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Sexy, romantisch und voller Leidenschaft
Eliza Martin ist eine reiche Erbin. Das hat nicht nur Vorteile. Heiratsschwindler und Kuppler belagern sie, und in letzter Zeit fühlt sie sich beobachtet. Aber Eliza lässt sich nicht einschüchtern und beschließt, jemanden zu engagieren, der sich unter ihr Gefolge mischt und den Schuldigen findet. Jemanden, der nicht auffällt. Jasper Bond ist zu groß, zu gutaussehend, zu gefährlich. Doch Eliza reizt ihn. Und so ist es ihm ein Vergnügen, ihr zu beweisen, dass er genau der richtige Mann für diese Aufgabe ist ...
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Seitenzahl: 397
SYLVIA DAY
STOLZ UND
VERLANGEN
Roman
Aus dem Amerikanischen
von Eva Sudakowa-Blasberg
WILHELM HEYNE VERLAG
MÜNCHEN
Die Originalausgabe PRIDE AND PLEASURE
erschien 2011 bei Kensington Books, New York
Vollständige deutsche Erstausgabe 03/2014
Copyright © 2011 by Sylvia Day
Copyright © 2014 der deutschsprachigen Ausgabe by
Wilhelm Heyne Verlag, München
in der Verlagsgruppe Random House GmbH
Redaktion: Anita Hirtreiter
Umschlaggestaltung: Nele Schütz Design, München
unter Verwendung von © Masterfile/RF
Satz: KompetenzCenter, Mönchengladbach
ISBN: 978-3-641-11806-8
www.heyne.de
Dieses Buch widme ich Kate Duffy, meiner Freundin und Mentorin, die unendlich viel zu meiner Schriftstellerei, meiner Karriere und meinem Wohlbefinden beigetragen hat. Sie war unvergleichlich. Ich vermisse sie sehr.
1. Kapitel
London, 1818
Als Privatdetektiv war Jasper Bond schon zu den ungewöhnlichsten Orten zitiert worden, doch heute erstmalig in eine Kirche. Manche seiner Auftraggeber waren in den Elendsvierteln zu Hause, wo Jaspers Mitarbeiter häufig verkehrten. Andere residierten in Palästen. Dieser potenzielle Kunde nun schien sehr religiös zu sein, da er St. George als Ort für ihr Stelldichein bestimmt hatte. Jasper vermutete, die Kirche werde von seinem Klienten als sicherer Ort angesehen, was wiederum bedeutete, dass dieser sich unwohl dabei fühlte, einen Detektiv von zweifelhafter Moral zu engagieren. Jasper war das nur recht. Er würde wahrscheinlich gut bezahlt und auf Abstand gehalten werden: Das waren ihm die liebsten Aufträge.
Er stieg aus dem Landauer und blieb dann einen Moment stehen, um den eindrucksvollen Portikus und die korinthischen Säulen an der Kirchenfassade zu bewundern. Gedämpfter Gesang ertönte aus dem Inneren der Kirche, was ein angenehmer Kontrast zu den bellenden Rufen der Kutscher und dem lauten Hufgeklapper war. Mit seiner behandschuhten Hand umfasste er den Adlerkopf an der Spitze seines Spazierstocks, nahm den Hut ab und entließ seinen Kutscher mit einer Handbewegung.
Das heutige Treffen war von Mr. Thomas Lynd arrangiert worden, einem Mann, dem Jasper beruflich und privat uneingeschränkt vertraute, was nicht zuletzt daran lag, dass Lynd in dem Metier sein Mentor gewesen war. Jasper würde sich nie anmaßen, sich als moralischen Menschen zu bezeichnen, aber er handelte nach dem Moralkodex, den Lynd ihn gelehrt hatte – hilf denen, die es wirklich brauchen. Er erpresste kein Schutzgeld, wie es andere Privatdetektive taten. Er stahl nicht mit einer Hand Güter, um sie danach mit der anderen Hand gegen Lösegeld wieder herauszugeben. Nein, er war dazu da, um Verlorenes wiederzufinden und um jenen, die sich bedroht fühlten, Schutz zu gewähren. Das warf natürlich die Frage auf, warum Lynd diesen Auftrag an ihn weitergab. Da sie beide ähnliche Prinzipien hatten, war ein jeder so gut wie der andere.
Jasper hatte eine ausgeprägte Vorliebe für Rätsel und Geheimnisse und war daher viel zu neugierig auf Lynds Motive, um etwas anderes zu tun, als seiner Aufforderung Folge zu leisten. Obwohl dieser Auftrag es erforderte, dass er die Befragung persönlich durchführte, was er in der Regel nur selten tat. Er zog es vor, vertrauensvolle Mitarbeiter an die Front zu schicken und selbst im Hintergrund zu agieren, um die Anonymität zu wahren, die für seine weitreichenderen persönlichen Pläne erforderlich war.
Er erklomm die Stufen zum Kirchenportal, trat ein und hielt einen Moment inne, um die ihm entgegenklingende Musik auf sich wirken zu lassen. An der rechten Seite befand sich die mit einem Baldachin überdachte Kanzel, auf der linken Seite das zweigeteilte Lesepult. Die Kirchenbänke waren leer. Nur der Chor erfüllte den Raum, erhob die Stimme zu jubelndem Lobgesang.
Jasper zog seine Taschenuhr heraus und sah nach, wie spät es war. Er war auf die Minute pünktlich. Wie er festgestellt hatte, war es in seinem Beruf sehr nützlich, wenn man niemanden warten ließ. Er ging zu den Treppen, die zur rechten Empore hinaufführten, dem verabredeten Treffpunkt.
Als er auf dem Treppenabsatz ankam, blieb er stehen. Ihm fiel ein zerzauster weißer Haarschopf ins Auge, der an diesem würdevollen Ort beinahe grotesk wirkte. Ein hilflos überfordertes schwarzes Band reichte nicht aus, um die Masse an Haaren zu etwas anderem zu zähmen als zu einem schlampigen, schiefen Zopf. Während Jasper gebannt auf die Erscheinung starrte, kratzte sich der unglückselige Besitzer der schrecklichen Frisur am Kopf und schuf noch mehr Unordnung.
