Cry Island – Im Schatten verborgen. Wartet auf dich. Das Grauen. - Stefan S. Kassner - E-Book

Cry Island – Im Schatten verborgen. Wartet auf dich. Das Grauen. E-Book

Stefan S. Kassner

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Beschreibung

Schreie zwischen trügerischer Idylle und grausamen Geheimnissen – Für Fans von Ragnar Jonasson und Karen Sander »Im Gesicht ihrer Begleitung suchte Ruth nach einem Zeichen, das ihr zeigte, dass Rosie erneut einen Scherz gemacht hatte und war überrascht, dass die verengten Augen und verspannten Lippen genau das Gegenteil aussprachen. ›Ich meine das ernst, Liebes. Durchquere nicht den Sumpf.‹« Nach ihrer Scheidung ist die fünfundvierzigjährige Ruth dankbar, einen Job gefunden zu haben. Denn ihrem Ex-Mann gelang es nicht nur, sie jahrelang zu hintergehen, sondern sie nahezu leer ausgehen zu lassen. Auf der Privatinsel Edward Lensingtons, einem Milliardär, der durch die Folgen eines Schlaganfalls eingeschränkt ist, hofft sie, als dessen Pflegekraft neu anfangen zu können. Doch die vorerst glückliche Idylle verliert schnell ihren Glanz, als Ruth in einer stürmischen Nacht selbst mysteriöse Lichter in der Nähe des stillgelegten Leuchtturmes erblickt und Schreie vernimmt. Immer mehr verdichten sich Ruth' seltsame Beobachtungen zu einer unheilvollen Ahnung, und lassen sie zweifeln, ob es klug war, die unheimlichen Geschichten der Einheimischen als Seemannsgarn abzutun …

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© Piper Verlag GmbH, München 2024

Redaktion: Franz Leipold

Dieses Werk wurde vermittelt von der Agentur Ashera GbR.

Konvertierung auf Grundlage eines CSS-Layouts von digital publishing competence (München) mit abavo vlow (Buchloe)

Covergestaltung: Giessel Design

Covermotiv: unter Verwendung von shutterstock.com (Ladislav Berecz, Virrage Images, andrejs polivanovs, robbin lee, ecrafts, Muhammad Kashif Bilal)

Alle Rechte vorbehalten. Unbefugte Nutzungen, wie etwa Vervielfältigung, Verbreitung, Speicherung oder Übertragung können zivil- oder strafrechtlich verfolgt werden.

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Inhalt

Inhaltsübersicht

Cover & Impressum

Widmung

Zitate

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44

Kapitel 45

Kapitel 46

Kapitel 47

Epilog

Buchnavigation

Inhaltsübersicht

Cover

Textanfang

Impressum

Widmung

Für GoliathDu bist mein Hercules.

Zitate

Die Ehre gleicht einer abschüssigen, unzugänglichen Insel. Man kann nicht wieder zu ihr zurück, wenn man sie einmal verlassen hat.

Nicolas Boileau-Despréaux

»Dann, endlich, trug mich eine Woge weit auf den Strand hinauf und ließ mich, halb tot von dem geschluckten Wasser, liegen.«

Daniel Defoe,Robinson Crusoe

Kapitel 1

»Es tut mir leid, dass ich Ihnen keine besseren Nachrichten überbringen kann.«

Hoffnungslosigkeit stülpte sich wie eine gläserne Glocke über Ruth. Schirmte sie ab. »Okay«, sagte sie, wobei ihre Stimme von woanders zu kommen schien. Sie befand sich außerhalb ihrer selbst, sah sich dabei zu, wie sie nickte, während ihr Anwalt, Mr Waters, fortfuhr zu erklären, was man noch versuchen könnte. Versuche, deren Chancenlosigkeit er sogleich hervorhob. Die typische Taktik eines Anwalts, den Mandanten über jedwede Möglichkeit aufzuklären, ihm jedoch gleichzeitig die Illusion zu rauben, es bestünde eine Aussicht auf Erfolg.

Auch ohne diese Ausführungen würde Ruth keinen weiteren Anlauf wagen. Am Ende ihrer Kräfte war sie es leid zu kämpfen. Brachte die Energie dafür nicht mehr auf. Wenn man so wollte, war es ihrem Ehemann nicht nur gelungen, sein nicht unerhebliches Vermögen zu sichern, sondern er hatte sie zu dem ausgesaugt wie ein Parasit, sich an ihrer Lebensfreude, ihrem Optimismus gelabt, um sie zurückzulassen wie eine ausgehöhlte Erinnerung an die Frau, die sie einst war.

»Haben Sie das verstanden?«, hakte Waters nach. In seinem Blick lag Bedauern.

Ruth nickte, obwohl es nicht zutraf. Nein, sie verstand nicht, dass ihr Ex damit durchkommen sollte und sie mit leeren Händen dastand. Aber was nutzte es, das anzumerken oder gar wütend zu werden? So viele Male hatte sie diesen Prozess durchlaufen und die Wut als Antrieb für einen weiteren Anlauf genutzt, nur um mit voller Kraft gegen eine Wand zu prallen, die Roger, ihr Ex, aufgebaut hatte. Meist mit irgendeinem Winkelzug, einer halbseidenen Nummer, die sie sprachlos machte und noch sprachloser zurückließ, wenn das Gericht sie akzeptierte. Nein, heute war Schluss! Sie musste sich geschlagen geben, obgleich es schmerzte. »Ich muss nur … ich werde …« Sie kämpfte das Schluchzen nieder, das ihre Worte zu ersticken drohte. »Ich werde Zeit brauchen, um das Geld zu verdienen.«

Waters sah sie fragend an.

