Dr. med. Stefan S. Kassner
Flatrate Arzt
Warum unser Gesundheitssystem vor dem Exitus steht
über den Autor
Dr. med. Stefan S. Kassner studierte Medizin an der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg mit Auslandsaufenthalten in den USA, Österreich und der Schweiz. Bereits im Rahmen seiner experimentellen Doktorarbeit (Note: Magna cum laude) verfasste er wissenschaftliche Publikationen und setzte die Forschungstätigkeit in seiner Facharztweiterbildung zum HNOArzt an der Universitäts-HNO-Klinik Mannheim fort. Im Rahmen dieser war er auch in die universitäre Lehre eingebunden.
Anschließend führte er zehn Jahre lang seine Facharzteinzelpraxis, bevor er im Oktober 2022 den Arztkittel an den Nagel hängte, um hauptberuflicher Autor zu werden.
Zu diesem Zeitpunkt siedelte er zudem mit seinem Hund Goliath auf die Sonneninsel Mallorca über.
Weitere Informationen zum Autor und seinen Projekten unter
www.stefan-kassner.de
IMPRESSUM
1. Auflage 2024
© 2024 by hansanord Verlag
Alle Rechte vorbehalten
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ISBN Print 978-3-947145-84-3
ISBN E-Book 978-3-947145-85-0
Cover | Umschlag: Tobias Priessner
Abbildung Innenteil: Tobias Priessner
Satz: Christiane Schuster | www.kapazunder.de
Lektorat: Ursula Schötzig
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Inhalt
Teil I - Die Ausgangssituation
Einleitung
Über dieses Buch
Die Budgetierung
Privatpatienten
Die Tücken einer Flatrate
Termine
Notfälle
Teil II - Grundsteinlegung
Das Medizinstudium – das Fundament
Der Aufbau des Medizinstudiums (zusammengefasst)
Gehirnwäsche
Vertrösten auf einen besseren Morgen
Der (Halb-)Gott
Das Kreuz mit der Lehre
Das Medizinstudium – Zusammenfassung
(Zeit-)Effizienz
Der Körper als Maschine
Teil III - Das Gesundheitssystem
Die Unterschiede und Gemeinsamkeiten gesetzlicher und privater Krankenkassen
Kassen in »Konkurrenz«
Der Gesundheitsfond
Die Kassenärztliche Vereinigung (KV)
Und noch mehr Verwaltung
Kassensitz und Arztpraxis nicht zwangsläufig ein Paar
Ein Arzt pro Praxis, ein Auslaufmodell
Wenn Arztpraxen zu Konzernen werden
Geld und Gesundheit – ein unmögliches Paar?
Ethik oder Marktwirtschaft?
In den Fängen der Bürokratie
Die Erbsünde
Teil IV - Wartezeiten
Fast ein Viertel der Arbeit unbezahlt
Märchenstunde oder das Terminservicegesetz (TSVG)
Die Ethik und der Sündenbock
Warum Sprechstunden keine »gewöhnliche Arbeitszeit« sind
Der Arbeitstag eines Arztes
Warum gibt es keine Termine?
Teil V - Abrechnung
Die morbiditätsbezogene Gesamtvergütung (MGV)
Die Kassenabrechnung nach dem einheitlichen Bewertungsmaßstab (EBM)
Das Regelleistungsvolumen (RLV)
Extrabudgetäre Vergütung
Privatabrechnung nach der Gebührenordnung für Ärzte (GOÄ)
Analogziffern
Operationen
Tiere in der Arztpraxis?
Teil VI - Der Regress
Das Schreckgespenst
Gemeinsamer Bundesausschuss
Nicht immer auf Privatrezept
Der Rotstift der GKV
Teil VII - Die Pharmaindustrie
Teure Medikamente
Pharmareferenten und das Antikorruptionsgesetz
Teil VIII - Die Corona-Pandemie
Die Welt in Panik
Als alles anfing
Kaum Hilfe
Welche (strukturellen) Probleme die Pandemie offenbart hat
Kein freies Intensivbett
Fachkräftemangel
Teil IX - Lösungsvorschläge
Kritik ist einfacher als gestalten
Die Bürgerversicherung
Zertrümmern des Sockels
Den Ärzten zuhören
Warum die KV nicht (einzig) die Interessen der Ärzteschaft vertreten kann
Der moralische Schwitzkasten
Wer legt die Dringlichkeit fest?
