Kein Platz für die Liebe - Stefan S. Kassner - E-Book
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Kein Platz für die Liebe E-Book

Stefan S. Kassner

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Beschreibung

Kann die Liebe dich retten …?
Der mitreißende Roman für Fans von GREY'S ANATOMY

Schon der erste Tag als Assistenzarzt macht Tobias klar, dass er in der Universitätsklinik vollkommen falsch ist. Bereits das Medizinstudium glich einer Qual, doch sein Vater will das einfach nicht akzeptieren. Wer hätte gedacht, dass die Assistenzarztzeit noch schlimmer werden könnte? Denn von Anfang an fühlt er sich fehl am Platz in der Abteilung, in der ein rauer Ton herrscht. Nur sein Kollege Julian, der Tobias einarbeiten soll, scheint anders zu sein. Als Tobias dann mit Julian seinen ersten Nachtdienst absolviert, geschieht etwas, das Tobias gesamtes Leben ins Wanken bringt …

Erste Leser:innenstimmen
„authentische Charaktere und mitreißend erzählt“
„Wenn aus Hass Liebe wird. Dieser berührende Roman ist was fürs Herz!“
„Prickelnde und romantische Gay Romance“
„Eine wunderbare Lovestory mit Gefühl – auch die Leidenschaft kommt nicht zu kurz.“

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Seitenzahl: 378

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Über dieses E-Book

Schon der erste Tag als Assistenzarzt macht Tobias klar, dass er in der Universitätsklinik vollkommen falsch ist. Bereits das Medizinstudium glich einer Qual, doch sein Vater will das einfach nicht akzeptieren. Wer hätte gedacht, dass die Assistenzarztzeit noch schlimmer werden könnte? Denn von Anfang an fühlt er sich fehl am Platz in der Abteilung, in der ein rauer Ton herrscht. Nur sein Kollege Julian, der Tobias einarbeiten soll, scheint anders zu sein. Als Tobias dann mit Julian seinen ersten Nachtdienst absolviert, geschieht etwas, das Tobias gesamtes Leben ins Wanken bringt …

Impressum

Erstausgabe Juni 2022

Copyright © 2024 dp Verlag, ein Imprint der dp DIGITAL PUBLISHERS GmbH Made in Stuttgart with ♥ Alle Rechte vorbehalten

E-Book-ISBN: 978-3-98637-489-1 Taschenbuch-ISBN: 978-3-98637-515-7 Hörbuch-ISBN: 978-3-98637-486-0

Covergestaltung: Grit Bomhauer unter Verwendung von Motiven von shutterstock.com: © Eng Ebo, © astarot, © Washdog Lektorat: Stephanie Schilling

E-Book-Version 17.05.2024, 13:40:08.

Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Sämtliche Personen und Ereignisse dieses Werks sind frei erfunden. Etwaige Ähnlichkeiten mit real existierenden Personen, ob lebend oder tot, wären rein zufällig.

Abhängig vom verwendeten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.

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Kein Platz für die Liebe

Jetzt auch als Hörbuch verfügbar!

Kein Platz für die Liebe
Stefan S. Kassner
ISBN: 978-3-98637-486-0

Kann die Liebe dich retten …? Der mitreißende Roman für Fans von GREY'S ANATOMY

Das Hörbuch wird gesprochen von Till Beck.
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Für meine Mutter.

Danke für Deinen unerschütterlichen Glauben an mich und dass Du mich so liebst, wie ich bin.

‚I am what I am I don’t want praise, I don’t want pity‘ Gloria Gaynor – I am what I am

1

Das ist kein Platz für mich!

Der Gedanke schießt so eindringlich in Tobias Kopf, dass er schon auf dem Absatz kehrt machen und aus der Umkleide stürmen möchte, in deren Tür er steht.

Er sieht das Gesicht seines Vaters vor sich, spürt seinen tadelnden Blick. ‚Reiß dich zusammen, Junge‘, hört Tobias dessen Stimme in seinem Kopf. Zusammenreißen. Das war stets das Credo seines Vaters, das er auch seinem Sohn überstülpte. Und irgendwann glaubte Tobias fast, dass es auch sein Wunsch war, den Weg seines Vaters einzuschlagen. Orthopäde zu werden und dessen Praxis zu übernehmen.

Doch dieser Ort, die Umkleide der Klinik für Orthopädie und Unfallchirurgie, in der er heute seine Assistenzarztstelle antritt, ruft eine viel deutlichere Empfindung in ihm hervor: Ablehnung. Er will hier nicht sein. Er fühlt sich wie früher im Sportunterricht, als Letzter auf der Bank, während die anderen bereits in ein Team gewählt worden waren. Zwar ist und war er nicht unsportlich, aber mit dem Ballgefühl haperte es stets, was ihn zu einem unliebsamen Mannschaftsmitglied machte. Genauso fühlt es sich hier an. Er hat allenfalls einen Platz auf der Ersatzbank und darf den coolen Jungs beim Spiel zusehen.

„Wen haben wir denn da?“, grölt ein Hüne, der gerade sein Hemd abgestreift hat und Tobias anstarrt. „Hast du dich verirrt?“

„Berger!“, prustet ein Anderer, kleiner als der Erste, aber immer noch größer als Tobias und deutlich muskulöser, „Ist das nicht deine neue Freundin?“

„Haltet die Fresse!“

Tobias Blick findet die Quelle dieses Ausrufs und verharrt. Der junge Mann mit den blonden Haaren und den blauen Augen, die Tobias fragend anschauen, scheint anders zu sein. Worauf sich diese Einschätzung stützt, kann Tobias nicht sagen. Es ist nur ein Gefühl. Ein Gefühl, das er nicht richtig beschreiben kann. „Bist du der Neue?“, fragt der Blonde, und Tobias nickt zögerlich.

„Na, komm schon rein und mach die Tür zu! Oder meinst du, wir strippen hier für die Schwestern? Und das auch noch gratis?“, poltert der Hüne und fällt in ein grunzendes Lachen, das Tobias eine Gänsehaut verursacht.

„Hier!“ Der Blonde klopft gegen den Spind rechts von seinem. „Du kannst den haben. Ich bin übrigens Julian. Julian Berger.“ Er streckt Tobias die Hand hin, der sie kurz schüttelt. „Das sind Alex Göttinger und Finn Toner.“ Er deutet erst auf den Hünen, dann auf den Kerl, der ihn als Julians Freundin bezeichnet hat. Beide nicken ihm zu. Tobias überlegt, ob er ihnen ebenfalls die Hand reichen soll, entscheidet sich aber dagegen.

Er streift eine Hose über, deren Beine zu lang sind und die ihm viel zu weit ist. Glücklicherweise hat er einen Gürtel, um sie zusammen zu zurren, und sieht damit einfach lächerlich aus. Noch schlimmer aber ist der Arztkittel, der ihm, mehr als zwei Nummern zu groß, über den Schultern schlackert. „Das geht nicht“, kommentiert Julian knapp, durchwühlt einen Kleiderstapel und zieht einen anderen Kittel heraus, der tatsächlich besser passt.