»Um Ihre Rechnung zu bezahlen.«

»Natürlich. Nehmen Sie sich alle Zeit, die sie brauchen.«

»Danke.« Was sie ihrem Anwalt schuldig blieb, war die Auskunft, dass es lange dauern konnte, bis sie das Geld aufgebracht hatte. Zwei Tage war es her, dass ihr Chef Bruno ihr eröffnet hatte, sie nicht weiter beschäftigen zu können. Kein Traumjob, als Bedienung in einem Diner, aber zumindest sorgte er für ein regelmäßiges Einkommen und eine Krankenversicherung. Brunos Entscheidung kam ohne Vorwarnung und fristlos. Natürlich hätte sie dagegen vorgehen können, auf eine Kündigungsfrist pochen. Doch wer sollte ihre Interessen durchsetzen? Ein Anwalt vor einem Gericht? Der Ablauf ihrer Scheidung belegte, wie gut dies gelang. Nein danke! Auf eine weitere gerichtliche Auseinandersetzung konnte sie verzichten. Diese Kröte würde sie schlucken, wie die anderen in ihrem Leben, und ihre Ahnung verriet ihr, dass es nicht die letzte sein würde, die sie zu schlucken hatte. »Ich danke Ihnen für Ihre Bemühungen.« Ruth erhob sich und streckte dem Anwalt die Hand entgegen.

»Ist alles in Ordnung?«

Ruth kämpfte die Wut nieder, die sich in ihr aufbäumte. Am liebsten hätte sie Waters angebrüllt, was das für eine bescheuerte Frage war. Nichts war in Ordnung! Stattdessen rang sie sich ein Lächeln ab. »Ich komme schon zurecht.« Bei allen Plattitüden und leeren Versprechungen, die in diesem Raum bereits ausgesprochen wurden, wusste Ruth, dass diese Aussage ihrerseits nicht dazu gehörte.

Kapitel 2

Wer Sunny Beach als Ort bezeichnete, würde auch sagen, eine Katze sei ein Löwe. Ganze fünf Häuser, davon eines mit Pier und Gästezimmern, hatten sich an der Ostküste von Floridas Südspitze zu einem losen Verbund gruppiert. Es war somit nicht ungewöhnlich, dass Ruth, obwohl sie mit ihrem Ex-Mann seit fünf Jahren in Florida lebte, diesen Ort nie besucht hatte. Roger und sie hatten im Randbezirk Miamis gewohnt und sich vor allem in der Stadt und am Strand aufgehalten. Der desaströse Ausgang ihrer Scheidung erlaubte Ruth nicht, weiterhin in der teuren City zu wohnen; deshalb hatte sie sich bereits darauf vorbereitet, Florida zu verlassen und zu ihren Eltern nach Colorado zurückzukehren, von wo sie ursprünglich stammte. Das Universum verfolgte stets eigene Pläne – ein Credo Ruth’, was sich erneut bewahrheitete, denn im Miami Herald hatte Ruth eine Anzeige entdeckt, die sie hierherführte.

Es gehörte zu ihren Gewohnheiten, morgens die Zeitung zu lesen, und Roger war gnädig genug, ihr den Bezug des Blattes bis zum Kündigungszeitpunkt zuzugestehen. Ein bitteres Lächeln umspielte ihre Lippen beim Gedanken daran, dass dies nahezu die gesamte Ausbeute ihrer fast zehnjährigen Ehe war. Bitterer schmeckte, dass Roger ihre Gewohnheit stets liebevoll geneckt hatte als das fossile Überbleibsel einer vergangenen Zeit. Wer las heute noch Zeitung, und dann auch noch in gedruckter Form? Doch Ruth behagte das Gefühl, das dünne Papier zwischen ihren Fingern zu halten, und selbst der Geruch der Druckerschwärze sorgte für Wohligkeit, die sich warm in ihr ausbreitete. Die Zeitung war vorerst geblieben, aber Roger hatte ihr die Wohligkeit geraubt, ebenso ihren Stolz und das Vertrauen. Sie wollte neu beginnen, das Alte hinter sich lassen, und dafür kam die Anzeige wie gerufen:

Verlässliche und zuverlässige Betreuerin für betagten Gentleman gesucht!

Die Art der Anzeige hatte Ruth sofort angesprochen. Es gefiel ihr, dass jemand auf derart traditionelle Weise ein Stellengesuch ausschrieb. Weitere Informationen ließen sich in der Annonce nicht entdecken, nur eine Telefonnummer, die sie wählte und unter der sie einen freundlichen Herrn erreichte, der sie zu einem Vorstellungsgespräch einlud.

Der Weg zu diesem Gespräch glich einer Schnitzeljagd, denn Mr Skope, mit dem Ruth telefonierte, vereinbarte mit ihr, dass sie am nächsten Tag in Sunny Beach abgeholt werde. Zudem würden die kompletten Fahrtkosten übernommen sowie eine Übernachtung in Carol’s Inn, dem Haus mit Pier und Gästezimmer in Sunny Beach. Womöglich hätte ihr das seltsam erscheinen sollen, und wäre sie in einer anderen Situation, hätte sie abgelehnt. Doch sie brauchte dringend einen Job! Und die Aussicht, zumindest für ein paar Tage die Stadt verlassen zu können, war zu verlockend, um von Bedenken erstickt zu werden.