Wonach Aretha Franklin bereits fragte
Körperbewusstsein
Erfolgsdruck
Wie geht es weiter?
24/7 Medizin
Noch mal die Bürgerversicherung
Schlankheitskur
Was Sie tun können
Resümee
Glossar
Abkürzungsverzeichnis
Quellen
»Man soll vor allem Mensch sein und dann erst Arzt.«
Voltaire (französischer Philosoph und Schriftsteller, 21. November 1694 – 30. Mai 1778)
»Diese Honorarverteilung ist notwendig,
da der unbegrenzten Leistungsinanspruchnahme durch
die Patienten nur begrenzte Finanzierungsmöglichkeiten
innerhalb der gesetzlichen Krankenversicherung
zur Verfügung stehen.«
Zitat von der Website der Kassenärztlichen Bundesvereinigung zum Thema: »Abrechnung und Vergütung«
TEIL I
DIE AUSGANGSSITUATION
Einleitung
Sicherlich kennen Sie das: Sie benötigen dringend einen Arzttermin, aber selbst nach Durchtelefonieren mehrerer Praxen liegt der früheste Termin, der Ihnen angeboten wird, Wochen in der Zukunft. Und wenn der Tag endlich gekommen ist, warten Sie in der Arztpraxis Stunden, bis der Doktor Sie in wenigen Minuten »abfertigt«. Verständlicherweise verursacht das Frust. Frust, der sich in erster Linie gegen die vermeintlichen Verursacher richtet – uns Ärzte.
Als, bis vor Kurzem noch, praktizierender Facharzt, der sich selbst Tag für Tag mit diesen Vorwürfen konfrontiert sah, ist es mir ein Anliegen, mit diesem Buch die Hintergründe zu beleuchten, die zu dieser Entwicklung beigetragen haben. Wie häufig im Leben hat die Medaille zwei Seiten, gibt es selten ein »richtig« oder »falsch« beziehungsweise eine einfache Erklärung.
Das Gesundheitssystem ist in seiner Komplexität selbst von den darin Tätigen kaum noch zu überblicken. Dennoch bin ich der Meinung, dass viele Aspekte, die Sie als Patienten ärgern, durch eine bessere Kenntnis der Mechanismen nachvollziehbar werden.
Die Politik, insbesondere der letzten Jahre, hat es zunehmend verstanden, einen Keil zwischen Patienten und Ärzte zu treiben. Anstatt zu erklären oder vermitteln, wird reguliert, bürokratisiert, um ein System zu stützen, das Sie, die Patienten, von uns Ärzten weiter entfernt. Denn die Zeit für Dokumentation und Bürokratie nimmt Jahr für Jahr zu. Zeit, die in der Patientenversorgung fehlt.
Aber insbesondere Sie als Patienten können dazu beitragen, dass mit der knappen Ressource Arzt verantwortungsvoller umgegangen wird. Wir brauchen einen ehrlichen Dialog, der wieder das Wesentliche in den Vordergrund stellt: die Arzt-Patienten-Beziehung. Womöglich kann dieses Buch dafür den Anfang bilden.
Über dieses Buch
Von fünfzehn Jahren ärztlicher Tätigkeit verrichtete ich zehn in meiner Arztpraxis. Während ich anfangs bestrebt war, nicht den Weg der meisten Ärzte, die ich kannte, zu gehen, nämlich verbittert auf das System zu schimpfen, musste ich nach einigen Jahren feststellen, dass ich selbst zu so jemandem geworden war.
Das Erschrecken darüber ließ mich die Ursachen analysieren, die einerseits tatsächlich im Gesundheitssektor liegen, der geprägt ist durch Bürokratie, Kostendruck, wirtschaftliche Interessen und Erwartungshaltungen, aber auch das Verhalten der Patienten.
