Dana Kilborne ebundle #1 - Dana Kilborne - E-Book

Dana Kilborne ebundle #1 E-Book

DANA KILBORNE

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Beschreibung

3 Romane in einem Band zum Sparpreis!

Dieser Sammelband enthält die folgende Jugendthriller:

Tödlicher Rollentausch
Wie macht Lisa das nur? Diese Frage stellt Julie sich immer wieder. Während sie selbst gerade so über die Runden kommt, lebt ihre Zwillingsschwester im Luxus, wird von ihren Eltern vergöttert und hat jede Menge Freunde. Je länger Julie das mit ansehen muss, desto größer wird der Neid auf ihre Schwester. Eines Abends nimmt Lisa sie nach einer Familienfeier in ihrem teuren Sportwagen mit - und baut einen schlimmen Unfall! Erst im Krankenhaus kommt Julie zu sich. Allein. Alle halten sie für Lisa, die wie vom Erdboden verschluckt zu sein scheint. Plötzlich sieht Julie ihre Chance gekommen - und schlüpft in Lisas Rolle. Von nun an ist sie es, die auf der Sonnenseite des Lebens steht. Alles scheint perfekt. Bis sie erkennen muss, dass Lisa dunkle Geheimnisse hatte - und in tödlicher Gefahr schwebte ...

Friedhof der Erinnerung
Blitz und Donner, strömender Regen ... Verwirrt erwache ich und starre in das bleiche Gesicht eines Marmorengels. Ich bin auf einem Friedhof! Aber wie kann das sein? Wie komme ich hierher? Mein Gedächtnis ist wie ausgelöscht. Endlich wieder zu Hause, will mir niemand sagen, was in letzter Zeit passiert ist. Weder aus meinen Eltern noch aus meinen Freunden ist irgendetwas herauszubekommen. Und dann ist da diese Sache mit Owen. Alle sagen, er ist mein Freund, aber ich fühle überhaupt nichts für ihn. Dann beginnen die Drohanrufe, die mich in Angst und Schrecken versetzen. Außerdem habe ich immer denselben Traum von einer grauenhaften Fratze. Mir wird klar: Ich muss mich erinnern, bevor es zu spät ist!

Flüstergrab
"Wenn du ihn wiedersehen willst, musst du tun, was ich sage!" Zuerst hält Miley den Anruf für einen schlechten Scherz. Morgen wollen sie und Craig heiraten, da war es abzusehen, dass sich seine Freunde beim Junggesellenabschied einen Spaß machen. Doch bald muss sie erkennen, wie ernst die Lage tatsächlich ist. Craig wurde nämlich wirklich gekidnappt! Und jetzt hat sie nur noch eine Chance: Sie muss die Befehle der unheimlichen Flüsterstimme befolgen, um ihren Verlobten zu retten. Und sie muss sich beeilen, denn Craig wartet - lebendig begraben in einem Sarg!

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Inhaltsverzeichnis

Tödlicher Rollentausch

1.

2.

3.

4.

5.

6.

7.

8.

9.

10.

Epilog

Friedhof der Erinnerung

1.

2.

3.

4.

5.

6.

7.

8.

9.

10.

11.

12.

Epilog

Flüstergrab

Prolog

1.

2.

3.

4.

5.

6.

7.

8.

9.

10.

Epilog

Dana Kilborne

eBundle #1

Dana Kilborne

Tödlicher Rollentausch

1.

Dunkelheit.

Der Waldweg ist uneben und von Kaninchenhöhlen und Fuchsbauten untergraben, und ich stolpere mehr als dass ich laufe. Äste peitschen mir ins Gesicht, doch ich spüre den Schmerz kaum. Ebenso wenig wie das Stechen in meiner Seite. In meinem Kopf dreht sich alles, trotzdem gelingt es mir irgendwie, immer wieder einen Fuß vor den anderen zu setzen. Und die ganze Zeit über kann ich immer nur an eine einzige Person denken.

Jay.

Es ist sein Blut an meinen Händen. Sein Blut, das den Stoff meines neuen GAP-Shirts dunkelrot färbt.

Ich will schreien, doch kein Laut dringt aus meiner Kehle. Warum hilft mir denn niemand? Warum? Warum? Wa…?

»Hast du schon Lisas neuen Wagen gesehen?« Onkel Gordon, der jüngere Bruder meines Vaters, stieß einen anerkennenden Pfiff aus und holte mich damit in die Gegenwart zurück. »Ein 1955er Bristol 405 – das ist ein echter Oldtimer! Deine große Schwester hat es echt zu was gebracht, Kleines. Apropos – was machst du eigentlich so?«

Ich entschuldigte mich mit einem flüchtigen Lächeln und gab vor, irgendwo in der Menge der Partygäste, die sich zur Feier von Mums fünfzigstem Geburtstag in die Seabreeze Lodge zusammengefunden hatten, einen lang vermissten Bekannten entdeckt zu haben. Dabei wollte ich einfach nur weg. Zum einen, weil mir die Erinnerung, die mich schon nachts oft genug heimsuchte, noch immer in ihren eiskalten Pranken hielt. Zum anderen konnte das, was ich vorzuweisen hatte, angesichts von Lisas hemmungslos zur Schau gestelltem Erfolg ohnehin nur blass und langweilig aussehen.

Ich verdrängte die Gedanken an die Vergangenheit – darin hatte ich in den letzten Jahren mehr Übung bekommen, als mir selbst lieb war – und wandte mich dem Hier und Jetzt zu.

Lisa, Lisa, immer nur Lisa! So ging das nun schon die ganze Zeit. Doch ihre Erhebung in den Stand der großen Schwester durch Onkel Gordon stellte den neuen negativen Höhepunkt dieses Spießrutenlaufs dar, der sich Familienfeier schimpfte. Lisa hatte nämlich gerade einmal zwei Minuten vor mir das Licht der Welt erblickt. Zwei lächerliche Minuten!

Wir – Lisa und Julie Maguire – waren eineiige Zwillingsschwestern und glichen uns rein äußerlich wie ein Ei dem anderen. Damit hörten die Ähnlichkeiten dann aber auch schon auf. Um ehrlich zu sein kann ich nicht einmal genau sagen, wann wir eigentlich angefangen hatten, uns auseinanderzuleben. Normalerweise hört man ja immer, dass Zwillinge einen ganz besonderen Draht zueinander haben. Dass sie sich ohne Worte verstehen und es nicht aushalten, für längere Zeit voneinander getrennt zu sein.

Nun, das alles konnte man von Lisa und mir jedenfalls nicht unbedingt behaupten. Seit wir beide mit achtzehn unser Elternhaus verlassen und uns in die große weite Welt aufgemacht hatten, um unsere eigenen Erfahrungen zu sammeln, sind wir uns – von ein paar sporadischen Telefonaten einmal abgesehen – die meiste Zeit über aus dem Weg gegangen. Mir reichte es vollkommen, dass ich mir ständig die Lobgesänge anhören durfte, die unsere Eltern auf Lisa hielten. Darüber, dass sie neben ihrer fürstlich bezahlten Teilzeitanstellung bei einer bekannten Plattenfirma auch noch erfolgreich Marketing studierte, sich ein eigenes Auto und eine Wohnung mitten in London leisten konnte und auf alle angesagten Partys eingeladen wurde.

»Beeindruckt dich denn gar nicht, was deine Schwester schon auf die Beine gestellt hat?«, fragte Mum eigentlich jedes Mal, wenn wir uns sahen. Ich zuckte dann immer bloß mit den Schultern und tat, als ob mir das vollkommen egal sei. Aber das war es natürlich nicht! Klar war ich beeindruckt von Lisas Erfolgen, vielleicht sogar ein bisschen zu sehr. Um die Wahrheit zu sagen: Ich war schrecklich eifersüchtig auf meine Schwester. Aber war das wirklich ein Wunder? Sie hatte schließlich alles, wovon ich nur träumen konnte: Ein aufregendes Leben, einen Job, der ihr Spaß machte und darüber hinaus nicht wenig Geld einbrachte, eine eigene Wohnung, interessante Freunde. Was konnte ich schon dagegenhalten?

Auch ich war zuerst nach London gegangen, um Jura zu studieren, hatte aber schnell gemerkt, dass das nichts für mich war. Nach knapp einem Semester brach ich ab, und danach brachte ich einfach nicht die Energie auf, noch mal mit etwas anderem neu anzufangen. Ich brauchte also einen Job und eine bezahlbare Wohnung. Und so landete ich schließlich in Knebworth, einem kleinen Kaff knapp 28 Meilen Luftlinie von London entfernt, in dem sich Fuchs und Hase Gute Nacht sagten, aber die Mieten dafür erheblich günstiger waren als in der Stadt. Ich hatte einen schlecht bezahlten Job im Call-Center eines Gartengeräteherstellers in Stevenage, der nächstgrößeren Stadt, und verbrachte meine Freizeit zum größten Teil vor dem heimischen Fernseher auf der Couch.

Tja, und dann lernte ich beim Einkaufen im Supermarkt ganz zufällig Morris kennen. Morris Beaufort. Er arbeitete in einer Filiale der Barclays Bank in London, nahm aber gern Tag für Tag die Bahnfahrt zurück nach Knebworth auf sich. »Weil es hier draußen so schön ruhig ist«, sagte er dann immer. Für meinen Geschmack war es allerdings schon ein bisschen zu ruhig. Das ließ sich auch über meine Beziehung zu Morris sagen. Er war nett, zuvorkommend und verlässlich – um es mit einem Wort zu beschreiben: langweilig.

