HORA HOMINIS: Frauenwerk - Stefan S. Kassner - E-Book

HORA HOMINIS: Frauenwerk E-Book

Stefan S. Kassner

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Beschreibung

Eve kann nicht glauben, dass ihre heimliche Liebe Howard einen Mord begangen haben soll, aber die Beweislast ist erdrückend. Mehrere Augenzeugen haben gesehen, wie er den reichen Großindustriellen Gerald McOyster erstochen hat. Eve sucht ihn in seiner Zelle im Tower auf und trifft einen Mann, der ihr fremd und anders erscheint. Als sie am nächsten Tag, die verschlagene Erfinderin Irene Dorchester aus dem Tower kommen sieht, ahnt sie, dass ihr geliebter Howard Opfer von deren dunklen Machenschaften wurde, deren Ausmaß ihre schlimmsten Befürchtungen bei Weitem übersteigen.

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Table of Contents

Title Page

Impressum

Widmung

Vorwort

Prolog

1 Bekannter Fremder

2 Falsche Trauer

3 Die Explantation

4 Der Verdacht

5 Die Erbschaft

6 Dunkle Vorahnung

7 Für Howard

8 Gefangen

9 Die Schwiegermutter

10 Der Anwalt

11 Die Implantation

12 Freundinnen

13 Die Einladung

14 Zweifel

15 TwoClocks

16 Der Prime Ladys Club

17 Enttarnt

18 Ein anderer Weg

19 Widrigkeiten

20 Die Werkstatt

21 Für den Zweck

22 Leere Augen

23 Eheprivilegien

24 Die Zeit läuft ab

25 Verschwunden

26 Kampf um Anerkennung

27 Der Fluchtplan

28 Das Zusammentreffen

29 Einbruch für den Ausbruch

30 Bröckelnde Loyalität

31 Die Prüfung

32 Die Flucht

33 Loyalitätsbruch

34 Das Angebot

35 Kraftlos

36 Die neue Gefährtin

37 Die fremde Freundin

38 Falsches Spiel

39 In Sicherheit?

40 Lord Hunters Vermächtnis

41 Kontroversen

42 Dunkle Bedrohung

43 Neue Freunde

44 Der Mythos

45 Geladen

46 Polly

47 Vorbereitungen

48 Emily

49 In die Höhle der Löwin

50 Die Erste

51 Verschleierte Offenbarung

52 Ermittlungen

53 Bessere Zukunft

54 Hilfe zur Aufklärung

55 Schicksalsfragen

56 Abkehr

57 Die Entscheidung

Glossar

Der Autor

Liebe Leserinnen, lieber Leser,

 

 

 

 

 

Stefan S. Kassner

 

 

HORA HOMINIS

 

Frauenwerk

 

 

SteamPunk Bd. 1

 

 

 

 

Roman

 

 

 

In der Reihe SteamPunk sind bereits erschienen:

 

HORA HOMINIS 1 – Frauenwerk – Stefan S. Kassner, Roman

 

 

Die Handlung und alle handelnden Personen sind frei erfunden. Jegliche Ähnlichkeit mit lebenden oder realen Personen wären rein zufällig.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Erste Auflage im September 2022

Copyright © 2022 dieser Ausgabe by Ashera Verlag

Hauptstr. 9

55592 Desloch

[email protected]

www.ashera-verlag.de

Alle Rechte vorbehalten. Nachdruck oder andere Verwertungen – auch auszugsweise – nur mit Genehmigung des Verlags.

Covergrafik: iStock

Innengrafiken: Pixabay

Szenentrenner: Pixabay

Coverlayout: Atelier Bonzai

Redaktion: Alisha Bionda

Lektorat & Satz: TTT

Printed by: Booksfactory

Vermittelt über die Agentur Ashera

(www.agentur-ashera.net)

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Für Martin

Jemand da oben muss mich sehr lieben, dass er entschieden hat, dich mir zu schicken.

 

„Sprich Unglücklicher, welcher Dämon fuhr dir in die Zunge? Wer hat dich geheißen, mit der Justiz zu hadern? Miguel de Cervantes

 

 

Vorwort

Liebe Leserin, lieber Leser,

bei diesem Roman handelt es sich um ein belletristisches Werk. Zwar habe ich mir einige historische Ereignisse ‚geliehen‘, die ich in die Geschichte eingewoben habe, aber weder erhebe ich den Anspruch auf Vollständigkeit, noch handelt es sich in allen Punkten um eine völlig korrekte Wiedergabe der historischen Ereignisse. Dieses Werk soll unterhalten und eine spannende Geschichte erzählen, die reale Geschehnisse in einen neuen Kontext setzt und diese ‚weiterspinnt‘.