Die Häuser in Sunny Beach sahen allesamt aus wie die Surfer-Hütten, die Ruth von den Stränden kannte. Einfache Bretterbauten, die in verschiedenen Farben gestrichen waren. Carol’s Inn, wo sie heute übernachten würde, wirkte mit seiner grünen Außenfarbe einladend. In Ruth keimte Urlaubsstimmung auf. Zum ersten Mal, seit die Affäre Rogers all die unerfreulichen Vorgänge in Gang gesetzt hatte, stand der Gedanke daran nicht im Zentrum ihrer Aufmerksamkeit.

Bevor sie die verglaste Tür öffnete, betrachtete sie sich in der Spiegelung, die sich durch das dunklere Innere ergab. Das blonde Haar zum Pferdeschwanz gebunden, dankte sie den Genen ihrer Mutter, wie sie es stets tat, da sie meist jünger als fünfundvierzig geschätzt wurde. Was wohl auch daran lag, dass sich bislang nur vereinzelte graue Haare in ihre Haarpracht gestohlen hatten. Und die zupfte sie sich regelmäßig aus.

Etwas, wofür sie sich im Grunde schämte. Wieso fällt es dir so schwer, dazu zu stehen?, fragte sie sich, wusste aber sogleich, dass diese Frage kurz nach einer schmerzvollen Scheidung keine erbauliche Antwort erhalten würde.

Daher löste sie den Blick vom Spiegelbild und ergriff stattdessen den Türknauf, der sich mit einem leisen Quietschen drehen ließ. Die Tür schwang nach innen auf, und Ruth trat ein.

»Sie sind sicherlich Mrs Wistler«, empfing sie eine kräftige Dame mit roten Wangen, braunem schulterlangem Haar und einem Lächeln, das fest in ihren Gesichtszügen verankert zu sein schien. Sie stand hinter einem Tresen aus dunklem Holz in der Mitte des Raumes, in dem es zudem einen Tisch mit Stühlen gab.

»Das ist richtig.« Ruth erwiderte das Lächeln.

»Sehr schön, meine Liebe. Ich freue mich, Sie im Carol’s Inn zu begrüßen. Ich bin, wie unschwer zu erraten ist, Carol.« Carol lachte und hielt sich den Bauch, wobei sie aussah wie eine liebevoll gezeichnete Cartoon-Figur. Gepaart mit dem herzerfrischenden Gelächter, konnte Ruth nicht anders, als einzustimmen. »Dann zeige ich Ihnen mal die Suite.« Carol gab Ruth ein Handzeichen, ihr zu folgen, und verließ den Raum durch eine Tür in der Wand links des Tresens. Ein Flur schloss sich an, von dem drei Türen abgingen. »Wir haben nicht viele Zimmer, aber die wenigen, die wir haben, sind allesamt schön«, verkündete Carol selbstbewusst. Sie schritt vor Ruth den Flur entlang und blieb schließlich vor der letzten Tür stehen.

»Drei Zimmer?«, fragte Ruth.

»Sechs«, entgegnete Carol mit gewissem Stolz in der Stimme. »Auf der anderen Seite sind weitere drei.«

Das erschien Ruth in der Tat viel zu sein, denn sie fragte sich, wer in Sunny Beach abstieg. Das kulturelle Angebot war sicherlich kein Grund dafür. Ein Gedanke, den sie mit Carol nicht teilen würde.

»Dann hinein in die gute Stube«, flötete Carol, während sie die Tür aufschwingen ließ.

Ruth musste zugeben, dass das Zimmer komfortabel wirkte wie bereits auch schon der Eingangsbereich. Das hölzerne Bett harmonierte mit Mobiliar und Wänden aus dem gleichen Material. Ein großes Fenster gab den Blick auf die Straße vor der Pension frei.

»Das ist sehr schön«, sagte Ruth.

»Das höre ich gerne. Richten Sie sich in Ruhe ein.« Carol reichte Ruth den Zimmerschlüssel. »Sie müssen hungrig sein?«

Ruth nickte. Mehr als zwei Scheiben Toast hatte sie heute Morgen nicht runtergebracht. Die Aufregung vor dem, was auf sie zukommen mochte, hatte ihr Magen und Kehle zugeschnürt. »Prima. Ich bereite Ihnen etwas zu. Haben Sie irgendwelche Allergien oder Unverträglichkeiten?«

»Nein. Nur …«

Carol hob die Hand. »Keine Sorge, es ist bereits alles gezahlt, und ich habe den Auftrag, Sie gut zu versorgen.« Sie trat näher an Ruth heran und schlug einen verschwörerischen Tonfall an: »Und ich befolge jeden Auftrag gewissenhaft.«

»Dann freue ich mich auf das Essen.«

Carol wandte sich zum Gehen, blieb dann jedoch in der Tür stehen und drehte sich zu Ruth um. Sie schien mit sich zu ringen, ob sie noch etwas sagen sollte. »Hören Sie, ich habe überlegt, ob ich es überhaupt erwähnen soll. Vielleicht wirkt es wie in einem dieser Horrorfilme. Aber andererseits wird sich nicht verhindern lassen, dass irgendjemand Ihnen die Geschichte erzählt, und da ist es besser, wenn sie eine neutrale Version kennen.«

Ruth betrachtete Carol zweifelnd. Das war eine seltsame Aussage, und sie wusste nicht, was sie darauf entgegnen sollte.

Carol lachte auf. »Jetzt habe ich es schlimmer gemacht, dabei wollte ich genau das Gegenteil erreichen.« Sie schüttelte den Kopf. »Sorry. Es geht um den Ort, wo Sie arbeiten werden.«

»Es ist nur ein Vorstellungsgespräch.«

»Sie haben den Job, meine Liebe. Das können Sie mir glauben.«

Ruth stellte fest, dass ihr diese Information nicht die Freude verschaffte, die sie sich davon erhofft hatte. Lag es an Carols seltsamer Einleitung?