Vermutlich tat ich ihm damit unrecht, es war auch manchmal wirklich nett mit ihm. Zum Beispiel, wenn er mich mit irgendwelchen komischen Geschichten aus der Bank zum Lachen brachte. Und immerhin war ich ja auch zwischenzeitlich bei ihm eingezogen, und wir kamen recht gut miteinander klar. Aber reichte das, um ihn zu heiraten?

»Wo steckt denn eigentlich mein zukünftiger Schwager?« Lisa hatte sich zielstrebig einen Weg durch die versammelte Verwandtschaft gebahnt und legte nun wie so oft ihren Finger mitten in die Wunde. Ihr spöttischer Tonfall machte deutlich, was sie von Morris, den sie nur vom Hörensagen kannte, hielt: nämlich gar nichts.

»Morris hatte einen Geschäftstermin, den er unmöglich absagen konnte«, erwiderte ich mürrisch. Doch das war nur die halbe Wahrheit. Dass Morris mich nicht begleitete, lag nämlich vor allem daran, dass ich ihm viel zu spät von der Einladung meiner Mutter erzählt hatte. Trotzdem hatte ich ihn nur mit Mühe davon abbringen können, meinetwegen all seine Verpflichtungen zu verschieben, um mit mir zu kommen. Ich wollte ihn nicht dabeihaben, ganz einfach, weil ich wusste, dass er im direkten Vergleich zu Lisas glamourösem Leben einfach nicht bestehen konnte. Es war gemein, ganz sicher sogar unfair, aber ich schämte mich ein bisschen für mein Leben. Für meinen Job, das kleine Reihenhaus, das Morris gemietet hatten und in dem wir zusammenlebten – ja, und auch für Morris.

»Das ist wirklich jammerschade. Mum und Dad hätten deinen Zukünftigen bestimmt gern kennengelernt.«

Lisas Lächeln sprach Bände. »Gib dir keine Mühe«, schien es zu sagen, »mir machst du nichts vor. Ich weiß ganz genau, warum du ihn nicht mitgebracht hast.«

Manchmal war es wirklich ein Fluch, Zwilling zu sein. Vor allem, da Lisa es scheinbar mühelos zu gelingen schien, meine Gedankengänge zu durchschauen. Ich hingegen hatte mich schon früher, als wir noch Mädchen waren, oft gefragt, was wohl in diesem Kopf vorgehen mochte, der meinem so ähnlich war …

Unser Cousin Mike, der Sohn von Mums jüngerer Schwester, kam herüber und verwickelte Lisa in ein Gespräch, was ich zum Anlass nahm, mich schnell zu verdrücken. Ich trat durch die Schiebetür hinaus auf die Terrasse der Seabreeze Lodge, einem Restaurant mit angeschlossenem Veranstaltungssaal am Stadtrand von Harwich, der verschlafenen Kleinstadt an der südostenglischen Nordseeküste, in der ich aufgewachsen bin.

Als ich mich unbeobachtet fühlte, holte ich eine zerknitterte Lucky-Schachtel aus meiner Handtasche und zog eine Zigarette heraus. Ich hatte schon x-mal versucht, aufzuhören, es bisher aber nie geschafft. Und vermutlich würde es mir auch nicht gelingen, solange ich den Rest meines Lebens nicht in den Griff bekam. Und ob das jemals passieren würde, stand in den Sternen. Wenn Morris und ich erst einmal verheiratet waren …

Ich mochte gar nicht daran denken. In letzter Zeit lag ich oft wach neben Morris im Bett, starrte an die Decke und lauschte seinem leisen Schnarchen. Und dabei fragte ich mich: Soll es das etwa schon gewesen sein, mein Leben? Ist das alles, was mich noch erwartet?

Morris hatte mich kalt erwischt, als er mir den Antrag machte. Wir waren zum Dinner ausgegangen. Nicht in eins von diesen teuren, schicken Restaurants, in die Lisa vermutlich von ihren Verehrern ausgeführt wurde. Nein, für mich musste der örtliche Pub, der dem Bahnhof von Knebworth gegenüberlag, reichen. Und das tat er auch. Ich war froh, überhaupt ein bisschen Abwechslung zu bekommen. Wie hätte ich auch ahnen können, dass sich Morris zwischen Steak-and-Kidney-Pie mit Kartoffelbrei und dem warmen Bramley-Apfelkuchen zum Dessert plötzlich neben mich knien und vor versammelter Mannschaft fragen würde, ob ich seine Frau werden wolle?

Was, zum Teufel, hätte ich anderes sagen sollen als Ja? Der halbe Ort war da, und alle warteten gespannt auf meine Antwort. Ich hätte Morris und auch mich selbst ganz schön in Verlegenheit gebracht, wenn ich ihm einen Korb gegeben hätte. Doch in letzter Zeit fragte ich mich immer wieder, ob ich es nicht trotzdem lieber hinter mich gebracht hätte. Wie sagt man doch so schön? Lieber ein Ende mit Schrecken als Schrecken ohne Ende. Ich würde mich früher oder später mit diesem Problem auseinandersetzen müssen. Wohl war mir bei dem Gedanken allerdings nicht.

Ich riss ein Streichholz an, wobei ich mit der freien Hand die Flamme vor der leichten Brise abschirmte, die vom Meer her wehte, und steckte meine Zigarette an. Tief sog ich den Qualm in meine Lunge und fühlte mich gleich ein wenig ruhiger.

Es war ein herrlicher, warmer Sommertag. Kreischend zogen die Möwen ihre Kreise über dem Hafen. Die Fischerboote kehrten gerade von den Fischgründen zurück, und die Vögel wussten, dass für sie wie immer ein üppiges Abendessen abfallen würde.

Ich beneidete sie – nicht wegen der Aussicht, rohen Fisch zum Dinner zu essen, sondern um ihre Freiheit. Sie konnten ihre Schwingen ausbreiten und einfach fliegen, wohin der Wind sie trieb. Ihr Leben drehte sich nur ums Schlafen und ums Fressen. Keine Sorgen, keine Verpflichtungen. Musste das herrlich sein!

»Na, Honey, auch genug von all dem albernen Geschwätz?«

Erschrocken fuhr ich herum. Als ich meinen Vater erblickte, der mir verschwörerisch zublinzelte, atmete ich auf. Meine Mutter sah es gar nicht gerne, dass ich rauchte, und machte mir bei jeder sich bietenden Gelegenheit Vorhaltungen deswegen.

»Keine Angst, ich verrate dich schon nicht.« Dad schmunzelte. »Das heißt, sofern du mir eine abgibst …«

Eine Weile lang rauchten wir in schweigsamer Eintracht. Dad war immer schon der einzige Mensch gewesen, der mich verstehen konnte. Als ich vier war, habe ich einmal ein Bild für ihn gemalt. Es war ein großes Oval mit einem kleinen Klecks darauf, und vom großen Oval gingen vier Striche ab, die Beine und Arme darstellen sollten. Darüber stand in fetten, ungelenken Buchstaben (die Kindergärtnerin hatte es für mich vorgeschrieben, sodass ich es nur abmalen musste): »Für den besten Daddy der Welt!« Das Bild hing immer noch an einem Ehrenplatz in Dads Werkstatt (er reparierte Autos). Und obwohl er – das nehme ich zumindest an – Lisa ebenso lieb hatte wie mich, gab es von ihr doch nichts Vergleichbares an seinem Arbeitsplatz.

»Ist nicht leicht für dich, oder?«, fragte er. »Dieses ganze Tamtam, das sie um Lisa machen.«

Ich seufzte. Nein, es war nicht leicht, und ich fühlte mich mies, weil ich es einfach nicht schaffte, mich für Lisa zu freuen. Immerhin war sie doch meine Schwester. Aber so sehr ich mich auch bemühte, es ging einfach nicht.

»Na ja, es ist ja nur für ein paar Stunden. Nachher setze ich mich in meinen Zug und fahre zurück nach Knebworth.« Ich verzog das Gesicht. »Home sweet home.«

»Ist er gut zu dir?«

»Morris?« Ich zuckte die Schultern. »Er ist ein netter Kerl«, erwiderte ich, wusste dann aber irgendwie nicht mehr weiter und senkte den Blick.

»Verstehe.« Dad nickte. »Kann es sein, dass du kalte Füße bekommst, Honey? Schade, dass du ihn nicht mitgebracht hast. Ich hätte ihm nur zu gern mal auf den Zahn gefühlt.«

Die Vorstellung, dass mein Vater Morris ins Kreuzverhör nehmen könnte, entlockte mir ein Schmunzeln. »Du würdest ihn wahrscheinlich mögen, Dad.«

»Und du? Magst du ihn auch?«

Tja, das war die Frage aller Fragen. Und am meisten beunruhigte mich, dass ich selbst keine zufriedenstellende Antwort darauf fand.

»Ach was, Liebes, du brauchst doch nicht mit dem Zug zu fahren«, sagte Mum, als ich mich zwei Stunden später von ihr verabschiedete.

Es war inzwischen später Nachmittag geworden, und die Feier war zu Ende. Die meisten Verwandten und Freunde meiner Eltern hatten sich längst auf den Heimweg gemacht, und damit konnte auch ich mich endlich reinen Gewissens verdrücken.

Doch ich hatte die Rechnung ohne meine Mutter gemacht.

