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Lange trauerte Kane um seine geliebte Lily. Da taucht sie plötzlich wieder auf. Ist es ein Wunder? Oder ist es Wahnsinn?
Seit sechs Jahren ist der steinreiche Witwer Kane Black gefangen in der Trauer um seine tödlich verunglückte Frau Lily. In seinem exklusiven Penthouse in Manhattan führt er ein luxuriöses, aber einsames Leben, das durchdrungen ist von der Sehnsucht nach ihr. Da taucht sie plötzlich wieder auf – kann es sein, dass sie den mysteriösen Bootsunfall damals überlebt hat? Seine Familie hat da so ihre Zweifel. Gemeinsam führen sie das milliardenschwere Kosmetikimperium Baharan. Und Kanes Mutter Aaliyah weiß genau, was sie will. Eine aus dem Nichts aufgetauchte Hochstaplerin, die die Kontrolle über ihren Sohn und damit über das Familienvermögen übernimmt, gehört nicht dazu. Auch Kanes skrupellose Schwägerin Amy hat eine Rechnung mit Kane und der angeblichen Lily offen. Ein gefährliches Spiel nimmt seinen Lauf ...
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Seitenzahl: 599
DASBUCH
Kane Black ist der begehrteste Junggeselle Manhattans. Doch obwohl er seit sechs Jahren verwitwet ist, ist es für den heißen, von Trauer zerfressenen Geschäftsmann ausgeschlossen, eine andere als seine angebetete verstorbene Frau Lily auch nur in Betracht zu ziehen. Mit seinen Brüdern und seiner Mutter Aliyah führt er das erfolgreiche Kosmetikunternehmen Baharan. Die Schickeria von Manhattan liegt ihnen zu Füßen, und das soll auch so bleiben: Aliyah hat große Pläne, um Baharan noch mächtiger zu machen. Dabei darf der zielstrebigen Powerfrau niemand in die Quere kommen – wovon sich ihre Schwiegertochter Amy nicht abschrecken lässt. Die Frau von Kanes Bruder Darius fühlt sich von der milliardenschweren Familie betrogen und kennt keine Skrupel, wenn es darum geht, ihre Ziele zu erreichen.
Da taucht eine Dritte im Bunde auf, die beiden Konkurrentinnen ein Dorn im Auge ist: Lily ist zurück. Kane traut seinen Augen nicht. Offenbar ist seine große Liebe bei dem mysteriösen Bootsunfall damals gar nicht ums Leben gekommen. Doch was ist seitdem geschehen? Und ist diese betörende Frau wirklich die, die sie zu sein vorgibt?
DIEAUTORIN
Die Nummer-1-Bestsellerautorin stand mit ihrem Werk bereits an der Spitze der New-York-Times-Bestsellerliste sowie 29 internationaler Listen. Sie hat über 20 preisgekrönte Romane geschrieben, die in 41 Sprachen übersetzt wurden und sich weltweit über 20 Millionen Mal verkauft haben.
SYLVIA DAY
ROMAN
BAND 1 DER BLACKLIST-REIHE
AUSDEMAMERIKANISCHENVONJENSPLASSMANN
WILHELM HEYNE VERLAG MÜNCHEN
Die Originalausgabe SOCLOSE erschien erstmals 2023 bei Penguin Michael Joseph, London.
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Deutsche Erstausgabe 04/2023
Copyright © 2023 by Sylvia Day
Published by arrangement with Kimberly Whalen
Copyright © 2023 der deutschsprachigen Ausgabe
by Wilhelm Heyne Verlag, München,
in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,
Neumarkter Str. 28, 81673 München
Redaktion: Anita Hirtreiter
Umschlaggestaltung: Nele Schütz Design unter Verwendung von Getty Images/rabbit75_ist und Shutterstock.com/goja1 nach einer Vorlage von Lee Motley//MJ
Satz: Leingärtner, Nabburg
ISBN 978-3-641-18762-0V002
www.heyne.de
Für Shanna
Es gibt keine Tatsachen, nur Interpretationen.
FRIEDRICHNIETZSCHE
Witte
Auf der Party ist es brechend voll, dennoch bin ich mir der Anwesenheit einer äußerst bedeutsamen Person stets bewusst – der Frau meines Arbeitgebers, die vor vielen Jahren gestorben ist. Das nächtliche Manhattan breitet sich funkelnd und glitzernd unter dem Penthouse aus. Wolken bauschen gegen die raumhohen Fenster und verdecken immer wieder den geheimnisvoll dunklen Central Park tief am Grund und seinen größten See, den Reservoir. Mit leisem Ächzen schwankt das Hochhaus leicht im böigen Abendwind, doch meist überlagern Musik und reges Stimmengewirr den klagenden Laut.
Hier im Innern, hinter den Glasfronten, herrscht knisternde Anspannung. Die Luft ist gefährlich aufgeladen, was nicht wundert bei so vielen Rivalen, zusammengedrängt auf dichtem Raum. Nur die Regeln des Anstands und die Angst vor Gesichtsverlust zügeln die Widersacher, die sich gereizt umlauern und bloß widerwillig ihre Klauen für einen Moment verbergen.
Anlass für diesen eleganten Empfang ist die Vorstellung einer neuen Kosmetiklinie. Die Gästeliste umfasst die prominentesten Vertreter unter Manhattans jungen Überfliegern, ein repräsentatives Aufgebot der Schönen und Reichen. Enge Freunde befinden sich darunter ebenso wie erbitterte Feinde. Es sagt viel über den Status von Mr. Black, dass er Menschen, die derart verschieden sind – und auch polarisieren –, unter seinem Dach zusammenzubringen versteht.
Wie Schachfiguren haben die Gäste sich möglichst vorteilhaft im Raum positioniert. Ryan Landon trennt etwa die gesamte Länge des riesigen Wohnzimmers von Mr. Blacks Geschäftspartner Gideon Cross. Die beiden Männer pflegen eine innige Feindschaft, die sie bereits von ihren Vätern geerbt haben, und so bedauerlich dieser Unfriede auch sein mag, die Klarheit dieser unverhohlenen gegenseitigen Abneigung ringt mir doch Bewunderung ab.
Ganz anders verhält es sich da mit den zentralen Widersachern von Mr. Black, seinen Halbbrüdern Darius und Ramin, die querschießen, sobald es ihnen persönlich von Nutzen ist. Außerdem wäre da noch Amy, die Angetraute von Darius, die als einzige Frau im Raum nicht ständig zu Mr. Black hinübersieht. Nicht einmal einen verstohlenen Seitenblick schenkt sie ihm.
Der Raum zwischen diesen Hauptfiguren wird aufgefüllt von Reality-TV-Prominenz, Influencern und Influencerinnen, Models und Leuten aus der Musikbranche. Unaufhörlich lässt grelles Blitzlicht die Glitzergarderoben und die breite Fensterfront aufleuchten, da eine Unzahl von Selfies aufgenommen werden muss, um diese wenig später mit Millionen von Followern zu teilen. Die meisten Firmen zahlen gewaltige Honorare für solche Netzwerbung, aber heute Abend erübrigt sich das. In dieses Penthouse eingeladen zu werden, ist ein gesellschaftlicher Volltreffer, nicht zuletzt wegen der Möglichkeit, Cross und seiner Frau Eva nahezukommen, die als Paar derzeit die Medien beherrschen wie kein anderes.
Mit einem diskreten Kontrollblick vergewissere ich mich, dass der Service aufmerksam, aber unauffällig die Gäste mit Getränken und Kanapees versorgt und zugleich alle leeren Baccarat-Gläser und Teller aus edlem Limoges-Porzellan entfernt.
Üppige Sträuße aus schwarzen Lilien der Sorte Blacklist schmücken die Tische aus afrikanischem Schwarzholz, verströmen Formschönheit und glamourösen Chic, ohne aufdringlich bunt zu sein oder zu duften. Brandaktuelle Musik pulst quirlig durch den Raum. Der Sänger ist anwesend, steht an eine Wand gelehnt da, den Arm um die Taille einer Frau geschlungen und die Lippen an ihrer Wange. Sein Blick ist auf Mr. Black gerichtet, wandert dann weiter zu mir, gerade als die Smartwatch an meinem Handgelenk vibriert, um die Ankunft neuer Gäste zu melden.
Ich begebe mich ins Foyer.
Eine schlanke Schwarzhaarige auf extravaganten Limo Heels schwebt zur Tür herein, und sofort ist mir klar, dass mein Arbeitgeber sie verführen wird. Sie mag zwar am Arm eines attraktiven Gentlemans eintreffen, aber das spielt keine Rolle. Sie wird sich Mr. Black hingeben. Das tun sie alle.
Die Ähnlichkeit der Frau mit der verstorbenen Mrs. Black ist unverkennbar: schwarzes Haar, sinnlich grüne Augen, rote Lippen. Eine Schönheit, kein Zweifel, und trotzdem nur eine fade Kopie der Frau, die auf dem Porträt verewigt ist, das Mr. Black so liebt. Doch das ist jede von ihnen.
Ich begrüße sie mit einem leichten Nicken, biete an, ihr den Mantel abzunehmen, und warte dann, während ihr galanter Begleiter die Aufgabe übernimmt.
»Danke«, sagt die Schwarzhaarige, und ihr Begleiter reicht mir ihren leicht schimmernden Mantel. Sie spricht zu mir, schaut dabei allerdings in Richtung von Mr. Black, der offenkundig bereits ihre Aufmerksamkeit erregt hat. Obwohl sich der Hausherr bewusst ganz an den Rand des Raums zurückgezogen hat, macht seine groß gewachsene Statur es unmöglich, ihn zu übersehen. In seinem Innern brodelt eine schier grenzenlose Energie, die lediglich von einer ebenso außerordentlichen Willenskraft gebändigt wird. Er ist ein Mann, der seine Bewegungen auf ein Mindestmaß beschränkt, der aus irgendeinem Grund aber zugleich den Eindruck grenzenloser Wildheit vermittelt. Mir entgeht nicht, welche Anstrengung es unseren neuen Gast kostet, den Blick von ihm abzuwenden und stattdessen das Partygeschehen einer Prüfung zu unterziehen.