»Sie werden für einen sehr reichen Mann arbeiten. Edward Lensington, kennen Sie ihn?«

Ruth zuckte mit den Schultern. Tatsächlich hatte sie mehr und mehr das Gefühl, Schauspielerin in einem Film zu sein.

»Mr Morris Fish Fingers?«

»Die kenne ich.«

»Die werden von Mr Lensingtons Firma hergestellt.«

Ruth hob die Brauen. Dass ihr potenzieller Arbeitgeber wohlhabend war, hatte sie vermutet angesichts des Aufwands, der für ihr Vorstellungsgespräch betrieben wurde, aber dieser Lensington musste reich sein wie Dagobert Duck. Mr Morris Fish Fingers waren überall in den USA beliebt, besonders bei Kindern.

»Ihm gehört eine Privatinsel vor der Küste«, fuhr Carol fort. »Ein wunderschönes Fleckchen Erde.«

»Ihm gehört eine ganze Insel?«

»Allerdings. Und weit mehr als das. Er hat die Insel nach seinem bekanntesten Produkt benannt, das ihm auch seinen Reichtum einbrachte: Morris Island.«

»Und mit dieser Insel stimmt etwas nicht?«

Carol machte eine wegwerfende Handbewegung. »Gerüchte. Seemannsgarn, wie man so schön sagt. Es gibt Berichte von Fischern, die Schreie von der Insel gehört haben wollen.«

»Schreie?« Ruth stellten sich die Nackenhärchen auf.

»Auf der Insel steht ein Leuchtturm, der seit Jahren nicht mehr in Betrieb ist. Früher wurde der dazugehörige Pier auch noch genutzt. Mr Lensington wollte eine Luxusvariante seiner Mr Morris Fish Fingers etablieren, mit Hummer gefüllt. Aber die wurden nicht angenommen von den Kunden.«

»Dafür hat er extra einen Leuchtturm gebaut?«

Carol lachte. »Meine Liebe, wenn man so viel Geld hat wie Mr Lensington, zahlt man einen Leuchtturm aus der Portokasse. Außerdem kann man es sich leisten, den ungenutzt verfallen zu lassen, wenn man ihn nicht mehr benötigt.«

»Und die Schreie kamen aus dem Leuchtturm?«, hakte Ruth nach.

»Es sind nur Gerüchte, und meist herrschten schlechte Wetterverhältnisse. Wir sind zwar der Sunshine State, aber eben auch der mit den meisten Hurrikanes, und wenn die Saison haben, kann es schon mal ruppig zugehen da draußen. Wer kann schon sagen, was für akustische Phänomene der Wind verursachen kann?«

»Da habe ich auch schon einiges erlebt«, gab Ruth zu. Doch sosehr sie auf Carols Erklärung einschwenken wollte, ein Gedanke nistete sich in ihrem Kopf ein: Was, wenn es nicht der Wind war?

Kapitel 3

Nachdem Carol die Zimmertür hinter sich geschlossen hatte, setzte Ruth sich auf das Bett und sah aus dem Fenster. Normalerweise hätte sie das, was Carol ihr über die Insel erzählt hatte, einfach als irgendeine Geschichte abgetan. Aber allein hier im Zimmer und mit der Erfahrung, wie seltsam dieses Zusammentreffen sich anbahnte, wirkte es nicht wie eine Geschichte. Sie hatte sich auf etwas eingelassen, weil ihre Wahlmöglichkeiten limitiert oder womöglich gar nicht vorhanden waren, aber war es nicht merkwürdig, die Informationen nur nach und nach zu erhalten? Und verhielt sie sich nicht unverantwortlich, indem sie sich darauf einließ?

Zu spät für derartige Überlegungen, befand sie. Sie war hier, und ihre Neugierde obsiegte über ihre Bedenken. Sie wollte diese Insel sehen und wünschte, diesen Edward Lensington kennenzulernen. Es war eine Chance – die beste, die sie auf die Schnelle erhalten konnte, und sie tat gut daran, sie zu ergreifen.

Ruth hob ihren Koffer auf die dafür vorgesehene Ablage und öffnete ihn. Auspacken lohnte sich für eine Übernachtung nicht, aber sie entnahm ihren Kulturbeutel, um sich ein wenig frisch zu machen, bevor sie zum Dinner gehen würde. Es war eine der Angewohnheiten, die Roger stets aufgeregt hatten, dass sie das Bedürfnis verspürte, sich das Gesicht zu waschen, wenn sie länger unterwegs gewesen war. Wie oft hatten sie deshalb Streit gehabt, weil Roger essen gehen oder sich etwas anschauen wollte und sie zunächst ein Badezimmer benötigte?

Anders als die Male zuvor, wenn sie an Roger dachte, verursachte die Erinnerung weder Wut noch Erleichterung, dass sie diesen Stress nicht mehr aushalten musste. Sie schmerzte, führte sie doch ihre fröhlichen Geschwister mit sich: Die Reminiszenzen an Urlaube mit wunderbaren Sonnenaufgängen, kulinarischen Köstlichkeiten und leidenschaftlichen Nächten, in denen sie kaum Schlaf gefunden hatten und glücklich darüber waren.