Jasper war derart fasziniert von der Monstrosität dieser Haarfülle, dass es einen Moment dauerte, bis er die zierliche Gestalt daneben bemerkte. Doch sobald er sie registrierte, war sein Interesse geweckt. Im Gegensatz zu ihrem Begleiter war die Frau mit schimmernden rotblonden Locken gesegnet, deren Farbe so exquisit und selten war, dass es Jasper den Atem verschlug. Der Mann und die Frau waren die einzigen Menschen auf der Empore, aber keiner von beiden strahlte diese angespannte Erwartung aus, wie sie bei Menschen typisch ist, die auf jemanden oder etwas warten. Stattdessen waren sie jeder für sich ganz auf den unten singenden Chor konzentriert.
Wo war die Person, die er treffen sollte?
Die Frau schien zu spüren, dass man sie beobachtete, denn sie wandte sich um und begegnete Jaspers forschendem Blick. Sie war attraktiv. Nicht auf die sensationelle Art wie ihr herrliches Haar, aber dennoch äußerst liebreizend. Sie hatte hohe Wangenknochen, eine markante Nase und schöne blaue Augen, die ihn unter dichten Wimpern hervor ansahen. Als sie sich auf die Unterlippe biss, enthüllte sie gerade weiße Zähne, und als sie die Lippen dann schürzte, bildete sich in ihrem Kinn ein kleines Grübchen. Ihr Gesicht war eher apart als schön, und in ihrer Miene spiegelte sich bei Jaspers Anblick deutliches Missfallen.
»Mr. Bond«, sagte sie nach kurzem Zögern, »ich habe Sie gar nicht bemerkt.«
Dafür könnte man den Chor verantwortlich machen. Die Wahrheit war jedoch, dass er die Gabe hatte, sich völlig lautlos zu bewegen. Diese Fähigkeit hatte er sich vor langer Zeit angeeignet. Sie hatte ihm damals das Leben gerettet wie auch in den Jahren darauf.
Die Frau stand auf, ging entschlossenen Schrittes zu ihm und streckte ihm die Hand entgegen. Wie auf Kommando beendete der Chor seine Hymne und hinterließ eine jähe Stille, in die hinein sie sagte: »Mein Name ist Eliza Martin.«
Ihre Stimme überraschte ihn. Sanft wie eine Sommerbrise, aber durchsetzt mit Stahl. Der Klang blieb in der Luft hängen, regte Jaspers Fantasie dazu an, in Richtungen abzuschweifen, die er tunlichst vermeiden sollte.
Er nahm den Spazierstock in die andere Hand und begrüßte die Frau. »Miss Martin.«
»Danke, dass Sie so freundlich waren, mich zu treffen. Gleichwohl sind Sie genau das, was ich befürchtet hatte.«
»Oh?« Ihre direkte Art verblüffte ihn, verstärkte sein Interesse. »In welcher Hinsicht?«
»In jeder, Sir. Ich habe Mr. Lynd kontaktiert, weil wir einen bestimmten Typ Mann brauchen. Es versteht sich von selbst, dass Sie dem nicht entsprechen.«
»Könnten Sie mir das vielleicht näher erläutern?«
»Dazu müsste ich zu weit ausholen«, bemerkte sie.
»Sei’s drum. Für einen Mann in meiner Position ist es erforderlich, dass das Handeln anderer Menschen für ihn absehbar ist, doch sein eigenes sollte das auf keinen Fall sein. Da Sie behaupten, ich sei der Inbegriff dessen, was Sie nicht wollen, muss ich die Kriterien erfahren, auf denen Ihr Urteil beruht.«
Miss Martin schien seine Antwort zu überdenken. Jasper nutzte die Zeit, um seine Gedanken zu sammeln, und gelangte zu demselben Schluss, den sein Instinkt ihm schon beim ersten Blick verraten hatte: Eliza Martin war sich seiner im höchsten Grad gewahr. Ohne es zu wissen, reagierte sie genauso instinktiv auf ihn wie er auf sie: Ihre Nasenflügel bebten, ihre Atmung beschleunigte sich, ihr Körper vibrierte vor unterschwelliger Erregung … so wie eine Hirschkuh, die den Jäger witterte.
»Ja«, sagte sie mit einem leichten Stocken in der Stimme. »Da haben Sie nicht ganz unrecht.«
»Natürlich. Ich lüge Klienten niemals an.« Er ging auch niemals mit ihnen ins Bett, doch das würde sich ändern.
»Ich habe Sie bislang noch nicht engagiert«, erinnerte sie ihn, »deshalb bin ich auch keine Klientin.«
Der Mann mit dem zerzausten weißen Haarschopf mischte sich ein. »Eliza, heirate Montague und beende diese Farce.«
Sobald er diesen Namen hörte, wusste Jasper, warum er den Auftrag erhalten hatte und wie gering Elizas Chancen standen, ihn abzulehnen.
»Ich werde mich nicht einschüchtern lassen, Mylord«, entgegnete sie fest.
»Dann biete Mr. Bond einen Platz an.«
»Das wird nicht nötig sein.«
Ungerührt nahm Jasper in der Bankreihe hinter dem Weißschopf Platz.
»Mr. Bond …« Resigniert zuckte Miss Martin die Achseln. »Mylord, darf ich Ihnen Mr. Jasper Bond vorstellen? Mr. Bond, das ist mein Onkel, der Earl of Melville.«
»Lord Melville.« Jasper begrüßte den Mann mit einer leichten Verbeugung. Melville war das Oberhaupt der Tremaines, einer Familie, die für ihre Exzentrik bekannt war. »Ich glaube, Sie werden feststellen, dass ich für jede Aufgabe, die eines Privatdetektivs bedarf, bestens geeignet bin.«
Miss Martin musterte ihn aus schmalen Augen, was ein stummer Tadel für seinen Versuch, sie zu übergehen, war. »Sir, Sie haben bestimmt viele Fähigkeiten. Doch in diesem Fall …«
»Sie wollten mir noch erläutern, was gegen mich spricht …«, warf er ein, um wieder zum Ausgangspunkt zurückzukehren. Er hatte kein Verlangen, in der Sache fortzufahren, solange es noch ungeklärte Dinge gab.