»Deine Schwester muss in dieselbe Richtung. Sie fährt dich sicher gern, auch wenn es ein kleiner Umweg für sie ist.« Sie legte Lisa, die neben ihr stand, eine Hand auf den Arm. »Nicht war, mein Kind, das tust du doch.«

Falls Lisa sich über die Bitte ihrer Mutter ärgerte, so ließ sie es sich jedenfalls nicht anmerken. Sie lächelte, ganz die folgsame Tochter, die sie unseren Eltern gegenüber so gern zum Besten gab. »Klar, kein Problem. Wozu sind große Schwestern denn da?«

Große Schwester, pah! Ich verzog die Miene und hatte schon einen entsprechenden Kommentar auf der Zunge, doch das Klingeln ihres Handys ersparte mir eine Antwort. Dafür ließ mich jedoch der Rufton ihres Mobiltelefons erschaudern. Ich kannte die Melodie nur zu gut. Der Song JCB von Nizlopi war ein echtes One-Hit-Wonder gewesen und hatte einmal zu meinen absoluten Lieblingsstücken gehört. Auch in jener Nacht schrecklichen Nacht, in der Jay und ich auf die Lichtung im Wald gegangen waren, hatten sie es im Radio gespielt.

Oh mein Gott, all das viele Blut! Warum hilft mir denn niemand? Warum …?

Ich schüttelte den Kopf, um die Bilder, die plötzlich vor meinem inneren Auge auftauchten, zu verjagen. Das Ganze lag jetzt mehr als sieben Jahre zurück, doch die Erinnerungen daran verfolgten mich noch immer.

Zum Glück nahm Lisa das Gespräch endlich an, sodass die Melodie verstummte. Ich atmete tief durch und zwang mich zu einem Lächeln, als ich mich an meine Mutter wandte. »Sag Lisa bitte, dass ich draußen auf sie warte, ja?«

Ich gab ihr zum Abschied einen flüchtigen Kuss auf die Wange, dann verließ ich die Seabreeze Lodge so eilig, dass es schon wie es wie eine Flucht aussehen musste – was es genau genommen ja auch war. Ich spielte sogar kurz mit dem Gedanken, mich heimlich abzusetzen und ein Taxi zum Bahnhof zu nehmen. Doch ehe ich diesen Plan in die Tat umsetzen konnte, stand Lisa auch schon hinter mir und schlug mir übertrieben freundschaftlich auf die Schulter.

»Na, was ist?«, fragte sie mit einem Lächeln, das mich unwillkürlich an einen hungrigen Haifisch denken ließ. »Können wir, Schwesterherz?«

Von Harwich aus folgte Lisa der Straße, die parallel zum Flusslauf des Stour verlief. Wir redeten nicht viel, nur das unablässige Gedudel des Autoradios verhinderte, dass unbehagliche Stille aufkam.

Es war okay, denn mir war auch wirklich nicht nach Reden zumute, und so saß ich auf dem Beifahrersitz ihres Bristols und starrte zum Fenster hinaus. Einförmig zog die Landschaft, bestehend aus Weiden und Wiesen im dämmrigen Zwielicht des Spätnachmittags, an mir vorüber. Dabei ließ ich meine Gedanken treiben, zumindest so lange, bis mich Lisas Stimme schließlich zurück in die Realität holte.

»Weißt du, woran ich gerade denken musste?« Sie nahm den Blick von der Straße und schaute mich an.

Ich zuckte mit den Achseln, wenig interessiert an dem, was im Kopf meiner Zwillingsschwester vorging. Doch mein offenkundiges Desinteresse hielt sie nicht davon ab, weiterzusprechen.

»Es ist doch seltsam, oder?«, sagte sie. »Ich meine, wir beide sind so verschieden, und trotzdem … Na ja, schau uns doch an. Wir könnten einfach so die Rollen tauschen, und vermutlich würde es nie jemand merken.«

»Die Rollen tauschen?« Ich runzelte die Stirn. Das war mal wieder typisch Lisa. Was für merkwürdige Theorien sie sich manchmal zurechtspann! »Und warum sollten wir das tun?«

Lisa grinste. »Na ja, stimmt schon, mir würde so auf Anhieb kein Grund einfallen, warum ich mit dir tauschen wollen sollte – aber umgekehrt?«

Es war klar, dass Lisa mit diesem Kommentar nur eines bezweckte: Sie wollte mir vor Augen führen, wie jämmerlich mein Leben doch im Vergleich zu ihrem war. Aber ich dachte gar nicht daran, darauf einzugehen.

»Wie du meinst«, entgegnete ich daher kühl und wandte mich wieder der Landschaft zu. Dennoch ließen mich Lisas Worte einfach nicht los. Ich warf einen unauffälligen Blick in den Seitenspiegel und sah eine junge Frau Anfang zwanzig mit langem braunem Haar, das ein wenig ins Rötliche ging und ein herzförmiges Gesicht umspielte. Volle Lippen und blaue, von dichten Wimpern beschattete Augen rundeten das Gesamtbild harmonisch ab. Doch im Grunde hätte ich keinen Spiegel gebraucht, um mich zu betrachten. Denn die Frau, die neben mir am Steuer saß, war mein absolutes Ebenbild.

Lisa.

Die setzte jetzt den Blinker und bog in eine Straße ein, die zu einer schmalen Brücke führte, welche sich über den Fluss Stour spannte, der aufgrund der heftigen Regenfälle der vergangenen Tage zu einem reißenden Strom angewachsen war.

Ich weiß nicht, was es war, aber etwas an Lisas Blick beunruhigte mich. Sie drückte das Gaspedal hinunter, und der Wagen machte einen Satz nach vorn.

»Wollen wir doch mal sehen, wie lange wir bis nach Knebworth brauchen«, sagte sie. »Ich wette, in nicht einmal anderthalb Stunden sind wir da …«

»Fahr nicht so schnell«, bat ich sie und hielt mich an der Armlehne der Tür fest, als der Bristol in der Kurve auszubrechen drohte.

Doch Lisa dachte gar nicht daran, auf mich zu hören, sondern gab stattdessen noch mehr Gas.

»Komm schon, Lisa«, beschwor ich sie, während mir immer mulmiger zumute wurde. »Lass die Spielchen. Du brauchst mich nicht mit deinen Fähigkeiten als Rennfahrerin zu beeindrucken!«

Doch ich hätte ebenso gut gegen eine Wand reden können, das wusste ich. Meine Schwester hatte nie auf irgendetwas gehört, das ich ihr sagte. Statt das Tempo also zu reduzieren, beschleunigte sie sogar noch weiter.

Wir erreichten die Brücke, die so schmal war, dass keine zwei sich entgegenkommenden Autos sie zugleich überqueren konnten. Aus diesem Grund gab es an der Zufahrt eine Ampel, die den Verkehr regeln sollte. Nur dass Lisa das rote Licht überhaupt nicht wahrzunehmen schien und einfach weiterfuhr!

Ich sah den uns entgegenkommenden Wagen, der sich bereits mitten auf der Brücke befand, und stieß einen erschrockenen Schrei aus. Der Fahrer des Fahrzeugs hupte und ließ seine Scheinwerfer aufleuchten, doch es war bereits zu spät. Lisa fuhr viel zu schnell, um den Wagen noch rechtzeitig zum Stehen zu bringen, ehe ein Unglück geschah.

Meine Entsetzensschreie vermischten sich mit denen meiner Schwester. In blinder Panik riss Lisa das Lenkrad herum.

Ich sah die Brüstung der Brücke auf uns zurasen, und als wir sie durchbrachen, wurde ich so brutal in den Gurt meines Sitzes geschleudert, dass mir die Luft wegblieb.

Holz knirschte, Metall kreischte, und einen winzigen Augenblick lang schienen wir beinahe schwerelos in der Luft zu hängen.

Dann stürzten wir in den gähnenden Abgrund.

2.

Kälte.

Dunkelheit.

Mit einem erstickten Schrei riss ich die Augen auf und fand mich in einem absoluten Chaos wieder, sodass ich glaubte, schon in der Hölle gelandet zu sein.

Lisa saß auf dem Fahrersitz und kämpfte mit dem Sicherheitsgurt, der sich scheinbar nicht lösen ließ. Dabei schrie sie die ganze Zeit über wie am Spieß. Ihr Gebrüll vermischte sich mit dem Gurgeln von Wasser, das durch die nicht ganz geschlossenen Seitenscheiben und den Fahrzeugboden ins Innere des Wagens drang. Es brodelte und blubberte, so als würde es kochen – dabei war es eiskalt. Schon bedeckte es meine Beine bis hinauf zu den Knien und stieg stetig weiter an.

Einen Moment brauchte ich noch, um zu verstehen, was mit mir passiert war und wo ich mich befand. Dann kehrte die Erinnerung mit einem Schlag zurück. Noch einmal sah ich die Brüstung der Brücke auf uns zurasen und dann, nachdem wir sie durchbrochen hatten, das grauschwarze Wasser des Stour.

Beim Aufprall auf die Wasseroberfläche war ich trotz Sicherheitsgurt mit dem Kopf gegen die Seitenwand des Wagens geknallt, und mir war schwarz vor Augen geworden. Ich musste kurz ohnmächtig geworden sein – und als ich begriff, dass wir im Begriff standen, mit dem Auto im Fluss zu versinken, wünschte ich beinahe, nicht mehr aus der Bewusstlosigkeit erwacht zu sein.

»Oh Gott!«, stieß ich entsetzt hervor und löste den Gurt. Ich schaute zum Fenster hinaus – um mich herum nur bläulich schimmernde Finsternis. Ich musste mir den Kopf verdrehen, um irgendwo weit über uns einen schwachen Lichtschimmer zu erhaschen, der sich immer weiter entfernte.