Das kalte Wasser, das sie ins Gesicht schöpfte, tat gut und spülte die Tränen fort. Sie sah in den Spiegel. »Du wirst das schaffen!«, sagte sie ihrem Spiegel-Ich und hoffte, dass es bei ihm überzeugender ankam, als sie es fühlte. Wie gerne trüge sie diese Zuversicht in sich, und nicht diese Leere. Sie tupfte sich trocken. Es war ein Abenteuer, das ihr bevorstand. Der Aufbruch zu neuen Ufern. Erneut etwas, das sie sich sagte, ohne es zu spüren.

Sie verließ ihr Zimmer und gelangte über den Flur in den Eingangsbereich. »Sie kommen genau richtig«, empfing Carol sie.

Ruth sah, dass auf dem Tisch für vier Personen eingedeckt war. »Isst jemand mit mir?«

»Ich hoffe, das stört Sie nicht?«

»Keinesfalls. Ein wenig Gesellschaft tut mir gut.«

»Das freut mich. Sie werden bestimmt auch ein interessantes Gespräch führen, dessen bin ich mir sicher.« Carol zwinkerte ihr zu. »Sie speisen mit Fred und Alfred Alistor, ein süßes Paar, beide Anfang siebzig, und mit Elenore Richmond, die bereits über neunzig ist.«

»Wow!«

»Drei ganz reizende Menschen, die Ihnen sicherlich das ein oder andere über den Ort und auch über Morris Island erzählen werden.« Carol stellte eine Schale mit dampfendem Reis auf den Tisch. »Auch ein Grund, warum ich Sie ein wenig vorbereiten wollte. Fred liebt es nämlich, von seiner Erfahrung mit Cry Island zu berichten.«

»Cry Island?«

»Die Information bin ich Ihnen schuldig geblieben.« Carol stemmte die Hände in die Hüften. »Diesen Namen trägt Morris Island in der Gegend.«

»Wegen der Schreie?«

»Genau.« Carol bemerkte, dass Ruth zusammenzuckte. »Keine Sorge. Wie ich schon sagte, alles Geschichten. Seemannsgarn. Das einzig Ungewöhnliche auf Morris Island ist der ungewöhnlich große Reichtum des Eigentümers Edward Lensington.« Sie lachte auf, doch es klang falsch in Ruth’ Ohren. Kaum war Carols Lachen verklungen, öffnete sich die Tür, und ein älterer Herr mit strahlend blauen Augen und grauem Haar trat ein. »Hier geht es schon wieder lustig zu, oder Carol?«, fragte er.

Obwohl er fast dreißig Jahre älter war als sie, fand Ruth den Gentleman, der sich als Alfred Alistor vorstellte, ziemlich attraktiv. Ebenso seinen Mann Fred Alistor, der erstaunlich dunkles Haar hatte, ohne jede graue Strähne. Gefärbt, vermutete Ruth.

Elenore Richmond war, trotz ihres gesegneten Alters, keine Greisin, sondern eine rüstige kleine Frau, die das weiße Haar zu einem Knoten am Hinterkopf zusammengezurrt hatte. Sie grinste unentwegt und löste in Ruth das Bedürfnis aus, sie in die Arme zu schließen. Und sie verfügte über einen gesunden Appetit wie auch die beiden Herren. Die Garnelen, gedünstete Zucchini und Tomaten fanden unter den dreien ebenso großen Zuspruch wie der Reis. Ruth war dankbar, dass sich die Begeisterung für das Essen auf sie übertrug. Zwar aß sie eine Portion, die deutlich kleiner war als die ihrer Tischnachbarn, aber für ihre Verhältnisse reichlich.

»Und Sie sind das unglückselige Ding, das morgen nach Cry Island verschleppt wird?«, eröffnete Alfred Alistor das Gespräch, nachdem sich alle satt gegessen hatten.

»Alfred, also wirklich«, tadelte sein Mann Fred und ergriff Alfreds Handgelenk, wie um ihn zurückzuhalten.

»Ich bitte um Entschuldigung.« Alfred präsentierte seine Handflächen. »Ich meine natürlich, dass Sie morgen die Ehre haben, nach Morris Island aufzubrechen.«

»Sie haben die Schreie ebenfalls gehört?«, fragte Ruth ohne Umschweife. Schließlich war Alfred zuvor genauso direkt gewesen.

»Allerdings, das habe ich.«

»Du sollst der Dame keine Angst machen«, mischte Fred sich ein.

»Keine Sorge«, entgegnete Ruth. »Das wird ihm nicht gelingen.« Sie hoffte, das klang selbstsicher und zuversichtlich. Wenn sie ehrlich war, bemächtigte sich ihrer jedoch ein ungutes Gefühl; dennoch wollte sie Alfreds Geschichte hören. »Ich fahre immer noch raus mit dem Boot, um zu fischen«, begann Alfred.

»Er lässt sich nicht davon abhalten«, ergänzte Fred.

»Es ist ein gutes Jahr her, da kam ich der Insel nahe.«

»Du musst dazu sagen, dass es Nacht war.« Fred seufzte.

»Natürlich war es Nacht. Nachts beißen sie schließlich am besten.«

»Und du solltest außerdem erwähnen, dass die Wetterverhältnisse schlecht waren.« Fred verschränkte die Arme vor der Brust.«

»Habe ich das erlebt oder du?«, fragte Alfred entnervt, lächelte aber dann. »Mein Mann hat schon recht; und das ist auch der Schwachpunkt an meiner Geschichte, wie ich zugeben muss.«

Fred öffnete den Mund, als wolle er etwas sagen, doch Alfreds hochschnellender Zeigefinger gebot ihm zu schweigen.