Ich hoffe, Sie haben ebenso viel Spaß beim Lesen wie ich beim Schreiben hatte und verzeihen mir die ein oder andere künstlerische Freiheit, die ich mir erlaubt habe.

 

Stefan S. Kassner im Februar 2022

 

 

Prolog

Der Berg aus scheinbar achtlos aufgeworfenen Metallteilen, größtenteils Zahnräder und Stahlträger, ragte weit in den Himmel und verdeckte fast vollständig die Silhouette der Hafengebäude des Royal Victoria Docks, die den Horizont dahinter bildeten. Der trübe Himmel, gespeist aus dem dunklen Rauch der vielen Fabrikschlote, wirkte darüber wie ein stählern anmutendes Dach. Alles war grau oder zeigte zumindest eine Facette dieser Farbe. Hätte es einen Menschen gegeben, der den Berg beobachtete, jemanden, der sich in die Ödnis des schrottplatzartigen und weitläufigen Außengeländes gewagt hätte, welches das große Gebäude in der Mitte wie ein trostloser Schutzwall umgab, selbst eingefasst durch eine Mauer, er hätte ein Geräusch hören können: Ein feines Ticken, wie das eines Uhrwerks, gefolgt von Scharren und Kratzen. Hätte dieser Jemand die Augen zusammengekniffen und auf die linke Flanke des Berges geschaut, ihm wäre eine Bewegung aufgefallen. Gemessen an der Menge leblosen Metalls nur ein feines Zucken, aber dennoch vorhanden. Etwas bahnte sich seinen Weg, kämpfte sich an die Oberfläche. Ein erneutes metallisches Knirschen, und etwas kullerte den Berg hinab und blieb, unten angekommen, abrupt stehen. Es bestand aus zwei Zahnrädern, die an der Nabe über einen Mittelsteg miteinander verbunden waren. Auf einem der Zahnräder befanden sich zwei Uhren, die an Augen erinner-ten, anstatt Zahlen aber Buchstaben trugen. Dort, wo man bei einem Gesicht den Mund erwarten würde, befand sich ein Uhrenpendel, auf der linken Seite mit ‚Ja‘, rechts mit ‚Nein‘ bezeichnet. Tatsächlich schien sich diese kleine Maschine, dieses Wesen, eigenständig zu bewegen, sogar einen Willen zu haben, den es verfolgte. Zwei Zeiger, wie Arme, ragten aus dem Bereich zwischen den Zahnrädern hervor, aus dem ein rotes Licht pulsierte. Mit diesen Zeigern hatte das kleine Kerlchen sein Herabrollen von dem Metallberg abgebremst, und konnte diese, wie Beine, zur Fortbewegung nutzen oder sich damit abstoßen, um sich rollend fortzubewegen. Wie war es dorthin gelangt? Oder hatte es jemand für Abfall befunden und entsorgt? Das Kerlchen sah sich um, als warte es auf etwas oder jemanden. Und das traf tatsächlich zu! Es würde eine Person treffen, die seine Hilfe benötigte. Lange würde es nicht mehr dauern.

1

Bekannter Fremder

 

Eiligen Schrittes stürmte Eve voran, den Blick starr geradeaus. Weder nahm sie die vorbeifließende Themse auf der rechten, noch die unheilvoll aufragende Mauer des Towers of London links von ihr wahr. Es war besser, sich nicht bewusst zu machen, wo sie war, wohin sie musste und wegen wem. Kalt stieg die Angst in ihr empor, schnürte ihr die Keh-le zu, so dass sie gezwungen war, ihr Tempo zu verlangsamen, um zu Atem zu kommen. Es kann nicht sein!, dachte sie. Abermals. Dieser Gedanke, wie ein wilder Vogel, den man in einen zu engen Käfig gesperrt hatte, flatterte durch ihren Kopf, machte sie schwindelig. Sie war sofort losgestürmt, als sie davon erfahren hatte. Entgegen aller Geheimhaltung, die sie und Howard betrieben. Betrieben hatten. Wenn es stimmte, würden sie sich keine Gedanken mehr machen müssen, wie ihre Zukunft aussehen könnte. Wenn es wirklich stimmte, gab es keine mehr für sie. Eve strauchelte, ihre Hand suchte ihre Brust, als sich ihr Herz darin schmerzhaft zusammenkrampfte. Sie blieb geduckt stehen, rang um Atem und Fassung. Beides war zwingend nötig, um diese Aufgabe zu bestehen. Sie konnte sich keine Schwäche leisten. Nicht jetzt!