Sobald ich im Patienten-/Bekannten-/Freundes- und/oder Familienkreis Einblicke in das Konstrukt gab, in dem ich mich in meiner Praxistätigkeit bewegte, erntete ich ungläubige Blicke und Kopfschütteln, aber auch Verständnis. Mir wurde bewusst, dass die Unzufriedenheit mit der Situation, die viele Ärzte im Griff hat, nachvollziehbar ist, legt man die Ursachen offen.
In Gesprächen mit Kollegen erfuhr ich, wie tief die Desillusionierung wurzelt, vor allem bei denjenigen, die mit Idealismus in den Beruf getreten waren. Dabei sind die Fronten zwischen Ärzten und Patienten nur in einigen Fällen in Zerwürfnissen zwischen den beiden Gruppen begründet, sondern in systemischen Schwierigkeiten, die, obwohl an anderer Stelle verantwortet, in der Arztpraxis ausgetragen werden müssen.
Außerdem herrscht in einigen Patientenköpfen eine falsche Erwartungshaltung, die seitens der Politik geschürt wird, nämlich die Vorstellung, dass Gesundheitsversorgung ständig und in vollem Umfang zu jeder Zeit vorhanden und durch den Patienten abrufbar ist.
Dieses Buch soll die Hintergründe des Gesundheitssektors und die Entwicklungen, die dazu geführt haben, beleuchten. Dabei gehe ich nicht nur auf die »Arztwerdung« mittels Medizinstudium und ärztlicher Ausbildung ein, sondern auch auf Besonderheiten, die unser (deutsches) Bild von Ärzten und Medizin prägen.
Die »Big Player« des Systems nehme ich ebenso ins Visier wie die Regularien und deren Entstehung, um schließlich über die Corona-Pandemie aufzuzeigen, welche bereits lange vorbestehenden Defizite sich durch diese offenbarten.
Abschließend habe ich versucht, einige Lösungsvorschläge zu formulieren, sowohl in Richtung der Politik, aber auch in Ihre, als Patient.
Nur wenn jeder von uns seinen Beitrag leistet, kann das in Schieflage geratene Konstrukt Gesundheitssystem womöglich wieder aufgerichtet werden. Wobei es wohl am besten wäre, dieses neu aufzubauen, wie ich zum Ende des Buches ausführe.
Das Gesundheitssystem ist in seiner jetzigen Form hochkomplex und aufgrund vieler bürokratischer Regelungen undurchsichtig. Ich habe mich bemüht, diese Zusammenhänge laienverständlich auszudrücken, wofür eine Vereinfachung unabdingbar ist. Dennoch erkläre ich sämtliche Punkte, die essenziell sind, um Problematiken und Limitationen zu verstehen. Über die Quellenangaben lassen sich die Texte, auf die ich mich bezogen habe, aufrufen, und Sie finden dort weitere Informationen, falls Sie sich zu einem Thema eingehender belesen wollen. Ich möchte betonen, dass es sich sämtlich um frei zugängliche Seiten von Behörden et cetera handelt, und meine Ausführungen somit nachvollzogen werden können. Das Buch untergliedert sich neben Kapiteln in acht Teile, wobei wesentliche Themenbereiche häufiger besprochen werden. Mein Ansatz war es, wichtige Sachverhalte von unterschiedlichen Seiten zu beleuchten und in jeder (erneuten) Betrachtung weitere Details hinzuzufügen. So ist es nachvollziehbarer, in die komplexe Materie einzusteigen und die entscheidenden Regularien zu erfassen.
Am Ende finden Sie ein Glossar, in dem Sie Erläuterungen zu den wichtigsten Begriffen, die im Text auftauchen, nachschlagen können, und zudem ein Abkürzungsverzeichnis.
Sollte Ihnen zwischendurch der Kopf rauchen, führen Sie sich vor Augen, dass es selbst dem medizinischen Personal Schwierigkeiten bereitet, das verschachtelte und in seiner Begrifflichkeit sperrige Regelwerk zu verstehen.