Die zentrale Kommandoposition unmittelbar vor der Fensterfront hat Mr. Blacks Schwester Rosana eingenommen, eine große, dunkle Schönheit in einem perlenbesetzten türkisen Abendkleid, der das mahagonibraune Haar in glänzenden Wellen über die Schultern fällt. Sie bildet einen krassen Kontrast zu der silberblonden Eva Cross, die eher klein und kurvenreich in einem eleganten apricotfarbenen Seidenkleid neben ihr steht. Gemeinsam mit Rosana fungiert Eva als Botschafterin der neuen Produktlinie. So vollkommen unterschiedlich die zwei Frauen auch sind, sie sind beide Lieblinge der Boulevardpresse und der sozialen Medien.
Ich überprüfe schnell, wie Mr. Black auf den neuesten Gast reagiert. Wie erwartet, mustert er sie konzentriert. Sein Unterkiefer spannt sich an, während er sie genau taxiert. Auch wenn die Anzeichen kaum merklich sind, spüre ich doch seine maßlose Enttäuschung, unweigerlich gefolgt von einer Woge an Selbstvorwürfen.
Einen Moment lang hatte er gehofft, es wäre sie. Lily. Eine Frau, deren einzigartige Schönheit von der Aufnahme, die in seinen privaten Räumlichkeiten hängt, unsterblich gemacht wird und die so wirkmächtig ist, dass ihr Geist diese Räume und den Mann, der darin wohnt, immer noch beherrscht. Es ist erschütternd zu erleben, wie er nicht aufhören kann, in jeder Frau nach ihr zu suchen.
Als ich meinen Dienst bei ihm antrat, lebte er zwar bereits ohne Lily, daher kenne ich sie nur aus den Erinnerungen, aber in meiner Stellung hört man natürlich so einiges. Allgemeine Übereinstimmung besteht darüber, dass sie unvergleichlich gut ausgesehen hat. Viele halten sie sogar für die schönste Frau, die ihnen je begegnet ist. Obwohl ihr Vorname eher ein zartes, zierliches Wesen hätte vermuten lassen, wird sie meist als selbstbewusst, scharfsinnig und verwegen beschrieben. Darüber hinaus war sie den Erzählungen nach ein umgänglicher Mensch, der gern Mut zusprach und sowieso stark am Schicksal anderer interessiert war, eine Eigenschaft, die ich für weit wertvoller halte, als selbst interessant zu sein.
Eine Weile standen mir lediglich solch vage Eindrücke und Einschätzungen zur Verfügung – bis zu jener qualvollen Nacht, in der Mr. Black derart vom Alkohol enthemmt und halb wahnsinnig war, dass er die in ihm rasende Trauer nicht länger unterdrücken konnte. Damals wurde mir klar, wie extrem er bis heute unter ihrem Bann steht, und ich kann ihre Macht förmlich spüren, wenn ich das riesige Porträtfoto von ihr betrachte, das die Wand gegenüber von seinem Bett dominiert.
Diese Aufnahme ist das einzige Farbige im gesamten Raum, aber noch weit markanter daran ist etwas anderes: der Ausdruck in ihren Augen – so brennend vor Sehnsucht, so eindringlich.
Wer auch immer Lily gewesen sein mag, ihre Liebe zu Kane Black hatte sie beide verzehrt. Und in seinem Leben bleibt diese Obsession weiter der bedrohlichste Faktor.
Ich verfolge, wie sich unser neuester Gast durch die Menge langsam zu Mr. Black schlängelt und der Abstand zu ihrem Begleiter immer größer wird. Auch wenn sie in ihrem knallroten Kleid eine durchaus feurige Erscheinung abgibt, ist in diesem Spiel er die Flamme.
Erst kürzlich hat eine bekannte Zeitschrift Mr. Black unter die Sexiest Men Alive gewählt. Er wird demnächst dreiunddreißig, und dank seines Reichtums kann er sich sogar mich leisten, einen Majordomus britischer Abstammung, Butler in siebter Generation und perfekt ausgebildet, um Situationen aller Art zu meistern, von profanen Problemen bis zu extremen Lebenskrisen. Mr. Black wirkt verschlossen und unergründlich, trotzdem fühlen sich die Frauen magisch zu ihm hingezogen und vergessen in seiner Gegenwart jede selbstschützende Vorsicht. Aber sosehr sie sich auch bemühen, sie können ihn nicht haben. Obwohl er Witwer ist, bleibt er in seinem tiefsten Innern weiter unerschütterlich verheiratet.
Meist zeigt er sich mit der schlanken Blondine, die auch jetzt, mit Elfenbeinschmuck und Perlen behangen, nicht weit von ihm entfernt steht. Die Frau ist seine Mutter, was allerdings kaum jemand ahnen würde, wenn es nicht allgemein bekannt wäre. Und ihr Alter ist keineswegs das Einzige, was Aliyah geschickt zu verbergen weiß. Aufschluss über ihre wahre Natur geben allein ihre Fingernägel, die ganz modern in Mandelform manikürt sind und daher stark an Krallen erinnern.
Ich wende mich von der Garderobe ab und höre das Knallen eines Champagnerkorkens. Kristallgläser klimpern fröhlich über das konstante Gesumme der angeregten Stimmen. Ein kleines Vermögen an Designerschuhen klappert und klickert über die Obsidianfliesen, die eine solch makellose Spiegelfläche bilden, dass man unwillkürlich an einen nächtlichen See bei absoluter Windstille denkt. Mr. Blacks Wohnung ist eine Art Vorzeigeobjekt in Sachen Maximalismus: schwarzbraunes Holz, Naturstein, schweres Leder und Fell – alles so dunkel wie möglich, wodurch die Einrichtung so elegant und maskulin wirkt wie ihr Eigentümer.
Meine Tochter meint, mein Arbeitgeber sei mit erstaunlicher maskuliner Schönheit gesegnet und zugleich mit etwas verflucht, von dem sie behauptet, es fasziniere Frauen noch weit stärker: einem versengenden Feuer hinter grüblerisch aufreizender Fassade. Die Tatsache, dass er einst so absolut geliebt hat und noch heute völlig in seiner Trauer gefangen ist, besitze eine ganz eigene Anziehungskraft. Seine Unnahbarkeit ist in ihren Augen vollkommen unwiderstehlich.
Getue ist sie jedenfalls nicht. Abgesehen von seinen zahllosen sexuellen Eskapaden ist Mr. Black nämlich im wahrsten Sinne des Wortes vergeben. Die Erinnerung an Lily macht ihn innerlich leer. Er ist nur noch eine menschliche Hülle, und trotzdem liebe ich ihn inzwischen, als wäre er mein Sohn.
Eine Frau lacht übertrieben laut. Bestimmt hat sie zu viel getrunken. Und sie ist nicht die Einzige, die des Guten zu viel hat. Einem unaufmerksamen Gast rutscht eine Sektflöte aus der Hand. Sie zerschellt auf dem Boden mit diesem unverkennbar dissonanten Klirren von zerspringendem Glas.
Witte
»Haben Sie sie hinausbegleitet, Witte?«
Am nächsten Morgen betritt Mr. Black die Küche in maßgeschneidertem Business-Anzug und perfekt gebundener Krawatte. Beides zählte vor meinem Erscheinen nicht unbedingt zu seinem gewohnten Kleidungsstil. Ich erst machte ihn mit den Feinheiten erstklassiger Couture für den Gentleman vertraut, und er lernte begierig.
Rein äußerlich erinnert kaum noch etwas an den eher grobschlächtigen jungen Mann, der mich vor sechs Jahren einstellte. In jenen Tagen, unmittelbar nach dem Verlust seiner Frau, bestand meine vorrangige Aufgabe darin, mich all jener anzunehmen, die mit Nachfragen und Beileidsbekundungen an ihn herantraten. Mit der Zeit nutzte er seinen grenzenlosen Schmerz dazu, sich in der Arbeit zu vergraben und nach Erfolg zu streben. Dies und seine außerordentliche Intelligenz brachten die Pharmafirma, die sein Vater durch Unterschlagungen in die Insolvenz getrieben hatte, wieder in Schwung.
Entgegen allen Erwartungen setzte er sich durch – und triumphierte.
Ich platziere den Frühstücksteller exakt zwischen dem Silberbesteck, das auf dem schwarzen Marmor der Kücheninsel bereits ausliegt. Rührei, Speck, frisches Obst – seine Grundnahrungsmittel. »Ja, Miss Ferrari ist gegangen, während Sie unter der Dusche waren.«
»Sie heißt Ferrari?«, erwidert er leicht verwundert. »Im Ernst?«
Ich bin nicht überrascht, dass er sie nicht einmal nach ihrem Namen gefragt hat, bloß traurig. Wer die Frauen sind, bedeutet ihm nicht das Geringste. Nur, dass sie ihn an Lily erinnern.
Zeichen aufrichtiger Zuneigung gegenüber einer Frau habe ich bei ihm noch nie erlebt – von seiner Schwester Rosana einmal abgesehen. Er ist stets höflich, ja sogar charmant, wo es die Umwerbung erfordert. Aber jede Affäre bleibt auf eine einzige Nacht beschränkt. Nie hat er einer dieser Damen Blumen geschickt, sich zu einem weiteren telefonischen Kontakt hinreißen lassen oder sie gar zum Essen ausgeführt. So weiß ich nicht mal, wie er sich in einer wirklich engen Beziehung einer Partnerin gegenüber verhält, und werde diese Wissenslücke wohl auch nie schließen können.
