein paar Momente später sah ich aus den Augenwinkeln etwas rot aufleuchten, was mich wieder aufsehen ließ. Corinne marschierte über den Flur, Arash ihr dicht auf den Fersen. Sie reckte das Kinn, als unsere Blicke sich trafen. Ihr angespanntes Lächeln wurde breiter, was sie von einer schönen Frau in eine atemberaubende verwandelte. Ich konnte sie auf eine Weise bewundern, wie ich alles bewundern konnte, außer Eva – objektiv und leidenschaftslos.
Nun, da ich glücklich verheiratet war, konnte ich in vollem Umfang erfassen, was für ein schrecklicher Fehler es gewesen wäre, Corinne zu heiraten. Unglücklicherweise jedoch weigerte sie sich, das zu erkennen.
Ich stand auf und umrundete meinen Schreibtisch. Mit einem Blick bedeutete ich Arash und Scott, sich nicht weiter einzumischen. Wenn Corinne sich direkt an mich wandte, würde ich ihr diese letzte Gelegenheit geben, das Richtige zu tun.
Sie glitt auf ihren roten Pumps in mein Büro. Das trägerlose Kleid hatte die gleiche Farbe wie die Schuhe und brachte ihre langen Beine und die helle Haut zur Geltung. Sie trug das Haar offen. Die schwarzen Strähnen flossen ihre bloßen Schultern herab. Sie war der absolute Gegensatz zu meiner Frau und das Spiegelbild jeder anderen Geliebten in meinem Leben.
»Gideon, du nimmst dir doch sicherlich ein paar Minuten für eine alte Freundin Zeit?«
Ich lehnte mich an meinen Schreibtisch und verschränkte die Arme vor der Brust. »Und ich bin sogar so überaus höflich, nicht die Security zu rufen. Fass dich kurz, Corinne.«
Sie lächelte, aber ihre aquamarinfarbenen Augen blickten traurig.
Unter dem Arm trug sie eine kleine rote Schachtel. Als sie vor mir stand, reichte sie sie mir.
»Was ist das?«, fragte ich, ohne danach zu greifen.
»Das sind die Fotos, die im Buch veröffentlicht werden.«
Ich zog die Augenbrauen in die Höhe. Neugierig nahm ich die Schachtel entgegen. Es war noch gar nicht so lange her, dass wir zusammen gewesen waren, doch ich konnte mich an die Einzelheiten kaum erinnern. Übrig geblieben waren nur flüchtige Momente, und ich blickte mit Bedauern auf unsere gemeinsame Zeit zurück. Ich war so jung gewesen. Mit einem gefährlichen Mangel an Selbstwahrnehmung.