»Sie sind überaus beharrlich.« Sie blieb stehen, als bereitete sie sich darauf vor, ihn zu verabschieden.
»Das ist in meinem Beruf eine ausgezeichnete Eigenschaft.«
»Schon, aber das macht den Rest nicht besser.«
»Welchen Rest?«
Der Blick des Earls schoss zwischen ihnen hin und her.
Sie schüttelte den Kopf. »Können wir es nicht einfach dabei belassen, Mr. Bond?«
»Wenn es nach mir geht, nein.« Er legte seinen Hut auf den Platz neben sich. »Ich war immer stolz auf meine Fähigkeit, mit jeder Situation fertigzuwerden. Wie soll ich meine Arbeit weiterhin auf beispielhafte Weise erfüllen, wenn ich diesem Anspruch nicht länger genügen kann?«
»Wirklich, Sir«, protestierte Miss Martin. »Ich sage ja nicht, dass Sie für Ihren Beruf ganz und gar ungeeignet sind, doch in Anbetracht unserer Situation …«
»Und die wäre …?«
»Eine ziemlich prekäre Angelegenheit.«
»Ich kann Ihnen nicht helfen, wenn ich die Details nicht kenne«, erwiderte er.
»Ich will Ihre Hilfe nicht, Mr. Bond. Das scheinen Sie immer noch nicht verstanden zu haben.«
»Weil Sie sich weigern, mich aufzuklären. Mr. Lynd war der Meinung, ich sei für den Auftrag geeignet, und Sie hatten genügend Vertrauen in sein Urteil, um dieses Treffen zu arrangieren.« Jasper würde Lynd eine hübsche Summe für die Vermittlung bezahlen. Es war zu lange her, seit er an irgendetwas, das jenseits seines Wunsches nach Vergeltung lag, ein so großes Interesse gehabt hatte.
»Mr. Lynd hat nicht dieselben Vorstellungen wie ich.«
»Die da wären …?«
»Sir, Sie sind unmöglich!«
Und sie war faszinierend. Ihre Augen funkelten vor Zorn, ihr rechter Fuß klopfte auf den Boden, und ihre Hände zuckten nach unten, als wollte sie sie in die Hüften stemmen. Doch sie widerstand der Versuchung. Er fand ihre Beherrschung höchst reizvoll. Was müsste er tun, um ihren Widerstand zu brechen und sie dazu zu bringen, ihre Kontrolle zu verlieren? Er konnte es kaum erwarten, das herauszufinden.
»Ich werde Sie für Ihren Zeitaufwand entschädigen«, sagte sie, »damit der heutige Tag für Sie kein totaler Verlust ist. Des Weiteren besteht kein Anlass, diese Unterhaltung fortzusetzen.«
»Sie übersehen die Möglichkeit, dass ich die Absicht haben könnte, Ihnen einen meiner Mitarbeiter zuzuteilen, Miss Martin. Doch um entscheiden zu können, wer sich für die Aufgabe am besten eignet, muss ich mir erst ein Bild von der Sachlage machen.« Natürlich hatte er vor, den Fall selbst zu übernehmen, war sich für eine kleine List allerdings nicht zu schade, wenn der Preis derart appetitlich war.
»Oh.« Erneut biss sie sich auf die Unterlippe. »Das hatte ich nicht bedacht.«
»Richtig.«
Mit einer anmutigen Bewegung sank Miss Martin auf die Kirchenbank. »Nur damit das klar ist – Sie werden den Auftrag nicht übernehmen.«
»Das ist nicht klar.« Er klemmte seinen Spazierstock zwischen die Beine und hielt ihn mit beiden Händen fest. »Zumindest nicht für mich.«
Ihr Blick wanderte von Jasper zu Seiner Lordschaft und danach – widerwillig – wieder zurück zu Jasper. »Sie zwingen mich dazu, Dinge zu sagen, die ich lieber nicht sagen würde, Mr. Bond. Aber gut: Sie sind zu attraktiv für die Aufgabe.«
Im ersten Moment verschlug es ihm die Sprache. Dann lächelte er in sich hinein. Wie reizend sie war, selbst wenn sie vor Wut kochte.
»Mr. Lynd ist keine so auffällige Erscheinung wie Sie«, fuhr sie fort. »Sie sind sehr groß und, wie gesagt, viel zu attraktiv.«
Lynd war zwanzig Jahre älter und entsprach in Größe, Aussehen und Körperbau dem allgemeinen Durchschnitt. Als Jasper zu dem Earl hinübersah, stellte er fest, dass dieser seine Nichte verwirrt musterte. »Offen gestanden ist mir schleierhaft, was mein Aussehen mit meiner Qualifikation als Detektiv zu tun haben soll.«
»Darüber hinaus« – ihre Stimme wurde fester, als sie sich für das Thema, das Jaspers vermeintliche Schwäche zum Inhalt hatte, erwärmte – »könnten Sie Ihre Ausstrahlung, die zwangsläufig alle Blicke auf sich zieht, unmöglich verbergen.«
»Bitte verraten Sie mir doch, was Sie damit meinen.« Es fiel ihm schwer, sich sein zunehmendes Vergnügen an der Unterhaltung nicht anmerken zu lassen.
»Sie sind ein Raubtier, Mr. Bond, sowohl was Ihr Aussehen als auch Ihr Verhalten betrifft. Um es ganz offen zu sagen: Sie scheinen ein gefährlicher Mann zu sein.«
»Verstehe.« Seine Faszination wuchs. Vielleicht war sie gar nicht so unschuldig, wie man auf den ersten Blick meinen konnte. Er gab viel zu viel Geld für seine Kleidung aus und kreierte mit Absicht ein vollkommenes Äußeres. Nur wenige Menschen nahmen wahr, dass er durchaus ein Zeitgenosse mit Ecken und Kanten war.
»Zweifellos wären Sie in Ihrem Metier nicht so erfolgreich, wenn Sie nicht raubtierhafte und gefährliche Eigenschaften hätten«, fügte sie in besänftigendem Ton hinzu.
»Neben etlichen anderen«, entgegnete er.