Er greift nach dem Kaffee, den ich ihm gerade serviert habe, und geht in Gedanken offenkundig die Termine des heutigen Tages durch. Seine letzte Affäre ist bereits für immer aus seinem Kopf getilgt. Er schläft wenig und arbeitet zu viel. Neben seinen Mundwinkeln zeichnen sich tiefe Furchen ab, die bei einem Mann seines Alters nicht vorhanden sein sollten. Ich habe ihn lächeln sehen und auch schon lachen gehört, aber nie hat die Fröhlichkeit seine Augen erreicht. Er durchleidet das Leben. Wirklich leben tut er es nicht.
Ich habe ihn gedrängt, sich die Zeit zu nehmen und das Erreichte auch zu genießen. Doch er sagt nur, dass er das Leben erst richtig genießen könne, wenn er tot sei. Sein einzig wahres Ziel bestehe darin, mit Lily wiedervereint zu sein. Alles andere diene bloß dazu, sich die Zeit bis dahin irgendwie zu vertreiben.
»Das mit der Party gestern Abend haben Sie super gemacht, Witte«, sagt er geistesabwesend. »Natürlich leisten Sie immer hervorragende Arbeit, aber dennoch … Es schadet ja bestimmt nicht, wenn ich hin und wieder erwähne, wie sehr ich Ihre Dienste zu schätzen weiß, oder?«
»Nein. Vielen Dank.«
Ich lasse ihn in Ruhe frühstücken und die Zeitung lesen und gehe an den Spiegelwänden vorbei den langen Flur hinunter in den privaten Flügel der Wohnung, der für Gäste grundsätzlich tabu ist. Die hübsche Miss Ferrari hat die Nacht in einem Schlafzimmer am anderen Ende des Penthouse verbracht, in einem klinisch weiß und steril gehaltenen Studio, dessen Einrichtung betont krass vom Rest der Wohnung abweicht. Lily hätten die Räumlichkeiten mit Sicherheit nicht gefallen, und gerade diese Tatsache sollte offenbar garantieren, dass ihr Geist diesen Ort meidet und nichts mitbekommt.
Gekauft hat Mr. Black das Penthouse kurz nach meiner Anstellung, als das ganze Hochhaus noch im Bau war. Obwohl er den Innenausbau die ganze Zeit persönlich überwachte und sich von der Lage der Wände und Türen bis zur Auswahl der Materialien um alles kümmerte, ist mir unklar, ob die Räume tatsächlich seinen eigenen Geschmack widerspiegeln. Denn jedes Möbelstück und jedes Wohnaccessoire wurde unter dem Gesichtspunkt ausgesucht, ob es Lily gefallen hätte. Er wollte keinen Neubeginn, frei von allen Erinnerungen an sie. Er wollte bloß ein Zuhause mitten in der Stadt, und er sorgte dafür, dass seine verstorbene Frau darin anwesend war. Überall finden sich Anspielungen, fast alles erinnert an sie. Weshalb ich auch irgendwie das Gefühl habe, sie zu kennen.
Elegant. Leidenschaftlich. Sinnlich. Dunkel, immer dunkel.
In der Tür zu Mr. Blacks Schlafzimmer bleibe ich stehen und spüre die Feuchtigkeit, die vom Duschen noch in der Luft hängt. Die Privaträume für Hausherrin und Hausherr nehmen einen kompletten Flügel der Wohnung ein. An beide Schlafzimmer schließen sich Ankleideräume und identisch geflieste Marmorbäder an, außerdem steht ein gemeinsamer Wohnbereich zur Verfügung.
Vom Bett der Hausherrin aus reicht der Blick entweder über die Billionaire’s Row genannte Hochhauszeile am südlichen Ende des Central Park bis zum Hudson oder zur Rechten über Lower Manhattan hinweg. Morgens taucht die Sonne den üppig ausgestatteten und extravagant möblierten Raum in feuriges Licht, wärmen ihre Strahlen die düstere Unterwasserstimmung, zu der auch die opulenten Blumensträuße beitragen, die ich auf Bitten meines Arbeitgebers ständig erneuere. Stets ist hier alles für sie gerichtet, in Erwartung einer Frau, die schon nicht mehr am Leben war, als das alles für sie geschaffen wurde. Und wie um Lily davon zu überzeugen, dass dies wirklich ihr Reich ist, findet sich ihr Monogramm LRB auf allem und jedem eingraviert oder eingestickt. Schränke und Schubladen quellen von ihren Kleidungsstücken über. Selbst in ihrem privaten Badezimmer fehlt nicht das kleinste Utensil.
Natürlich sollte man annehmen, dass der Glanz dieser Räume vom trostlosen Widerhall der Leere getrübt würde, doch erstaunlicherweise wohnt ihnen eine sonderbare Energie inne, eine Art Vorbote von Leben.
Lily ist anwesend. Zwar nicht zu sehen, aber zu spüren.
Die Suite des Hausherrn wirkt im Vergleich dazu eher karg. Mr. Black schläft auf einem schmalen Podest, dessen schlichte Funktionalität einzig dazu dient, keinerlei Ablenkungen von der riesigen Fotografie auf der gegenüberliegenden Wand zuzulassen, die er unwillkürlich betrachtet, wenn er abends seinen Kopf auf das Kissen legt. Stilisierte Lilien schmücken die Griffe seiner Schubladen ebenso wie seine Bettwäsche. Früher bot sich New York ihm zu Füßen wie ein Geschenk dar, aber dann drehte er das Bett um, sodass nun der Ausblick hinter ihm ist und Lilys Foto dafür direkt vor ihm. Die Entscheidung ist ein Sinnbild für die Art und Weise, wie er sein Leben lebt: gleichgültig der Welt gegenüber und im Bann einer Frau, die längst tot ist.
So beschließt Mr. Black jeden seiner Tage mit Lily. Abends ist ihr Porträt das Letzte, was er sieht, und morgens das Erste, worauf sein Blick fällt. Allerdings wirkt sein Schlafzimmer im Unterschied zu ihrem wie eine Grabkammer – kühl, gespenstisch still und bar aller Lebenszeichen.
Ich wende mich von der Aussicht auf den Central Park ab und kann nicht anders, als das Bild dieser Frau zu betrachten, deren ewig währende Vollkommenheit niemanden unberührt lässt. Es ist eine sehr intime, natürliche Aufnahme. Eine lebensgroße Lily rekelt sich auf einem zerwühlten Bett, der Körper von einem weißen Laken eingehüllt, die schlanken Finger im langen schwarzen Haar vergraben. Ihre Lippen sind vom Küssen geschwollen, ihre Wangen gerötet, die Augen unter den schweren Lidern leuchten vor Verlangen und Besitzgier. Abgehoben vom Aschgrau der Wand hinter ihr, lockt sie sirenenhaft – mit einem Gesang voller Schönheit, manischer Leidenschaft und Vernichtungskraft.
Schon oft habe ich sie so angestarrt, fasziniert von der Makellosigkeit ihrer Züge und der machtvollen Ausstrahlung ihrer Sinnlichkeit. Bei manchen Frauen genügt bereits ihre bloße Existenz, dass die Männer ihnen ins Netz gehen.
Sie war noch so jung, gerade mal Anfang zwanzig, dennoch hat sie auf jeden, der ihr begegnet ist, einen bleibenden Eindruck hinterlassen. Und ihr Ehemann leidet seit ihrem Tod Höllenqualen, gepeinigt von Zweifel, Schuld und zermürbenden Fragen … deren Antworten sie mit in ihr nasses Grab genommen hat.
Witte
Während ich den Range Rover in den Verkehr einfädele, gibt Mr. Black knappe Anweisungen über sein Handy. Es ist gerade mal acht Uhr morgens, und schon ist er hoch konzentriert damit beschäftigt, die vielen Aspekte seines wachsenden Imperiums zu managen.
Um uns herum vibriert Manhattan, brausen die Fluten an Autos und Menschen in sämtliche Richtungen. An manchen Ecken türmen sich Müllbeutel hüfthoch am Bordstein und warten darauf, aufgesammelt zu werden. In meinen ersten Tagen in New York fand ich diesen Anblick abstoßend, doch inzwischen gehört er auch für mich einfach zum Gesamtbild dazu.
Mittlerweile habe ich an dieser Stadt, die so ganz anders ist als die weite grüne Hügellandschaft meiner Heimat, Gefallen gefunden. Hier gibt es nichts, was es nicht gibt, und die Energie ihrer Bewohner, deren Facettenreichtum und Vielschichtigkeit, ist wirklich einzigartig.
Mein Blick pendelt kontinuierlich zwischen Verkehr und Fußgängern. Vor uns blockiert ein Lieferwagen eine Einbahnstraße. Links auf dem Bürgersteig dirigiert ein bärtiger Mann routiniert ein halbes Dutzend Hunde, das beim morgendlichen Spaziergang aufgeregt an den Leinen zerrt. Und zu meiner Rechten schiebt eine Mutter im Sportoutfit einen Babyjogger eilig Richtung Park. Zwar scheint die Sonne, aber das meiste Licht wird von den weit in den Himmel ragenden Gebäuden und den dicht belaubten Bäumen abgeblockt.
Der Verkehr stockt beharrlich.
Derweil lenkt Mr. Black mit souveräner Lässigkeit weiter seine Geschäfte. Seine Stimme ist ruhig und bestimmt. Langsam setzen sich die Autos wieder in Bewegung, nehmen dann aber unvermittelt Tempo auf. Eine Weile erleben wir das seltene Glück, eine grüne Welle zu haben, und nähern uns zügig Downtown Manhattan. Doch kurz vor unserem Ziel reißt die Glückssträhne ab, und eine rote Ampel zwingt mich zum Anhalten.
Dichte Fußgängerpulks kreuzen vor unserem Wagen. Die meisten Menschen laufen mit gesenkten Köpfen, und einige versuchen offenbar, sich mit Ohrhörern ein wenig Erholung von dem belastenden Lärm der pulsierenden Metropole zu verschaffen. Ich werfe einen Blick auf die Uhr, um sicherzugehen, dass wir nicht zu spät kommen.