Sie musste stark sein. Um Howards willen. Musste ihm zumindest beistehen. Es war das Einzige, was sie für ihn tun konnte. Es sei denn ... Schluss jetzt! Sie straffte ihren Oberkörper, setzte eine kühle Miene auf und schritt auf das Tor in den Mauern zu, das von zwei Wachmännern flankiert wurde. Eve wusste, dass sie nur eine Chance hatte, zu ihrem Howard vorgelassen zu werden, wenn sie ihre Rolle überzeugend spielte. Keinen Anlass zum Zweifeln gab.

Als sie sich dem Tor bis auf wenige Meter genähert hatte, rückten die Wachmänner zusammen. Der Rechte, deutlich älter als der Linke, hob, Halt gebietend, die Hand. „Mylady, darf ich mich nach Eurem Begehr erkundigen?“

Eve zuckte, ob der Anrede zusammen, fing sich aber gleich wieder. Gut, dass ihre Freundin Elizabeth ihr dieses edle Kleid geliehen hatte. In ihrer Garderobe hätte sie keine der Wachen auch nur in die Nähe dieses Tores gelassen. „Die Not treibt mich her, Sir.“ Eve schlug die Augen nieder und schluchzte leise, in der Hoffnung, ihren Worten etwas Nachdruck zu verleihen. „Mylady, ich bin mir sicher, dass wir Euch helfen können“, sagte der jüngere Wachmann und tat einen Schritt auf sie zu.

Eve musste sich ein Schmunzeln verkneifen. Ihr Plan schien aufzugehen. „Heute wurde ein junger Mann hierhergebracht. Sein Name ist Howard Grant.“

Der junge Wachmann warf dem älteren einen Blick zu. Der nickte leicht und entgegnete: „Er ist eines schweren Verbrechens angeklagt, Mylady.“

„Sir, davon habe ich gehört, und ich bin hier, um meinem Bruder etwas Porridge zu bringen. Er wird hungrig sein.“

Wieder warf der Junge dem Alten einen Blick zu, erneutes Nicken, dann machten ihr die Wachen Platz.

 

 

Etwas stimmte nicht. Anfangs glaubte Eve, dass das Schattenspiel des flackernden Kerzenlichts ihre Wahrnehmung trübte. Es war jedoch nicht nur, was sie sah, das sie zweifeln ließ. Seine Bewegungen, seine Gestalt – dieser Mann sah aus wie ihr Howard, verhielt sich aber nicht so. Er sitzt in einer Zelle im Tower, du dumme Gans!, schalt sie sich. Und dennoch blieb der Eindruck, wie ein schaler Geschmack, auf ihrer Zunge liegen.

„Gefangener! Besuch!“, rief die Wache, woraufhin Howard langsam auf die Gitterfront zuschlurfte. Fast wäre Eve zurückgeschreckt. Seine Augen! Sein Blick war völlig leer.

„Howard?“, flüsterte sie, und ein kurzes Flackern durchzuckte seine Augen, als er sie ansah. Fast glaubte sie, gleich würde er sie erkennen, sich freuen, dass sie ihn besuchte, ihm in dieser schweren Stunde beistehen wollte. Doch dann wur-de sein Blick wieder leer, ging durch sie hindurch.

„Ich fürchte, Ihr werdet keine Antwort erhalten, Mylady“, kommentierte der Wachmann die Szene. Wie, um das zu bestätigen, wandte Howard ihr den Rücken zu und schlich zurück in den hinteren Teil der Zelle, wo ihn die Dunkelheit verschluckte.

 

2

Falsche Trauer

 