Endlich hatte Lisa es geschafft, auch ihren Gurt zu lösen. Sie krallte die Finger in meine Schultern und klammerte sich an mich. Ihre Augen waren weit aufgerissen vor Panik, das Haar stand ihr wirr vom Kopf ab. Sie sah aus, als hätte sie den Verstand verloren. »Ich will nicht sterben!«, kreischte sie. »Julie, ich will leben!«

Das Herz klopfte mir bis zum Hals, und meine Kehle war wie zugeschnürt. Trotzdem schaffte ich es irgendwie, die Nerven zu behalten. Keinem von uns war damit geholfen, wenn ich jetzt auch noch durchdrehte.

»Wir werden nicht sterben«, brachte ich mit hervor. Meine Zähne klapperten, denn das schäumende bitterkalte Wasser des Stour stand mir jetzt schon bis zum Bauch. Ich kletterte auf den Sitz und blickte mich fieberhaft nach einem Weg um, aus der Todesfalle, in die sich Lisas Wagen verwandelt hatte, zu entkommen. Auch ich hatte Angst, große Angst sogar! Aber irgendwie war ich schon immer die Person gewesen, die in brenzligen Situationen einen klaren Kopf bewahrte. »Durch den Druck, den das Wasser auf den Wagen ausübt, kriegen wir die Türen nicht so einfach auf. Wir müssen die Fenster herunterlassen und warten, bis genug Wasser eingeströmt ist, dass der Druck nachlässt und wir rausschwimmen können. So lange es nach innen fließt, kommen wir hier unmöglich raus.«

»Noch mehr Wasser reinlassen?« Lisas Stimme überschlug sich schier vor Panik. »Bist du verrückt? Wenn wir das tun, werden wir ertrinken!«

»Nein«, entgegnete ich so ruhig, wie ich konnte. »Wir werden sterben, wenn wir es nicht tun. Das Wasser dringt so oder so ein, ganz gleich, was wir machen.« Ich packte Lisa bei den Schultern und schüttelte sie leicht. »Hör zu, es ist unsere einzige Chance, Lisa!«

Sie nickte stumm. Ihre Lippen waren so fest zusammengepresst, dass sie wie bläulich-weiße Striche aussahen, und ihr Gesicht war kreidebleich. Doch wenigstens schrie sie nicht mehr und hatte – zumindest teilweise – ihre Fassung zurückgewonnen. Ich konnte nur hoffen, dass sie nicht durchdrehen und irgendeine Dummheit begehen würde.

Obwohl ich wusste, dass es die einzige Möglichkeit war, lebend aus dem sinkenden Bristol zu entkommen, zögerte ich mit der Hand auf der Fensterkurbel. Meine Finger zitterten, und das lag nicht allein an der Kälte, obwohl mir das Wasser jetzt schon bis zur Brust reichte.

Tu es! Tu es endlich!

Ich atmete tief durch und fing an zu kurbeln.

Mit einem bedrohlichen Gurgeln, das sich rasch zu einem Brüllen steigerte, drang Wasser durch den größer werdenden Fensterspalt, und obwohl ich gewusst hatte, was mich erwartete, schrie ich vor Schreck laut auf.

Mein Herzschlag raste, und Panik drohte in mir aufzusteigen. Schon stand mir das Wasser bis zum Hals. Instinktiv rutschte ich auf meinem Sitz nach oben und sah, dass Lisa dasselbe tat. Die Augen meiner Schwester waren riesig vor Furcht.

Nicht aufhören zu kurbeln! Nicht aufhören!

»Wir … Wir müssen tauchen!«, stieß ich mühsam hervor, wobei ich mein Gesicht nach oben halten musste, damit mir das Flusswasser nicht in den Mund drang. »Komm!«

Ich holte tief Luft – und ließ mich nach unten sinken.

Wasserblasen stiegen auf, als ich langsam ausatmete, und behinderten meine Sicht. Nun spürte ich, wie doch Panik von mir Besitz ergriff. Ich vergaß die Fensterkurbel und tastete blind nach dem Türgriff, doch die Beifahrertür rührte sich keinen Millimeter, so sehr ich auch daran rüttelte.

Der Drang, nach Luft zu schnappen, wurde immer stärker und stärker, bis meine Lunge kurz vor dem Explodieren zu sein schienen. Atmen! Ich musste atmen!

Als ich sicher war, dem unbändigen Verlangen nicht länger widerstehen zu können, tauchte ich auf – ohne zu wissen, ob die Luftblase unter dem Dachinnenraum überhaupt noch existierte.

Ich hatte Glück, auch wenn ich mein Gesicht praktisch unter das Dach pressen musste, um zu atmen. Gierig sog ich den Sauerstoff in meine Lunge – nie zuvor hatte etwas so köstlich geschmeckt!

Ich konnte nicht sehen, was Lisa machte. Ich konnte nur hoffen, dass sie sich zumindest so weit im Griff hatte, um zu begreifen, wie wenig Zeit ihr nur blieb. Einmal atmete ich noch tief ein, dann tauchte ich wieder ab.

Dieses Mal verschwendete ich meine Energie nicht mit der Tür, sondern kurbelte das Seitenfenster vollends herunter. Mein Plan war es, durch das Fenster aus dem Auto zu tauchen, Lisa nachzuholen und dann nach oben an die Wasseroberfläche zu schwimmen.

Doch ich hatte die Strömung des Stour nicht mit einkalkuliert.

Zwar schaffte ich es, mich durch das Beifahrerfenster zu ziehen, doch im nächsten Augenblick wurde ich von einem übermächtigen Sog gepackt und förmlich vom Wagen weggerissen.

Es gab nichts, was ich dagegen tun konnte. Ich schrie, doch alles, was ich damit erreichte, war, dass ein Schwall Luftblasen nach oben wirbelte und meine Lungen wieder nach Sauerstoff lechzte.

Und dann – endlich! – setzten sich meine Arme und Beine wie von selbst in Bewegung und vollführten kraftvolle Schwimmstöße, die mich nach oben beförderten, dem Licht und der Luft entgegen.

Und als ich endlich durch die Wasseroberfläche brach, spürte ich, wie helfende Hände nach mir griffen und mich aus den Fluten zogen.

Meine Schwester!, wollte ich rufen. Meine Schwester ist noch da unten! Helft ihr!

Doch kein Laut verließ meine Kehle, während ich japsend und keuchend nach Luft schnappte.

»Ruhig, Mädchen«, sagte eine beruhigend klingende Männerstimme. Jemand beugte sich über mich, doch ich konnte keine Gesichtszüge erkennen. Es war, als besäße die Person anstelle eines Gesichts nur einen unförmigen dunklen Fleck.

Verzweifelt versuchte ich, zu sprechen oder mich aufzurichten, doch eine bleierne Schwäche ergriff von mir Besitz, der ich einfach nichts entgegensetzen konnte. Ich fühlte mich wie ein Luftballon, aus dem sämtliche Luft entwichen war.

Dann wurde mir – zum zweiten Mal an diesem Tag – schwarz vor Augen.

»… nicht viel Wasser geschluckt …«

»… froh sein, dass der Mann mit dem Sportboot zufällig vorbeikam … bald wieder aufwachen …«

Stimmen schwirrten um mich herum wie Bienen um eine Blüte. Ein seltsamer Geruch stieg mir in die Nase. Er erinnerte mich an etwas, doch ich konnte nicht sagen, an was. Ich war nur ziemlich sicher, dass es nichts Angenehmes war.

Zu den Stimmen gesellte sich ein rhythmisches Piepsen, das mir schon nach kürzester Zeit auf die Nerven ging. Es verstärkte meine Kopfschmerzen, von denen ich jetzt erst bemerkte, dass ich sie hatte, und ließ sie von einem dumpfen Pochen zu einem heftigen Stechen werden.

Und dann kehrte die Erinnerung zurück. Der Bristol, der langsam in den eisigen Fluten des Stour versank. Lisas Schreie. Das Wasser, das im Innenraum des Wagens immer höher stieg …

In Panik riss ich die Augen auf und schnappte nach Luft. Grelles Licht blendete mich, und vor meinen Netzhäuten explodierten Sterne. Erst nach und nach nahm meine Umgebung vertraute Formen an, und ich begriff, dass ich nicht mehr in der Todesfalle festsaß.

Stattdessen lag ich in einem bequemen Bett und blickte auf weiß getünchte Wände. Und ich war nicht allein. In der Nähe des Fensters beugten sich zwei weiß gekleidete Männer und eine Frau in Schwesterntracht über eine Akte. Offenbar hatten sie bisher noch nicht mitbekommen, dass ich das Bewusstsein zurückerlangt hatte, also machte ich mich mit einem Räuspern bemerkbar.