Plötzlich höre ich einen schmerzerfüllten Laut, der mir das Blut in den Adern gefrieren lässt. Das halb erstickte Stöhnen klingt äußerst befremdlich. Ich schnelle herum und starre erschrocken zum Rücksitz.
Mr. Black sitzt vollkommen reglos da und spricht kein Wort, die Augen schwarz wie Kohle, das Gesicht blutleer. Sein Blick folgt den vorbeiströmenden Fußgängern. Suchend schaue ich in dieselbe Richtung.
Eine bildschöne Schwarzhaarige eilt zur anderen Straßenseite. Ihr glattes Haar ist zu einem kurzen Bob geschnitten, der bis zu ihrer markanten Kinnpartie schwingt. Mit der üppigen Mähne von Lily hat das zwar nicht die geringste Ähnlichkeit, aber als die Frau sich auf dem Bürgersteig um neunzig Grad dreht, könnten es tatsächlich ihre so unvergleichlichen Gesichtszüge sein.
Hinter mir wird die Wagentür aufgerissen. Ein Taxifahrer brüllt wüste Obszönitäten aus seinem geöffneten Fenster.
»Lily!«
Dass mein Arbeitgeber es auf einmal über sich bringt, den Namen seiner Frau laut zu rufen, lässt mich zusammenfahren wie bei einem Pistolenschuss. Meine Lunge erstarrt.
Sie dreht den Kopf in unsere Richtung, gerät ins Stolpern, bleibt wie gelähmt stehen.
Die Ähnlichkeit ist frappierend. Unheimlich. Nicht zu begreifen.
Mr. Black stürzt aus dem Wagen, und im selben Moment springt die Ampel auf Grün. Er reagiert instinkthaft, ich dagegen bin in meiner Verwirrung erst einmal zu keiner Aktion fähig. Ich weiß nur, dass mein Arbeitgeber gerade im Adrenalinrausch da draußen herumrast und ich hier hinter dem Lenkrad des Range Rover feststecke, während der geballte Zorn der New Yorker Pendlermassen von allen Seiten auf mich einprasselt.
Ihre Wangen, die sowieso schon bleich wie Porzellan sind, verlieren jeden Rest an Farbe. Ich kann sehen, dass ihre vollen roten Lippen einen Namen formen: Kane.
Das entsetzte Wiedererkennen wirkt ebenso intim wie unmissverständlich.
Unverkennbar aber auch ist die Angst, die darin liegt.
Nach einem flüchtigen Seitenblick auf den Verkehr jagt Mr. Black mit kraftvollen Sätzen zwischen den anfahrenden Autos hindurch. Das Hupkonzert schwillt zum Orkan an.
Der ohrenbetäubende Lärm scheint sie aus ihrer Lähmung zu reißen. Im Laufschritt bahnt sie sich einen Weg durch das dichte Gewühl der Fußgänger, aus dem ihr smaragdgrünes Kleid immer wieder heraussticht.
Mein Arbeitgeber, ein Mann, der für gewöhnlich bekommt, was er will, ohne dafür etwas tun zu müssen, sprintet los, doch eine schwarze Limousine nähert sich mit überhöhter Geschwindigkeit und erreicht sie vor ihm.
Eben noch war Lily ein sausender grüner Fleck im trostlosen Grau des Großstadtdschungels. Doch einen Wimpernschlag später bildet sie eine funkelnd glänzende Lache auf dem dreckigen New Yorker Asphalt.
Amy
»Ich nehme noch einen Manhattan«, sage ich mit betont gelassenem Lächeln zum Kellner.
»O Gott«, stöhnt Suzanne theatralisch auf und massiert sich die Schläfen, was ihre schwarzen Locken zum Tanzen bringt. »Keine Ahnung, wie du das machst. Wenn ich um diese Tageszeit schon Alkohol trinken würde, müsste ich mich gleich hinlegen und ein Schläfchen machen.«
Am liebsten würde ich ihr jetzt eine reinhauen. Aber denselben Effekt kann ich auch anders erzielen. »Wie kommst du denn mit deinem Buch voran?«
Sie windet sich getroffen, und ich grinse innerlich. Gleich wird sie darüber zu schwafeln beginnen, dass sie auf der Suche nach Inspiration ist, sobald sie sie gefunden hat, dann aber bestimmt wieder total kreativ sein wird.
»Ich bin übrigens ein Riesenfan von Ihnen«, platzt Erika Ferrari heraus.
Meint sie den Scheiß im Ernst? Ich musste mich gestern Abend bei der Party ganz schön ranhalten, um Erikas Bekanntschaft zu machen und sie zum Mittagessen einzuladen, bevor Kane sie abschleppte, um seinen Schwanz in sie reinzustecken. Und nun stellt sich heraus, dass Erika die Einladung nur angenommen hat, um Suzanne vorgestellt zu werden. Was für eine Unverschämtheit! Hat mich diese dämliche Schnalle doch einfach benutzt!
Um dem Ganzen mehr Nachdruck zu verleihen, beugt sie sich weit vor, als sie Suzanne den Bauch pinselt.
Sofort ist alles Unbehagen bei Suzanne verflogen, und sie strahlt über das ganze Gesicht. Sie hat echt wunderschöne Lippen, voll, dazu rosig auf der Innenseite und von Natur aus ein wenig dunkler am Rand – quasi ein angeborener Lipliner. »Oh, herzlichen Dank!«, flötet sie. »Es freut mich wirklich sehr, dass Ihnen meine Arbeit gefällt.«
Mein Blick wandert über die voll besetzten Tische zur Bar. Hoffentlich sind sie schon dabei, meinen Drink zuzubereiten. Noch ein kleiner Schluck, und ich sitze bei diesem Glas auf dem Trockenen. Dieses Um-die-Wette-Schleimen zwischen Suzanne und Erika ertrage ich ohne Alkohol jedoch keine Minute. Gott sei Dank verfüge ich über die Gabe, solch dümmlichen Schwachsinn bei Bedarf schlicht ausblenden zu können. Mit ein wenig Glück werde ich mich also an unser gemeinsames Mittagessen heute Abend kaum mehr erinnern können.
Weißt du, was dir fehlt, Amy?, hat meine Schwiegermutter mit ihrer vergifteten Freundlichkeit mal zu mir gesagt. Kultur. Versuch doch, ein paar Freundinnen zu finden, die dir in dieser Beziehung weiterhelfen können. Autorinnen, Malerinnen, Musikerinnen … Leute, von denen du etwas lernen kannst.
Als hätte ich von nichts eine Ahnung. Immerhin war ich nach der Public School noch zwei Jahre auf dem Junior College und habe dann meinen Abschluss in Marketing gemacht. Doch es ist schon wahr: Dass Gabeln auf die linke Seite gehören und Wassergläser immer rechts stehen, hatte ich nicht gewusst. Aber bin ich deshalb gleich nichts wert?
Aliyah glaubt, ich wäre nicht gut genug für ihren kostbaren Darius. Wenn sie wüsste, dass ich jeden ihrer drei Söhne gefickt habe!
Die gute Suzanne hier – deren Geburtsname eigentlich bloß Susan lautet – dient also dazu, meine Kultiviertheit in Sachen Literatur voranzutreiben. Dabei schreibt sie nur kitschige Liebesromane über Milliardäre, die stets wie die Weltmeister ficken, und Frauen, denen es gelingt, ihnen die Flausen auszutreiben. Kurz gesagt: Sie ist die perfekte Stinkefinger-Antwort auf die Klugscheißersprüche meiner dämlichen Ziege von Schwiegermutter.
So verdanke ich es Aliyah – und Kane –, dass ich gerade zwei Stunden meiner Lebenszeit mit zwei Frauen, die ich nicht ausstehen kann, vergeude. Inzwischen tauschen die beiden sich über die sexuellen Heldentaten irgendwelcher fiktiven Personen aus, und das mit einem Maß an Leidenschaft, das ich meinerseits lieber der realen Welt widme. Zweifellos beschäftigt Miss Ferrari dabei noch im Hinterkopf, wie Kane sie um den Verstand vögelte, was ihr im Rückblick gewiss vorkommt, als hätte sie die Szene in einem Buch durchlebt. Immer wieder bemüht sie sich, möglichst unauffällig ihr Handy zu checken, da sie mit Sicherheit ihre Nummer zurückgelassen hatte, bevor Witte sie mit der Souveränität eines wahren Briten hinauskomplimentierte.
Wie sich solch eine Szene abspielt, steht mir noch lebhaft vor Augen. Das höfliche Klopfen an der Tür. Das auf Hochglanz polierte Silbertablett, auf dem ein elegantes Kaffeegedeck neben einer einzelnen weißen Rose thront. Im Badezimmer liegt schon ein seidener weißer Morgenmantel bereit, zusammen mit allem, was eine Frau womöglich benötigt, um den unweigerlich bevorstehenden peinlichen Abgang nach bestem Vermögen zu kaschieren. Und nachdem sie geduscht hat, würde Erika bei ihrer Rückkehr ins Schlafzimmer die Kleidungsstücke, die Kane ihr vom Leib gerissen hatte, hübsch ordentlich gefaltet auf dem weißen Samtbänkchen vorfinden, während die hastig abgestreiften Schuhe nebeneinander am Fuß des schon wieder frisch bezogenen Betts stehen.
Witte erledigt nun mal alles mit absoluter Gründlichkeit.
Und Kane. Durch und durch berechenbar. Sobald Erika auf der Bildfläche erschien, war mir klar, dass er sie flachlegt. Der gleiche Typ wie ich und seine verstorbene Frau. Ohne es zu wissen, ist sie damit in der groß angelegten Studie, die ich liebevoll Frauen, die Kane Black vögelte und verarschte nenne, die neueste Testperson geworden.