»Es war bereits Hurrikane-Saison, da kann es schon mal rau zugehen da draußen, und dennoch habe ich es gehört.«

Ruth, die neben Elenore saß, Alfred und Fred gegenüber, beugte sich über die Tischplatte nach vorne. »Was haben Sie gehört?«

»Schreie. Von Frauen und Kindern.«

Ruth lief es eiskalt den Rücken herunter.

»Und das war noch nicht alles. Ich habe auch Lichter gesehen in der Nähe des Leuchtturms.«

»Was ja keine Unmöglichkeit ist. Immerhin kann es doch sein, dass jemand dort nach dem Rechten sehen wollte«, merkte Carol an, die begonnen hatte, den Tisch abzuräumen.

»Oder dafür sorgen wollte, dass die Schreie verstummen«, entgegnete Alfred.

»Was sollte Lensington, der steinreich ist, davon haben, irgendwelche Frauen und Kinder gefangen zu halten?«, fragte Fred. »Mein Schatz, das ist eine absurde Vorstellung.«

»Es sei denn, es ist etwas völlig anderes.« Alfred verengte die Augen zu Schlitzen.

»Bitte nicht diese Geschichte.« Freds Stimme klang leidend.

»Vor drei Jahren«, begann Alfred, ohne den Einwand seines Mannes zu beachten, »kenterte ein Ausflugsboot in der Gegend.«

»Ausflugsboot?«, fragte Ruth.

»Schulklassen konnten herkommen und eine Tour zwischen den kleinen Inseln vor der Küste buchen. War sehr beliebt bis zu dem Tag vor drei Jahren.« Alfred nahm einen großen Schluck aus seinem Wasserglas. »Es war eine Klasse mit zwanzig Kindern und vier Lehrerinnen, die auf die Tour gingen. Wie gesagt, es war eine beliebte Fahrt, denn es gibt vieles zu sehen auf der Strecke. Warum Lou, der Skipper, an diesem Tag vom üblichen Kurs abwich, werden wir nie erfahren. Fakt ist aber, dass er dem Felsenriff vor Morris Island zu nahe kam und das Boot leck schlug.«

»Auch ein Grund für den Leuchtturm«, ergänzte Fred.

»Den jemand wie Lou, der das Gebiet kannte wie seine Westentasche, nicht brauchte.«

»Was passierte dann?«, fragte Ruth tonlos.

»Sie ertranken alle. Die Lehrerinnen, die Kinder und auch Lou. Der mutmaßlich beim Versuch, die Passagiere zu retten. Das Perfide war nämlich, dass die Seiten des Bootes mit Gittern versehen waren, um zu verhindern, dass eines der Kinder von Bord sprang oder fiel. Als das Boot aber unterging, verhinderte eben diese Absperrung auch, dass jemand von dem Kahn entkommen konnte.«

Ruth schluckte geräuschvoll. Sie mochte sich die Situation kaum ausmalen. Zwanzig Kinder und vier Frauen in einem stählernen Käfig, der voll Wasser lief und schließlich in die Tiefe sank. »Das ist furchtbar.«

»Allerdings«, meldete sich Elenore zu Wort. Sie hatte die ganze Zeit stumm zugehört. »Eine schlimme Sache, die nicht für dumme Legenden verunglimpft werden sollte.« Ihr Tonfall war scharf, und alle verfielen daraufhin in Schweigen.

Nach einer Weile wechselte Alfred das Thema. Er erzählte von den schönen Sonnenaufgängen, die man über dem Wasser beobachten konnte, und wie Fred und er sich kennengelernt hatten. Ruth aber konnte nicht aufhören, an das sinkende Boot mit den Kindern zu denken.

Als die drei sich verabschiedeten, flüsterte Ruth Alfred zu: »Was haben die beiden Geschichten miteinander zu tun?«

»Ich glaube normalerweise nicht an so etwas, aber der Unfall mit den Schülern war mysteriös und ist bis heute nicht aufgeklärt.« Alfred brachte seinen Mund näher an Ruth’ Ohr, als er sagte: »Manche behaupten, dass es die Seelen der Kinder und der vier Lehrerinnen sind, die in stürmischen Nächten das Unrecht beschreien, das ihnen angetan wurde.«

Ruth verabschiedete sich. In ihrem Kopf tobte ein Sturm von Gedanken. Einer davon brüllte am lautesten: Auf was hatte sie sich nur eingelassen?

Kapitel 4

»Schon mal mit einem Wasserflugzeug geflogen?«

»Noch nie.« Ruth schlug die Augen nieder. Nicht, weil es ihr unangenehm war, ihre Jungfräulichkeit in Bezug auf Wasserflugzeuge zu offenbaren, sondern da der Anblick des Piloten Richard Boyten ihr ein Kribbeln in der Magengegend verursachte. Sie war kaum in der Lage, dem Blick seiner blauen Augen standzuhalten, die sie unter dem Schirm der schwarzen Basecap der Miami Marlins anblitzten.

»Keine Sorge. Ist kaum anders als in einer konventionellen Propellermaschine.«

»Okay.« Röte schoss Ruth in die Wangen. Was wird er von mir denken, wenn er wüsste, dass ich auch noch nie mit einer konventionellen Propellermaschine geflogen bin?, dachte sie.

»Und außerdem passe ich gut auf Sie auf.« Er grinste breit und entblößte makellose Zähne in seinem von einem dunkelbraunen Vollbart umgebenen Mund.

»Okay«, erwiderte Ruth erneut und fragte sich sarkastisch, ob die Attraktivität ihres Gegenübers den Verstand aus ihrem Kopf getilgt hatte.