Die Drei wirbelten herum, und auf dem Gesicht der Krankenschwester breitete sich ein strahlendes Lächeln aus. »Na, wen haben wir denn da? Es wurde aber auch Zeit, dass Sie aus Ihrem Dornröschenschlaf erwachen! Sie waren immerhin mehr als dreißig Stunden weggetreten.«

»Wo … Wo bin ich?«

»Das hier ist das Two Oaks Hospital in Manningtree, Sie sind in guten Händen. Warten Sie, ich hole Ihnen ein Glas Wasser, Sie sind sicher sehr durstig. Und dann informiere ich auch gleich die Polizei.«

Der jüngere der beiden Ärzte, das Namensschild auf seinem Kittel wies ihn als Dr. Jones aus, trat auf mich zu. »Wie fühlen Sie sich, Miss? Haben Sie irgendwelche Beschwerden? Was ist das Letzte, an das Sie sich erinnern?«

»Nur ein bisschen Kopfweh«, antwortete ich wahrheitsgemäß. Meine Stimme klang seltsam belegt, sodass ich sie selbst kaum wiedererkannte. Ich räusperte mich. »Meine Schwester und ich hatten einen Unfall. Wir sind mit dem Wagen in den Fluss gestürzt, und … Was ist mit meiner Schwester? Ist sie auch hier im Krankenhaus? Es geht ihr doch gut, oder?«

Das Lächeln auf den Gesichtern der Ärzte verblasste. »Es tut mir leid, aber … Als der Wagen aus dem Stour geborgen wurde, war niemand mehr darin. Leider haben wir auch erst, nachdem wir Ihre Eltern erreicht haben, davon erfahren, dass sich zwei Personen im Fahrzeug befunden haben, als es sank.«

»Was soll das heißen?« Ich versuchte mich aufzurichten, was ich aber gleich wieder bereute, da das Pochen in meinem Schädel direkt wieder einsetzte. Aufstöhnend presste ich die Fingerspitzen auf meine Schläfen und massierte sie. »Wollen Sie damit sagen, sie wurde bisher nicht gefunden?«

Dr. Jones ergriff meine Hand und drückte sie sanft. Diese Geste beunruhigte mich zutiefst. Irgendetwas stimmte hier nicht, das spürte ich überdeutlich. Mit einem Mal wurde mir eiskalt, und meine Kehle war wie zugeschnürt. »Was ist mit ihr?«, fragte ich noch einmal. »Sie … Sie hat es doch aus dem Wagen geschafft, oder nicht? ODER NICHT?«

»So beruhigen Sie sich doch«, sagte Dr. Jones, und sein älterer Kollege trat näher, um notfalls eingreifen zu können. »Die Polizei hat natürlich beide Ufer flussabwärts der Unglücksstelle abgesucht, aber … Es konnte wohl bisher keine Spur ihrer Schwester gefunden werden.«

Ich schluckte. »Soll das heißen …?«

»Ich will ehrlich zu Ihnen sein«, erwiderte er nach kurzem Zögern. »Es sieht nicht besonders gut aus. Aller Wahrscheinlichkeit wurde Ihre Schwester von der Strömung mitgerissen.«

»Aber dann hätte sie doch gefunden werden müssen!« Ich klammerte mich an diesen kleinen Hoffnungsschimmer, obwohl ich selbst wusste, wie unrealistisch er war. »Solange sie nicht gefunden wurde, kann man doch nicht mit Sicherheit sagen, dass Sie … tot ist.«

»Nein, nicht mit absoluter Sicherheit. Aber … Der Stour fließt direkt ins Meer, Miss Maguire. Es ist durchaus möglich, dass ihre Schwester … Was ich eigentlich sagen will, ist Folgendes: Ein Körper, den der Fluss in die Nordsee spült, bleibt oft wochen- oder sogar monatelang verschwunden.« Betroffen senkte er den Blick. »Ich halte es für verkehrt, Ihnen falsche Hoffnungen einzureden.«

Die Erkenntnis traf mich wie ein Schock. Meine Schwester hatte es nicht geschafft. Lisa war tot!

Obwohl wir beide uns nie besonders gut verstanden hatten, machte mich der Gedanke daran, dass meine so erfolgreiche und lebenslustige Schwester nicht mehr am Leben sein sollte, unsäglich traurig. Sie war doch noch so jung gewesen – genau wie ich gerade einmal zweiundzwanzig Jahre alt!

Ich spürte, wie mir die Tränen kamen, und blinzelte heftig. Meine Kehle war wie zugeschnürt. Was sollte jetzt bloß werden? Was würden meine Eltern – vor allem Mum – sagen, wenn sie vom Tod meiner Schwester erfuhren?

Ausgerechnet Lisa! Wenn es mich erwischt hätte …

»Es tut mir schrecklich leid«, sagte Dr. Jones. »Laut Polizei war der verunglückte Wagen zugelassen auf Miss Lisa Maguire, wohnhaft in London. Leider konnten wir bisher nicht definitiv feststellen, ob Sie das sind, da Sie keine Brieftasche bei sich hatten, aber …«

Es lag mir auf der Zunge, den Arzt zu korrigieren, doch im letzten Augenblick zögerte ich. Plötzlich kamen mir Lisas Worte wieder in den Sinn.

Wir können einfach so die Rollen tauschen, und vermutlich würde es nie jemand merken …

Meine Gedanken rasten wild durcheinander. Ob das wirklich funktionieren würde? Ohne dass jemand etwas merkte? Ich hatte immer davon geträumt, Lisas Leben zu leben. Und vielleicht war dies meine Chance, das Unmögliche möglich zu machen. Es wäre im Grunde ganz einfach. Wenn ich Dr. Jones jetzt sagte, dass ich Lisa sei, wer würde meine Worte anzweifeln?

Aber was, wenn meine Schwester es doch geschafft hatte? Der Unfall lag gerade einmal etwas mehr als dreißig Stunden zurück. Und solange ihre Leiche nicht gefunden wurde, bestand immer noch ein letzter Funken Hoffnung, dass Lisa es ebenfalls gelungen war, sich zu retten. Womöglich stieß gerade jetzt, in diesem Augenblick, in dem ich darüber nachdachte, mir ihre Existenz unter den Nagel zu reißen, eine der Suchmannschaften auf sie. Doch so richtig daran glauben konnte ich nicht. Immerhin hatte selbst ich es gerade noch in letzter Sekunde geschafft, und ich war schneller gewesen als Lisa. Und wenn Lisa tatsächlich noch am Leben wäre, hätte sie längst die Polizei informiert.

Ich schluckte. Der Gedanke, dass meine Schwester wirklich tot sein sollte, setzte mir weit weniger zu, als er eigentlich gesollt hätte. Ich war selbst entsetzt darüber, aber ich konnte es nicht leugnen: Lisas Schicksal bereitete mir weit weniger Kopfzerbrechen als meine eigene Zukunft.

Meine Zukunft – mit einer neuen Identität? Sollte ich es wirklich wagen?

Ich dachte daran, was mich erwartete, wenn ich als ich selbst aus dem Krankenhaus entlassen würde. Mein langweiliges Leben in einem langweiligen Reihenhaus und mit einem langweiligen Job. Der stets verlässliche Morris, für den ein nicht über Monate im Voraus geplanter Schwimmbadbesuch bereits der Gipfel der Spontaneität war. Wollte ich das alles wirklich zurück? Oder sollte ich lieber mein Schicksal selbst in die Hand nehmen und alles, was ich bisher gekannt hatte, hinter mir lassen?

Vielleicht war ich aber auch einfach nur feige. Zu feige, um Morris in die Augen zu sehen und ihm zu erklären, dass ich ihn nicht heiraten wollte. Und zu träge, um aufzustehen, mein eigenes verkorkstes Leben in den Griff zu bekommen und endlich etwas daraus zu machen.

Was sollte ich tun? Mir blieb keine Zeit mehr, lange darüber nachzudenken. Ich musste mich entscheiden. Jetzt!

»Ja, ich … ich bin Lisa Maguire », platzte es aus mir heraus, ehe ich es mir anders überlegen konnte. »Und meine Schwester, die mit mir im Wagen saß, heißt …« Ich zögerte kurz. »Sie hieß Julie.«

3.

Ich kann heute selbst gar nicht mehr sagen, welcher Teufel mich ritt, mich tatsächlich als meine Zwillingsschwester auszugeben. Doch nachdem es einmal gesagt war, konnte ich es nicht mehr rückgängig machen. Aber wirklich klar waren mir die Konsequenzen meines Handelns zu diesem Zeitpunkt noch nicht.

Durch ein paar unbedacht dahingesagte Worte hatte sich auf einen Schlag mein ganzes Leben verändert. Ich war nicht mehr die ruhige, langweilige Julie Maguire, die ein ebenso ruhiges und langweiliges Leben in Knebworth führte. Für einen kurzen Augenblick fühlte ich mich fast ein bisschen allmächtig. So als hätte ich mir Gottes Radiergummi ausgeliehen und damit mal eben schnell den Lauf des Schicksals verändert.

Doch es dauerte nicht lange, bis mir dämmerte, dass diese Veränderung nicht nur Positives für mich mit sich bringen würde. Und als eine der Schwestern zu mir kam, um mir mitzuteilen, dass meine Eltern eingetroffen waren, wurde mir zum ersten Mal wirklich bewusst, auf wessen Rücken ich dieses Spielchen austrug. Die beiden waren, nachdem die Nachricht von dem Unfall sie in ihrem Kurzurlaub in Cornwall endlich erreicht hatte, sofort aufgebrochen, um ihrer überlebenden Tochter beizustehen, und wie der Zufall es wollte genau jetzt, so kurz nach meinem Aufwachen, eingetroffen.

Hätte ich diese Lüge nicht in die Welt gesetzt, dann wäre ich wohl froh darüber gewesen, sie zu sehen. Doch unter den gegebenen Umständen …

Was war ich bloß für eine Tochter? Was für eine Schwester, was für ein Mensch? Statt um Lisa zu trauern, die aller Wahrscheinlichkeit nach elendig in den Fluten des Stour umgekommen war, dachte ich nur an mich selbst. Ich hatte die günstige Gelegenheit genutzt und mir ein Leben angeeignet, das mir nicht gehörte. Daran, dass ich von nun eine Lüge leben musste, hatte ich keinen Gedanken verschwendet. Ebenso wenig wie daran, was ich meiner Familie und Morris mit meiner Tat antun würde.

Die Realität traf mich wie ein Schlag in die Magengrube, und ich war mit der Situation total überfordert.