„Erzbischof Manning wartet im Salon, Mylady.“ Hannah, Viviens oberste Haushälterin, hielt den Blick auf den Boden geheftet, wie sie es seit Geralds Tod stets in ihrer Anwesenheit tat. Vivien ahnte den Grund und würde das Frauenzimmer mit der antiquierten Weltsicht bald entlassen. Dass Hannah als Frau nicht damit leben konnte, dass sie nun einzig den Weisungen einer Frau zu gehorchen hatte, zeigte, wie verkehrt die Gesellschaft war, in der sie leben musste. Noch brauchte sie Hannah, hatte noch keinen adäquaten Ersatz gefunden. So sehr Vivien die verknöcherten Ansichten der alten Vettel mit dem grauen, fest zu einem Knoten gebundenen Haar verachtete, sie musste zugeben, dass Han-nah ihre Aufgaben bemerkenswert korrekt und gründlich erledigte. Zudem war sie verlässlich und in den beinahe zwanzig Jahren, in denen sie bereits für die Familie McOyster tätig war, stets verschwiegen. Vivien prüfte den Sitz des schlichten schwarzen Huts mit Schleier im Spiegel. Sie hoffte, dass die Tränen laufen würden, wenn es vonnöten war. Jeder musste ihr die in tiefer Bestürzung trauernde Witwe abnehmen. Aber jedes Mal, wenn sie an Gerard dachte, zuckten ihre Mundwinkel nach oben und ließen sich nur mühsam wieder herunterbewegen. Galt doch ihr nächster Gedanke dem Betrieb, der nun ihr gehörte. Die einzige Person, die ihr noch in die Quere kommen konnte, war Agatha, Gerards Mutter. Hatte Vivien anfangs noch gehofft, das Alter würde sie zumindest unschädlich machen, besser gleich hinfortraffen, schien der alte Drachen mit jedem weiteren Jahr nur verbissener und bösartiger zu werden. Zwar hatte Vivien Gerard erfolgreich beeinflussen können, seine Mutter aus dem Testament zu streichen, aber sie würde so schnell keine Ruhe geben, da war sich Vivien sicher. Dass eine angeheiratete Frau den Familienbetrieb weiterführen würde, war Agatha selbstverständlich ein Dorn im Auge. Hinzu kam, dass sie die widerspenstige Vivien, die sich nur ungern in soziale Zwänge fügte, nie an der Seite ihres einzigen Kindes akzeptiert hatte. Vivien dachte daran, dass es Agatha womöglich gelingen würde, ihr das Erbe streitig zu machen. Spürte heiße Wut hochkochen und endlich ein Brennen in den Augen. Gut! Dieses Gefühl würde sie festhalten. Schließlich konnte niemand erkennen, dass sie keine Tränen der Trauer um ihren Mann vergoss. Eine Zeitlang musste sie noch die leidende Witwe geben. Wenn Irene und sie dann endlich ihre Pläne umgesetzt hätten, würde sie diejenige sein, die entschied, was richtig und was falsch war. Die mit Irene dieser ganzen verlogenen Gesellschaft den Garaus machen würde. Sie prüfte erneut den Sitz von Hut und Kleid, bevor sie sich, in Begleitung ihres Butlers, in die Kutsche begab. Durch das Fenster betrachtete sie das Royal Victoria Dock auf der anderen Seite des Hafenbeckens, das sie schließlich hinter sich ließen, als sie am Ufer der Themse entlang in Richtung High Gate Cemetery fuhren. Vivien wünschte sich nichts mehr, als dass der ganze Zinnober schon vorüber wäre. So lange hatte sie auf diesen Tag gewartet, so viele Entbehrungen hinnehmen müssen. Aber jetzt war das Ziel in Sichtweite. Sie durfte nicht unruhig werden. Unruhe sorgte für Fehler, und jeder Fehler konnte alles, woran sie gearbeitet hatte, zum Einsturz bringen. Die Kutsche hielt und der Butler öffnete ihr die Tür. Vivien stieg aus und ging langsam auf die Friedhofskapelle zu. Sie konnte nicht glauben, wie lächerlich klein das Bauwerk war, und obwohl sie Gerards Tod zu verantworten hatte, fand sie diesen Ort für seine Trauerfeier mehr als unangemessen. Aber schließlich hatte sie sich ihrem Anwalt, der ebenfalls das Testament verwaltet hatte und als ihr Berater fungierte, gebeugt. Ein Mord in ihren Kreisen war an sich schon eine Ungeheuerlichkeit, die viel Aufmerksamkeit auf sich zog. Dass der Täter aus adeligem Hause kam, umso mehr. Vivien hatte daher zugeben müssen, dass es wirklich besser war, die Trauerfeier nur im engsten Kreis abzuhalten, auch Irene hatte das befürwortet. Und schließlich war sie diejenige, die am besten Bescheid wusste. Immerhin hielt sie die Fäden in der Hand. Hinzu kam, dass die Metropolitan Police die Kapelle gut gegen neugierige Reporter und Schaulustige abschirmen konn-te. Mit gesenktem Haupt schritt sie durch die Gruppe der wenigen Menschen, die sich, sobald sie sie bemerkten, respektvoll zur Seite schoben, um ihr den Weg freizugeben. Nachdem sie in der ersten Reihe Platz genommen hatte, füllte sich die Kapelle zügig. Selbst der engste Kreis umfasste eine dafür noch ausreichende Personenzahl.