»Alles klar, Mrs Wistler. Dann kommen Sie an Bord.«

»Ruth.« Ihre Mundwinkel zitterten nervös, und sogleich bereute sie ihren Vorstoß. Doch ein weiteres werbereifes Lächeln, gepaart mit dem Strahlen der blauen Augen, ließ jeden Gedanken in ihrem Kopf verstummen.

»Ruth, wunderbar. Ich bin Richard, und es ist mir eine Ehre, dich sicher nach Morris Island zu bringen.« Mit diesen Worten öffnete er die Flugzeugtür und reichte Ruth im gleichen Moment die Hand, um sie beim Einsteigen zu unterstützen. »Vorsichtig!«, rief er aus, als sie beim Erklimmen der ersten Stufe ins Straucheln geriet.

Du stellst dich an wie eine Vollidiotin, schrie sie sich innerlich an, doch Richards Lachen vertrieb den Ärger, und sie stimmte sogar darin ein. »Ich stelle mich an, als könnte ich keine drei Schritte laufen«, sagte sie, immer noch kichernd, als sie die Kabine erreicht hatte.

»Jetzt mach dich nicht verrückt. Ich habe schon weitaus Schlimmeres erlebt«, entgegnete Richard, der noch unten am Steg stand. »Tatsächlich ist mal jemand durch die Stufen ins Wasser gefallen.«

»Nein!«

»Wenn ich dir’s sage. Und es war sogar ein Mann jungen Alters. Hatte wohl in der Nacht zuvor zu tief ins Glas geschaut.« Er sah auf seine Uhr. »Aber jetzt sollten wir los. Alles klar bei dir?«

Zur Antwort streckte Ruth den Daumen nach oben, bevor sie sich auf den Sitz fallen ließ. Das Umschauen in der kleinen Kabine führte nicht dazu, dass sie sich entspannte, denn das Interieur wirkte doch äußerst karg, provisorisch und abgenutzt.

»Setz den hier auf.« Richard, der bereits auf dem Pilotensitz vor ihr Platz genommen hatte, wandte sich ihr zu und reichte ihr einen Kopfhörer mit Mikrofon. »Sonst wird es mit dem Unterhalten schwierig. Außerdem werden so auch die Geräusche der Maschine gedämpft.«

»Alles klar.« Den Kopfhörer setzte sie selbst auf, während Richard das Mikrofon vor ihrem Mund positionierte.

»Kannst du mich verstehen?«, hörte sie seine Stimme.

»Klar und deutlich«, entgegnete sie.

»Prima. Dann kann es ja losgehen.« Er fuhr herum. »Ich weiß, das Flugzeug sieht abgerockt aus, aber ich kann dir versichern, dass meine Betsy fliegt wie eine Schwalbe.«

»Betsy?«

»Allerdings. Eine reifere Dame, die mich bereits einige Jahre treu begleitet. Der alte Lensington will mir jedes Mal eine neue Maschine spendieren, aber ich kann mich nicht von ihr trennen.«

»Schön, wenn man den Wert von etwas zu schätzen weiß.«

»Das hast du sehr gut gesagt. Würde ich genauso unterschreiben.«

Obwohl sie sein Gesicht nicht sehen konnte, hörte sie ihm an, dass er lächelte.

»Ich werfe die Propeller an und dann bugsiere ich uns zunächst ein bisschen vom Steg weg. Bevor es dann richtig losgeht, sage ich dir Bescheid. Okay?«

»Okay.« Die Aufregung machte sich kribbelnd in ihrem Bauch breit, während die Rotoren brummend ansprangen, woraufhin sich das Flugzeug über das Wasser nach vorne und rechts bewegte. Sie trieben vorbei an kleinen Motorbooten, und Ruth betrachtete die Spiegelung des Sonnenlichts im nur durch feine Kräuselungen aufgeworfenen Wasser.

»Jetzt heißt es festhalten. Wir starten«, verkündete Richard.

Ihre Hände umklammerten die Armlehnen des Sitzes, während die Motoren aufheulten. Das Flugzeug glitt über das Wasser, das immer schneller am Fenster vorbeizog. Dann hoben sie ab. Ruth sah zu, wie sie sich von der Wasseroberfläche entfernten.

»Geht’s dir gut?«, fragte Richard.

»War ruhiger, als ich dachte.« Ein erleichtertes Grinsen umspielte ihre Mundwinkel. »In der Regel sind die Flüge so. Beim nächsten Mal weißt du, was dich erwartet.«

Ruth musste feststellen, dass der Gedanke an ein nächstes Mal ebenso in der Magengegend kribbelte wie die Aufregung zu Anfang. Wobei sie sicher war, dass es nicht an der Aussicht lag, ein weiteres Mal in das Flugzeug zu steigen.

Kapitel 5

»Das ist sie?«, fragte Ruth. Nicht weil sie Richards Hinweis missverstanden hatte, sondern weil ein Teil in ihr nicht akzeptieren wollte, dass sie in wenigen Minuten von dem attraktiven Piloten Abschied nehmen musste.

»Allerdings. Morris Island mit Leuchtturm und Villa. Soll ich eine Ehrenrunde fliegen, damit du dir einen Überblick verschaffen kannst?«

»Aber unbedingt.« Ruth brachte das Gesicht näher an das Fenster, als das Flugzeug eine weite Linkskurve vollführte und so das Eiland, das für sie schon bald Zuhause und Arbeitsstätte sein sollte, gut zu sehen war. Als sie den Leuchtturm erblickte, musste sie an die Erzählungen von Carol und Alfred Alistor denken, und dieses Mal war es ein Ziehen, das ihr in die Eingeweide fuhr. »Ist das ein Mangrovenwald?«

»Morris Island hat einiges zu bieten. Dann wird es wohl Zeit, dass du dir aus nächster Nähe ein Bild machst.« Mit diesen Worten setzte Richard zum Sinkflug an.