Bislang scheint Kane eine oberflächliche Ähnlichkeit zu genügen, um es mit einer Frau die ganze Nacht zu treiben. Völlig durchgeknallt, der Typ. Suzanne sollte ein Buch über ihn schreiben. Ich würde ihr sogar den Titel meiner Studie für ihren Roman überlassen. Ich kann nämlich durchaus großzügig sein, vorausgesetzt, ich sitze nicht unmittelbar neben einer Doppelgängerin, die gerade mit prall geschwollenen Lippen und müden Augen selig lächelt.
Herrgott, bin ich mies drauf!
Erika Ferrari. Ein derart bekloppter Name muss doch Fake sein.
Sie schielt erneut in die Chanel-Tasche, in der sie ihr Handy mit dem Display nach oben platziert hat. Suzanne schenkt mir einen wissenden Seitenblick.
Derweil suche ich das gut besuchte Restaurant verzweifelt nach einem Anzeichen für meinen nahenden Nachschub ab. Die meisten Männer sind attraktiv. Die Frauen haben zwar tolle Frisuren und tragen Designerklamotten, aber geschminkt sind die wenigsten. Weshalb sie das für passend halten, will mir nicht in den Kopf. Warum macht man sich die ganze Arbeit mit den Haaren, wenn man es anschließend für überflüssig hält, Make-up aufzulegen? Es gibt nichts Schlimmeres als Inkonsequenz.
»Wie haben Sie eigentlich Darius kennengelernt?«, fragt mich Erika und nimmt sich noch ein Brötchen aus dem Brotkorb.
»Kane hat ihn mir vorgestellt.«
Bei seinem Namen wird sie sofort hellhörig. »Und wie haben Sie Kane kennengelernt?«
Nach einer kurzen, bedeutungsvollen Pause erkläre ich: »Ich kam gerade aus einem Restaurant, da hat er mich auf der Straße angesprochen. Ich ähnele seiner Frau. Das ist sein Tick. Schwarze Haare und grüne Augen eben. Auch roter Lippenstift kommt bei ihm super an.«
»Na ja, manche Männer bevorzugen eben einen gewissen Typ«, erwidert Erika, deren Lächeln ein wenig dünner geworden ist.
Unbewusst streicht sie sich durch ihre gewellten schwarzen Haare, die bis auf den Träger ihres BHs fallen würden, hätte sie denn einen getragen. Aber das tut sie nicht und hat sie auch nicht nötig, denn sie hat ebenso kleine Brüste wie ich. Und wie Kanes Frau, die noch bis heute Macht über ihn hat und ihn einfach nicht loslässt.
Kane schert sich einen Dreck um andere. Wer nicht unmittelbar vor ihm steht, den hat er schon vergessen. Wenn es einen Menschen gibt, der wirklich nur im Augenblick lebt, dann Kane. Was gestern war, hat er längst vergessen, und was morgen sein wird, kümmert ihn einen Scheiß. Er bringt gerade mal genug Interesse auf, um den heutigen Tag gelangweilt herumzubekommen. Bloß von der Erinnerung an Lily bleibt er wie besessen.
Was für mich überhaupt keinen Sinn ergibt.
Da er nicht zu den Typen zählt, die gern leiden, bereitet es ihm womöglich nur irgendwie Freude, sich ständig in Erinnerung zu rufen, dass sie tot ist. Oder das Ganze ist lediglich ein Trick, um leichter bei Frauen zu landen, wie wenn ein affengeiler Typ auch noch mit einem süßen kleinen Hund herumläuft. Aber wie krank ist das denn?
»Bei uns stimmte eben sofort die Chemie«, fahre ich in möglichst ungezwungenem Ton fort. Eigentlich eher die Biologie. Die dafür dann allerdings die ganze Nacht. »Später sind wir uns noch ein paarmal zufällig über den Weg gelaufen.« Ich habe ihn gestalkt. »Bei einer dieser Gelegenheiten war dann auch Darius dabei.«
Woraufhin mein späterer Ehemann prompt als Lückenbüßer in meinem Bett landete. Im Grunde wäre die Sache damit beendet gewesen, doch Aliyah sorgte dafür, dass ihr mittlerer Sohn bekam, was er wollte – und zwar mich als Ehefrau. Und sie bekam, was sie wollte – mein Social-Media-Start-up Social Creamery. Inzwischen bedauert sie den Deal. Das ist mein einziger Trost.
»Wie war sie denn so?«, erkundigt sich Erika. »Seine Frau.«
»Wir Autoren nennen so eine Überfrau eine Mary Sue«, antwortet Suzanne kichernd. »Amy nennt sie lieber Mary Poppins.«
Erika macht ein verständnisloses Gesicht.
»In jeder Hinsicht quasi ohne Makel«, erkläre ich und lache bitter auf.
»Oh.«
»Zumindest reden einem das die Leute, die sie kannten, gern ein«, ergänze ich bissig. »Mit seiner Familie lag Kane jahrelang über Kreuz, daher ist keiner von denen ihr überhaupt jemals begegnet. Aber in seinem Freundeskreis ist es stets dieselbe Leier: Sie war bildschön, hochintelligent, von faszinierender Ausstrahlung, die perfekte Gastgeberin, eben wahnsinnig toll in jeder Beziehung, bla, bla, bla. Jeder liebte sie.«
»Über Tote soll man ja auch nicht schlecht sprechen«, bemerkt Erika geziert und straft mich mit einem missbilligenden Blick.
»Poetische Verklärungen machen sie aber auch nicht wieder lebendig«, entgegne ich. »Und merkwürdigerweise verliert Kane selbst keinen Ton über sie. Ich meine, wenn in seiner Gegenwart auch nur ihr Name erwähnt wird, wird er sofort ganz verschlossen.«
»Tja, wer weiß … vielleicht kommt er ja doch langsam darüber hinweg«, sagt sie mit einem derart blasierten Grinsen, dass ich ihr am liebsten eine reingehauen hätte. Ich muss mich sehr beherrschen, um ihr nicht meine eindrucksvolle Sammlung von Selfies mit all jenen Frauen zu zeigen, die unsere Doubles hätten sein können, und das unterlasse ich auch nur, weil ich vermeiden will, dass sie mich für psychisch gestört hält.
Stattdessen erwidere ich mit dem gleichen selbstgefälligen Grinsen: »Aus diesem Grund trägt er auch bestimmt weiter seinen Ehering. Und ist Ihnen nicht das Muster auf dem Geschirr aufgefallen? Die Blumengestecke überall? Sie hieß Lily, und auf allem, was ihm gehört, sind Lilien zu sehen.«
Sie zuckt kaum merklich mit den Schultern. Klar doch. Entscheidende Details wie diese sind ihr natürlich entgangen. Keine Ahnung, warum außer mir keiner solche Dinge registriert. Wo man hinschaut, überall ignorante Hohlköpfe, die die Welt in den Abgrund treiben. Als ich Darius gegenüber erwähnte, mit welcher Fixierung Kane all sein Zeug mit Lilien tapeziert, meinte er bloß, da würde ich etwas hineininterpretieren. Dann mag er eben solchen Mädchenkram, na und?
Erikas Hochnäsigkeit schwindet spürbar. Bis zum Ende unseres Lunchs wird ihr das Lachen schon vergangen sein. Sie wird sich benutzt und längst nicht mehr so besonders fühlen. Ihr Selbstbewusstsein wird noch lange angeknackst sein, womöglich für immer so bleiben. Sosehr ich es auch hasse, dass sie mit Kane geschlafen hat, so angenehm ist der Nachweis, dass nicht nur ich so selbstzerstörerisch war, seinem Charme zu erliegen.
Der hübsche, aber überforderte Kellner bekommt von mir ein aufrichtiges Lächeln geschenkt, als er mir mein neues Glas bringt. Ich nehme einen tiefen Schluck und schließe dabei für einen Moment die Augen, um das Zusammenspiel von eisig scharfem Bourbon und süßem Wermut zu genießen. Die wärmende Woge des Alkohols vertreibt abrupt die zickige Lust am Giftverspritzen, und plötzlich brennen salzige Tränen in meinen Augen.
Ach du Scheiße. Schnell ersticke ich alle Schwermut mit Wut.
Lächerlich, wie ich mir von einer Nacht mit Kane Black mein Leben bestimmen lasse. Meine Seelenklempnerin meint, das unverarbeitete Gefühl, vom Vater im Stich gelassen worden zu sein, würde bis heute in meine Entscheidungsfindung hineinpfuschen. Das fuchst mich natürlich erst so richtig. Wie kann eine Frau sich bloß derart von Männern verbiegen lassen?
Kane wird nie begreifen oder auch nur zur Kenntnis nehmen, was es bedeutet, von einem Mann seines Aussehens und seiner Statur von der Straße weg ins Penthouse katapultiert zu werden. In dieser einen Nacht hatte ich zum ersten Mal das Gefühl, in den Augen eines solchen Ausnahmemenschen vielleicht doch etwas Besonderes zu sein und dass all meine Wünsche in Erfüllung gehen könnten. Ich würde Mrs. Kane Black werden. Ich würde in diesem atemberaubend schönen Penthouse wohnen und in meinem Heim dieselben Leute als Gäste begrüßen, vor denen ich bislang katzbuckeln musste, um mit ihnen ins Geschäft zu kommen. Und ganz bestimmt hatte auch er gespürt, wie dieser Funke übersprang. Nur deshalb hatte er ausgerechnet mich angesprochen und so viel Charme versprüht, dass ich ein paar Stunden später bereits unter seinen wilden Stößen stöhnte.