Vivien hoffte, dass niemand, schon gar nicht ihre Schwiegermutter, die rechts von ihr saß, hinter ihrem Schleier ihr Gesicht erkennen konnte, um zu sehen, dass sie nicht weinte. Wäre Irene doch nur da! Vivien hätte sich in ihrer Gegenwart sicherer gefühlt. Aber Irene war der Meinung, dass es für ihre Sache nicht förderlich war, wenn man zu früh eine Verbindung zwischen ihnen vermutete. Und sicherlich hatte sie auch damit Recht.

Als ihre Schwiegermutter ihr auf dem Weg zum Grab verkündete, sie wolle für ein paar Tage bei Vivien in der Villa bleiben, um alle Angelegenheiten zu klären, liefen die Tränen endlich. Vivien war bewusst, dass sie sich eine Weile zurückziehen musste, um eine nach gesellschaftlichen Maßstäben ausreichende Trauerzeit einzuhalten. Die Aussicht, davon einige Tage mit ihrer Schwiegermutter verbringen zu müssen, war ihr unerträglich. Sie wollte endlich beginnen, jetzt, da der Weg frei war.

 

3

Die Explantation

 

Irene Dorchester hatte es eilig. Es passte ihr nicht, wenn etwas nicht nach Plan lief. Sie hielt die Fäden gerne in der Hand, die, mit denen sie die Akteure nach ihrem Willen tanzen ließ. Dazu gehörten Planung und natürlich das nötige Handwerkszeug. Es war ein großes Glück gewesen, dass sie Lord Earnest Hunters Anwesen hatte kaufen können. Das Haus hatte ein Jahr leer gestanden, denn der Lord war von einem auf den anderen Tag verschwunden. Seit Jahren faszinierte er sie. Was die Allgemeinheit als seltsam ansah, erkannte sie als Genie. Er war etwas Revolutionärem auf der Spur, und somit war klar gewesen, dass sie dieses Haus haben musste. Da man davon ausging, dass Earnest Hunter nicht wieder auftauchen würde, wurde das Haus zwangsversteigert. Es gab kaum Interessenten, und Irene kaufte das Haus für einen Spottpreis. Nicht, dass sie das nötig gehabt hätte, Immerhin hatte ihr verstorbener Ehemann ihr ein stattliches Vermögen vererbt. Dass die Villa ungewöhnlich war, da Lord Hunter einige Veränderungen hatte vornehmen lassen, wusste sie, konnte aber dennoch nicht ahnen, was sie vorfinden würde. Auch nachdem sie bereits seit einem halben Jahr dort wohnte, kannte sie immer noch nicht alle Räu-me, was daran lag, dass das gesamte Haus im Innern beweg-lich war. Durch ein ausgeklügeltes System entstanden stets neue Räume und Wege, einige davon jedoch durch eine spezielle Codierung gesichert, die nur der Konstrukteur kannte: Earnest Hunter. Irene vermutete, dass er immer noch in einem dieser Räume war und versuchte täglich neue Kombinationen, bislang ohne Erfolg. Behilflich waren ihr dabei einige von Hunters Aufzeichnungen, die sie gefunden hatte und durch deren Studium sie in Rekordzeit das ultimative Werkzeug entwickelte. Etwas, womit sie die Welt, wie sie momentan noch war, aus den Angeln heben würde. Die Towerwache ließ sie passieren, und Irene vergewisserte sich, dass das besagte Arbeitsgerät noch in ihrer Corsage steckte. Zwar erwartete sie keine Leibesvisitation, aber ein derartiges Instrument in einem Gefängnis würde sicherlich zu den falschen Schlussfolgerungen führen. Sie musste schmunzeln bei dem Gedanken, dass jemand vermuten könne, sie wolle Howard Grant befreien. Einen Mann, der ihr, wie alle Männer, vollkommen gleichgültig war. Die einzigen, denen Irene mehr Beachtung schenkte, waren die, die ihr entweder nützlich oder im Weg waren. Howard gehörte zur Gruppe der Erstgenannten. Man hätte auch sagen können, dass er zur falschen Zeit am falschen Ort gewesen war. Vor zwei Wochen hatte sie ein Dinner in ihrer Villa abgehalten. Ursprünglich, um sich ein Bild von den zur Verfügung stehenden Kandidaten zu machen. Ihre Pläne hatte sie natürlich schon früher geschmiedet und mit Vivien besprochen. Seit sie sich kennengelernt hatten, wusste Irene, dass Vivien und ihr Erbe der Schlüssel waren, eine funktionierende Produktionsanlage zu gewährleisten, um ihre Erfindung in großer Stückzahl herzustellen. Diese wiederum brauchten sie, um Irenes ehrgeizige Ziele zu verwirklichen.