Noch einmal ließ Ruth ihren Blick über die Insel schweifen, die trotz ihrer geringen Größe unterschiedliche Bereiche aufwies. Der Leuchtturm stand an der Spitze eines zipfelartigen Ausläufers, der von der Seite ausging, die dem Ozean zu- und damit vom Festland abgewandt war und der einzig aus Felsen bestand. Dort befand sich ein Steg. Ein weiterer ließ sich auf der gegenüberliegenden Küste des Eilands ausmachen. Das Land dazwischen wurde zum einen von der Villa Lensingtons eingenommen, die – von oben betrachtet – ein L formte, und von dem Gebiet, das Ruth als Mangrovenwald identifiziert hatte; es trennte das Anwesen von der Landzunge mit dem Leuchtturm. Der Küstenbereich, dem das Haus das Innere des L’s zuwandte, wurde von einem Sandstrand ausgefüllt.

Das Flugzeug ging tiefer und steuerte den Steg an, der Villa und Strand näher war. »Landen wir nicht dort?«, fragte Ruth und deutete auf die felsige Landzunge mit dem Turm, wobei ihr erst in diesem Augenblick bewusst wurde, dass Richard das aus seiner Perspektive nicht sehen konnte.

»Der hintere Pier wird nicht mehr benutzt. Ich weiß gar nicht, ob der Weg durch den Sumpf noch begehbar ist.«

»Sumpf?« Erneut ein Ziehen in den Eingeweiden, das nichts damit zu tun hatte, dass das Flugzeug sich weiter der Wasseroberfläche annäherte.

»Wo wachsen Mangroven normalerweise?«, fragte Richard und lachte.

Dieses Mal stimmte sie nicht ein. Die Vorstellung, in der Nähe eines Sumpfgebietes zu wohnen, war ihr unheimlich. Obwohl sie erschrocken zusammenfuhr, als das Wasserflugzeug sanft aufsetzte, war sie dankbar, dass es sie aus ihren Gedanken riss.

Richard manövrierte sie an den Steg, an dem sie bereits von drei Männern erwartet wurden. Einer von ihnen stach aufgrund der Tatsache, dass er einen Anzug mit Krawatte trug, deutlich hervor. Die anderen beiden trugen Arbeitskleidung und machten sich dann auch gleich daran, das Flugzeug am Pier zu vertäuen, während der Gentleman wartete.

Das ist sicherlich Skope, dachte Ruth und erinnerte sich an das Telefonat. Seine Stimme hatte freundlich und im selben Augenblick dominant geklungen. Ein Eindruck, der sich auf seine Erscheinung übertragen ließ, wie sie nun feststellte. Dies lag vor allem an seiner Haltung. Mit geradem Rücken, den Blick geradeaus gerichtet, die Hände auf Hüfthöhe ineinander verschränkt und die Füße schulterbreit platziert, war ihm anzusehen, dass er sich seiner Rolle und Aufgabe eindeutig bewusst war.

Du gibst den Ton an, und die anderen befolgen die Anweisungen, dachte Ruth, als sie der Kabine entstieg. Sie ergriff zwar Richards Hand, die er ihr reichte, hätte sie jedoch gar nicht benötigt, da sie die Stufen sicherer als beim Einstieg bewältigte. Das war auch nicht der Grund, warum du sie erfasst hast, sagte sie sich, ohne widersprechen zu können.

»Mrs Wistler. Wie schön«, begrüßte sie Skope, nachdem sie ihn erreicht hatte. »Ich hoffe, Ihre Anreise war angenehm?«

»Unbedingt. Ganz herzlichen Dank für Ihre und Mr Lensingtons Mühen.«

Skope winkte ab. »Mr Lensington und ich möchten, dass Sie sich wie zu Hause fühlen. Alle Mitarbeiter Mr Lensingtons sollen das. Schließlich sind wir hier unter uns. Eine kleine eingeschworene Familie, die aufeinander achtet.« Er präsentierte makellose Zähne, denen ebenso der Glanz fehlte wie den grauen Augen, als er lächelte.

»Mein Gepäck?«, fragte Ruth.

»Darum kümmern sich George und Andrew. Sozusagen unsere Mädchen für alles.« Er stieß ein Lachen aus, und sie zwang sich zu einem Grinsen, die Kälte ignorierend, die ihr über den Nacken strich.

»Kommen Sie, ich werde Ihnen alles zeigen.« Skope machte auf dem Absatz kehrt und marschierte los.

Sie warf einen Blick zurück zu Richard, der noch beim Flugzeug stand. Am liebsten hätte sie ihm zum Abschied die Hand gereicht, aber Skope strebte mit zügigen Schritten voran, sodass sie Richard nur zuwinkte. Er erwiderte den Gruß und ergänzte ihn um ein Nicken. Am liebsten hätte sie ihm noch etwas zugerufen, aber ihr wollte nichts Passendes einfallen, und Skope war bereits ein gutes Stück entfernt.

Daher fuhr sie herum und legte das Stück bis zur rechten Hand ihres neuen Chefs laufend zurück. Carol hatte recht gehabt, denn Ruth hielt es mittlerweile für unwahrscheinlich, dass nur ein Vorstellungsgespräch stattfinden würde. Sie gehörte ab jetzt zur Familie, wie Skope es formuliert hatte. An sich ein schöner Gedanke. Was stört dich dann daran?