Über ein Jahr später erst zeigte Aliyah ihrem Sohn Darius ein heimlich aufgenommenes Foto von Lilys Porträt, das bis dahin keiner von uns zu Gesicht bekommen hatte, weil es verborgen in Kanes Schlafzimmer hing und Witte irgendwie immer auf der Bildfläche erschien, wenn sich jemand diesem Ende des Penthouse näherte. Ich hatte es mir über Darius’ Schulter hinweg angesehen, und in dieser Sekunde hatte ganz tief in meinem Schädel das Kreischen eingesetzt, das seitdem nicht mehr aufhören wollte.
Erika berührt meinen Unterarm, um meine Aufmerksamkeit zu bekommen. »Arbeiten Sie zusammen mit Kane im Crossfire Building?«, will sie wissen.
Es fällt mir auf die Nerven, dass sie ihn nicht Mr. Black nennt. Wen interessiert’s, dass sie ihn gefickt hat? Er hat sie längst schon wieder vergessen. Sie sind nicht befreundet und werden es auch niemals sein.
»Social Creamery hat seine Zentrale im Crossfire«, erkläre ich und schlecke die letzten Tropfen meines Drinks von meiner Unterlippe. Immer wenn ich den Namen meiner Firma in den Mund nehme, kommt mir die Galle hoch. »Aber ich muss da nicht jeden Tag hin. Ich habe die ganze Sache so aufgebaut, dass der Laden auch ohne mich läuft.«
Und damit nur ein Rädchen im Getriebe von Baharan Pharmaceuticals ist.
Ich kann nicht über die Firma sprechen, die ich aus dem Nichts erschaffen habe, ohne dass Bitternis mir die Kehle zuschnürt. Durch Social Creamery wurde ich unabhängig, und es war der Beweis dafür, dass ich aus eigener Kraft etwas erreichen kann. Ich hatte mich eingehend mit den Entwicklungen im Bereich Social Media beschäftigt, hatte Methoden optimiert, mit denen sich Stärken und Schwächen von Plattformen ausnutzen ließen, hatte eine Schar von Influencerinnen und Influencern gewonnen, die so ziemlich alles vermarkten und verhökern konnten, hatte Texter angeheuert, die clever waren und auch mal einen fehlerfreien Satz zustande brachten – die Welt ist voller ungebildeter Idioten –, und ich hatte beim Klinkenputzen meinen Charme spielen lassen, um Account-Inhaber zu überreden, mir ihre Marken anzuvertrauen.
Dann mischte Aliyah sich ein und schlug vor, Social Creamery doch dem Hause Baharan anzugliedern, damit alle Familiengeschäfte unter einem Dach wären und mir ganz andere Mittel zur Verfügung stünden. Darius fand die Vorstellung wunderbar, künftig Seite an Seite zu arbeiten, und ich kannte Aliyah noch nicht gut genug, um misstrauisch zu werden.
Prompt dauerte es nach Abschluss der Verträge nicht lange, und sie begann, mir das Wasser abzugraben, meine Ideen zu torpedieren und meine Geschäftsprinzipien infrage zu stellen. Es gelang ihr, mir mein Team abspenstig zu machen, indem sie Sonderzahlungen und Bonusleistungen als ihre ausgab, selbst wenn sie in den meisten Fällen von mir initiiert worden waren. Eigentlich Gleichgesinnte distanzierten sich von mir aus Angst, sich ihren Zorn zuzuziehen, bis schließlich die ganze Firma gegen mich war.
Suzanne und Erika stecken die Köpfe zusammen und schwärmen verzückt von dem Kleid einer Frau, die auf dem Weg zur Toilette an unserem Tisch vorbeikommt. Das Bodycon-Teil mit dem abstrakten Muster ist tatsächlich ganz nett, würde aber mit Shapewear darunter tausendmal besser aussehen, wodurch diverse Pölsterchen kaschiert würden.
Ich genehmige mir einen genüsslichen, tiefen Schluck und schnurre vor Wonne – und Vorfreude.
Nicht mehr lange, und mein gesamtes Leben wird sich ändern. Ich werde mir Social Creamery zurückholen und auch sonst alles, was meine »Familie« mir genommen hat, plus Zinsen. Bis dahin kettet mich mein Unternehmen mehr als jedes Ehegelöbnis oder der Ring, den ich trage, an Darius, seine Brüder und Aliyah. Aber einen Teufel werde ich tun und ohne meine Firma den Abflug machen.
Der Klingelton eines Handys lässt Erika in hirnrissiger Hektik nach ihrer Tasche greifen. Innerlich muss ich lachen über ihre enttäuschte Miene, als wir alle erkennen, dass es mein Handy ist, das klingelt.
Aliyahs Name auf dem Display vertreibt umgehend jeden Anflug von Heiterkeit.
»Hallo, Mom«, begrüße ich sie, da ich weiß, wie sehr sie es hasst, wenn ich sie so nenne.
»Amy«, antwortet sie mit dieser verblüffend tiefen Stimme, die mich noch immer aus dem Konzept zu bringen vermag. »Eigentlich wollte ich nur wissen, wo dein Mann steckt. Aber heute ist ja Freitag, das hatte ich ganz vergessen.«
Die nicht sonderlich subtile Anspielung darauf, dass Darius es gerade – wie jede Woche um diese Zeit – seiner Sekretärin besorgt, verdirbt mir endgültig die Laune.
Die Sache tut weh. In guten wie in schlechten Tagen, Darius gehört mir. Ich glaube sogar, dass er mich liebt, und wahrscheinlich wäre er in meinen Augen sogar eine durchaus passable Partie, wenn ich bloß aus dem Kopf bekäme, wie Kane mich gefickt hat, als hinge sein Leben davon ab. Doch das gelingt mir nicht, und so vögelt mein Ehemann eben in diesem Moment seine überaus tüchtige Sekretärin, dieses hübsche Blondinchen, das mir den Kaffee stets genau so bringt, wie ich ihn mag, und das so verdammt freundlich ist, dass ich es am liebsten mit meiner Handtasche windelweich prügeln würde.
»Kann ich dir vielleicht weiterhelfen?«, frage ich honigsüß.
»Mach dir nur keine Umstände. Ich schicke ihm eine WhatsApp.« Und in plötzlich samtweichem Ton fügt sie hinzu, was meine Welt in ihren Grundfesten erschüttert: »Kanes Frau ist von den Toten auferstanden.«
Aliyah
Ich mustere mein Spiegelbild, wische mir den knallpinken Rosana vom Mund und trage stattdessen nudefarbenen Lipgloss auf. Mit einem Schritt Abstand begutachte ich das Resultat und nicke. Zu diesem Anlass weit passender. Ich stelle mir Amys Gesicht vor, als ich einfach auflegte, und muss lächeln. In einem Punkt ist auf meine Schwiegertochter absolut Verlass, nämlich dass sie spätestens um fünf Uhr nachmittags sternhagelvoll ist. Wenn mein Anruf die erwartete Wirkung erzielt hat, dürfte sie heute schon um drei besinnungslos flachliegen.
Das Flittchen sieht gut aus, taugt jedoch zu nichts. Eine einzige Fähigkeit hatte Amy besessen, und die haben wir inzwischen aufgebraucht. Aber dass sie auf einen meiner Söhne derart fixiert bleibt, ist schmerzhaft für dessen Bruder. Schon allein aus diesem Grund hätte ich sie gern raus aus unserem Leben. Lange wird das nicht mehr dauern. Denn aus einem Glas Wein zum Abendessen wurden schnell zwei, dann eine ganze Flasche. Warum das Ganze nicht morgens durch einen kleinen Spritzer Whiskey ergänzen, bloß um richtig in den Tag zu kommen? Gefolgt natürlich von einem Cocktail zum Mittagessen. Es war alles ein Kinderspiel. Sie hätte sich sowieso am liebsten kopfüber in das Zeug gestürzt. Ich war ihr nur dabei behilflich, indem ich ihr einen kleinen Schubs gab.
»Fertig?«, fragt Darius und erscheint hinter mir im Spiegel. Er trägt bereits sein Sakko. Über seine ausgeprägte Stirn zieht sich eine tiefe Falte. Sein Parfüm duftet dezent und wohltuend, eine holzige Note, die ich speziell für ihn kreiert habe. Sie passt zu ihm. Er ist stark und fest verwurzelt wie ein Mammutbaum. Wie er geraten ist, erfüllt mich wirklich mit Stolz. Viele Mütter erziehen ihre Söhne ohne jede Achtung Frauen gegenüber.
»Hast du die Entwürfe sicher verschlossen?«, frage ich und drehe mich zu ihm um.
»Ja, klar doch. Woher sonst komme ich wohl gerade?«
Das dunkle Haar fällt ihm kunstvoll frisiert in die Stirn. Die markant ausgeprägten Züge in dem schmalen Gesicht ähneln meinen, die blassblauen Augen dagegen sind die seines Vaters. Ein enorm prägnantes Merkmal, diese Augen. Ramin und Rosana haben sie auch.
»Wir sind fast fertig«, fährt er in leicht genervtem Ton fort. »Eigentlich könnten wir das Ganze heute noch mit all unseren Anmerkungen zurück an den Architekten gehen lassen.«
»Der es sich selbst aber frühestens am Montag ansieht«, entgegne ich und streiche sein Revers glatt.
Wenn Amy wüsste, dass ihr Ehemann seine Freitagnachmittage in Wahrheit damit verbringt, mit mir gemeinsam an dem Konzept für unsere geplante Forschungsanstalt in Seattle zu arbeiten. Stattdessen traut sie ihrem Mann lieber sofort jede Gemeinheit zu. Die kleinste Anspielung genügt, schon setzt ihre Paranoia ein.