Mein Wunsch ist, dass Sie nach der Lektüre ein wenig besser nachvollziehen können, warum Ihr Arzt handeln muss, wie er es tut. Und weshalb es nicht so weitergehen kann. Abschließend werde ich die Frage klären, was Sie selbst unternehmen können, damit Arzt und Patient sich einander (wieder) annähern.
Die Budgetierung
Stellen Sie sich vor, Sie bekämen den staatlichen Auftrag, einen Lebensmittelladen zu eröffnen. Das Ziel ist es, die Bevölkerung mit Nahrungsmitteln zu versorgen. Dafür stellt der Staat einen gewissen Betrag bereit, mit dem diese Versorgung finanziert werden muss. Im Gesundheitssystem nennt sich das: morbiditätsbedingte Gesamtvergütung. Wie diese Vergütung und ihre Verteilung festgelegt werden, ist kompliziert und auch für das Verständnis der Problematik nicht wichtig. Ich bin mir sicher, dass die meisten Kollegen, mich übrigens und auch die überwiegende Zahl der im System Tätigen eingeschlossen, diese Vorgänge selbst nicht vollständig überblicken. Zurück zu unserem Beispiel bedeutet das, dass der Staat Ihnen die Versorgung der Bevölkerung mit Lebensmitteln aufträgt und jährlich einen Gesamtbetrag nennt, der dafür aufgewendet wird. Die Ausstattung Ihres Geschäftes, Miete und Waren müssen Sie mit dem Geld, das Sie aus diesem Topf erhalten, finanzieren, einen kleinen Teil der Verbrauchsgüter, zum Beispiel die Rollen für den Druck des Kassenbelegs, bekommen Sie gestellt.
Da mehr Kunden zu versorgen sind, als Sie allein bedienen können, gibt es weitere Geschäfte. Von Seiten des Staats ist gewünscht, dass die Kunden sich gleichmäßig auf diese Läden verteilen. Hat eine Stadt 10.000 Einwohner und 10 Ladenlokale, können in einem davon 1.000 Kunden angenommen
werden. Die Regierung stellt für diese 10.000 Bürger 1.000 Euro pro Quartal zur Verfügung, somit steht für jedes Geschäft theoretisch ein Budget von 100 Euro pro Quartal für die Versorgung von 1.000 Kunden bereit. Aus statistischen Erhebungen weiß man, dass circa zwanzig Prozent der Abnehmer im Quartal Nahrungsmittel aus einem der Läden benötigen. Somit stünden (bei 200 potentiellen Kunden pro Quartal) je Kunde fünf Euro zur Verfügung. Nun kommt der Clou: Jeder Kunde darf so oft und so viel er möchte bei Ihnen einkaufen, Sie bekommen aber niemals mehr oder weniger als fünf Euro.
Kunde A kommt alle drei Tage zu Ihnen und benötigt viele Waren, die Sie deutlich mehr kosten, als seine Pauschale abdeckt. Ihr Geschäft können Sie nur betreiben, wenn Sie Ihre Kosten decken und einen Gewinn erwirtschaften. Um Ihren Auftrag zu erfüllen und Kunde A ausreichend versorgen zu können, benötigen Sie weitere Kunden, nennen wir sie B und C, die weniger Waren bedürfen, als Ihre Pauschale abdeckt, was man als »Solidarprinzip«1 bezeichnet. Das bedeutet, dass die Stärkeren die Schwächeren, oder in unserem Fall die Gesünderen die Kränkeren, tragen. An sich halte ich dieses System für gut und sinnvoll, dennoch birgt es einige Risiken und Nachteile, die ich im Folgenden beleuchten möchte.
Wir sind zurück in Ihrem Lebensmittelladen. Die Pauschale der Kunden
deckt die wesentlichen Grundnahrungsmittel ab. Im Falle der Medizin ist das bei den allermeisten Fachgruppen die ärztliche Untersuchung und Beratung. Besuchen Sie zum Beispiel Ihren HNO-Arzt, weil Sie Halsschmerzen haben, bekommt er dafür die genannte Pauschale. Werden Ihre Halsschmerzen nicht besser und Sie müssen ihn im gleichen Quartal ein weiteres Mal aufsuchen, ist dieser Besuch ebenfalls mit der Pauschale abgegolten.