Finn tritt an Tobias heran, lugt auf das aufgebügelte Namensetikett oberhalb der Brusttasche, beginnt dann prustend zu lachen und schlägt Julian auf die Schulter. „Berger!“, jauchzt er. „Du bist echt der Burner. Den Kittel von der Tiese?“

Jetzt stimmt auch Alex in das Gelächter ein, selbst Julian kann sich ein Grinsen nicht verkneifen. „Was bleibt mir anderes übrig?“

„Hab doch gleich gesagt, dass sie deine Freundin ist“, poltert Finn, der vor Lachen rot anläuft.

„Hör auf mit dem Scheiß!“ Julian schaut auf die Uhr. „Wir müssen los.“

Sie verlassen die Umkleide, und Tobias folgt ihnen in etwas Abstand. Ihm ist nun klar, dass er einen Frauenkittel trägt. Ein Alptraum! Kann es noch schlimmer werden?

Die Umkleide der Assistenzärzte befindet sich im Erdgeschoss. Zum Besprechungszimmer im zweiten Stock, in dem die allmorgendliche Konferenz der in der Fachabteilung tätigen Ärzte stattfindet, gelangen sie über das anliegende Treppenhaus. Wieder hat Tobias einen unfreiwilligen Auftritt, als sich beim Betreten des Zimmers die Blicke der Anwesenden an ihn heften. Mit gesenktem Blick sucht er einen freien Platz und will sich schon auf einen Stuhl setzen, als er unsanft weggezogen wird. Es ist Julian. „Auf gar keinen Fall da!“, zischt er und weist Tobias einen Platz zu, auf den er sich dankbar fallen lässt. Am liebsten wäre er noch tiefer gefallen. Durch den Boden, aus diesem Raum, dieser Klinik, aus allem heraus.

„Grüß dich“, murmelt es neben ihm, und eine Hand schiebt sich in sein Sichtfeld, das momentan lediglich aus dem kleinen Stück Linoleumbodens unmittelbar vor ihm besteht.

Tobias ergreift sie, schüttelt sie kurz, registriert die Feuchtigkeit und widersteht dem Impuls, die eigene Hand am Kittel abzuwischen. Er sieht zur Seite in ein pausbäckiges Gesicht, aus dem ihn kleine Schweinsäuglein freundlich anblicken.

Noch bevor er nach dem Namen seines Nebenmanns fragen kann, ertönt eine sonore Stimme: „Guten Morgen, meine Damen und Herren.“

Tobias sieht sich um und bemerkt sogleich, wie absurd diese Begrüßung ist, denn bis auf eine ältere Dame, die in gebückter Haltung dasitzt, sind nur Männer anwesend. Fünf davon sitzen, einschließlich der älteren Dame, um einen Tisch herum, der in der hinteren Hälfte des Raumes steht.

Den Herrn mit weißem Bart und Haar, der sie soeben begrüßt hat, erkennt Tobias als Professor Kroll, den Chefarzt, mit dem Tobias auch das Vorstellungsgespräch führte. Er sitzt am Kopfende des Tisches. Eine Fensterfront hinter dem Tisch gibt den Blick auf die parkähnliche Anlage frei, die die Gebäude der Klinik umgibt. Der Raum ist prall gefüllt mit Anspannung. Wie Zuschauer einer besonderen Show betrachten die in weiße Kittel Gewandeten auf den Stühlen an der Wand die am Tisch Sitzenden. Tobias stellt fest, dass das Alter der Anwesenden mit der Nähe zum Tisch zuzunehmen scheint. So sitzen Julian, Alex und Finn näher am Tisch als er und der Unbekannte neben ihm, der ihn so freundlich begrüßte.

„Wer hatte Nachtdienst?“, fragt Professor Kroll.

„Dienst hatten der Kollege Gerken und ich“, meldet sich ein junger Mann in blauer Funktionskleidung zu Wort, dessen dunkle Augenringe und zerstrubbelten Haare Tobias mutmaßen lassen, dass es sich wohl um einen unruhigen Nachtdienst gehandelt hat. „Es gab fünf stationäre Aufnahmen“, fährt der junge Mann fort, wobei er so langsam spricht, dass Tobias sich Mühe geben muss, nicht zu gähnen.

„Doktor Dork.“ Professor Kroll entblößt die Zähne zu einem Haifischgrinsen. „Glauben Sie, Sie schaffen die Übergabe, ohne einzuschlafen?“

Doktor Dork zuckt, als habe er einen Stromschlag bekommen. „Entschuldigen Sie, Herr Professor. Es war eine lange Nacht.“

„Davon gehe ich aus. Schließlich wurden Sie hier als Assistenzärzte angestellt und nicht als Bettenprüfer.“ Krolls Tonfall ist leise, aber scharf, und Tobias hat den Eindruck, die Temperatur im Raum ist um zwei Grad gefallen. Wäre er an Doktor Dorks Stelle, er wäre den Tränen nahe.

Doch sein erfahrener Kollege scheint mit derartigen Situationen vertraut. Lächelt sogar. „Selbstverständlich, Herr Professor. Ich bitte um Entschuldigung. Ich werde mich zusammenreißen.“

Wie ein Blitz fährt es in Tobias. Da ist es wieder. Zusammenreißen. Jetzt ist ihm auch klar, warum sein Vater das ständig sagt: Es scheint das Fundament zu sein, auf dem der Arztberuf gebaut ist.

Während die Schilderungen vom Nachtdienst fortgesetzt werden, schweifen Tobias‘ Gedanken ab. Er fragt sich, ob die anderen ähnlich empfinden wie er. Ob sie ebenfalls der Meinung sind, dass ein Beruf, der permanent von einem fordert, sich zusammenzureißen, nichts sein kann, was man herbeisehnt. Sein Blick fährt die Gesichter ab, aber in keinem kann er die Ablehnung finden, die er selbst spürt. Er sieht nur Ärzte, die eine Besprechung abhalten und sich. Der, den niemand in sein Team wählen möchte, weil er der Aufgabe nicht gewachsen ist.

„Dann kommen wir zum OP-Plan“, sagt der grauhaarige Herr, der rechts vom Chefarzt sitzt. Tobias weiß, dass er Professor Döbner heißt und der leitende Oberarzt ist. Er kennt ihn noch aus der Vorlesung, die Chefarzt Kroll nie selbst abhält, hält er sie doch für ein überflüssiges Übel.

Professor Döbner teilt die Assistenzärzte den verschiednen Eingriffen zu. Welchen Kriterien diese Zuteilung folgt, erschließt sich Tobias nicht, wohl aber die Reaktionen der Genannten, die zwischen Enttäuschung und Begeisterung schwanken, wofür die Art des Eingriffs ausschlaggebend ist. “Herr Berger?“ Döbner sieht zu Julian hinüber, der eifrig nickt. „Sie sind dann gleich mit mir bei der Hüft-TEP.“

Julians Augen leuchten, man muss kein Genie sein, um zu wissen, dass er einem guten Eingriff zugeteilt wurde. ‚Diese Augen!‘, denkt Tobias und fühlt sich im gleichen Moment seltsam. Was ist nur los mit ihm? Was hat dieser Julian an sich, dass er ihn ständig anschauen muss? Vielleicht, weil er bislang die einzig nette Person war, auf die Tobias getroffen ist?

„Gibt es sonst noch etwas?“, fragt Kroll am Ende seiner Ausführungen.