Miss Martin nickte. »Ja, ich nehme an, Ihr Beruf erfordert es, dass Sie in vielen Dingen bewandert sind.«
»Das ist auf jeden Fall hilfreich.«
»Gleichwohl macht Ihr gutes Aussehen all dies zunichte.«
Jasper fand es an der Zeit, einen Vorstoß zu wagen. »Könnten Sie endlich zur Sache kommen, Miss Martin? An welche Aufgabe hatten Sie gedacht, als Sie mich engagierten?«
»Nun ja, mehrere Aufgaben. Schutz, Ermittlungen und – die Rolle als mein Verehrer.«
»Verzeihung?« Bonds tiefe Stimme hallte durch die Stille.
Eliza war verlegen und durcheinander, und dieser Zustand war einzig und allein seine Schuld. Sie hatte nicht damit gerechnet, dass er so hartnäckig und so neugierig sein würde. Und ganz gewiss hatte sie nicht mit einem derart umwerfenden Mann gerechnet. Er war nicht nur der attraktivste Mann, den sie jemals gesehen hatte, sondern auch elegant gekleidet wie ein Adliger, und trotz seiner Größe bewegte er sich mit geschmeidiger, tigerartiger Anmut.
Und darüber hinaus betrachtete er sie auf eine Art, die zwangsläufig zu Problemen führen würde.
Es war höchst beunruhigend, von einem so außergewöhnlichen Mann wie Jasper Bond eine derartige Aufmerksamkeit zu bekommen. In der Regel verschwendeten Männer wie er keinen Blick an eine durchschnittlich aussehende Frau. Aus diesem Grund bemühte sie sich auch, ihre Kleidung so unauffällig wie möglich zu halten. Warum Reaktionen hervorrufen, mit denen sie aus Mangel an Erfahrung nicht umgehen konnte?
Vielleicht war sein Interesse durch ihre Haarfarbe erregt worden? Ihre Mutter hatte behauptet, dass manche Männer eine spezielle Vorliebe für bestimmte Teile des weiblichen Körpers und für eine bestimmte Haarfarbe hätten.
»Wiederholen Sie das bitte, Miss Martin«, sagte Bond, während er ihrem Blick fest standhielt.
Es war ihr Fluch, dass sie nicht anders konnte, als einem Gesprächspartner immer in die Augen zu sehen. Das Denken fiel ihr schwer, wenn sie einen so vollkommen aussehenden, beeindruckenden Mann wie Bond vor sich hatte. Sein Haar war so dicht und dunkel wie Elizas Lieblingstinte und hatte einen ähnlichen Schimmer. Die Haarlänge – eine Idee zu lang – war der perfekte Rahmen für seine Gesichtszüge: die stolze Nase, die tief liegenden Augen, der sinnliche Mund. Es zeugte von seinem Auftreten, dass er trotz eines so hübschen Gesichts furchterregend wirkte. Er war eindeutig ein Mann, den man sich besser nicht zum Feind machen sollte.
»Ich benötige Schutz«, wiederholte sie.
»Ja.«
»Ermittlungen …«
»Diesen Teil habe ich verstanden.«
»Und« – sie reckte ihr Kinn in die Höhe – »einen Verehrer.«
Er nickte, als wäre das eine ganz normale Forderung, doch seine Augen funkelten vor Neugierde. »Genau das glaubte ich auch gehört zu haben.«
»Eliza …« Der Earl starrte auf seine verschränkten Hände und schüttelte den Kopf.
»Mylord«, begann Bond in beiläufigem Ton, »war Ihnen der Inhalt von Miss Martins Anliegen bekannt?«
»Schwere Zeiten sind das«, murmelte Lord Melville. »Schwere Zeiten.«
Bond wandte sich wieder Eliza zu. Fragend hob sie die Brauen.
»Ist er taub?«, erkundigte er sich.
»Er ist hochintelligent, aber etwas wirr im Kopf.«
»Vielleicht verwirrt ihn ja Ihre Argumentation.«
Sie straffte die Schultern. »Meine Argumentation ist vernünftig. Und Sarkasmus ist nicht angebracht, Mr. Bond. Unterlassen Sie das bitte.«
»Ach?« Der gefährliche Unterton in seiner Stimme war nicht zu überhören. »Und was hoffen Sie durch einen Verehrer zu erreichen?«
»Ich benötige nicht die Dienste eines Deckhengstes, Sir. Nur ein verkommenes Individuum würde zu solch einem Schluss gelangen.«
»Die Dienste eines Deckhengstes …«
»War es nicht das, was Sie gedacht haben?«
Er bedachte sie mit einem hinreißenden Lächeln. Eliza spürte, wie ihr Herzschlag einige Takte aussetzte. »Nein, das habe ich nicht gedacht.«
Da sie dieses Treffen so schnell wie möglich beenden wollte, preschte sie nach vorne. »Haben Sie jemanden, der mir behilflich sein kann, oder nicht?«
Bond schnaubte leise, doch der spöttische Laut schien nach innen gerichtet zu sein und nicht ihr zu gelten. »Wenn Sie gestatten, Miss Martin, fangen wir ganz von vorne an. Warum benötigen Sie Schutz?«
»Ich habe festgestellt, dass ich seit einiger Zeit wiederholt das Opfer verschiedener unglückseliger und verdächtiger Vorfälle bin.«
Eliza rechnete damit, dass er lachen oder ihr zumindest einen zweifelnden Blick zuwerfen würde. Nichts davon trat ein. Stattdessen veränderte sich sein Gesichtsausdruck. Seine Wachsamkeit, die er von Beginn an gezeigt hatte, verdichtete sich bei ihren Worten zu einer angespannten Konzentration.