Wie sollte ich meinen Eltern jetzt gegenübertreten? Es mochte ja sein, dass Außenstehende mich und meine Schwester miteinander verwechselten. Aber Mum und Dad? Nein, das konnte ich mir beim besten Willen nicht vorstellen. Und ganz davon abgesehen wusste ich auch nicht, ob ich es über mich bringen würde, den beiden in die Augen zu sehen und zu lügen. Doch ehe ich mir irgendeine Ausrede ausdenken konnte, warum ich meine Eltern nicht sehen wollte, war die Schwester auch schon wieder fort. Und als es kurz darauf zaghaft an meiner Tür klopfte, fiel mir nichts Besseres ein, als mich schlafend zu stellen.

Ich hörte, wie jemand ins Zimmer trat. Das Herz klopfte mir bis zum Hals, und innerlich war ich angespannt wie eine Bogensehne, doch nach außen hin blieb ich vollkommen reglos.

»Sie schläft, Darling«, hörte ich meinen Vater flüsternd sagen. Seine Stimme klang erstickt, so als hätte er geweint. »Vielleicht sollten wir lieber später …«

»Bitte, Walter, ich möchte sie nur kurz sehen …« Sie schluchzte leise vor sich hin, als sie neben mir ans Bett trat.

Es zerriss mir fast das Herz, still liegen bleiben zu müssen und sie nicht trösten zu dürfen. Irgendwie war ich davon ausgegangen, dass es für Mum leichter sein würde, mich zu verlieren, als ihren Liebling Lisa. Aber wie es aussah, hatte ich mich getäuscht. Und als Dad dann auch noch anfing zu weinen …

Ich kann es nicht genau sagen, aber ich glaube, in diesem Moment wurde mir zum ersten Mal wirklich bewusst, dass meine Schwester vermutlich tatsächlich nicht mehr am Leben war. Dass ich sie nie wiedersehen, nie wieder ihre Stimme hören würde. Irgendwie war Lisas Schicksal für mich die ganze Zeit nicht richtig fassbar gewesen. Nebulös. Sie war doch erst zweiundzwanzig. In diesem Alter starb man doch nicht! Mir war, als könnte sie jeden Augenblick ins Zimmer spazieren und sagen »Reingefallen Leute, das war alles nur ein großer Scherz!«

Doch das würde nicht passieren. Nie wieder.

Endlich war sie da, die Trauer. Sie schnürte mir die Kehle zu, rollte über mich hinweg wie eine große schwarze Welle. Meine Schwester und ich hatten keine besonders enge Bindung zueinander gehabt. Um ehrlich zu sein, war ich die meiste Zeit unseres Lebens immerzu neidisch auf sie gewesen. Doch das bedeutete nicht, dass ich ihr den Tod gewünscht hätte.

»Komm, Liebes«, sagte mein Vater leise. »Es war ein schlimmer Tag für uns alle, und Lisa braucht jetzt vor allem eines: Ruhe.«

Obwohl meine Augen geschlossen waren, konnte ich ihn förmlich vor mir sehen, wie er die Arme auf die Schultern meiner Mutter legte, um sie sanft, aber bestimmt aus dem Raum zu führen.

Doch Mum war noch nicht bereit, loszulassen. »Wir haben eines unserer Babys verloren, Walter«, stieß sie unter Tränen hervor. »Und jetzt sag nicht wieder, dass alles gut werden wird – wir wissen beide, dass es nicht stimmt. Julie ist seit mehr als vierundzwanzig Stunden verschwunden, wir … wir hätten längst von ihr gehört, wenn sie noch am Leben wäre. O Gott, hätte ich doch nur nicht darauf gedrängt, dass Lisa sie nach Hause fährt … Hätte ich doch nur besser auf mein kleines Mädchen aufgepasst! Ich war nicht für sie da, als …«

»Es war ein Unfall, Marge. Ein schrecklicher, tragischer Unfall, an dem niemand die Schuld trägt. Ich nicht, Lisa nicht – und ganz gewiss nicht du, Darling.«

»Ich habe Angst, Walter. Angst, sie allein zu lassen.« Die Stimme meiner Mutter zitterte. »Wenn ich sie auch noch verlieren würde, ich …«

»Das wird aber nicht passieren, Darling. Du hast doch gehört, was der Arzt gesagt hat. Lisa geht es den Umständen entsprechend gut. Sie braucht jetzt einfach nur Ruhe. Komm, wir gehen ein bisschen vor die Tür. Die frische Luft wird dir guttun. Und danach schauen wir dann noch einmal nach ihr, ja?«

Ich spürte, wie Mum zögerte. Sie wollte nicht gehen. Wollte das einzige Kind, das ihr geblieben war, nicht allein lassen. Und als sie mir zum Abschied zärtlich übers Haar strich, so wie sie es immer getan hatte, als Lisa und ich noch klein waren, stand ich ganz kurz davor, mit der Schauspielerei aufzuhören und mit der Wahrheit herauszuplatzen.

Dass ich es nicht tat, lag vor allem daran, dass ich einfach zu feige war.

Ich fürchtete mich vor dem Blick meiner Eltern, wenn ich ihnen gestand, dass ich das schreckliche Schicksal meiner Schwester hatte ausnutzen wollen. Was sollten sie von mir denken? Mein Verhalten war egoistisch, eigennützig und gemein. Nein, ich konnte es ihnen nicht sagen. Auch, wenn ich keinen blassen Schimmer hatte, wie es dann weitergehen sollte.

Ich fühlte ich schrecklich, weil ich erleichtert war, als Mum und Dad endlich mein Zimmer verließen. Doch eine lange Verschnaufpause war mir nicht vergönnt, denn keine Viertelstunde später bekam ich erneut Besuch.

Und dieses Mal half es mir nicht weiter, mich schlafend zu stellen.

Es handelte sich um zwei Polizeibeamte, die mich zum Hergang des Unfalls befragen wollten. Ich schätzen die beiden Anfang bis Mitte die Dreißig, und sie stellten sich als Constable Davies und Sergeant Wallis vor. Beide waren sehr nett und verständnisvoll, doch ich merkte ihnen an, dass ihnen die Situation alles andere als angenehm war.

»Wir … müssen Ihnen ein paar Fragen zu Ihrer Schwester stellen«, machte schließlich einer von Ihnen – Sergeant Wallis – den Anfang.

»Haben Sie inzwischen herausfinden können, was mit Julie passiert ist?«, fragte ich angespannt. Beim Anblick der Polizeiuniform war mir zum ersten Mal der Gedanke gekommen, dass Lisa womöglich etwas bei sich trug, dass sie eindeutig identifizierte. Ihre Brieftasche zum Beispiel, mit ihrem Ausweis und all ihren Kreditkarten darin – natürlich ausgestellt auf Lisa Maguire.

Was sollte ich tun, falls so etwas passierte? Ruhig, ganz ruhig. Darüber kannst du nachdenken, wenn es wirklich so weit ist …

Doch der junge Polizist schüttelte den Kopf. »Bisher leider nicht. Wir haben ja erst nachdem wir Ihre Eltern endlich erreicht hatten überhaupt davon erfahren, dass sich eine zweite Person im Unfallfahrzeug befunden hat.«

Ich senkte den Blick. Meine Kehle war wie zugeschnürt, als ich fragte: »Sie ist … tot, oder? Julie hat es nicht geschafft.«

Seufzend fuhr sein Kollege Constable Davies sich durchs Haar, ehe er das Wort ergriff. »Wir können im Moment wirklich noch nichts Konkretes sagen. Fest steht nur, dass wir Ihre Schwester bisher nicht ausfindig machen konnten. Eine Suchmannschaft ist soeben dabei, das Ufer zu beiden Seiten des Stour abzusuchen. Wir haben bisher aber lediglich den Wagen bergen können. Ach, den Verlobten Ihrer Schwester haben wir übrigens inzwischen ebenfalls erreicht. Er ist auf dem Weg hierher ins Krankenhaus, um bei Ihnen und Ihren Eltern zu sein, bis es Neuigkeiten gibt.«

»Morris kommt her?« Ich unterdrückte ein Stöhnen. Das hatte mir gerade noch gefehlt. Zuerst meine Eltern, und jetzt auch noch Morris.

Natürlich war mir klar, dass ich mich auch dieser Begegnung früher oder später stellen musste. Doch nicht jetzt. Ich fühlte mich einfach noch nicht bereit dazu. Allein der Gedanke, ihn zusammen mit meinen Eltern trauern zu sehen … Um mich trauern! Aber ich konnte nicht zurück. Nicht mehr.

In was für eine ausweglose Situation hatte ich mich da bloß wieder gebracht? Und das alles nur, weil ich neidisch auf Lisa gewesen war. Weil ich ihr Leben leben und nicht in meinen kleinkarierten Spießermief zurückkehren wollte. Ich musste verrückt geworden sein!

»Alles in Ordnung, Miss Maguire?«, fragte Davis mich besorgt. »Sie sind auf einmal ganz blass geworden …«

Reiß dich zusammen, rief ich mich selbst zur Ordnung. Und obwohl sich in meinem Kopf alles wild durcheinander drehte, schaffte ich es irgendwie, ein schwaches Lächeln zustande zu bringen. »Es … war alles etwas viel heute.«

»Dafür haben wir natürlich vollstes Verständnis«, entgegnete Sergeant Wallis. »Wir werden uns für heute auf die allernotwendigsten Fragen beschränken, alles Weitere klären wir dann, wenn es Ihnen besser geht.«

Ich nickte, und gab ihnen folgsam alle Informationen, die sie von mir haben wollten. Dabei kam mir das alles so surreal vor, weil es doch neben Fragen zum Unfallgeschehen vor allem solche über mich waren. Meine Lebensumstände, meine Freunde, meine Arbeit. Nur mit dem kleinen aber feinen Unterschied, dass das außer mir niemand wusste.

