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Laut einer alten Legende wachen vier Gottheiten über die Geburt des Menschen: Daimon, Tyche, Eros und Ananke. Früher oder später hat sich ein jeder von uns mit ihnen auseinanderzusetzen. Diesen zwiespältigen Mächten ins Auge zu sehen, heißt, sein Leben als Abenteuer zu leben. Im Gang durch Goethes "Urworte" und die höfische Literatur, Dante und die Philosophie wird klar, dass das Abenteuer nicht nur in der Wildnis oder im Boudoir auf uns wartet, sondern die Grunderfahrung unseres Lebens ist. Lebbar ist sie nur, weil mit Elpis, der in Pandoras Büchse zurückgebliebenen Hoffnung, eine fünfte Gottheit unser Dasein bestimmt. Auch die Freundschaft ist für Agamben eine grundlegende Erfahrung. Sie ist, wie sich im Rückgang auf Aristoteles zeigt, keine Beziehung zwischen zwei Individuen, sondern schafft den politischen Raum des Zusammenlebens, der jeder Identität, jeder teilbaren Erfahrung vorausgeht.
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Seitenzahl: 67
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Giorgio Agamben
Aus dem Italienischenvon Andreas Hiepko
Fröhliche Wissenschaft 094
Das Abenteuer
Inhalt
1. Dämon
2. Aventure
3. Eros
4. Ereignis
5. Elpis
Der Freund
1. Dämon
2. Aventure
3. Eros
4. Ereignis
5. Elpis
Wer will sich getrauen bei der Auffahrt zum Aether das Fünfgespann Daimon, Eros, Tyche, Ananke und Elpis zu meistern?
Aby Warburg
In den Saturnalien des Macrobius behauptet ein Teilnehmer der Tischgespräche, dass nach ägyptischem Glauben einem jeden Menschen bei seiner Geburt vier Gottheiten zur Seite stehen: Daimon, Tyche, Eros und Ananke (der Dämon, das Schicksal, die Liebe und die Notwendigkeit). »Die Ägypter übertragen die Symbolik des Caduceus auf die Geburtsstunde des Menschen, die genesis heißt. Sie glauben, dass vier Götter der Geburt des Menschen als Bürgen beiwohnen: der Dämon, das Schicksal, die Liebe und die Notwendigkeit. Die zwei ersten wollen sie als Sonne und Mond verstanden wissen, weil der Sonnengott, aus dem der Geist, die Wärme und das Licht hervorgehen, Erzeuger und Bewahrer des menschlichen Lebens ist, und deshalb als Daimon, d. h. Gott, des Neugeborenen gilt, während Tyche die Mondgöttin ist, weil diese den Körpern vorsteht, die den zufälligen Bewegungen unterworfen sind. Die Liebe wird durch den Kuss bezeichnet, die Notwendigkeit durch den Knoten« (Sat. 1,19).
Diesen vier Gottheiten, die man weder fliehen noch überlisten kann, hat ein jeder seinen Tribut zu zollen: dem Dämon, weil man ihm Charakter und Wesen verdankt; Eros, weil von ihm Fruchtbarkeit und Erkenntnis abhängen; Tyche und Ananke, weil Lebenskunst nicht zuletzt darin besteht, sich dem Unausweichlichen in rechtem Maße zu fügen. Das Verhältnis, in dem wir zu diesen Mächten stehen, bestimmt unsere Ethik.
Bei der Lektüre der Abhandlung Tyche und Nemesis des dänischen Philologen Georg Zoëga war Goethe 1817 eher zufällig auf die Macrobius-Stelle gestoßen. Im Oktober desselben Jahres entstanden die Urworte, mit denen der auf sein Leben zurückblickende Achtundsechzigjährige den Gottheiten des Macrobius – denen er mit Elpis, der Hoffnung, eine fünfte zur Seite stellte – das zurückzahlen wollte, was er ihnen zu schulden glaubte. Deutlicher als in diesen fünf »orphischen« Strophen (der vollständige Titel lautet Urworte. Orphisch) und den sie begleitenden knappen Kommentaren in Prosa bekannte sich Goethe sonst nirgends zu dem Aberglauben, dem er sein Leben verschrieben hatte: dem Kult des Dämons. Bereits einige Jahre zuvor hatte er in Dichtung und Wahrheit sein ambivalentes Verhältnis zu dieser unbegreiflichen Macht beschrieben: »Er glaubte in der Natur, der belebten und unbelebten, der beseelten und unbeseelten, etwas zu entdecken, das sich nur in Widersprüchen manifestierte und deshalb unter keinen Begriff, noch viel weniger unter ein Wort gefaßt werden könnte. Es war nicht göttlich, denn es schien unvernünftig; nicht menschlich, denn es hatte keinen Verstand; nicht teuflisch, denn es war wohltätig; nicht englisch, denn es ließ oft Schadenfreude merken. Es glich dem Zufall, denn es bewies keine Folge; es ähnelte der Vorsehung, denn es deutete auf Zusammenhang. Alles, was uns begrenzt, schien für dasselbe durchdringbar; es schien mit den notwendigen Elementen unsres Daseins willkürlich zu schalten; es zog die Zeit zusammen und dehnte den Raum aus. Nur im Unmöglichen schien es sich zu gefallen und das Mögliche mit Verachtung von sich zu stoßen. Dieses Wesen, das zwischen alle übrigen hineinzutreten, sie zu sondern, sie zu verbinden schien, nannte ich dämonisch, nach dem Beispiel der Alten und derer, die etwas Ähnliches gewahrt hatten. Ich suchte mich vor diesem furchtbaren Wesen zu retten.«
Schon eine etwas aufmerksamere Lektüre der Urworte zeigt, dass die Frömmigkeit, die in der Autobiografie noch mit einem gewissen Vorbehalt geäußert wurde, nun zu einer Art Credo wird, in das Astrologie und Wissenschaft einfließen. Denn für den Dichter steht mit dem Daimon nichts Geringeres auf dem Spiel als der Versuch, die Verbindung von Leben und Werk als seine Bestimmung erscheinen zu lassen. Der Daimon, der den Reigen eröffnet, ist kein unbegreifliches, widersprüchliches Wesen mehr, er ist, wie die Einschaltung der Strophen in den Kontext der Schriften über die Metamorphose der Pflanzen zeigt, zu einer kosmischen Macht, zu einer Art Naturgesetz geworden:
Wie an dem Tag, der dich der Welt verliehen,
Die Sonne stand zum Gruße der Planeten,
Bist alsobald und fort und fort gediehen
Nach dem Gesetz, wonach du angetreten.