Er beugte sich leicht nach vorne. »Welche Art von Vorfällen sind das denn?«
»Ich wurde in den Serpentine-See im Hyde Park geschubst. An meinem Sattel wurde manipuliert. Eine Schlange wurde in meinem Schlafzimmer ausgesetzt …«
»Soweit ich weiß, war es ein Kriminalpolizist, der Sie an Mr. Lynd verwiesen hat, worauf Mr. Lynd mich an Sie verwies.«
»Ja, ich hatte einen Monat lang einen Polizisten engagiert, Mr. Bell, aber er fand nichts heraus. Während er in meinen Diensten stand, kam es zu keinerlei Zwischenfällen.«
»Wer sollte Ihnen etwas antun wollen und warum?«
Sie schenkte ihm ein kleines Lächeln, ein Zeichen ihrer Dankbarkeit für den Ernst, den er an den Tag legte. Anthony Bell war ihr sehr empfohlen worden, doch er hatte sie niemals ernst genommen. Vielmehr hatten ihn ihre Geschichten belustigt, und Eliza hatte nie das Gefühl gehabt, dass es ihm ein Anliegen sei, die Sache aufzuklären. »In der Tat bin ich mir nicht sicher, ob man mir körperlichen Schaden zufügen will oder ob man mich einfach in eine Heirat drängen möchte, die dauerhafte Sicherheit verspricht. Ich sehe weder für das eine noch für das andere einen vernünftigen Grund.«
»Sind Sie wohlhabend, Miss Martin? Oder werden Sie das irgendwann sein?«
»Ja. Deshalb bezweifle ich auch, dass man mich ernsthaft verletzen will – lebendig bin ich mehr wert. Aber einige Menschen glauben, ich sei im Haus meines Onkels nicht mehr sicher. Sie behaupten, er könne nicht gut auf mich aufpassen; er sei nicht ganz bei Trost und reif für Bedlam, die Irrenanstalt. Als mitfühlender Mensch würde man nicht einmal einen streunenden Hund dort unterbringen, geschweige denn einen geliebten Verwandten.«
»Papperlapapp«, knurrte der Earl. »Ich bin körperlich und geistig absolut in Form.«
»Das stimmt, Mylord«, sagte Eliza und lächelte ihn liebevoll an. »Ich habe allen klargemacht, dass Lord Melville wahrscheinlich hundert Jahre alt werden wird.«
»Was genau wollen Sie damit erreichen, wenn Sie mich zu Ihrer Verehrerschar hinzufügen?«, fragte Bond. »Den Übeltäter abschrecken?«
»Sie meinten wohl, wenn ich einen Ihrer Mitarbeiter hinzufüge«, verbesserte sie ihn. »Nun, vielleicht kann ich dadurch in den noch verbleibenden sechs Wochen der Saison weitere Zwischenfälle vermeiden. Und falls mein neuer Verehrer als Bedrohung angesehen wird, wird der Übeltäter sein böses Tun womöglich auf ihn konzentrieren. Dann haben wir eine Chance, den Feind dingfest zu machen. Es würde mich wirklich interessieren, nach welchen Kriterien er seinen Plan ausrichtet und welche Vorteile er sich davon verspricht.«
Bond lehnte sich zurück. Er schien tief in Gedanken versunken zu sein.
»Eine so gefährliche Rolle würde ich niemals einem ungeschulten Mann vorschlagen«, warf sie rasch ein. »Doch ein Privatdetektiv, der es gewöhnt ist, mit Kriminellen und anderen unglückseligen Subjekten umzugehen … Ich nehme an, die Leute, die Ihren Beruf ausüben, sind einem ruchlosen Mitgiftjäger mehr als gewachsen.«
»Verstehe.«
Ihr Onkel murmelte vor sich hin, bearbeitete in Gedanken Rätsel und Gleichungen. Wie Eliza fühlte er sich bei Ereignissen und Reaktionen am wohlsten, die messbar und einigermaßen vorhersehbar waren. Sich mit unlogischen Themen zu befassen war schlicht zu anstrengend.
»Welchen Typ Mann würden Sie für diese Rolle als Verehrer, Beschützer und Ermittler als ideal erachten?«, fragte Bond schließlich.
»Er sollte ruhig, ausgeglichen und ein geübter Tänzer sein.«
Mit finsterer Miene hakte er nach. »Wieso qualifizieren Tumbheit und die Fähigkeit zu tanzen dazu, einen möglichen Mörder zu fassen?«
»Von Tumbheit war nicht die Rede, Mr. Bond. Legen Sie mir bitte keine Worte in den Mund, die ich nicht gesagt habe. Um als Verehrer und Freier glaubhaft zu wirken, sollte es ein Mann sein, bei dem alle verstehen, dass ich mich zu ihm hingezogen fühle.«
»Und attraktive Männer ziehen Sie nicht an, ja?«
»Mr. Bond, ich bin nicht gern unhöflich. Aber Sie lassen mir keine andere Wahl. Tatsache ist, dass Sie eindeutig nicht der Typ Mann sind, dessen Charakter mit einer Ehe vereinbar wäre.«
»Ich bin erleichtert zu hören, dass eine Frau das erkennt«, knurrte er.
»Wie könnte daran ein Zweifel bestehen?« Sie machte eine schweifende Handbewegung. »Ich kann Sie mir eher bei einem Schwert- oder Faustkampf vorstellen als bei einem nachmittäglichen Krocketspiel, einer entspannenden Schachpartie nach dem Abendessen oder einem ruhigen Abend im Familien- oder Freundeskreis. Ich bin eine Intellektuelle, Sir. Und obwohl ich Ihnen keineswegs einen gewissen Scharfsinn absprechen möchte, sind Sie doch ganz offensichtlich eher für körperliche Aufgaben geschaffen.«
»Verstehe.«
»Man muss Sie ja nur ansehen, um zu merken, dass Sie anders als die anderen Männer sind. Es wäre sofort klar, dass ich niemals auch nur im Entferntesten einen Mann wie Sie in Betracht ziehen würde. Wir beide sind grundverschieden, und jeder weiß, dass ich viel zu klug bin, um das nicht zu sehen. Kurz gesagt, Sir, Sie sind nicht mein Typ.«
Er bedachte sie mit einem ironischen Blick, der jedoch frei von jeder Selbstgefälligkeit war, die Eliza als ärgerlich empfunden hätte. Nein, er vermittelte ein gesundes Selbstbewusstsein, bar jeglicher Eitelkeit. Zu Elizas Missfallen fand sie diese Eigenschaft höchst anziehend.
Er würde ihr Probleme bereiten. Und Probleme mochte Eliza nicht.