Tobias sieht, dass Julian eine auffordernde Geste in seine Richtung macht. Was wird von ihm erwartet? Soll er sich erheben, soll er etwas sagen? Er räuspert sich: „Herr Professor … also ich … mein Name ist Grund und ich …“ Augenblicklich springen ihn die Blicke aller Anwesenden an. Tobias spürt die Aufregung heiß und rot in sich aufsteigen. Er macht sich hier vollkommen zum Affen, und das schon zum zweiten Mal innerhalb weniger Minuten.

„Sie sind das“, entgegnet Kroll knapp und wendet sich dann an Julian. „Herr Berger. Sie übernehmen den Neuen.“

„Aber ich bin doch gleich bei der Hüft-TEP“, protestiert Julian.

„Na dann“, Kroll sieht sich um, „wird Herr Toner Sie sicherlich würdig vertreten, damit Sie ausreichend Zeit für Herrn Grund haben.“

Finn grinst breit. „Aber klar doch, Chef“, entgegnet er.

„Gut.“ Kroll schiebt die Papiere vor sich zusammen und steht auf. „Dann wäre das ja geklärt.“

Auch ohne aufzusehen spürt Tobias, wie sich Julians Blick in ihn bohrt.

2

Tobias fühlt sich wie ein Depp, als er hinter Julian her trottet, bis sie die Station erreichen. Julian sagt kein Wort, würdigt ihn keines Blickes. Sein Stechschritt aber spricht Bände. Dann zieht er eine Tür auf und verschwindet im Raum dahinter. Tobias ist unsicher, ob er einfach so folgen soll und zögert. Und ehe er sich versieht, schlägt ihm die schwere Tür, die mit einem Türschließer versehen ist, in den Rücken. „Aua!“, entfährt es ihm, und er stolpert in den Raum, der wohl das Arztzimmer ist.

Julian fährt herum und sieht ihn tadelnd an. „Wie kann man denn so unbeholfen sein? Wenn du dich bei allem so anstellst, wird das hier nichts.“ Julian steuert auf den langen Schreibtisch zu, der Platz für zwei Arbeitsplätze bietet und setzt sich auf einen der Stühle. Wieder dreht er sich um. Sein Blick ist so entnervt, dass Tobias zusammenzuckt. „Junge! Brauchst du für alles eine Aufforderung? Jetzt setz dich hierher verdammt, damit ich dir ein bisschen was über den Arbeitsablauf erzählen kann.“

‚Das wird von Moment zu Moment schlimmer!‘, denkt Tobias. Geht widerwillig auf den freien Stuhl zu und nimmt Platz. Julian klärt ihn über die Stationsabläufe auf. Je länger er spricht, desto mehr fällt der anfängliche Ärger von ihm ab. Schließlich hat Tobias den Eindruck, dass es ihm sogar Spaß macht. Als er vom rauen Ton, den einige Oberärzte anschlagen, spricht und Tobias‘ ängstlichen Blick bemerkt, zwinkert er ihm sogar zu. „Am Anfang erscheint alles bedrohlich, aber das wird besser mit der Zeit.“

Wärme breitet sich in Tobias Brust aus, und er hat Mühe, sich vom Blick der tiefblauen Augen zu lösen. Er kratzt sich am Hinterkopf, räuspert sich. Die Wärme hat sich zu Hitze gesteigert, und Tobias verspürt das seltsame Bedürfnis, eine kalte Dusche nehmen zu wollen.

„Komm. Ich stell dich mal den Schwestern vor.“ Julian klopft Tobias aufmunternd auf die Schulter, und der folgt ihm in den Nebenraum, den Pflegestützpunkt der Station. „Guten Morgen, die Damen!“, ruft Julian, als er, nach kurzem Anklopfen, die Tür aufstößt. Vier Augenpaare starren ihnen entgegen. In den Augen erkennt Tobias etwas, das er selbst spürt, wenn er Julian betrachtet. Julian hat etwas, das einen in seinen Bann zieht. Tobias ist sich sicher, dass jede der vier anwesenden Schwestern ein Auge auf den äußerst attraktiven Assistenzarzt geworfen hat und ist irritiert, dass ihn das stört. Weil er befürchtet, dahinter zu verblassen? Die plausibelste Erklärung. Oder?

„Dr. Berger“, die kräftige Schwester am Kopfende grinst Julian breit an, errötet sogar ein wenig. Julian stellt sie Tobias als Stationsleitung vor, dann die anderen drei Schwestern. Noch mehr Namen, von denen Tobias bereits jetzt weiß, dass er sie sich nicht wird merken können. Ihm graut bereits davor, wieder nachfragen zu müssen und dann womöglich als arrogant zu gelten, denn das Verhältnis von Ärzten und Schwestern ist ohnehin meist angespannt. Und ihm als Neuling kann die Brandmarkung als arroganter Schnösel direkt zu Anfang zum Verhängnis werden. Das kann ja was werden, denkt er und versucht, seine Bedenken weg zu lächeln, was unnötig ist, denn die Schwestern schenken ihm nach der Vorstellung durch Julian kaum Aufmerksamkeit. Ein unerfahrener Doktor, der ihnen mehr Ärger machen wird, als irgendetwas zu nutzen.

Als sie die kurze Tour durch den Pflegestützpunkt beendet haben und wieder im Arztzimmer sitzen, sagt Julian: „Dann geht es jetzt an die Visite. Bereit?“

Tobias nickt eifrig, während sein Magen Achterbahn fährt.

„Schau mir einfach über die Schulter bei den ersten Patienten, und dann kannst du ja den ein oder anderen Verbandswechsel machen, ok?“

Erneut nickt Tobias. Julian schenkt ihm ein Lächeln und Tobias spürt, dass ihm wieder heiß wird. Was ist nur los mit ihm? Zu viele Eindrücke, die auf ihn einstürzen. Es fällt ihm schwer, das alles zu verarbeiten. Es ist, als würde er in einem Boot auf unbekannten Gewässern sitzen, ohne dass sich das Ufer am Horizont abzeichnet. Gedanken und Bilder drängeln sich vor, die er wegschieben möchte. Er erinnert sich daran, wie grob Julian ihm gegenüber war, als sie vom Konferenzraum hierher gingen und macht sich klar, wie dünn dieser vermeintliche Frieden ist. Ein Fehler von ihm, und er wird brechen und den Julian hervorbringen, der ihn fragen wird, ob er überhaupt zu irgendetwas taugt. Warum ist es ihm so wichtig, was dieser Typ von ihm denkt? Weil er sein neuer Kollege ist?

Sie betreten das erste Patientenzimmer. Eine Wirbelsäulenoperation und eine Knieprothese, zwei ältere Damen, die Julian, wie schon die Schwestern zuvor, diese begehrlichen Blicke zuwerfen. Erneut meldet sich dieses Gefühl in Tobias. Ein Ziehen tief in der Magengrube, und dieses Mal kann er es nicht verleugnen, obwohl er das am liebsten würde: Eifersucht. Was hat die da zu suchen? Wie Julian die Verbände wechselt, dabei mit den Patientinnen spricht, es fällt schwer, ihn dafür nicht zu bewundern. Er ist wie einer dieser Ärzte aus den Vorabendserien, die Tobias‘ Großmutter so gerne gesehen hat. „Tobias? Gibst du mir jetzt die Kompresse, oder was?“ Dieses Lächeln!