Analog zu unserem Beispiel wäre das so, als würden wir sagen, Brot gehört zu den Grundnahrungsmitteln, die mit der Pauschale abgegolten sind, egal wie häufig und welche Menge Brot der Kunde bei Ihnen »einkauft«. Einige Waren, zum Beispiel Äpfel, können zusätzlich in Rechnung gestellt werden. In meinem Fachgebiet sind das diagnostische Verfahren, zum Beispiel ein Hörtest. Das hört sich zunächst einmal so an, als wäre das ein möglicher Weg, um die erhöhten Kosten, die Patient A verursacht, aufzufangen.
Ganz so einfach ist es selbstverständlich nicht. Denn die morbiditätsbedingte Gesamtvergütung steht, wie gesagt, fest, und aus diesem »Topf« müssen ebenfalls diese Tests bezahlt werden. Das wird im Gesundheitssystem über das oben genannte Budget geregelt, das jedem Arzt zugeteilt wird. In unserem Beispiel sind das fünf Euro pro Kunde, drei Euro für die Versorgung mit Grundnahrungsmittel und zwei Euro, die für Äpfel oder im medizinischen Bereich für Hörtests et cetera verwendet werden können.
Jetzt wird es langsam spannend und leider auch kompliziert, denn der Staat überlässt es dem Patienten oder in unserem Beispiel dem Kunden, wie oft er welches Geschäft aufsucht. Es kann daher passieren, dass Lebensmittelladen A 500 Kunden betreut, während Lebensmittelgeschäft B 3.000 Kunden betreut.
Das zugeteilte Budget wird im Gesundheitswesen einer Praxis ausbezahlt (sofern genügend Leistungen abgerechnet wurden). Positiv daran ist, dass die Praxis dadurch eine Art finanzieller Garantie hat, die Planungssicherheit bietet. Der Nachteil ist, dass bei Überschreiten des Budgets, aber auch der Patientenzahlen (in unserem Beispiel wären also Geschäft 1 und Geschäft 2 betroffen), nicht mehr der volle Betrag für zum Beispiel einen Hörtest ausbezahlt wird. Man nennt dies abgestaffelte Vergütung, die häufig nur noch einen Bruchteil des ursprünglichen Betrags (circa 20–30 Prozent) beträgt. Ähnlich ist es auch bei den Patientenzahlen.
Ohne weiter ins Detail zu gehen, bedeutet dies Folgendes:
1. Das Geld, das für Ihre Versorgung zur Verfügung gestellt wird, ist begrenzt. Die äußerst komplizierten Verteilungsschlüssel bemühen sich um eine mehr oder weniger gerechte Verteilung dieser Gelder.
2. Der größte Teil der Vergütung medizinischer Leistungen (das gilt im Übrigen auch für die Krankenhausversorgung) wird mit Pauschalen abgegolten.
3. In der Regel geht eine zeitaufwändige Behandlung, die mehrere Konsultationen notwendig macht, auf Kosten des Arztes.
4. Eine Arztpraxis ist ein kleines Unternehmen mit Fixkosten (Personal, Raummiete, Gerätschaften et cetera). Um kostendeckend arbeiten zu können, muss das Verhältnis zeitlich aufwändigerer Fälle zu kurzen/ einfacheren Fällen stimmen.
Privatpatienten
Wer privat versichert ist, wird beim Arzt bevorzugt behandelt.
Diese Aussage würden die meisten gesetzlich Krankenversicherten unterschreiben. Doch ist das tatsächlich so? Bevor wir klären, was »bevorzugt behandelt« bedeutet und ob dem so ist, möchte ich die wesentlichen Unterschiede zwischen privat und gesetzlich versicherten Patienten darstellen.
Anders als bei der Abrechnung mit den gesetzlichen Krankenkassen geben die privaten Krankenversicherungen kein Budget vor. Außerdem werden keine Pauschalen, sondern jede ärztliche Leistung mit Eurobeträgen vergütet. Die Ziffern und ihre Vergütung sind in der Gebührenordnung für Ärzte festgelegt. Obwohl es noch weitere Unterschiede gibt, sind diese beiden wesentlich, um zu verstehen, weshalb Privatpatienten bei Ärzten so beliebt sind.