Jasper sah zum Earl hinüber. »Bitte verzeihen Sie mir, Mylord, aber dieses Thema verlangt offene Worte. Zumal es sich hier um Miss Martins Wohlergehen handelt.«
»Richtig«, stimmte Melville zu. »Nur nicht um den heißen Brei herumreden, sage ich immer. Die Zeit ist zu kostbar, um sie mit Trivialitäten zu vergeuden.«
»Ganz meine Meinung.« Lächelnd wandte sich Bond wieder Eliza zu. »Miss Martin, entschuldigen Sie, aber ich muss darauf hinweisen, dass Sie aufgrund Ihrer Unerfahrenheit die Situation nicht richtig beurteilen können.«
»Unerfahrenheit in Bezug worauf?«
»Auf Männer. Genauer gesagt, Mitgiftjäger.«
»Darf ich Sie darauf hinweisen«, entgegnete sie schnippisch, »dass ich im Verlauf von sechs Saisons mehr als genug Erfahrung mit Männern gesammelt habe, die auf eine lukrative Verbindung aus waren.«
»Warum ist Ihnen dann nicht bewusst«, sagte er gedehnt, »dass der Erfolg, den diese Männer haben, nichts mit ihrer gesellschaftlichen Tauglichkeit zu tun hat?«
Eliza blinzelte. »Verzeihung?«
»Frauen heiraten Mitgiftjäger nicht deshalb, weil sie tanzen und langweilig herumsitzen können. Sie heiraten sie wegen ihres guten Aussehens und ihrer körperlichen Leistungsfähigkeit – zwei Eigenschaften, die Sie an mir bereits festgestellt haben.«
»Ich verstehe nicht …«
»Das ist offensichtlich, daher werde ich es Ihnen erklären.« Sein Lächeln wurde breiter. »Mitgiftjäger, die Erfolg haben, sind nicht bestrebt, die intellektuellen Bedürfnisse einer Frau zu erfüllen. Das können Freunde und Bekannte leisten. Diese Männer trachten nicht danach, den guten Freund zu spielen, mit dem man an gesellschaftlichen Ereignissen teilnimmt oder gepflegt Schach spielt. Auch dafür gibt es genügend andere, die das tun können.«
»Mr. Bond …«
»Nein, sie wollen in einer einzigen Sache brillieren, einer Kunst, die nur wenige Männer wirklich gut beherrschen. Diese besondere Fähigkeit ist so selten, dass viele Frauen sie über alle anderen Bedenken stellen.«
»Bitte sagen Sie jetzt nicht …«
»Unzucht«, murmelte der Earl, um gleich darauf sein Selbstgespräch fortzusetzen.
Eliza sprang auf. »Mylord!«
Wie es die Höflichkeit gebot, standen jetzt auch ihr Onkel und Mr. Bond auf.
»Ich bezeichne es lieber als ›die Kunst der Verführung‹«, sagte Bond mit einem belustigten Funkeln in den Augen.
»Und ich bezeichne es als lächerlich«, rief sie und stemmte die Hände in die Hüften. »Ist Ihnen überhaupt bewusst, wie wenig Zeit ein Mensch, verglichen mit anderen Tätigkeiten, im Bett verbringt?«
Er senkte den Blick auf ihre Hüften. Sein Lächeln wurde zu einem breiten Grinsen. »Das hängt nun wahrlich davon ab, wer besagtes Bett mit einem teilt.«
»Gütiger Himmel!« Eliza erbebte unter Jaspers Blick. Er war … erwartungsvoll. Aus irgendeinem unbekannten Grund hatte sie es geschafft, dass sich dieser Mr. Jasper in seinem verfluchten männlichen Stolz herausgefordert fühlte.
»Geben Sie mir eine Woche«, schlug er vor. »Eine Woche, um sowohl die Richtigkeit meiner Argumentation als auch meine Kompetenz unter Beweis zu stellen. Sollten Sie am Ende weder von dem einen noch dem anderen überzeugt sein, werde ich keine Bezahlung für meine Dienste verlangen.«
»Ausgezeichneter Vorschlag«, sagte der Earl. »Und ohne das Risiko eines Verlustes.«
»Das stimmt nicht«, rief Eliza störrisch. »Wie soll ich Mr. Bonds plötzliches Verschwinden erklären?«
»Also verlängern wir auf zwei Wochen«, sagte Bond.
»Sie verstehen das Problem nicht. Ich bin keine Schauspielerin. Alle Welt wird mir ansehen, dass ich weit davon entfernt bin, einer ›Verführung‹ zu erliegen.«
Sein Grinsen gewann eine andere Note, begleitet von einem glutvollen Ausdruck in seinen dunklen Augen. »Diesen Teil des Plans sollten Sie mir überlassen. Schließlich ist es das, wofür ich bezahlt werde.«
»Und wenn Sie versagen? Wenn Sie von dem Fall zurücktreten, werde ich nicht nur gezwungen sein, eine Ausrede für Sie zu erfinden, sondern ich werde als Ersatz für Sie auch einen anderen Privatdetektiv ins Spiel bringen müssen. Dann wird die ganze Geschichte noch verdächtiger.«
»Haben Sie seit sechs Jahren dieselbe Gruppe von Verehrern, Miss Martin?«
»Darum geht …«
»Haben Sie nicht gerade erst die Gründe aufgezählt, warum ich kein passender Verehrer bin? Und können Sie diese Punkte nicht einfach wieder anführen, wenn sich jemand nach meinem Verbleib erkundigt?«
»Sie sind überaus hartnäckig, Mr. Bond.«
»Richtig.« Er nickte. »Deshalb werde ich herausfinden, wer hinter den heimtückischen Anschlägen auf Sie steckt und was diese Person sich davon verspricht.«
Sie verschränkte die Arme. »Ich bin nicht überzeugt.«
»Vertrauen Sie mir. Es ist in der Tat ein glücklicher Zufall, dass Mr. Lynd uns beide zusammengebracht hat. Sollte ich den Bösewicht nicht schnappen, wage ich zu behaupten, dass er nicht geschnappt werden kann.« Er legte die Hand um die Spitze seines Spazierstocks. »Die Zufriedenheit meiner Klienten ist bei mir eine Frage des Stolzes, Miss Martin. Ich versichere Ihnen, wenn die Sache beendet ist, werden Sie mit meiner Leistung mehr als zufrieden sein.«
2. Kapitel
»Mitunter bin ich von meiner eigenen Brillanz beeindruckt«, rief Thomas Lynd triumphierend, als er mit dem Hut in der Hand Jaspers Büro betrat.