„Ja klar. Sorry“, brummelt Tobias. Reicht Julian mit zitternden Fingern eine Kompresse. Sieht zu, wie der sie in einer flüssigen Bewegung greift und auf die Wunde legt.

„Pflaster.“

Tobias reicht ihm das Pflasterband. Er will sich darüber ärgern, dass er Julians Handlanger ist, der ihm die Sachen anreicht, aber er ärgert sich nur darüber, dass ihn das nicht stört. Schlimmer noch. Es gefällt ihm, in Julians Nähe zu sein. Besonders, wenn er so ist. So gelöst.

„Da haben Sie aber einen Bewunderer“, scherzt die Dame mit der Knieprothese und grinst Julian an.

„Meinen Sie?“ Julian wirft Tobias einen Blick zu, den der nicht deuten kann. Tobias hat Schwierigkeiten, dem Impuls zu widerstehen, den Kopf einzuziehen. „Na, da kann ich mich doch freuen“, fährt Julian fort, während sein Blick immer noch auf Tobias ruht. Der möchte am liebsten weglaufen und ist im gleichen Augenblick überglücklich. Denn was Julian sagt, hört sich an wie ein Kompliment. Und ohne die störende Frage, warum er sich darüber freut, fühlt sich das einfach nur gut an.

3

Hör auf damit! Innerlich schreit Tobias sich an. Würde sich am liebsten ohrfeigen. Warum muss er Julian die ganze Zeit anglotzen? Wenn er nicht aufpasst …

„Alles klar bei dir?“

Mist!

„Immer, wenn ich gerade denke, du hast es geblickt, bekommst du einen Blick, als wäre da oben nur Bollywood.“ Julian lacht, wird dann aber gleich wieder ernst. „Ich weiß, dass es am Anfang viel ist, aber du musst dich echt besser im Griff haben.“

„Sorry!“ Die Schamesröte steigt Tobias in den Kopf. Er fühlt sich entlarvt.

„Kroll und die Oberärzte sind knallhart. Für Träumer und Müßiggänger haben die kein Verständnis. Und ich kann auch nicht die ganze Zeit auf dich aufpassen.“

Tobias schluckt. „Ja, ist klar.“ Er wendet sich wieder dem Bettenplan zu, auf dem er die heutigen Zu- und Abgänge der Patienten vermerken soll. Dann noch die Blutentnahmen und schauen, dass die OP-Patienten für morgen vorbereitet sind. Ihm schwirrt der Kopf. Wie soll er das alles schaffen? Vor allem, ohne etwas zu vergessen? Und dann noch sein Blick, der immer wieder abwandert. Zu ihm. Wie auch seine Gedanken. Schluss damit. Er hat wirklich genug im Kopf, verdammt! Es ist zwar erst sein dritter Tag hier, aber sollte er nicht langsam in die Abläufe hineinfinden?

Julian steht auf und geht zur Tür. Und wieder folgt ihm Tobias’ Blick. Fährt das breite Kreuz zur schmalen Taille hinab und verharrt kurz auf Julians Po, der selbst in unvorteilhaft geschnittenen Funktionshosen noch verdammt knackig aussieht. Dann ist Julian durch die Tür verschwunden, und selbige fällt ins Schloss. Tobias bleibt zurück, während sein Verstand langsam registriert, was der Anblick in ihm auslöste. Warum sah der Kerl auch immer so gut aus? Selbst, wenn er aus dem Zimmer spazierte? Und wieso kann sich Tobias in seiner Anwesenheit kaum konzentrieren?

Er hämmert die Patientennamen in den Plan, nimmt sich dann die Akten der Patienten vor, die morgen operiert werden. Und schafft es tatsächlich, sich so auf seine Aufgabe zu konzentrieren, dass er nicht hört, dass sich die Tür wieder öffnet und schließt. Sieht erst auf, als er eine Berührung an der Schulter bemerkt.

„Sorry.“ Julian grinst. „Wollte dich nicht erschrecken.“

Tobias versucht sich an einem Lächeln, aber seine Gesichtsmuskeln wollen Polka tanzen. Sein Herz hämmert wie wild in seiner Brust. Sein Kopf malt sich aus, wie es sich anfühlt, mit den Händen durch Julians blondes Haar zu fahren, seinen Hals zu küssen, ihm das Oberteil runterzureißen und seine Brust und Schultern anzufassen, während er sich an ihn drängt und seine Haut auf seiner spürt. ‚Verliere ich langsam den Verstand?‘, fragt er sich. Was sollen diese Gedanken, diese seltsamen Gefühle?

Julian steht einfach da, zwei Kaffeetassen in den Händen und betrachtet ihn. Tobias weiß, dass er in seinem Gesicht liest wie in einem offenen Buch. Traut sich nicht, an sich selbst hinabzusehen und zu erkennen, was seine Gedanken ausgelöst haben. Denn die Funktionshosen, die auch er trägt, sind dünn und haben ohnehin schon Schwierigkeiten, gewisse Regionen ausreichend zu verhüllen. Er presst die Oberschenkel zusammen, wünschte, er könnte kontrollieren, was sich seiner Kontrolle entzieht. ‚Im Ernst, Junge, du bekommst einen Ständer?‘, brüllt er sich innerlich an. Wieso reagiert er so? Was ist nur mit ihm los?

Julian stellt die Kaffeetassen ab. Eine vor Tobias, wobei sein Arm Tobias berührt. Absicht? Als wäre Julian statisch aufgeladen, springt ein Kribbeln auf Tobias über, das sich verhundertfacht, als Julian sich neben ihn setzt und ihn wieder anstarrt. Sogar näher an ihn heranrückt. Sein Gesicht nah an Tobias bringt, sodass Tobias in seine blauen Augen stürzt.

Die Tür fliegt unvermittelt auf, und die beiden fahren erschrocken auseinander. „Störe ich euch beim Knutschen, ihr Pussies?“ Gackernd stürmt Finn in das Zimmer.

„Wir haben nur …“, murmelt Tobias, doch Julian fährt dazwischen: „Wenn du eine Übergabe für deinen Nachtdienst willst, verpiss dich, und lass uns erstmal unsere Arbeit machen! Was bist du überhaupt jetzt schon unterwegs? Wenn ich deinem Oberarzt stecke, dass du deine Übergabetour viel zu früh startest, damit andere deine Arbeit machen …“

Finn hebt beschwichtigend die Hände. „Alles gut, Alter. Du bist ja gut drauf. Ich komme in einer Stunde wieder. Knutscht ruhig weiter.“ Bevor Julian oder Tobias etwas entgegnen können, ist er aus dem Zimmer.

Tobias wirft Julian einen Seitenblick zu, aber der starrt nur auf den Bildschirm vor sich, würdigt Tobias von diesem Moment bis zum Ende des Arbeitstages kaum noch eines Blickes. Tobias weiß nicht, was schlimmer ist. Dass die Situation so endet, oder dass er sich danach sehnt, dass sie sich wiederholt.