Kommen wir wieder auf unser Beispiel mit den Lebensmitteln zurück. Sie haben noch zwei Laibe Brot in Ihrem Geschäft. Kunde A, der im aktuellen Quartal bereits drei Mal Brot von Ihnen bekommen hat, möchte erneut ein Brot haben. Die Pauschale, die Sie für Kunde A erhalten, deckt zwei Brote ab, das letzte Brot haben Sie ihm also bereits auf Ihre Kosten gegeben. Kunde B zahlt Ihnen für das exakt gleiche Brot das Fünffache der Pauschale. Im Übrigen zahlt er Ihnen diese fünffache Pauschale für jedes Brot, das er von Ihnen bekommt.
Kunde C hat seit Tagen nichts mehr gegessen, er wirkt abgemagert. Sicherlich stimmen Sie mir zu, dass Kunde C als Erster ein Brot bekommt. Doch was ist mit dem letzten Brot, das Sie haben? Geben Sie es Kunde A oder Kunde B? Natürlich ist der gewählte Vergleich sehr einfach, gibt aber letztlich das Dilemma wieder, das die Gesundheitsversorgung in Deutschland prägt.
Kunde C wäre in unserem Beispiel ein Patient, der akut medizinische Versorgung braucht. Nirgendwo in Deutschland wird in so einem Fall nach dem Versicherungsstatus entschieden, sondern rein nach der medizinischen Notwendigkeit, wie aber verhält man sich, wenn diese Bedürftigkeit bei zwei Menschen gleich ist, Sie von der einen Person für dieselbe Leistung aber ein Vielfaches bekommen?
Wieder einmal habe ich eine Frage gestellt, die ein Arzt nicht stellen darf, und falls überhaupt, nur geflüstert hinter vorgehaltener Hand. Aber es ist die Frage, über die wir sprechen müssen, wenn wir eine verlogene Debatte endlich ehrlich führen möchten, und das müssen wir.
Ein Business Class Flugticket kostet das Drei- bis Vierfache dessen, mit dem ein Economy Ticket zu Buche schlägt. Machen Sie einer Airline einen Vorwurf, dass Passagiere der Business Class komfortabler sitzen, speisen und vor denen der Economy Class einsteigen dürfen? Und glauben Sie, dass im Falle eines Flugzeugabsturzes erst die Business Class Passagiere gerettet werden und die Economy Class Passagiere erst danach oder überhaupt nicht?
Wer Business Class fliegt, zahlt mehr für Annehmlichkeiten. Er steigt aber in dasselbe Flugzeug und startet und landet zur selben Zeit wie die anderen Passagiere. Und natürlich entscheidet im Falle einer Katastrophe die Notwendigkeit, welche Passagiere zuerst gerettet werden (ältere Menschen und Kinder vor anderen et cetera). Niemand würde das ernsthaft in Frage stellen. In der Medizin scheinen einige aber genau das zu glauben, da sie Annehmlichkeiten mit besserer Versorgung verwechseln. Was sich meiner Meinung nach darin begründet, welches Bild wir in Deutschland von Medizin und Gesundheitsversorgung haben. Diesem Thema habe ich ein eigenes Kapitel gewidmet.
Die Tücken einer Flatrate
Als Kind der Achtziger kann ich mich noch gut daran erinnern, wie das Internet aufkam. Die Verbindung über Modem war schlecht und langsam, und ein Anruf schmiss einen sofort aus der Leitung. Es gab längst nicht so viele Homepages, und dennoch plante man vorab genau, was man in der knappen Zeit machen wollte. Später wurde die Verbindung besser, aber das Datenvolumen war begrenzt.
Heute ist das Leben ohne Internet für die meisten unvorstellbar. Dass es funktioniert, ist für uns selbstverständlich, und niemand macht sich Gedanken, welcher Aufwand oder Kosten dahinterstehen. Nur, wenn es mal nicht funktioniert, ärgern wir uns. Etwas, das vor einigen Jahren noch spektakulär war, ist zur Selbstverständlichkeit, ja quasi schon zu einem Grundrecht geworden.