Denn ich war nicht mehr ich.

Die Polizisten verabschiedeten sich. Als ich endlich allein war, sank ich in meinem Kissen zurück und barg das Gesicht in den Händen. Meine Eltern würden sicher bald von ihrem Spaziergang zurückkommen, um nach mir zu sehen. Und dann war womöglich auch Morris dabei.

Ich wusste wirklich nicht, wie ich das anstellen sollte. Meinen Eltern konnte ich unmöglich als Lisa gegenübertreten. Sie würden die Wahrheit erkennen, sobald ich auch nur den Mund aufmachte, davon war ich überzeugt. Und Morris …

Nein, ich kann das nicht! Ich will das nicht!

Aber du musst!, antwortete die Stimme meiner Vernunft. Was hast du denn gedacht? Du wolltest Lisas Leben, also benimm dich auch entsprechend. Wenn du dich dem jetzt nicht stellst, dann wirst du es nie schaffen!

Mit einem Mal erschien mir die Luft in meinem kleinen Krankenzimmer unerträglich heiß und stickig. Ich musste hier raus – wenigstens für ein paar Minuten. Raus an die frische Luft. Einen klaren Kopf bekommen.

Ich sprang aus dem Bett. Erst jetzt stellte ich fest, dass ich lediglich einen weißen Krankenhauskittel trug. Ich unterdrückte einen Fluch. So konnte ich unmöglich auf die Straße hinaus! Die Kleidung, die ich bei dem Unfall getragen hatte, befand sich vermutlich in der Waschküche des Krankenhauses.

Ich öffnete versuchshalber den schmalen Schrank neben der Eingangstür. Darin stand ein kleiner schwarzer Trolley aus Kunststoff. Neben dem Zahlenschloss waren die Initialen L. M. eingraviert – Lisa Maguire.

Ich atmete tief durch und strich mit den Fingern über die glatte Oberfläche des Koffers. Vermutlich handelte es sich um Lisas Notfallausrüstung, von der sie so oft erzählt hatte. Da ihr Job bei der Plattenfirma es manchmal erforderte, dass sie sehr kurzfristig verreiste, hatte Lisa es sich angewöhnt, immer ein paar Kleidungsstücke und etwas Make-up in einem Koffer auf der Rückbank ihres Wagens zu deponieren.

Ich hielt den Atem an. Der Inhalt dieses Koffers bedeutete vielleicht die Lösung all meiner Probleme. Trotzdem zögerte ich. Es fühlte sich seltsam – ja, falsch – an, einfach so an die Sachen meiner Schwester zu gehen. Aber warum? Es bestand so gut wie keine Hoffnung, dass Lisa noch am Leben war. Sie würde ihren Notfallkoffer wohl nie wieder benutzen, wohingegen ich ihn im Augenblick wirklich gut gebrauchen konnte.

Ich stellte das Zahlenschloss auf Lisas und mein Geburtsdatum ein und versuchte es einfach. Völlig problemlos schnappte der Verschluss auf, danach konnte ich einfach den Koffer öffnen.

Ich war überrascht. Nur ganz am Rand war ein wenig Feuchtigkeit eingedrungen, ansonsten war der Inhalt trocken geblieben. Wie erwartet stieß ich auf zwei schwarze Stoffhosen, einen graublauen Rollkragenpullover und ein Paar schwarze Wildlederstiefeletten. Außerdem fand ich einen leichten Trenchcoat und einige Schminkutensilien. Normalerweise benutzte ich nur selten Make-up, doch ein kurzer prüfender Blick in den Spiegel zeigte mir, dass ich besser eine Ausnahme machen sollte, wenn ich nicht angestarrt wollte.

Als ich fertig umgezogen, geschminkt und gekämmt war, schaute ich erneut in den Spiegel und erschrak. Es war Lisa, die mir daraus entgegenblickte, nicht ich. Trotz unserer Ähnlichkeit hatte es immer Dinge gegeben, die uns voneinander unterschieden. Doch jetzt, wo ich Lisas Kleidung und ihr Make-up trug, sah ich wirklich genauso aus wie sie.

Auf dem Tisch unter dem Fenster meines Krankenzimmers fand ich einen Schreibblock und einen Kugelschreiber. Hastig kritzelte ich, für den Fall, dass meine Eltern vor mir zurückkehrten, ein paar Zeilen hin – sicherheitshalber in Großbuchstaben, denn meine und Lisas Handschrift unterschieden sich geringfügig:

Hallo Mum, Hallo Dad,

macht euch keine Sorgen um mich. Mir geht es gut, ich brauche jetzt einfach ein bisschen Ruhe und Zeit zum Nachdenken.

Seid mir bitte nicht böse.

Lisa

Ich atmete tief durch, dann verließ ich das Zimmer. Der Krankenhauskorridor lag, grell vom Schein der Neonröhren beleuchtet, verlassen da. Rechts von mir sah ich am Ende des Flurs die Aufzüge, daneben den Zugang zum Treppenhaus. Etwa auf halber Strecke dorthin befand sich das Schwesternzimmer, ein hell erleuchteter Glaskasten, in dem sich zwei Krankenschwestern aufhielten. Sie starrten beide wie gebannt auf den Fernsehbildschirm, über den gerade eine neue Folge von Britain’s got talent flimmerte. Ich wusste nicht, ob es mir erlaubt war, einfach so die Station zu verlassen, daher huschte ich einfach an ihnen vorbei, ohne mich abzumelden.

Auf Zehenspitzen schlich ich den Flur hinunter. Jeden Augenblick rechnete ich damit, dass irgendjemand mir auf die Schulter tippen und mich fragen würde, was ich hier draußen zu suchen hatte. Doch nichts dergleichen passierte. Ich erreichte die Fahrstühle unbehelligt. Doch statt den Rufknopf zu drücken, betrat ich das Treppenhaus durch die schwere Stahltür nur ein paar Meter weiter. Im schummrigen Zwielicht des Aufgangs eilte ich die Stufen hinunter, bis ich schließlich im Erdgeschoss ankam. Dort verschnaufte ich noch einen Augenblick, ehe ich die Tür zum Foyer öffnete.

Jetzt hatte ich es fast geschafft. Nur noch ein paar Meter bis zur Drehtür, die ins Freie führte, und dann …

Ja, was dann? Am liebsten wäre ich einfach abgehauen. Nicht nur kurz raus, um frische Luft zu schnappen, sondern richtig davonlaufen. Aber was hätte das für einen Sinn gemacht? Es würde alles nur noch schwerer machen. Nein, da musste ich jetzt durch. Es sei denn …

Einen Moment lang war ich tatsächlich hin und her gerissen. Hätte Lisa nicht kurz vor dem Unfall noch davon gesprochen, ich wäre nie auf den Gedanken gekommen, mit ihr die Rollen zu tauschen. Es war eine spontane Idee, eine Art Kurzschlussreaktion gewesen, aber vielleicht gab es ja doch noch einen Weg zurück. Ich hatte mich schon tief in ein Netz aus Lügen verstrickt. Aber wenn ich jetzt reinen Tisch machte, konnte womöglich doch noch alles gut werden.

Wollte ich das also wirklich tun? Mein altes, geruhsames und vielleicht ein wenig langweiliges Leben hinter mir lassen und den Weg ins Ungewisse wählen? Denn über eines musste ich mir klar sein: Abgesehen von dem, was sie selbst freiwillig preisgegeben hatte, wusste ich so gut wie nichts über die Welt meiner Schwester.

Was, wenn ich mit dem Job bei der Plattenfirma nicht zurechtkam? Wenn ich Freunden und Bekannten von ihr begegnete, deren Namen ich nicht einmal kannte? Vielleicht – mir wurde ganz übel bei dem Gedanken – hatte Lisa ja sogar einen Freund?

Das Ganze war der pure Wahnsinn! Es konnte nicht funktionieren, dazu gab es viel zu viele Unsicherheitsfaktoren. Und trotzdem – oder vielleicht gerade deswegen – wollte ich die Sache durchziehen. Mein ganzes Leben lang hatte ich immer den einfachen und sicheren Weg gewählt, doch nun würde sich alles ändern.

Entschlossen straffte ich die Schultern und wollte gerade ins Foyer hinaustreten, als die Türen eines der Fahrstühle sich öffneten, und zwei Personen hinaustraten.

Ich atmete scharf ein.

Es waren meine Eltern.

Hastig zog ich mich wieder in den Schutz des Treppenhauses zurück, wo ich mich schwer atmend gegen die Wand lehnte.

O Gott, o Gott, o Gott!

Obwohl ich sie nur ganz kurz gesehen hatte, schien ihr Anblick sich in mein Gedächtnis gebrannt zu haben. Das traurige Gesicht meines Vaters, der meine Mum stützen musste, die leise vor sich hin schluchzte.

Es war schon schlimm gewesen, vorhin ihre Stimmen zu hören, und zu erkennen, wie unglücklich sie waren. Aber sie zu sehen …

Verzweifelt kämpfte ich gegen die Tränen an, die in meinen Augen brannten. Was war ich bloß für eine Tochter, dass ich meinen Eltern so etwas antat? Andererseits – ganz gleich, was ich auch machte, einen Verlust mussten die beiden auf jeden Fall verkraften. Nur, dass es in Wahrheit nicht mich erwischt hatte, sondern meine Schwester.