4

„Und, Grund? Wie läuft es denn bei dir mit den Weibern?“

Tobias zuckt zusammen, als hätte Finn ihn geohrfeigt. Diese Frage ist nicht ungewöhnlich, und natürlich hat er sie schon häufig gehört. Wenn er ehrlich ist, viel zu häufig, und dennoch löst sie jedes Mal dieses unangenehme Ziehen in der Magengegend aus, als wäre er ertappt worden. Schon lange hatte er keine Freundin mehr, schließlich blieb während des Studiums keine Zeit dafür. Die Erklärung, die er sich und anderen gerne auftischte. Aber ist das zutreffend? Ist Finns Frage nicht vielmehr seine persönliche Gretchen-Frage? Diese Gespräche, die Gesellschaft der anderen Kollegen, die Tobias immer noch fremd erscheinen, sorgen dafür, dass er die Mittagspausen in der Kantine hasst. Lieber würde er mit Julian auf der Station bleiben und mit ihm alleine essen. In seiner Gesellschaft fühlt er sich einfach wohl und er hofft, dass sie vielleicht Freunde werden könnten. Aber in der Stationsroutine ist es schwierig, auch nur wenige Minuten zu haben, um sich über andere Dinge als die Klinik unterhalten zu können. Besonders, da Tobias immer noch Schwierigkeiten mit den meisten Aufgaben hat und Julian viele seiner Fehler ausbügeln muss.

„Alles prima“, antwortet Tobias und hofft, dass es lässig und beiläufig klingt. Aus dem Augenwinkel bemerkt er, dass Julian, der neben ihm sitzt und sich bis gerade noch mit Alex auf seiner anderen Seite unterhalten hat, ihn ansieht. Ist es Zufall, dass Julian gerade in diesem Moment beginnt, zuzuhören?

„Also hast du eine Freundin?“ Finn lehnt sich zurück und verschränkt die Arme hinter dem Kopf.

Tobias muss sich zwingen, einen neutralen Gesichtsausdruck zu wahren. Einerseits, weil ihm auch diese Frage unangenehm ist und andererseits, weil ihm Finns Art, sich als cooler Checker zu gebärden, zutiefst zuwider ist. „Natürlich habe ich eine Freundin“, platzt er dann heraus und ist im gleichen Augenblick verwundert über seine Worte.

„Echt? Hast du noch gar nicht erzählt.“ Julian klingt verwundert, aber darunter ist noch etwas – Enttäuschung? Augenblicklich bereut Tobias, was er gesagt hat, aber für einen Rückzieher ist es zu spät.

„Zeig mal ein Foto.“ Finn beugt sich über den Tisch zu Tobias.

Tobias wird heiß, dann wieder kalt. In was für eine Lage hat er sich durch seine dumme Äußerung gebracht? Es ist logisch, dass er Fotos von seiner Freundin auf seinem Handy hat, wenn er denn eine Freundin hätte.

„Moment.“ Er zieht das Handy aus der Tasche und tippt auf die Fotos. Nicht nur Julian und Finn haben sich ebenfalls über das Display gebeugt, sogar Alex ist aufgestanden und hinter ihn getreten. Seinen Plan, nach einem Foto zu suchen, kann er knicken. Er wischt durch die Bilder.

„Ist sie das?“, fragt Julian, und bevor Tobias antworten kann, sagt Alex: „Hey, die ist hübsch.“

„Hätte ich dir gar nicht zugetraut.“ Finn nickt anerkennend, und Tobias ist der Stolz zuwider, den er verspürt.

„Ich schon“, sagt Julian so leise, dass nur Tobias es hören kann. Im ersten Augenblick weiß er nicht, was Julian meint, dann denkt er an Finns Äußerung und fühlt sich noch schäbiger und wie ein Betrüger.

Wieso ist es ihm wichtig, was die anderen Kollegen von ihm denken und ganz besonders Julian? Tobias beantwortet noch ein paar Fragen zu Lara, die tatsächlich seine beste, aber eben rein platonische, Freundin ist, und irgendwann ist der Wissensdurst von Alex und Finn gestillt. Nur Julian scheint ihn auf eine andere Art anzuschauen.

5

„Machen Sie sich nichts draus, junger Mann. Damit haben sich schon viele abgekämpft.“

Tobias spürt, dass ihm der Schweiß den Rücken hinabläuft. Er sieht auf die Uhr an der Wand des Patientenzimmers, in dem er am Bett der alten Dame sitzt, die morgen ein künstliches Hüftgelenk bekommen soll. Der nächste Arbeitstag hat gerade erst begonnen, und er sitzt schon seit fast zwanzig Minuten hier, weil es ihm bislang nicht gelungen ist, eine halbwegs gescheite Vene zum Anlegen des venösen Zugangs zu finden. Natürlich ist das keine Seltenheit. Besonders bei älteren Patienten scheinen sich die Venen an den Extremitäten mit dem Alter zurückzubilden. Dass die Dame Recht hat, kann Tobias an der Vielzahl von Hämatomen ablesen, die Arme und Hände bedecken und deren Anzahl seine erfolglosen Versuche noch gemehrt haben.

Gerade, als er überlegt, ob er einen neuen Versuch starten oder Julian zu Hilfe holen soll, fliegt die Tür auf. Julian stürmt ins Zimmer. „Wie lange zur Hölle dauert das denn? Bist du sogar zu unfähig, einen Zugang zu legen?“

„Ich …“ Tobias Mund ist staubtrocken.

„Weg da!“ Julian schiebt ihn rüde zur Seite. Als wäre das nicht schon entwürdigend genug, gelingt es ihm dann gleich beim ersten Versuch, die Braunüle zielsicher in der Vene zu platzieren. „Wenn du so schlecht im Nadellegen bist, musst du mehr üben“, zischt er, während er den venösen Zugang mit einem Pflaster fixiert. „Du bist jetzt fast eine halbe Stunde hier drin, und wir müssen noch vier weitere OP-Patienten vorbereiten. Gerade mal eine Stunde noch bis zur Chefvisite. Kroll reißt uns die Köpfe ab, wenn wir bis dahin nicht durch sind.“

Tobias schluckt, was sich unangenehm anfühlt. Sein Hals ist trocken, ebenso wie sein Mund. Dafür schwimmt sein Rücken im Schweiß und, als wäre das noch nicht genug, kündigt ein Brennen in seinen Augen Tränen an. Auf gar keinen Fall darf er jetzt anfangen zu heulen! Wieder sieht er das strenge Gesicht seines Vaters vor sich mit dem tadelnden Blick, hört dessen Stimme: ‚Reiß dich zusammen, Junge!‘

Er packt das Blutentnahmetablett, macht auf dem Absatz kehrt und geht zur Zimmertür. Blinzelt gegen das Gefühl der Hilflosigkeit an.

Bei der nächsten Patientin hat er mehr Glück, trifft die Vene gleich beim ersten Versuch und kann auch das Aufklärungsgespräch für die bevorstehende Operation schnell abwickeln. Dennoch schafft er nur zwei Patienten, während Julian die verbliebenen drei Patienten vorbereitet.

„Na, siehst du. Wird doch.“ Er spürt Julians Hand auf seiner Schulter, und ein warmes Gefühl breitet sich in seiner Brust aus.

„Manchmal habe ich das Gefühl …“, Tobias bricht ab.

Julian zwinkert ihm zu. „Wir alle kennen dieses Gefühl am Anfang. Nicht unterkriegen lassen und weiter strampeln.“ Er reicht Tobias das Pflaster, um den venösen Zugang zu fixieren und verlässt das Zimmer.