Doch das war nicht der einzige Grund. Sie hatte gespürt, dass Vivien und sie eine Überzeugung verband, dass sie ihre Vision teilte. Ohne eine Partnerin, die ihr zu einhundert Prozent loyal verbunden war, war ihr gesamtes Projekt gefährdet. Eine Wache hatte sie mittlerweile zu Howard Grants Zelle eskortiert. Als sie den trostlosen Ort sah, die muffige Einsamkeit roch, hatte Irene für einen Moment Mitleid mit ihm. Doch der Gedanke an ihren Plan sagte ihr, dass das Opfer unabdingbar war. Auch wenn Howard ironischerweise ein völlig untypischer Vertreter des Feindes war. Schon vor seiner Umwandlung war er freundlich und umgänglich gewesen. Wahrscheinlich sogar ein Mann, der einer Veränderung der Gesellschaft offen gegenüber gestanden hätte. Aber jeder Krieg forderte seine Opfer, und häufig waren das im Grunde unbeteiligte Zivilisten. Ja, der Zweck heiligte die Mittel, davon war Irene überzeugt. Nun kam der entscheidende Part: Sie hoffte, dass der Wachmann keiner der wenigen Moralapostel war, die ihre Dienstpflicht über alles stellten. Sie wandte sich ab und griff unter ihre Korsage, fasste das Bündel, das sie neben dem Werkzeug befestigt hatte und zog es hervor. „Ich kann mir vorstellen, dass Ihre wichtige Arbeit kaum angemessen vergütet wird.“ Sie zeigte ihr strahlendstes Lächeln und kombinierte es mit einem bühnenreifen Aufschlag ihrer dunklen Augen. Der Wächter, ein großer, klobiger Kerl mit kleinen Schweinsäuglein und wenigen gelben Zähnen, konnte gar nicht anders, als zurückzulächeln.

Es kostete Irene einige Überwindung, bei diesem unappetitlichen Anblick ihr Lächeln beizubehalten und noch näher an ihn heranzutreten. „Das dachte ich mir“, raunte sie ihm, fast zärtlich, ins Ohr, um ihm gleich darauf das Bündel in die Hand zu drücken. „Und jetzt möchte ich Sie höflich bitten, mir einen privaten Moment mit Herrn Grant zu gewähren. Das ist ja sicherlich kein Problem?“ Ein erneuter Augenaufschlag, und schon erntete sie ein eifriges Kopfnicken, mit dem sich der Wachmann zurückzog. Irene trat an die Gittertür der Zelle. Dann holte sie ein Kästchen aus einer Tasche, die in ihr Kleid eingearbeitet war, und hielt es sich an den Hals.

„Howard.“

Sie sprach leise, aber dennoch hörte es sich an, als habe sie einen Befehl ausgesprochen. Und Howard gehorchte. Umgehend erhob er sich von seiner Pritsche, auf der er gesessen hatte, und trat auf seiner Seite an die Zellentür.

„Öffne dein Hemd!“

Erneut führte Howard die Anweisung widerspruchslos aus. Irene griff unter ihre Korsage und holte das Werkzeug hervor, das einem Schraubenzieher glich, aber eine Spitze aufwies, die deutlich komplizierter anmutete. Ihre Finger strichen die Naht auf Howards Brust entlang. Ob die bereits jemand gesehen hatte? Da er noch seine Garderobe trug, in der er den Mord verübt hatte, standen die Chancen gut, dass dem nicht so war. Und falls doch, niemand konnte ahnen, was es damit auf sich hatte. Sie drückte auf den Schaft ihres Werkzeugs, woraufhin eine kurze Klinge, ähnlich der eines Skalpells, hervorschnellte. Damit öffnete sie die Naht. Ein Dreh am Griff des Werkzeugs verwandelte die Spitze in einen pinzettenartigen Aufsatz, mit dem sie vorsichtig in die Tiefe der Wunde fuhr. Sie durfte sich keinen Fehler erlauben. Auch wenn sie den Eingriff bereits mehrfach durchgeführt hatte, blieb er risikoreich. Und sollte Howard dabei sterben, konnte sie ihr Vorhaben vergessen. Davon würde sie sich kaum freikaufen können. Sie hörte das Blut in ihren Ohren pulsieren, fixierte sich auf die Wunde vor ihr, auf die beiden Spitzen des Werkzeugs, mit denen sie in die Tiefe tastete. Spürte erst die knöcherne Oberfläche des Brustbeins, um dann langsam zur Seite zu tasten, zum Zwischenrippenraum. Dorthin, wo sie ihre Erfindung, eine Weiterentwicklung des Werks von Lord Earnest Hunter, platziert hatte. Endlich fanden die Spitzen des Werkzeugs die dafür vorgesehenen Vertiefungen in dem Uhrwerk, rasteten mit einem sanften Klicken, das sie mehr spürte, als hörte, ein. Sie wartete einen Augenblick, bis sich die Übertragungselektrode, die im Gewebe in der Nähe des Herzens lag, zu dem Uhrwerk zurückgezogen hatte, dann zog sie das kleine rundliche Gerät am Ende des Werkzeugs aus der Wunde hervor. Wie jedes Mal war sie nicht nur fasziniert von ihrem Werk, sondern auch davon, dass der Vorgang erstaunlich unblutig war. Das lag vor allem daran, dass sich das Gerät aufheizte, damit Blutungen stillte und einen Kanal schuf, über den es eingesetzt und auch wieder geborgen werden konnte. Wobei es nur in seltenen Fällen zu einer Entfernung kam. In diesem Fall war sie zwingend notwendig, damit ihr niemand auf die Schliche kam.