Ich wartete noch ein paar Minuten im dunklen Treppenhaus, dann riss ich mich los und verdrängte den Gedanken an meine Eltern in den hintersten Winkel meines Bewusstseins. Mit ihnen würde ich mich gleich befassen – jetzt brauchte ich erst einmal ein bisschen frische Luft. Doch im Stillen schwor ich mir, dass ich den Schmerz, den ich Mum und Dad zufügte, irgendwann wiedergutmachen würde. Dann durchquerte ich mit zügigen Schritten das Krankenhausfoyer.

Draußen wurde ich von kühler Nachtluft empfangen. Es war zwar Sommer, doch wenn die Sonne erst einmal am Horizont versunken war, kühlte es rasch ab.

Der Haupteingang der Klinik war durch ein gepflegtes Rasenstück und eine schmale Zufahrtsstraße von einer stark befahrenen Hauptverkehrsstraße getrennt. Links von mir befand sich ein großer Besucherparkplatz, der aufgrund der späten Stunde so gut wie verlassen war. Dort gab es allerdings auch einen Taxistand, und für einen Moment wurde der Drang, einfach alles hinter sich zu lassen, fast unwiderstehlich. Ich brauchte nur in einen dieser Wagen zu steigen. Zwar verfügte ich nicht über Bargeld, aber im Koffer meiner Schwester hatte ich neben einem Notizbüchlein auch eine goldene Kreditkarte gefunden, mit der ich erst einmal bezahlen konnte, bis ich mir eine Alternative überlegt hatte. Doch ich verschlug den Gedanken rasch wieder. Davonzulaufen würde mir nicht helfen – mir blieb nur noch die Flucht nach vorn.

Ich war gerade ein paar Schritte gegangen, da tauchte hinter mir ein großer schwarzer Van auf und schnitt mir den Rückweg zur Klinik ab. Die Schiebetür des Wagens öffnete sich, und drei Gestalten mit schwarzen Skimützen sprangen daraus hervor.

Instinktiv wirbelte ich herum, um davonzulaufen, doch ich kam keine zwei Meter weit, da wurde ich auch schon gepackt und in Richtung Auto geschleift.

»Hilfe!«, schrie ich verzweifelt und aus voller Kehle. »Hilfe!«

Doch niemand hörte mich, und im nächsten Moment wurde mir etwas Weiches, Kratziges über den Kopf gestülpt, und es wurde dunkel um mich herum.

4.

Unsanft wurde ich nach vorn gestoßen. Da ich nichts sehen konnte, stolperte ich und prellte mir beim Aufprall auf den Asphalt schmerzhaft den Ellbogen. Doch ich nahm den Schmerz kaum wahr. Dazu hatte ich viel zu große Angst.

Panik schnürte mir die Kehle zu, mein Herz raste wie verrückt. Was ging hier eigentlich vor? Was wollten diese Typen von mir?

Ich griff mit der Hand nach der Kapuze – dem muffigen Geruch nach handelte es sich um einen alten Kartoffelsack – und wollte sie herunterziehen. Doch ehe ich mein Vorhaben in die Tat umsetzen konnte, wurde ich unter den Achseln gepackt und wieder auf die Füße gezogen.

Blind trat und schlug ich um mich. »Hilfe!«, rief ich wieder. »Hilfe! Hil…«

Mein Schrei brach abrupt ab, als mir jemand brutal in die Seite boxte. Der Schmerz war so heftig, dass ich für einen Moment Sterne sah und glaubte, die Besinnung zu verlieren. Doch ich schaffte es irgendwie, mich auf den Beinen zu halten.

»Schnauze!«, herrschte mich eine raue Männerstimme an, die ich noch nie in meinem Leben gehört hatte. »Wenn du nicht sofort aufhörst, so ein Theater zu machen, reiße ich dir eigenhändig die Zunge raus, verstanden? Er bezahlt mich nur dafür, dich zu ihm zu bringen – davon, in welchem Zustand du dich dann befindest, war nicht die Rede …«

Jemand zog grob meine Arme hinter meinen Rücken und band sie mit etwas, das sich wie Kunststoffbänder anfühlte, zusammen.

»Er?«, fragte ich irritiert nach. »Wen meinen Sie? Hören Sie, das muss eine Verwechslung sein! Was wollen Sie von mir? Ich …«

Eine Hand drang unter meine Kapuze. Sie grub sich in mein Haar und zog meinen Kopf mit einem so brutalen Ruck nach hinten, dass ich das Gefühl hatte, skalpiert zu werden. Der Schmerz war so heftig, dass mir die Tränen in die Augen schossen. Erstickt schrie ich auf.

»Hatte ich dir nicht gesagt, dass du die Schnauze halten sollst, Maguire? Kannst dich bei den Bullen bedanken, dass wir dich gefunden haben. Dachtest du echt, du könntest den Typen trauen? Die meisten stehen beim Boss auf der Lohnliste, schon vergessen?«

Ich unterdrückte ein Wimmern. Etwas sagte mir, dass dieser Kerl nicht nur leere Versprechungen machte, also blieb ich still. Ich wollte mein Glück lieber nicht herausfordern. Aber was dann? Meine Gedanken rasten wild durcheinander. Was sollte ich jetzt bloß tun? Mich ruhig verhalten und zulassen, dass dieser brutale Kerl und seine Kumpane mich in den Wagen zerrten und Gott weiß wohin brachten?

Zu ihm?

Ich konnte mir beim besten Willen nicht erklären, von wem hier die Rede war. Wer sollte ein Interesse daran haben, mich zu entführen? Meine Eltern waren nicht besonders reich, und auch wenn Morris bei einer Bank arbeitete, besaß er nicht so viel Vermögen, dass sich eine Erpressung gelohnt hätte.

Dieser Kerl – er – musste also etwas anderes von mir wollen. Bloß was?

Ich war sicher, dass ich es vermutlich eher herausfinden würde, als mir lieb war – da hörte ich plötzlich Schritte, die sich eilig näherten. Sollte da etwa …?

»Hey!«, drang nun durch den Stoff des Kartoffelsacks eine aufgeregt klingende männliche Stimme an mein Ohr. »Hey, lassen Sie sofort die Frau los!«

Ich hätte heulen können vor Freude, ganz im Gegensatz zu dem Typ, der mich festhielt. Er knurrte ungehalten und versetzte mir einen Stoß, der mich zuerst gegen den Van und dann zu Boden fallen ließ. Hilflos blieb ich liegen, denn meine Arme waren noch immer hinter mir zusammengebunden. Jetzt wusste ich, wie sich ein Käfer fühlen musste, der auf dem Rücken landete. Es war zum Verzweifeln. Vor allem, da ich keine Ahnung hatte, was um mich herum geschah, denn ich konnte noch immer nichts sehen. Diese Ungewissheit machte mich fast verrückt. Es klang, als würden meine Angreifer mit dem Mann, der mir zu Hilfe geeilt war, kämpfen. Doch wer die Oberhand behalten würde, konnte ich unmöglich sagen. Da die Angreifer jedoch in der Überzahl waren, standen die Chancen, sie zu besiegen, wohl nicht sehr gut, und …

»Vorsicht«, hörte ich jemanden – einen von meinen Angreifern? – rufen. »Der Typ hat ein Messer!« Im nächsten Augenblick

Plötzlich zog mich jemand recht unsanft auf die Füße. Ich schrie auf und wollte mich wehren, da wurde mir die Kapuze vom Kopf gezogen, und ich blickte geradewegs in die umwerfendsten blauen Augen, die ich jemals in meinem Leben gesehen hatte.

Für einen winzigen Moment vergaß ich alles um mich herum – den Unfall, das Verschwinden meiner Schwester, die Typen im Van – und stand einfach nur da und starrte den Unbekannten an. Ich sah die silbernen Glanzlichter in seinen Augen und die langen, dichten Wimpern und …

»Komm!« Er ergriff meinen Arm und zog mich mit sich in Richtung Parkplatz, da der Rückweg zum Krankenhaus durch den Van abgeschnitten war. Noch während ich vorwärts taumelte, warf ich einen Blick über meine Schulter zurück und sah zu meinem Entsetzen, dass die Männer uns folgten.

Ich schrie auf. Instinktiv wollte ich mich in Richtung Parkplatz wenden. Dort, bei den Taxen, waren Menschen, und das bedeutete für mich Sicherheit. Doch mein Retter hatte offenbar andere Pläne, denn er zog mich nach links, geradewegs hinein in ein dorniges Ginstergestrüpp.

»Los, mach schon!«

Da meine Hände noch immer gefesselt waren, konnte ich nur den Kopf senken, um mein Gesicht vor den Dornen zu schützen. Doch dadurch, dass mein Retter vorauslief, fing er die meisten Peitschenhiebe der Zweige ab, während er uns einen Weg durch das Dickicht bahnte.

»Da lang«, sagte er und deutete nach rechts. Kurz darauf erreichten wir einen zweiten, kleineren Parkplatz, der auf der Rückseite des Krankenhauses lag. Hier standen etwa ein Dutzend Autos, zwischen denen wir nun geduckt und im Zickzack hin und herliefen. Hinter einem dunkelblauen Vauxhall blieben wir schließlich gebückt stehen.

»Still halten jetzt«, flüsterte mein Retter. »Ich schneide die Kabelbinder durch, mit denen die Kerle dich gefesselt.«

Als ich das kühle Metall einer Messerklinge an meinem Handgelenk spürte, hielt ich kurz den Atem an. Dann spürte ich einen Ruck, und im nächsten Augenblick waren meine Hände wieder frei.

Stöhnend massierte ich meine Handgelenke. Meine Arme kribbelten heftig, als endlich wieder ungehindert das Blut in sie hineinfließen konnte.

»Danke«, stieß ich erleichtert hervor. »Das tut verdammt gut.«