Das tragbare Telefon in seiner Kitteltasche läutet, und Tobias spürt, wie ihm erneut der Schweiß ausbricht, als er die Nummer und die darüberstehende Quelle sieht: OP 5. Mit zittrigen Händen fischt er den Operationsplan aus seiner Kitteltasche, faltet ihn auseinander, obwohl er schon weiß, wer heute in OP 5 operiert. Mit tauben Fingern nimmt er das Gespräch entgegen.

„Hallo?“ Er verzieht das Gesicht. So meldet man sich doch nicht am Telefon!

„Dr. Grund?“

„Ja, am Apparat.“

„Professor Böringer benötigt Sie als Assistenz im OP.“ Keine Frage, eine klare Anordnung. Völlig egal, ob er gerade etwas Anderes zu tun hat.

„Ich bin unterwegs.“

Er geht zurück ins Arztzimmer und erzählt Julian von seinem Abruf in den OP.

„Ich hoffe, du hast starke Nerven und ein dickes Fell.“ Ist Julians Kommentar.

„Ist Böringer wirklich so schlimm, wie alle sagen?“ Tobias spürt, wie sich ihm die Kehle zuschnürt. Hat er nicht mal geglaubt, dass mit dem Erwachsenwerden die Angst vor Personen nachlässt? Die vor Situationen? Falsch gedacht. Diese Angst hier fühlt sich real und sehr unangenehm an. Tobias Kontakte mit Professor Böringer beschränken sich darauf, dass Tobias ihn bei Begegnungen grüßt und dafür mit Missachtung gestraft wird. In den Reihen der Assistenzärzte genießt Böringer einen eher zweifelhaften Ruf: selbstherrlich, unverschämt und arrogant. Es gilt als Höchststrafe, ihm im OP assistieren zu müssen.

„Als ich beim letzten Mal mit ihm im OP war und Schwierigkeiten hatte, das Bein einer einhundertundfünfzig Kilo Patientin richtig zu halten, hat er mich aus dem OP geschmissen. Hinterhergebrüllt hat er mir, ich solle mit Puppen spielen, wenn ich so unfähig wäre.“

Tobias nickt stumm und betrachtet Julians Oberarme, die einen deutlich größeren Umfang haben als seine, was für ein Kribbeln in seinem Bauch sorgt. Ein Gefühl, das nur kurz anhält, da gleich der nächste Gedanke in seinen Kopf schießt: Wenn Julian bereits an diesen Aufgaben scheitert, wie wird es ihm dann ergehen?

„Denk einfach an deine Freundin. Das hat mir immer geholfen.“

Tobias zuckt innerlich zusammen. Der wievielte Baustein seines Lügengebäudes ist das? Seit er hier angefangen hat, kämpft er um Zugehörigkeit. Dass er die nicht einfach so bekommen würde, ist ihm schnell klar gewesen. Er ist ein Alien auf einem fremden Planeten, und anstatt darauf zu hoffen, dass er akzeptiert wird wie er ist, hat er beschlossen, sich anzupassen.

Seit er Finn und den anderen beim Essen Lara als seine Freundin präsentierte, hat sich sein Standing zudem gebessert. Zwar ist er immer noch weit davon entfernt, sich zugehörig zu fühlen, aber zumindest ist die Anzahl der Sprüche, die er einstecken muss, zurückgegangen.

Und wieder wurde aus einer Lüge eine Wahrheit, wie schon so viele Male zuvor.

Dabei ist es nicht so, dass kein Mädchen ihn zum Freund hätte haben wollen, sieht er doch nicht nur gut aus und stammt aus gutem Hause, sondern ist außerdem noch lustig und höflich. Seine Freundinnen aus Schulzeit und Studium, meist wirklich hübsche Mädchen, hatte er sehr gemocht, aber etwas Entscheidendes hatte stets gefehlt. In den meisten Fällen beendeten diese Freundinnen die Beziehung mit der Begründung, dass sie das Gefühl hätten, er würde sich nicht vollkommen auf sie einlassen. Und Tobias musste ihnen darin Recht geben. Woran lag es nur, dass er bisher keine tiefere Beziehung hatte eingehen können? Er war der festen Überzeugung, einfach noch nicht die Richtige gefunden zu haben. Aber – war das der wirkliche Grund?

Er betrachtet Julian, der sich über eine Patientenakte gebeugt hat, um den Untersuchungsbefund zu dokumentieren. Wie ihm die Strähnen seines blonden Haars dabei in die Stirn fallen und er seine Zunge durch die Lippen schiebt, als er sich aufs Schreiben konzentriert … Tobias spürt erneut dieses Kribbeln.

Dann fällt ihm Professor Böringer ein. „Ich bin dann im OP.“

„Ok“, sagt Julian, ohne aufzusehen.

6

Noch eine halbe Stunde. Dann werden die Kollegen sich in Richtung Umkleide aufmachen und die Klinik verlassen. Er wird bleiben. Muss bleiben, denn heute hat Tobias seinen ersten Vierundzwanzigstundendienst. Eine Mischung aus Aufregung und Angst lässt seinen Magen schon seit Stunden rumoren. Am Mittag in der Kantine bekam er kaum etwas herunter. Und das, obwohl er normalerweise das Mittagessen hungrig herbeisehnt. Ist es wirklich die Angst davor, alleine zuständig für die Patienten in der Klinik zu sein? Oder hat seine Aufregung mit seinem Dienstpartner zu tun? In der Nacht sind zwei Assistenzärzte im Dienst. Einer, meist der Erfahrenere für die Patienten, die als Akutfälle in die Notaufnahme kommen und der andere für die stationären Patienten. Tobias wird seine erste Dienstnacht mit Julian verbringen.

Was ist das für ein seltsames Gefühl, das er in Julians Nähe empfindet? Wieso beobachtet er Julian häufig aus dem Augenwinkel und spürt ein Prickeln, wenn der seinen Kittel im Arztzimmer auf einen der Haken hängt und dann sein Bizeps sichtbar wird? Warum ist die Vorstellung, heute Nacht nur mit Julian in der Klinik zu sein, verlockend und ängstigend zugleich? Tobias hofft, dass auch Julian etwas spürt. Oder bildet er sich das nur ein? Sind die Blicke, die Julian Tobias manchmal zuwirft, Irritation, weil er merkt, wie Tobias ihn ansieht?

Nachdem sich Tobias auf jeder der drei Stationen eine Übergabe hat geben lassen, in der er vom jeweiligen Stationsarzt einen kurzen Überblick zu jedem Patienten erhält, setzt er sich ins Arztzimmer und ruft seinen Facebookaccount auf. Er scrollt durch den Newsfeed, lässt Bilder und Texte über den Bildschirm fließen, ohne sie wirklich wahrzunehmen.

Er zuckt zusammen, als plötzlich die Tür aufgestoßen wird. Es ist Julian, der zwei Pizzakartons in Händen hält. „Es wird Zeit, deinen Einstand zu feiern, Herr Kollege.“

Tobias spürt, dass sein Herz einen Sprung macht. Das hier ist das Netteste, was jemand je in dieser Klinik für ihn getan hat. „Perfektes Timing, ich sterbe vor Hunger.“ Tobias grinst Julian an.