Sie betrachtete Howards Gesicht, dessen Augen geschlossen waren. Er befand sich in einer Art Trance, in den ihn ihre kleine Maschine versetzt hatte, kurz bevor sie entfernt wur-de. Aber dieser Zustand würde nur noch wenige Minuten andauern. Es war an der Zeit, den Eingriff zu beenden und sich davonzumachen. Schließlich sollte sie in Howards Erinnerungen nicht auftauchen. Sie zog an dem Griff des Werkzeugs, ließ das kleine Gerät in die andere Hand fallen und beobachtete, wie die vorherige Doppelspitze durch eine mit halbmondförmiger Nadel ersetzt wurde. Sie hielt sie an die Wunde und betrachtete, mit einen gewissen Stolz, wie das Werkzeug begann, die Wunde zu vernähen. Irene schnaubte verächtlich, als sie daran dachte, mit welchen Metzgermethoden die Chirurgen in den Kliniken arbeiteten, und was sie wohl für so ein Werkzeug geben würden. Als die Arbeit getan war, knöpfte sie Howards Hemd zu und entfernte sich schnellstmöglich von der Zelle. Hinter der Ecke des Gangs blieb sie geduckt stehen und behielt ihn weiter im Auge. Beobachtete, wie er wach wurde, sich verwundert umsah, als wisse er nicht, wo er war. Spürte unerklärlicherweise erneut ein Bedauern, als ihr bewusst wurde, dass genau das zutraf. Denn im Zustand der Beeinflussung vermochten die Betroffenen nichts wahrzunehmen, als befänden sie sich in einer Art Schlaf. Das bedeutete aber, dass Howard nun zum ersten Mal feststellte, dass er im Gefängnis saß. Irene schüt-telte das störende Bedauern ab und strebte auf den Ausgang zu. Ihre Arbeit war beendet.

 

4

Der Verdacht

 

Sie kannte die Frau, die aus Howards Zellentrakt ins Freie trat, kurz in die Sonne blinzelte und sich umsah, als habe sie etwas getan, womit sie nicht in Verbindung gebracht werden wollte. Eve verlangsamte ihren Schritt, um die Aufmerksamkeit der Frau nicht zu erregen. Der Tower wurde nur noch selten als Gefängnis genutzt, meist nur für höhergestellte Häftlinge, wie Howard einer war. Eve wusste daher, dass er in diesem Trakt der einzige Häftling war. Was also hatte diese fremde Frau bei ihm zu suchen? Und warum fiel ihr der Name immer noch nicht ein? Die vertraute Fremde strebte schließlich auf den Ausgang zu, ohne Eve eines Blickes zu würdigen, worüber sie dankbar war.

In Howards Zelle bot sich ihr dann ein herzzerreißendes Bild, und ihr war sogleich klar, dass ihr Howard zurückgekehrt war, so verrückt sich das auch anhörte. Auf der kargen Pritsche der dunklen Zelle saß ein gebrochener Mann, der sein von Hoffnungslosigkeit gebeugtes Haupt mühevoll mit den Händen stützen musste, in denen sein weinendes Antlitz weilte. Die distanzierte Kühle war verschwunden.