Man konnte bei Lynd darauf vertrauen, dass er auf die Dienste eines Butlers verzichtete. Ihm waren Lakaien lieber als Butler, die sich aufgrund ihrer Ausbildung besser zu benehmen wussten als er selbst.
Jasper lehnte sich in seinem Stuhl zurück und begrüßte Lynd mit einem freundlichen Lächeln. »Dieses Mal haben Sie sich selbst übertroffen.«
Wie immer war Lynds Kleidung im Stil übertrieben und in der Passform schlecht. Das war das Ergebnis eines mangelhaften Schneiders, der teuren Stoff erhielt, jedoch nicht wusste, wie man ihn am besten nutzte. Ungeachtet dessen gab Lynd ein entschieden vornehmeres Erscheinungsbild ab als viele andere Männer in diesem Beruf. Er bewegte sich auf einem schmalen gesellschaftlichen Grat, der es ihm ermöglichte, bei den unteren Klassen respektiert und geschätzt zu bleiben, während er sich dem Adel auf eine Art präsentierte, die dieser als unbedrohlich empfand.
Lynd ließ sich in einen der beiden Stühle vor dem Schreibtisch fallen. »Sobald sie Montague erwähnte, war für mich die Sache klar.«
Obwohl er Jasper regelmäßig besuchte, sah sich Lynd nun im Raum um, als sähe er ihn zum ersten Mal. Sein Blick wanderte von den Mahagoni-Bücherregalen, die sich an der hinteren Wand entlangzogen, zu den saphirblauen Samtvorhängen, die die gegenüberliegenden Fenster rahmten. »Außerdem wollte sie jemanden, der zu allem Ja und Amen sagt, und mit Ihrem Stammbaum kann keiner von unseren Bekannten mithalten.«
»Eine illegitime Abstammung ist niemals von Vorteil.« Jasper überbrückte den schmalen Grat, auf dem Lynd so sicher wandelte, mit einer Grätsche, was überraschenderweise zu seinen Gunsten ausfiel. Er wurde oft von Leuten angeheuert, denen es wichtig war, dass seine Dienste nicht bemerkt wurden, und die in der Lage waren, die zusätzlichen Kosten zu bezahlen, die bei einem so diskreten Vorgehen anfielen. Da sein Gesicht nicht allzu bekannt war, war er für Eliza Martins Auftrag bestens geeignet.
»In diesem Fall ist es durchaus von Vorteil.« Lynd strich durch sein braunes Haar, das noch keine Anzeichen von Grau hatte. »Man muss hart im Nehmen sein, um die pompösen Wichtigtuer ertragen zu können, mit denen Melvilles Nichte Sie bekannt machen wird, und Sie werden bei den gesellschaftlichen Anlässen, die Sie mit ihr besuchen müssen, weniger auffallen als die meisten anderen, die ich kenne.«
Jasper stand auf und ging zu dem Konsoltischchen neben dem Fenster, auf dem Alkoholflaschen und Kristallgläser standen. Lynd war einer der wenigen Menschen, die über Jaspers Abstammung Bescheid wussten. Sein Protegé vertraute ihm voll und ganz, da er dessen Mutter einstmals, als sie in Not war, einen Gefallen getan hatte.
Während Jasper zwei Glas Armagnac einschenkte, schweifte sein Blick zu den zwei zwielichtig aussehenden Lakaien, die draußen auf der Straße warteten. Es waren Lynds Bedienstete.
Jasper hatte einige Zeit suchen müssen, um ein anständiges Wohnviertel zu finden, wo er seinen Tätigkeiten ungehindert nachgehen konnte. Seine Nachbarn tolerierten das ständige Kommen und Gehen seiner Mitarbeiter, weil durch Jasper die Straßenkriminalität in der unmittelbaren Nachbarschaft verringert wurde. Er betrachtete seinen Dienst an der Gemeinschaft als einen kleinen Preis dafür, dass er nicht in der Umgebung der Fleet Street und der Strand wohnen musste, wo Lynd und viele andere Privatdetektive ihr Quartier hatten. Es war nahezu unmöglich, dem Gestank aus dem Abwassergraben zu entkommen, einem Geruch, der sich in die Mauern der umliegenden Gebäude eingefressen hatte.
Er kehrte an seinen Platz zurück und stellte Lynds Glas an den Rand des Schreibtisches. »Ich habe heute Nachmittag eine Verabredung mit Miss Martin. Dann werde ich erfahren, wie ernst es Montague ist, sie zur Frau zu gewinnen. Vielleicht ist er verzweifelt genug, um Dummheiten zu machen.«
»Diese ganze Geschichte ist absurd!«, knurrte Lynd. »Wenn jemand so entschlossen ist, das junge Ding zu heiraten, sollte er ihm einfach einen Antrag machen. Wenn Sie mich fragen, so ist diese ganze Bande an hoffnungsvollen Verehrern schwachsinnig oder lechzt aus unerfindlichen Gründen danach, ihr Blut mit dem der Tremaines zu mischen. Sie sollte dankbar sein, dass ihr das Vermögen ihres Vaters so viele Verehrer beschert hat. Ohne dieses Geld hätte sie verdammte Schwierigkeiten, sich einen Mann zu angeln.«
Irritiert runzelte Jasper die Stirn. Er war von dem Moment an, als sie das Wort an ihn gerichtet hatte, sofort von ihr verzaubert gewesen.