Aber Darius ist kein Fremdgeher wie mein erster Mann Paul. Den Vater von Kane hatte ich einst in Verdacht, eine Affäre zu haben, konnte es ihm jedoch nicht nachweisen. Also redete ich mir lieber ein, dass er ein Scheitern unserer Ehe gewiss nicht riskieren würde, da ich ihm zu viel bedeute – nicht nur als Ehefrau und Mutter seines Sohnes, sondern auch wegen der Firma, bei deren Aufbau ich maßgeblich geholfen hatte. Schließlich war Baharan Pharmaceuticals sein Lebenswerk, unser Lebenswerk, und er liebte Kane abgöttisch. Zumindest dachte ich das bis zu dem Moment, da ich erfuhr, dass er jeden verfügbaren Cent aus der Firma abgezogen und sich nach Südamerika abgesetzt hatte.
»Du enttäuschst mich«, sage ich zu Darius und richte seine Krawatte.
»Warum?«
»Weil du dich dagegen sträubst, deinem Bruder in solch einer persönlichen Krise zu helfen.«
»Das kann ich nicht und will es auch nicht«, ereifert er sich. »Schließlich nimmt er umgekehrt nie Anteil an irgendwas.«
»Darius.« Mein besänftigender Ton vertreibt schnell den mürrischen Anflug aus seinem Gesichtsausdruck. »Das weißt du doch gar nicht. Und wenn du es schon nicht für ihn tun willst, tu’s mir zuliebe. Mich beunruhigt das immerhin auch gewaltig.«
Er schenkt mir einen sarkastischen Blick, aber mich kümmert es nicht, ob er mich für eine Heuchlerin hält. Ich tat, was ich tun musste, um zu überleben. Mein grundlegender Wandel nach Pauls Verrat war die Voraussetzung dafür, dass ich bei meiner zweiten Ehe schlauer war und alle Bedingungen des Ehevertrags durchstand, bis ich endlich bekam, was mir gebührte. Und es ist ja auch nicht so, als hätte ich Kane nicht bis zur Volljährigkeit unterstützt.
Wie dem auch sei, es ist jedenfalls müßig, Darius jetzt mit dem Argument zu kommen, dass er selbst nie große persönliche Krisen durchleben musste, da Kane, nachdem er zurück in unser Leben getreten war, entsprechende Probleme für ihn stets aus dem Weg räumte. Darius verdankt seinem älteren Bruder so einiges – keine belastenden Studienkredite mehr, einen komfortablen Lebensstil, sogar seine Frau.
Als Kane vor sechs Jahren mit der Idee an mich herantrat, Baharan Pharmaceuticals wieder zu neuem Glanz zu verhelfen, glaubte ich, wir würden zu guter Letzt vielleicht doch noch eine Familie. Mein zweiter Mann – der nicht das geringste Interesse daran hatte, den Sohn eines anderen großzuziehen – stand nicht länger im Weg, und Kane folgte meinem Rat und achtete darauf, dass seine Halbbrüder für Schlüsselpositionen in der Firma ausgebildet wurden. Ich dachte, so fänden all meine Kinder womöglich doch noch zusammen, aber nur Rosana freute sich aufrichtig über die Rückkehr ihres ältesten Bruders. Darius und Ramin missfiel die neue Situation mit Kane vom ersten Tag an, da sie sich nur wie notgedrungen geduldete Anhängsel fühlten.
Selbst wenn es ihm gelänge, Kane von der Spitze des Unternehmens zu verdrängen, würde das den Verdruss wohl kaum lindern, der an Darius nagt, seit er meint, der Rolle des Ältesten, der für seine jüngeren Geschwister verantwortlich ist, beraubt worden zu sein. Aber im Grunde ist es wahrscheinlich sogar besser, wenn die Brüder sich nicht allzu gut verstehen. Schließlich könnte es zum Problem werden, wenn sie irgendwann eine geschlossene Front bildeten.
»Ich verstehe bloß nicht, was so schrecklich eilig daran ist«, widerspricht er mir. »Es wird doch sowieso noch eine ganze Weile dauern, bis er seine neue Lage überblickt und seine Frau behandelt werden kann wegen alldem, woran auch immer sie leidet. Wir schieben also etwas Wichtiges für etwas vollkommen Nebensächliches auf.«
»Ach? Hältst du es im Ernst für nebensächlich, wenn Kane jedem erzählt, er sei Witwer, obwohl das ganz offensichtlich nicht der Wahrheit entspricht?«
Allerdings war Lily auf der Straße nur knapp dem Tode entronnen und auch jetzt noch nicht über den Berg. Allem Anschein nach hatte der Fahrer, der sie erwischt hatte, nicht abgebremst und war vom Unfallort geflüchtet. So hatte es mir jedenfalls Witte bei seinem Anruf geschildert, als Lily gerade in den Krankenwagen geladen wurde. Darius hatte ich jedoch nichts davon erzählt, dass mir bei Wittes Worten ein kalter Schauer über den Rücken lief. Als würde jemand über mein Grab gehen.
»Dich soll überraschen, dass Kane lügt?«, stichelt mein Sohn. »Nun hör aber auf! Außerdem behaupte ich ja gar nicht, dass seine Frau uns nicht kümmern sollte. Meiner Meinung nach braucht sie uns bloß gerade jetzt nicht so dringlich zu kümmern. Kane bekommt doch seit Jahren sein Leben auch ohne uns ganz prima geregelt. Er soll seinen Scheiß gefälligst selbst regeln. Mein Problem ist das nicht.«
Er sagt das nur, weil er nicht viel von früher weiß. Er war in der Schule, im letzten Jahr der Highschool, als die Polizei von Greenwich zu unserem Haus in Saddle River kam und sich nach meinem Ältesten erkundigte, den ich seit Jahren nicht gesehen oder gesprochen hatte.
Die Zivilbeamten erklärten, es seien reine »Routinefragen«, die sie zu Kanes Charakterzügen und seinem Temperament hätten. Mag sein. Doch es wurde schnell offenkundig, wie wenig ich über das Leben meines erwachsenen Sohnes wusste – nicht einmal von der offiziellen Änderung seines Nachnamens hatte ich etwas mitbekommen –, und sie fragten mich, warum wir nicht in Verbindung stünden, woraufhin ich ihnen die Wahrheit erzählte: Er kam nicht gut mit meinem Ehemann, seinem Stiefvater, zurecht. Sie tauschten vielsagende Blicke aus, dankten mir für das Gespräch und verschwanden.
Ich weiß bis heute nicht, ob dieser Besuch etwas mit seiner Frau zu tun hatte. Zum damaligen Zeitpunkt hatte ich gar keine Ahnung, dass er überhaupt verheiratet war. Gesprochen habe ich über diesen Besuch mit niemandem, selbst mit Kane nicht, der nur wenige Tage später an meiner Haustür erschien, um über den Wiederaufbau von Baharan zu reden.
Unsere Beziehung ist heikel, um es vorsichtig zu formulieren, und ich werde ganz sicher kein Zerwürfnis riskieren, nicht, bis ich Baharan übernehmen kann.
»Natürlich ist das auch dein Problem«, lasse ich nicht locker. »Das ist ein Problem für jeden von uns. Warum kehrt sie ausgerechnet jetzt zurück? Was hat sie all diese Jahre gemacht?«
»Warum sie zurück ist, kann ich dir sagen. Diesem dämlichen Gefasel vom Sexiest Man Alive kann doch keiner entgehen. Kane beutet das doch noch stärker aus als Dwayne Johnson! Sie bekommt die Berichte mit, hält ihn nun, da er reich ist, für eine bessere Partie und kehrt nach Hause zurück. Ich bin nicht blöd, Mutter. Ich sehe in ihr bloß keine Bedrohung, solange sie das nicht definitiv überlebt hat und für Ärger sorgt.«
Auf mein Betreiben hin hatte Social Creamery die Kampagne zu Kanes Aufnahme in die Liste der Sexiest Men Alive viral gehen lassen. Bekanntheit bedeutet nun mal Geld. Dabei hatte ich zu meinem Leidwesen allerdings nicht mit all den ehemaligen Freundinnen und Geliebten – und schon gar nicht mit angeblich toten Ehefrauen – gerechnet, die plötzlich aus der Versenkung auftauchten, um sich in seinem Glanz zu sonnen. Aber wie hätte ich so etwas auch vorausahnen können?
Lily. Ich kenne nicht einmal ihren Mädchennamen. Es gab keinerlei Gedenkveranstaltung nach ihrem Tod – ihrem angeblichen Tod. Zumindest keine, zu der ich eingeladen worden wäre oder von der ich irgendwo eine Anzeige entdeckt hätte. Zudem weigerte Kane sich beharrlich, über sie zu reden. Wenn ich einmal vage auf das Thema seiner Ehe zu sprechen kam, ging er sofort an die Decke, also ließ ich es lieber bleiben. Und letzten Endes hatte ein Collegeschwarm, dem ich nie begegnet war, ja auch nichts mit mir zu tun.
»Vermutlich hat sie ihn verlassen«, fährt er fort, »und er lügt uns allen die ganze Zeit etwas vor, um das Gesicht zu wahren.«
»Meinst du nicht auch, das wäre ein bisschen sehr extrem?«
»Nicht extremer als dieses Penthouse! Oder die bescheuerte Anstellung von Witte. Kane übertreibt eben in jeder Beziehung gern maßlos. Du regst dich also völlig überflüssigerweise auf.«
Die Wut lässt mir das Blut in den Adern gefrieren. Niemand behandelt mich von oben herab, niemand sollte kleinzureden wagen, was ich fühle oder denke. Bei der Sache mit Paul hatte ich meinen Instinkten nicht vertraut und einen hohen Preis dafür bezahlt, das werde ich nie vergessen. »Diesen Ton verbitte ich mir, Darius. Ich bin vorsichtig, nicht hysterisch. Mir geht es vor allem darum, Baharan und unsere Familie zu beschützen, und dafür brauche ich mich nicht zu entschuldigen.«
»Genau, in dieser Reihenfolge«, brummt er.