Julian setzt sich neben ihn und stellt die Kartons auf dem Schreibtisch vor ihnen ab. „Das geht allen so. Mittags bekommt man nichts runter, und abends grummelt der Magen.“

Sie beginnen zu essen, und Tobias bemerkt, dass Julian näher an ihn herangerückt ist, so, dass sich ihre Schultern fast berühren. Oder saß er vorher schon so nah bei ihm? Aus dem Augenwinkel beobachtet er Julian, der nur Augen für seine Pizza hat. ‚Du bildest dir das ein!‘, ertönt eine schroffe Stimme in seinem Kopf. Aber er kann nicht aufhören, Julian zu betrachten.

Er starrt auf Julians Arme mit dem kräftigen Bizeps, die unter den kurzen Ärmeln des blauen Kasacks gut sichtbar sind. Wie es wohl wäre, in diesen Armen zu liegen, von ihnen gehalten zu werden? Er vergisst das Stück Pizza in seiner Hand, vergisst seinen Hunger, spürt nur noch das Kribbeln in seinem Bauch, das sich von dort aus in seinem ganzen Körper ausbreitet. Die Erkenntnis, die langsam in sein Hirn durchsickert, ist so ungeheuerlich, dass sie ihm fast den Verstand raubt:

Er ist in Julian verknallt!

In diesem Moment sieht Julian ihn an, länger und intensiver als jemals zuvor. Und Tobias kann sich nicht abwenden, sieht in diese blauen Augen, als würde er in ein tiefes und unbekanntes Gewässer springen. Julian beugt sich zu ihm herüber, und Tobias schließt die Augen, als er spürt, wie Julians Lippen seine finden, sich dann leicht öffnen und er Julians Zunge in seinem Mund schmeckt, die sich vorsichtig vorantastet. Sein Herz setzt aus, um im nächsten Moment mit explosionsartigen Schlägen Eruptionen eines Glücksgefühls durch seinen Körper zu schleudern, das er noch nie zuvor empfunden hat. Das ist es also! So fühlt es sich an, jemanden zu wollen. Sich mit jeder Faser seines Körpers nach dessen Berührung zu verzehren.

„Komm“, sagt Julian und steht auf. Er folgt ihm aus dem Arztzimmer und fragt sich, ob das gerade tatsächlich passiert ist, oder ob er bald aus einem Traum erwachen wird. Dann wirft Julian ihm einen Blick zu, und sofort brandet eine weitere Welle prickelnder Erregung durch seinen Körper, so real, dass dies kein Traum sein kann.

Sie betreten das Dienstzimmer.

Julian schließt die Tür und drückt Tobias gegen die Wand. Dringt mit seiner Zunge in seinen Mund, während seine Hand unter Tobias Oberteil fährt und seine Brust berührt. „Endlich“, stöhnt Julian, und Tobias spürt, wie sich die Hose über seiner Erektion spannt. Seine Hand fährt durch Julians Haar, seine Zunge gleitet seinen Hals hinab. So verrückt sich das anhört: Es schmeckt einfach köstlich! Julian zieht ihm das Oberteil aus, stößt ihn aufs Bett, und Tobias lässt sich dankbar fallen. Breitet die Arme aus und fährt schaudernd zusammen, als sich Julian auf ihn wirft und sich von seinem Oberteil befreit. Julians Mund arbeitet sich zu Tobias Bauch vor, und dann, als er ihm endlich die störende Hose heruntergezogen hat, spürt Tobias seinen Mund an seinem Penis. Als würde er abheben, reitet Tobias auf einer Welle der Ekstase, möchte, dass dieses Gefühl nicht aufhört, und weiß zugleich, dass er es nicht lange aushalten kann. Das ist definitiv zu gut! Wie lange hat er darauf gewartet? Er stöhnt laut auf, als er zum Höhepunkt kommt.

Plötzlich springt Julian auf, zieht sich sein Oberteil über und murmelt, dass er zu einem Patienten müsse. Er verschwindet aus dem Zimmer, und die Tür fällt hinter ihm ins Schloss. Tobias bleibt noch einen Augenblick auf dem Bett sitzen, fühlt sich erfüllt und verloren zugleich. Ist es ein Fehler gewesen? Nein, auf gar keinen Fall. Aber ist er sich da wirklich sicher? Und warum ist Julian so plötzlich aufgesprungen? Wie geht es jetzt mit ihm weiter? Mit ihnen? Gibt es das überhaupt? Ein ‚ihnen‘? Bedeutet das, dass er schwul ist?

Sein tragbares Telefon reißt ihn aus seinen Gedanken. „Grund“, meldet er sich.

„Frau Körber, die Hüft-OP von heute Morgen, hat starke Schmerzen und die angesetzte Schmerzmedikation schon erhalten.“ Es ist Schwester Edith, was Tobias freut, denn er mag die ruhige und erfahrene Nachtschwester.

„Ich bin unterwegs“, er zieht seinen Kittel über.

In der Tür stehend wirft er einen Blick zurück auf das zerwühlte Bett. Wie geht es jetzt weiter?

7

„Spitze betonen. Verdammt nochmal!“

Tobias zuckt zusammen, als er einen Schlag spürt und kann nur mit Mühe verhindern, dass er nicht aufschreit. Professor Böringers graue Augen funkeln ihn wütend an, und Tobias stößt eine Entschuldigung hervor. Grotesk, angesichts der Tatsache, dass Professor Böringer ihn geschlagen hat, mit der Pinzette auf die Finger, was verdammt weh tut. Tobias weiß schon, dass Julian die Augen verdrehen wird, wenn er ihm davon erzählt, ihn als Mädchen beschimpfen wird, das sich ein Paar Eier wachsen lassen soll.

Julian. Seit sie in Tobias erstem Dienst Sex hatten, was eine Woche her ist, reden sie nur das Nötigste. Somit wird er ihm eh nicht hiervon erzählen. Wieso macht ihm das so zu schaffen? Er hasst sich dafür, dass er so ist. So weich, empfindsam, während alle um ihn herum Herzen aus Stahl haben. Witze machen, selbst in schlimmen Situationen. Wie vor zwei Tagen, als ein schwer verletzter Motorradfahrer in den Schockraum eingeliefert wurde. Das ist der Raum in der Notaufnahme, in den Traumapatienten zur Erstversorgung gebracht werden, um dort von verschiedenen Fachbereichen untersucht und behandelt zu werden.

Der Anblick war furchtbar und traf Tobias völlig unvorbereitet. Es gab selbstverständlich auch im OP blutige Anblicke, aber das war dennoch nicht mit der Situation im Schockraum vergleichbar.

Bereits das angespannte Warten auf den Patienten mit den Kollegen der anderen Fachbereiche im Saal verursachte ein quälendes Brennen in Tobias Magengegend. Die abschätzigen Blicke, da klar war, dass er ein Neuling war. Zu allem Überfluss begleitete ihn nicht Julian, sondern Finn, der ihm schon auf dem Weg in die Notaufnahme Horrorgeschichten erzählte, was alles schieflaufen konnte und wie oft ein Anfänger Fehler machte, die den Patienten das Leben kosten konnten.

Als Notarzt und Rettungssanitäter den Verletzten in den Schockraum schoben, stellte sich ein turbulentes Treiben ein, das einem festen System gehorchte. Zuerst das Anästhesieteam, das den Patienten sedierte, also in eine Narkose versetzte, um ihn anschließend zu intubieren und zu beatmen.