»Wirklich«, fuhr Lynd fort, »sie sollte sich einfach irgendeinen armen Kerl schnappen und die Sache hinter sich bringen. Jede andere Frau würde das tun. Aber dieser jungen Dame gewährt man sämtliche Freiheiten. Sie hat es selbst in die Hand genommen, einen Privatdetektiv einzustellen, um die Männer auf Abstand zu halten, und Seine Lordschaft ist zu beschäftigt mit dem Wirrwarr in seinem Hirn, um sie zu bändigen. Melvilles Beitrag an unserer Unterhaltung beschränkte sich auf Selbstgespräche.«
»Gibt es einen bestimmten Grund, weshalb Sie sich so abfällig über meine Klientin äußern?«
»Sechs Wochen werden Ihnen endlos erscheinen, das schwöre ich. Sie werden den Verstand verlieren, und das kann Ihnen kein Geld der Welt ersetzen. Die Dame ist extrem widerspenstig. Was bei einer Frau sehr unnatürlich ist. Sie besaß die Frechheit, mich von oben herab zu mustern – ein Kunststück, muss ich sagen, da ich größer bin – und mir zu erzählen, ich solle mich doch mal nach einem anständigen Schneider umsehen. Sie hat keinerlei Manieren. Ich konnte sie kaum ertragen. Während des gesamten Gesprächs musste ich die Zähne zusammenbeißen.«
»Nur gut, dass Sie den Fall an mich delegiert haben«, erwiderte Jasper lapidar. »Sie hätten gewiss keinen überzeugenden Verehrer abgegeben.«
»Wenn Ihnen das gelingen sollte, so haben Sie Ihren wahren Beruf als Schauspieler verfehlt.«
»Solange Montague nicht die Mittel aufbringt, die er benötigt, um seinen Schuldschein bei mir einzulösen, kann ich in jede Rolle schlüpfen.« Es barg eine gewisse Pikanterie, dass er Montagues Heiratsabsichten durchkreuzen könnte, indem er Eliza selbst den Hof machte.
»Rache kann so zerstörerisch sein wie ein Krebsgeschwür, mein Junge. Daran sollten Sie immer denken.«
Jasper lächelte finster.
Lynd zuckte die Achseln. »Aber Sie machen ohnehin, was Sie wollen. Das war schon immer so.«
Der Schuldschein, den Jasper besaß, beinhaltete eine Urkunde für ein Stück Land in Essex, auf dem lediglich ein bescheidenes Haus stand. Auf den ersten Blick war das Grundstück völlig unbedeutend. Dennoch war sein Wert unbezahlbar. Es symbolisierte jahrelange sorgfältige Planung und die Möglichkeit zur Vergeltung. In sechs Wochen würde es unwiderruflich in seinen Besitz übergehen, und dann könnte er es nach Belieben zerstören oder zur Schau stellen.
Jasper holte einen Beutel mit Silbermünzen aus der Schreibtischschublade und schob ihn in Lynds Richtung.
Nach kurzem Zögern nahm Lynd den Beutel an sich. »Ich wünschte, ich könnte es mir leisten, das nicht anzunehmen.«
»Unsinn. Ich schulde Ihnen weit mehr, als ich jemals zurückzahlen kann.«
Jasper stand auf, brachte Lynd zur Haustür und verabschiedete sich von ihm. Sobald sein Besucher gegangen war, warf Jasper einen raschen Blick auf die Kaminuhr.
In zwei Stunden würde er Miss Eliza Martin einen Besuch abstatten. Er freute sich auf das Wiedersehen mehr, als es unter den gegebenen Umständen angebracht war. Eigentlich sollte er keinen Gedanken an sie verschwenden, schließlich war sie eine Frau, die der Ansicht war, er habe mehr Muskeln als Verstand. Doch seine Ziele erreichte er nur dann, wenn er sich jeder Herausforderung zum richtigen Zeitpunkt stellte und seine ganze Aufmerksamkeit darauf verwendete. Das Treffen mit Eliza hatte noch Zeit; es gab andere wichtige Dinge, um die er sich jetzt kümmern musste. Dennoch ertappte er sich dabei, wie er auf der Türschwelle zu seinem Büro stehen blieb und überlegte, wie er sich für den Besuch bei Eliza kleiden sollte: Sollte er sich elegant ausstaffieren, um sie zu beeindrucken, oder wäre es taktisch klüger, wenn er ihren unauffälligen Stil nachahmte?
Er musste sich eingestehen, dass er ihr gefallen wollte. Es würde schwierig sein, aber es war der Mühe wert.
»Le trône d’amour«, murmelte er vor sich hin, während er über seine Krawatte strich. Nachdem er entschieden hatte, was er anziehen würde, ging er zum Schreibtisch und schwor sich, mindestens eine Stunde lang nicht an seine neue Klientin zu denken.
Um Punkt elf Uhr stand Jasper vor Melvilles Haustür. Er ließ seine Taschenuhr zuschnappen und blieb einen Moment im Vorraum stehen, während der Butler seinen Hut und den Spazierstock entgegennahm. Doch er genoss diesen Moment, kostete die darin schwingende Erwartung aus. Er hatte überlegt, warum er so erpicht auf diese Verabredung war, und war zu dem Schluss gekommen, dass es an Eliza Martins Fähigkeit lag, ihn zu überraschen.
Mit dieser Erkenntnis war die Einsicht einhergegangen, dass ihn schon sehr lange nichts mehr überraschte. Noch bevor jemand den Mund aufmachte, wusste er schon im Voraus, was dieser Mensch sagen oder wie er reagieren würde. Er kannte die starren Regeln der Etikette und war vertraut mit dem menschlichen Naturell. Der gesellschaftliche Umgang glich einem Theaterstück, bei dem alle Akteure ihren Text und ihren Einsatz kannten.
Eliza hatte bisher noch nichts geäußert, was vorhersehbar gewesen wäre.
»Hier entlang, Sir.«
Jasper folgte dem Butler zu einem Arbeitszimmer und blieb, während sein Besuch angekündigt wurde, auf der Schwelle stehen. Die Hände im Rücken verschränkt, sah er sich in dem Raum um. Das schwere Mobiliar wurde durch geblümte, pastellfarbene Vorhänge und pittoreske Landschaftsgemälde aufgelockert. Als wäre der Raum einst der Wirkungsbereich eines Mannes gewesen, der sein Zepter inzwischen abgegeben hatte.
ENDE DER LESEPROBE