Seit Otto von Bismarck 1883 die Krankenversicherung einführte, wurde die Gesundheitsversorgung der Bevölkerung ebenso zu einer Selbstverständlichkeit. Um es klar zu sagen: Ich halte dies für eine wesentliche Errungenschaft, die es unbedingt zu erhalten und schützen gilt, dennoch wird die medizinische Versorgung, gerade bei uns in Deutschland, seltsam verklärt. Lassen Sie mich das ausführen.
In den USA ist es vollkommen gebräuchlich, dass Sie mit Aushängen oder bei der Anmeldung in einer Arztpraxis darauf hingewiesen werden, wie Sie die Behandlung bezahlen müssen. Nicht wenige Praxen haben eine strikte »Cash only« Politik. So etwas wäre in Deutschland undenkbar! Verfügen Sie nicht über ausreichende Finanzmittel und sind nicht in einem lebensbedrohlichen Zustand, würde Sie kein Arzt dort behandeln. Und selbst wenn Sie zum Beispiel wegen eines Herzinfarkts behandelt werden, können Sie sicher sein, dass Sie zeitnah die Rechnung für Ihre Behandlung erhalten werden. Das treibt viele in den Ruin, insofern halte ich eine Versicherungspflicht für notwendig und wichtig. Dieser Unterschied führt aber dazu, dass einem Amerikaner völlig klar ist, dass eine ärztliche Behandlung Geld kostet und keine Selbstverständlichkeit ist. Der Betrag ist nicht entscheidend und letztlich auch nicht, dass Geld verlangt wird. Vielmehr
geht es um den Gegenwert, den eine Leistung (nicht nur ärztlich) hat.
Leistungen, die wir umsonst erhalten, sehen wir fast immer als minderwertiger an als Behandlungen, für die wir eine Gegenleistung erbringen müssen (das kann anstatt Geld auch Zeit oder eine Arbeit sein). Kombiniert mit der Tatsache der erklärten Budgetierung und Pauschalen seitens der Krankenkassen führt dies dazu, dass Ärzte ihre Tätigkeit nicht ausreichend wertgeschätzt sehen.
Wie viel Wert hat eine Leistung, die quasi jeder einfordern kann und die durch eine Pauschale honoriert wird, egal, wie häufig sie abgerufen wird oder wie arbeitsintensiv sie ist? Vom Halbgott in Weiß zum All-inclusive-Leistungserbringer auf Abruf im engen Bürokratiekorsett?
Wieder geht es mir nicht um richtig oder falsch, auch nicht um Schuldzuweisungen, sondern um das Aufdecken eines Denkmusters, das bei Ärzten zu einer deutlichen Unzufriedenheit in ihrer Arbeit führt. Es ist dieses Gefühl, zu immer mehr gezwungen zu werden, und dafür immer weniger zu erhalten.
Vielleicht denken Sie jetzt, ich übertreibe, und die Ärzte sollten sich nicht so anstellen! Dabei sollte man sich gewahr sein, dass die Suizidrate unter Medizinern 2,5 – 5,7-fach höher ist als unter vergleichbaren Nichtmedizinern.2Besonders unter angehenden Assistenzärzten ist die Rate hoch.
Ein System, das Menschen gesund machen soll, macht die darin Agierenden krank. Und das beschränkt sich nicht nur auf die Ärzte. Als Auslöser werden der Stress, die langen Arbeitszeiten, Nachtdienste und der Umgang mit schweren Erkrankungen und Tod genannt. Das ist sicherlich richtig. Aus eigener Erfahrung und vielen Gesprächen mit Kollegen weiß ich aber auch, dass dies nicht die einzigen Ursachen sind.
Stress oder eine fordernde Tätigkeit sind nicht per se ungesund, sie können sogar motivierend sein und Freude bereiten. Die Wahrnehmung ist dabei entscheidend. Stress ist dann schädlich, wenn man sich überfordert fühlt, das Gefühl hat, die Dinge nicht mehr unter Kontrolle zu haben. Ebenso führt mangelnde Wertschätzung dazu, dass wir uns schlecht fühlen.