»Vergiss nicht den Ethikcode in unserem ECRA+-Vertrag mit Cross Industries. Sobald wir in einen Skandal hineingeraten – und den wird der vorgetäuschte Tod eines Familienmitglieds ganz sicher auslösen –, kann das verhängnisvoll sein. Wir können es uns nicht leisten, unsere Investitionen zu verlieren oder womöglich gar irgendwelche Entschädigungen zu zahlen, die Gideon Cross verlangt.«
Pauls Unterschlagungen standen seinerzeit in direktem Zusammenhang mit dem Namen Cross, obwohl Gideon diesen Punkt nur allzu gern vergessen würde. Sein Vater, Geoffrey Cross, hatte nämlich ein berüchtigtes Ponzi-System ins Rollen gebracht, bei dem die Investoren Milliarden verloren. Wenn heute jemand den Namen Cross hört, denkt er jedoch zuerst an Gideon, und der wird es unter keinen Umständen zulassen, dass irgendwer oder irgendwas das erfolgreiche Image des integren Geschäftsmanns beschmutzt, an dem er so sorgfältig gefeilt hat.
Darius runzelt die Stirn, und an seinen Augen kann man ablesen, wie er die möglichen Folgen durchspielt. »Nun lass uns doch erst mal in Ruhe abwarten! Bislang läuft alles exakt nach Plan. Rosana ist das Gesicht der neuen Kosmetiklinie, und Eva Cross möchte ihrem Mann gern beweisen, dass sie in der Lage ist, eine Zusammenarbeit von der Größenordnung ECRA+ Cosmeceuticals verantwortlich zu leiten. Solange Rosana die Lust nicht verliert, wird Eva das Projekt weiter vorantreiben. Wir brauchen lediglich eine halbwegs glaubhafte Story, um Kanes Ehestatus aus der Schusslinie zu nehmen, das ist alles. Also werden wir uns etwas ausdenken.«
»Na, das klingt aber reichlich selbstsicher, wenn man bedenkt, dass du nicht das Geringste über Lily weißt oder darüber, was in der Vergangenheit zwischen ihr und Kane gelaufen ist.«
»Du tust so, als wäre sie das Problem, obwohl uns bislang allein Kane Ärger einbrockt.«
Ich funkele ihn warnend an.
»Wie auch immer, jetzt fahren wir erst mal ins Krankenhaus, oder?«, beschwichtigt er schnell und grinst. »Es wird sich schon alles irgendwie aufklären.«
Obwohl er sich für seine anfängliche Weigerung, mit zu seinem Bruder zu gehen, nicht entschuldigt hat, bedränge ich ihn nicht weiter. Aber vergessen werde ich sein Verhalten nicht.
Keines meiner Kinder wird jemals erfahren, welche Opfer es mir abverlangt hat, von den Geschäftspartnern, die Paul in den Ruin getrieben hatte, die Rechte an den Chemiepatenten zurückzubekommen. Und wegen dieser Unkenntnis werden sie auch nie nachvollziehen können, was Baharan mir bedeutet. Eines Tages werde ich es vielleicht Rosana erzählen. Sie sollte wissen, worauf wir Frauen in dieser Welt gefasst sein müssen, wie schutzlos wir sind, wie schnell wir raubtierhaften Männern zur Beute fallen.
Keine Ahnung, was mein Ältester getan oder nicht getan hat. Kane ist schließlich ein Mann, da muss man mit allem rechnen. Aber ich werde nicht den gleichen Fehler machen wie bei Paul. Ich werde nicht am Ende mit leeren Händen dastehen. Baharan wird weiterexistieren, und ich habe es schon längst mehr als verdient, selbst die Leitung des Unternehmens zu übernehmen.
»Das Ganze hat auch etwas Positives«, sagt Darius. »Der Unfall war schwer, oder? Eine komplette Woche hat Kane sich bereits freigenommmen. So etwas hat es bislang noch nie gegeben. Vielleicht zieht er sich ja für längere Zeit zurück, und wir haben Gelegenheit, dem Verwaltungsrat unsere Pläne für den neuen Ableger in Seattle schmackhaft zu machen.«
Anschließend sorgen wir dafür, dass ausgerechnet die Baufirma den Auftrag erhält, an der wir selbst stark beteiligt sind. Die Entwürfe haben wir wohlweislich mit genügend unnützen Posten aufgebauscht, die sich problemlos streichen lassen, um so mit Sicherheit das günstigste Angebot einzureichen. Mit dem Profit aus den Baumaßnahmen kann ich weitere Firmenanteile erwerben, und wenn deutlich wird, wie gewinnbringend die neue Abteilung ist, werden alle sich an Kanes allzu zögerliche Haltung erinnern.
Ich gehe an Darius vorbei, um meine Handtasche vom Konsolentisch an der gegenüberliegenden Seite zu holen. Das schmale Tischchen im Stile der Nachkriegsmoderne ist mein absolutes Lieblingsstück im Büro und passt hervorragend zu dem darüberhängenden Jasper Johns. Da ich bei Baharan das größte Büro habe, einen Eckraum mit einem eindrucksvollen Blick über Midtown aus zwei Fensterfronten, ist der Weg lang genug, um meine Frisur aufzulockern und den Sitz meiner Ohrringe zu überprüfen. Mein Besuch soll einen möglichst ungezwungenen Eindruck machen.
»Wenn die Verletzungen so richtig schwerwiegend sind, stirbt sie vielleicht«, spekuliert Darius weiter. »Dann hast du dir vollkommen grundlos Sorgen gemacht.«
Ich klemme mir die Tasche unter den Arm und erhasche in der Scheibe noch einen Blick auf meine weiße Zigarettenhose und das goldfarbene Seidentop. Der unentbehrliche Aromaspender verbreitet Azaleenduft im Raum.
»Im Ernst, Mom. Mach dir keinen Kopf deswegen. Es gab noch nie jemanden, an dem Kane lange Interesse hatte.« Vor dem glänzenden Walnussholz der Tür hebt Darius’ Gestalt sich groß und dunkel ab. »Er will jagen, sonst nichts. Sollte sie diesmal bleiben wollen, wird er sich schnell langweilen und sie ausbezahlen.«
Liebe und Schönheit vergehen. Treueschwüre bedeuten nichts. Aber Familie ist das Wichtigste. Meine Kinder sind noch jung, doch das werden sie gewiss noch lernen.
Darius hält mir die Tür auf.
Auf der Schwelle bleibe ich stehen und berühre seinen Unterarm. »Schreib Ramin noch mal und mach ihm klar, dass wir uns im Krankenhaus treffen.«
»Ich rufe ihn an«, erklärt Darius und nimmt sein Smartphone aus der Tasche.
Ich ziehe meine Hand wieder fort und schreite mit aufrechtem Gang durch die Tür.
Lily
Als ich wach werde, höre ich das Geräusch meines eigenen Herzschlags. Er ist langsam und regelmäßig – untermalt von einem steten elektronischen Piepen. Tief und schwer war die Schwärze, aus der ich auftauche. Aus weiter Ferne dringen Stimmen an mein Ohr, aber durch die große Distanz und das dröhnende Hämmern in meinem Kopf bleiben die Worte unverständlich.
Der Krankenhausgeruch verrät mir, wo ich gelandet bin. Mit aller Kraft gelingt es mir, die Augen zu öffnen und den verschwommenen Film fortzublinzeln, der mir die Sicht behindert. Irgendwas verstopft mir die Kehle, und ich kämpfe gegen die Kräfte an, die meine Arme davon abhalten, mich an Hals und Kinn zu kratzen. Prompt beschleunigt sich das Wummern meines Herzens, und ich muss husten. Meine Fingernägel zerren an dem Stück Tape, das den Schlauch fixiert, durch den Sauerstoff in meine Lunge geführt wird.
»Nicht, Setareh!«
Deine Stimme … dein Kosewort für mich …
Mein Blick schnellt durch den dunklen Raum und über die blassblauen Wände, bis deine groß gewachsene Gestalt sich in einer düsteren Ecke abzeichnet. Schnell gleitet sie zur Tür.
»Pfleger, kommen Sie! Sie ist aufgewacht.«
Das Tape löst sich von meinen Lippen, der Schlauch rutscht, und in meiner Luftröhre reibt etwas so heftig, dass der Schmerz meinen ganzen Körper durchfährt. Ein gequälter Aufschrei zerreißt Kopf und Brust.
»Nicht!«, befiehlst du. Diese geliebte Stimme, deren Klang meine Qual noch steigert. Du trittst ins Licht, und jetzt schwemmen die Tränen meinen Blick klar.
Du bist es, mein Liebster! In welchem Traum bin ich?
Falten klammern deine festen, vollen Lippen ein. Deine Augen, so dunkel wie früher, sind blutunterlaufen. Alle jugendliche Schlaksigkeit ist fort. Schultern und Brustkorb sind jetzt breiter, die Haare kürzer, du bist ein ausgewachsener Mann. Und wie ein edler Whiskey bist du mit den Jahren nur kräftiger und ausdrucksvoller geworden.
Du packst mich an den Handgelenken und hältst mich fest. Die Berührung fährt wie ein elektrischer Schlag durch meinen Körper. Deine Haut ist warm wie Rohseide und deine Kraft schmerzhaft zärtlich. Nach Luft ringend, atme ich tief durch die Nase ein und rieche dich, diesen berauschenden Duft, den ich nie vergessen konnte. Sinnlich, erdig und ungeheuer maskulin.
Mein Herz zieht sich zusammen, und das Piepen der Monitore schwillt zu einem Sirenengeheul an.
»Treten Sie zurück, Sir!«, bellt eine Männerstimme.
Du lässt mich los und machst Platz für den Pfleger. Kurz darauf eilt die Ärztin, die sich als Dr. Hamid vorstellt, hinzu, und nun wird es endgültig zu eng.
»Mr. Black«, sagt sie, und ich sehe, wie sie Latexhandschuhe überstreift, »lassen Sie uns doch jetzt bitte unsere Arbeit tun. Ihre Frau ist in den besten Händen.«