So mußt du sein, dir kannst du nicht entfliehen,
So sagten schon Sibyllen, so Propheten,
Und keine Zeit und keine Macht zerstückelt
Geprägte Form, die lebend sich entwickelt.
»Der Dämon bedeutet hier«, wie es im Prosakommentar unmissverständlich heißt, »die notwendige, bei der Geburt unmittelbar ausgesprochene, begrenzte Individualität«, die »angeborene Kraft und Eigenheit«, die »mehr als alles übrige des Menschen Schicksal bestimmen«. Wie in der Autobiografie der Zufall nur ein Aspekt des Dämonischen war, steht auch das zweite orphische Urwort – Tyche, das Zufällige – lediglich für das wandelbare Element. Besonders in den Jugendjahren suche sie den Dämon heim, um ihn, wenn auch vergebens, »mit ihren Neigungen und Spielen« abzulenken, denn er halte sich durch alles durch, kehre, so oft auch ausgetrieben, immer wieder unbezwinglicher zurück. In dem Versuch, Dämon und Zufall in ein persönliches Schicksal zusammenzuzwingen, kommt Goethes tiefste Überzeugung zum Ausdruck.
Schwieriger fällt es ihm, vor Eros Rechenschaft abzulegen. Denn er wusste nur allzu gut, dass er dem dritten Numen gegenüber säumig geblieben war. Die »erotische Unentschiedenheit«, die »Versäumnis in seinem erotischen Leben«, die Benjamin Goethe im Artikel für die Sowjetische Enzyklopädie und im Wahlverwandtschaften-Aufsatz attestiert, waren in Wirklichkeit der bewusste Verzicht auf eine bis auf den Grund ausgekostete Liebesbeziehung. Bezeichnenderweise war das einzige Verhältnis, das Goethe nicht abbrach, das mit Christiane Vulpius, der Arbeiterin aus der Kunstblumenfabrik, mit der er einen Sohn hatte. Und wenn er sich mehr als fünfzehn Jahre später dazu durchringen konnte, sie zu heiraten, dann nicht zuletzt deshalb, weil der unüberbrückbare Standesunterschied, der sie trennte, es verbot, in der Ehe mehr zu sehen als eine der Mutter seines einzigen Kindes geschuldete Entschädigung. Insofern überrascht es nicht, dass Eros in den Urworten in keinem günstigen Licht erscheint. Denn in der Liebe ließe sich – wie der Prosakommentar erklärt – der individuelle Dämon von der »verführenden Tyche« umgarnen: Er meint »nur sich zu gehorchen, sein eigenes Wollen walten zu lassen«, doch tatsächlich »sind es Zufälligkeiten, […] Fremdartiges, was ihn von seinem Wege ablenkt; er glaubt zu erhaschen und wird gefangen; er glaubt gewonnen zu haben und ist schon verloren«.
In Ananke, der Notwendigkeit, der letzten und zugleich dunkelsten Gottheit des Macrobius, sieht Goethe vor allem eine Macht, die den Ablenkungen Tyches und Eros’ entgegenwirkt, indem sie die schicksalhafte Fesselung des Individuums an seinen Dämon noch fester zieht. Sie steht für jene astrale Macht des »Gesetzes«, die schon den Dämon der ersten Strophe bestimmte:
Da ist’s denn wieder, wie die Sterne wollten:
Bedingung und Gesetz, und aller Wille
Ist nur ein Wollen, weil wir eben sollten,
Und vor dem Willen schweigt die Willkür stille;
Das Liebste wird vom Herzen weggescholten,
Dem harten Muß bequemt sich Will’ und Grille.
So sind wir scheinfrei denn nach manchen Jahren
Nur enger dran, als wir am Anfang waren.
Recht betrachtet huldigt Goethe in den Urworten nur einer Gottheit, dem Daimon. Welche Strategie der Dichter damit verfolgt, liegt auf der Hand: Die Einschreibung seiner Existenz in eine dämonische Konstellation soll sie jedem ethischen Urteil entziehen. Insofern besiegeln die Urworte die Nichtverantwortlichkeitserklärung, die der dreißigjährige Dichter im Fragment Über die Natur abgegeben hatte: »Sie hat mich hereinsgestellt, sie wird mich auch herausführen. Ich vertraue mich ihr. Sie mag mit mir schalten; sie wird ihr Werk nicht hassen. […] Alles ist ihre Schuld, alles ist ihr Verdienst.«