Dann die Neurologen, die eine Schädelverletzung ausschlossen. Zum Glück war der Motorradfahrer zumindest so verantwortungsbewusst gewesen, einen Helm zu tragen. Parallel führte ein Internist einen Ultraschall durch, um einen Milzriss oder eine sonstige Verletzung der Bauchorgane auszuschließen.

Finn stieß Tobias den Ellenbogen in die Seite, als der auf sein Kopfnicken nicht reagierte. Dieser Patient hatte vor allem Verletzungen, die in ihr Fachgebiet gehörten. Neben zahlreichen Frakturen beider Beine auch eine offene Beckenfraktur. Zwar war der Unterleib des Patienten vom Notarzt und den Rettungssanitätern mit einem Beckengurt versorgt worden, aber das immer noch hervorquellende Blut zeigte klar, dass dringend eine sofortige Versorgung der Blutung erfolgen musste. Finn schrie Tobias an, sofort den diensthabenden Oberarzt hinzuzurufen, und Tobias wankte auf Beinen, die sich wie Stelzen anfühlten, zum Telefon herüber. Bekam kaum einen geraden Satz raus und war froh, dass Professor Döbner mit seiner ruhigen Art an diesem Tag Dienst hatte.

Während Finn sich um den Patienten kümmerte, sah Tobias zu, wie zwei Pfleger über dicke Zugänge, die in beiden Unterschenkelknochen steckten, sogenannte intraossäre Zugänge, Bluttransfusionen in den Patienten drückten. Tobias begriff, dass dieser Patient im Sterben lag, das Team des Schockraums um dessen Leben kämpfte.

Professor Döbner traf ein, ebenso der Oberarzt der Gefäßchirurgie und Urologie. Fieberhaft wurde versucht, die vielfältigen Blutungsquellen zu finden und zu versorgen. Doch für den jungen Mann, der in Tobias Alter war, kam jede Hilfe zu spät. Wie ein unbeteiligter Zuschauer sah Tobias, dass das Anästhesieteam mit der Herzdruckmassage begann und weitere Bluttransfusionen in den Patienten gepresst wurden. Die Pfleger drückten sie tatsächlich mit den Händen in den Körper, der sie fast unmittelbar wieder herausfließen ließ.

Wieder spürt Tobias einen Schmerz an der Hand, und dieses Mal entfährt ihm ein: „Aua!“ Doch damit nicht genug, auch der Haken, mit dem er Haut und Muskel über dem Hüftgelenk, das Professor Böringer durch ein künstliches ersetzt, beiseite hält, rutscht ihm aus der Hand.

„Verdammt noch mal!“, brüllt Böringer. „Sie sind wirklich der unfähigste Assistent, den ich jemals im OP hatte.“

Bevor Tobias etwas entgegnen kann, fährt Böringer fort. Seine Wut steigert sich, seine Stimme ist kurz davor, sich zu überschlagen: „Rufen Sie mir sofort Herrn Berger, und Sie …“, er funkelt Tobias böse an. „Kommen Sie nie wieder in meinen OP.“

8

Nach seinem unrühmlichen Einsatz im Schockraum ist das schon der zweite Ausfall innerhalb weniger Tage. Und natürlich hat die Sache ein Nachspiel. Am liebsten würde Tobias sich irgendwo verkriechen, als sein Funker geht und er die Nummer auf dem Display sieht. Das Chefsekretariat. Sicherlich hat Böringer sich bei Chefarzt Kroll über den unfähigen neuen Assistenzarzt beschwert.

Tobias fühlt sich wie ein Lamm auf dem Weg zur Schlachtbank, als er den langen Gang der Privatambulanz entlang geht, an dessen Ende sich Krolls Büro befindet. Der Gang ist gesäumt von Stühlen, die fast alle von Patienten besetzt sind, die auf ihre Untersuchung warten.

Er erreicht das Vorzimmer und sieht in eines der wenigen freundlichen Gesichter der Klinik, die Chefsekretärin. Es ist Tobias unbegreiflich, wie sich die Mittfünfzigerin ihr Lächeln bewahren kann, angesichts des Stresses und der Launenhaftigkeit Krolls.

„Herr Doktor Grund. Wie schön, Sie zu sehen.“

Tobias ringt sich ein Lächeln ab. Sein Magen rebelliert, und für einen alptraumhaften Augenblick befürchtet er, sich direkt auf den Schreibtisch der Sekretärin erbrechen zu müssen. Die zwinkert ihm zu und sagt mit gesenkter Stimme: „Keine Angst. Das macht jeder durch am Anfang.“

Auch wenn er ihr das nicht recht glauben mag, so dumm wie er hat sich sicherlich noch kein neuer Assistenzarzt angestellt, nickt er dankbar, und seine Übelkeit lässt etwas nach.

„Sie können rein.“ Die Chefsekretärin nickt zur Tür rechts von ihrem Schreibtisch, die zu Krolls Büro führt.

Tobias klopft an, wartet das ‚Ja, bitte‘ ab, überlegt, während er vorsichtig die Tür öffnet, ob es einen genervten Unterton hatte und falls ja, ob der ihm galt?

Das Büro ist nicht so groß, wie er es erwartet hätte. Das seines Vaters in dessen Praxis ist größer, repräsentativer. Prof. Kroll erhebt sich hinter seinem Schreibtisch, und sofort wird Tobias klar, warum die Größe des Raums nebensächlich ist. Krolls Präsenz ist einschüchternd, selbst wenn sein Büro eine Besenkammer wäre.

„Doktor Grund, schön, dass Sie die Zeit gefunden haben.“ Kroll entblößt seine Zähne, und Tobias braucht einen Augenblick, um zu realisieren, dass es ein Lächeln ist. Er fühlt sich wie eine Maus im Angesicht eines Tigers. „Nehmen Sie doch Platz.“

Tobias setzt sich auf einen der zwei Stühle vor Krolls Schreibtisch, rückt vor bis zur Kante der Sitzfläche. Kroll nimmt Platz in seinem Chefsessel, faltet die Hände auf der Schreibtischplatte und sieht Tobias an. Sein Blick wirkt milde, aber hinter den blassblauen Augen verbirgt sich etwas. Tobias erinnert sich an die Reise mit seinen Eltern vor vier Jahren nach Florida. Mit einem Sumpfboot fuhren sie durch die Everglades, und der Bootsführer wies sie an, vorsichtig zu sein, weil unter der trüben Wasseroberfläche die Alligatoren auf Beute lauerten. Unter der Oberfläche von Krolls zur Schau gestellten Freundlichkeit, lauert ebenfalls etwas, stets bereit, hervorzuspringen.

„In letzter Zeit mehren sich die Klagen, dass Sie etwas unstrukturiert sind.“ Kroll behält das falsche Lächeln bei, was die Situation noch unangenehmer macht. Hier passt nichts zusammen.

„Ich habe“, beginnt Tobias und gerät gleich ins Stocken. Was hat er? Was soll er dazu sagen? Sein Mund ist staubtrocken, wie gerne hätte er jetzt ein Glas Wasser, traut sich aber nicht, danach zu fragen. Er ist an diesem Ort nicht in der Situation, etwas fordern zu dürfen, das ist ihm klar.

„Ich habe mit Ihrem Vater telefoniert“, fährt Kroll ungerührt fort, als hätte Tobias gar nichts gesagt.

Sein Magen meldet sich wieder schmerzend, und Tobias verzieht das Gesicht.