„Howard“, flüsterte Eve, und sein Kopf hob sich, als würde er einen Mühlstein anheben. Sein gequälter Blick aus geröteten Augen traf den ihren. Drang in sie und ließ sie zur Zel-lentür taumeln. Sicherlich war es nicht erlaubt, den Gefangenen zu berühren, aber der Wächter war, nachdem er sie kurz in Empfang genommen hatte, in der Wachstube verschwunden, als gäbe es etwas, das seine Aufmerksamkeit stärker fesselte.

Das war Eve mehr als recht, konnte sie somit ihren Howard, der auf seiner Seite der Zellentür vor ihr schluchzend in sich zusammengesunken war, zumindest durch das Gitter berühren. Ihm sanft über Schultern und Nacken streichen, seine Haut unter ihren Fingerspitzen spüren. Wie gerne wäre sie ihm nähergekommen. Hätte ihn in die Arme schließen können, seinen Kopf in ihren Schoß gebettet und ihm über den Hinterkopf gestrichen.

„Was sie sagen“, stieß er schluchzend hervor, „ist es wahr? Habe ich das wirklich getan?“

„Du erinnerst dich nicht?“ Eve war nicht sicher, ob sie das beruhigte oder ängstigte. Natürlich traute sie ihrem Howard ein derartiges Verbrechen nicht zu, hielt es für ausgeschlossen, aber eine Reihe glaubwürdiger Personen hatte bezeugt, die Tat mit eigenen Augen gesehen zu haben. Sie hatte den Artikel in der Times gelesen. Bei einem Satz hatten sich ihr die Nackenhaare aufgestellt und taten es in diesem Augenblick wieder: Die Zeugen berichteten einhellig, dass Howard Grant die Tat absolut emotionslos ausführte und danach den Tatort verließ, als wäre er eine seelenlose Maschine.

Sie hatte gleich gespürt, dass sich dieser mit ihrem Eindruck deckte, den sie bei ihrem ersten Besuch bei Howard gehabt hatte. Wenn der sich also nicht mehr an die Tat erin-nern konnte, musste irgendjemand oder irgendetwas ihn da-zu beeinflusst haben. „Was ist das Letzte, woran du dich erinnerst?“ Eve erschien es hart, ihn angesichts seiner Situation direkt mit derartigen Fragen zu konfrontieren, aber die Zeit drängte. Die Wache konnte jederzeit zurückkehren, und die-se Informationen sollten nicht an fremde Ohren dringen.

„Mister Edmonds“, flüsterte Howard, während sein glasiger Blick in die Ferne ging. „Ich bin der Jüngste in unserem Gentlemen’s Club und bekam daher die Aufgabe zugeteilt, mich um das Wohlergehen der Damen im Prime Ladys Club zu kümmern.“

„Zu kümmern?“ Eve runzelte die Stirn.

„Es ging den Herren wohl eher darum, herauszufinden, über was ihre Damen so plauderten. Du würdest nicht glauben, wie sehr die meisten Gentlemen hinter Klatsch und Tratsch her sind. Offiziell gibt das natürlich keiner zu, aber sie sind sicherlich nicht besser als die Damen.“ Er zwinkerte ihr zu, und es versetzte Eve einen Stich ins Herz.

„Also, bist du zu diesem Prime Ladys Club gegangen?“

Er nickte. „Irgendwo da enden die Erinnerungen. Ich weiß noch, dass ich dort ankam und die Damen mich freudig empfingen und darauf achteten, dass mein Glas stets mit Champagner gefüllt war. Dann weiß ich nur noch, dass ich plötzlich in dieser Zelle saß.“

„Also muss dort etwas passiert sein. Irgendjemand hat dich angestiftet.“

„Aber wie soll das passiert sein?“

„Vielleicht eine Art von Hypnose?“ Irgendwie glaubte Eve, dass ihre Vermutung zwar nicht die exakte Antwort war, der aber nahekam. Etwas war bei diesen Ladys geschehen, was aus ihrem Howard einen Mörder gemacht hatte, der sich an seine Tat nicht erinnern konnte.

„Eve.“ Howard ergriff ihre Hand. „Sie haben ein Gestän-dnis von mir. Ich habe den Mord gestanden. Warum habe ich das getan?“

„Und vor allem, warum kannst du dich auch daran nicht erinnern? Was immer sie mit dir gemacht haben, es hielt noch an, bis ich dich gestern besuchte.“

Howard riss die Augen auf. „Du warst bereits hier?“

Eve nickte, dann fiel ihr etwas ein. „Die Frau“, stieß sie aufgeregt hervor, aber Howard zuckte ahnungslos mit den Achseln.

---ENDE DER LESEPROBE---