Interessant ist, dass dies in der Arzt-Patienten-Beziehung auf beide Parteien zutrifft. Denn was ist der wirkliche Grund, wenn Sie sich darüber ärgern, dass Sie keinen Termin bei dem Arzt Ihrer Wahl bekommen oder in der Praxis lange warten müssen? (Auf das Thema Termine und Wartezeiten gehe ich ausführlich in einem eigenen Kapitel ein.)
Natürlich ist es ärgerlich, »unnötig« herumzusitzen und zu warten, aber überlegen Sie einmal, was tatsächlich den Ärger verursacht.
Meiner Erfahrung nach und im Gespräch mit meinen Patienten ist es das Gefühl der mangelnden Wertschätzung, das die meisten Patienten verärgert. Sie müssen ihre Beschwerden dem Terminplan des Arztes unterordnen. Ihnen geht es schlecht, und anstatt sich gleich Ihrer anzunehmen, werden Sie mit einer nüchternen Terminplanung konfrontiert.
Verständlicherweise fühlen Sie sich unverstanden und nicht ausreichend ernst genommen. Das Kuriose ist, dass diese mangelnde Wertschätzung auch von Ihrem Arzt wahrgenommen wird. Wenn Sie zum Beispiel gut vorbereitet sein möchten und sich vorab zu einem Thema belesen haben, reagiert Ihr Arzt höchstwahrscheinlich nicht damit, dass er Ihr Engagement lobt, sondern fühlt sich in seiner Autorität und seinem Fachwissen nicht ausreichend wertgeschätzt.
Tragisch ist, dass wir einander schnell eine schlechte Absicht unterstellen, was das Misstrauen dem anderen gegenüber stärkt und unsere Wahrnehmung auf negative Dinge lenkt. Ein Arzt, der Sie warten lässt und Ihnen dann zudem einen Privatpatienten vorzieht, wird es schwer haben, die negative Einschätzung zu revidieren.
Bitte verstehen Sie mich nicht falsch. Ich kann durchaus nachvollziehen, wie dieses Gefühl entsteht, und verurteile niemanden dafür, aber es ist wichtig, die Mechanismen zu erfassen, um sich bewusst zu machen, wie dieser Eindruck erwächst.
Wir Ärzte erleben diese Empfindung der mangelnden Wertschätzung nicht nur im Umgang mit Ihnen, den Patienten, sondern ebenso von Seiten der Kostenträger (Krankenkassen) und Politik. Denn eine Pauschale, unabhängig von Aufwand und Frequenz der Arbeit, vermittelt eine Abwertung der Tätigkeit selbst. Zwanzig Prozent dessen, was ich an Behandlungen leistete, verrichtete ich gratis, und den meisten Kollegen geht es nicht anders.
Wie ich bereits ausführte, nicht jeder einzelne Euro ist relevant, sondern das Signal, das bei uns Ärzten wie bei Ihnen bezüglich der Wartezeit ankommt:
Deine Arbeit (Zeit) ist nichts wert.
Termine
Die Frage nach der Versicherungsart bei der Terminvereinbarung vermittelt den meisten Kassenpatienten das Gefühl, Patient zweiter Klasse zu sein. Es erhitzt die Gemüter und rief zuletzt mit dem »Terminservicegesetz« die Politik auf den Plan. Auf der einen Seite die Ärzteschaft, die sich durch weitere Reglementierungen eingeschränkt fühlt, auf der anderen Seite die Politik, die ihre Wähler beruhigen will, und dazwischen Sie, die Patienten. Welchen Eindruck erhielten Sie durch diese Maßnahmen? Fühlen Sie sich dadurch mehr oder weniger als Patienten zweiter Klasse? Es ist ein bisschen so, wie der jüngere Bruder oder Schwester zu sein und erst mit dem älteren Geschwister und seinen Freunden spielen zu dürfen, nachdem Mutter oder Vater dies angeordnet hat. Es bleibt der schale Beigeschmack, dass man nur durch Druck, fast schon Drohung, mitspielen darf oder in unserem Fall einen Termin bekommt.