Demokratie? - Giorgio Agamben - E-Book

Demokratie? E-Book

Giorgio Agamben

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Beschreibung

Zu Beginn des dritten Jahrtausends ist die Situation der Demokratie paradox: Einerseits sind mehr Staaten denn jemals zuvor demokratisch verfaßt, andererseits nehmen die Krisensymptome in den Staaten, die einstmals so etwas wie eine demokratische Avantgarde bildeten, zu: Die Wahlbeteiligung sinkt, schillernde Persönlichkeiten wie Silvio Berlusconi oder Nicolas Sarkozy gewinnen an Bedeutung, Wahlkämpfe geraten zu schalen Marketingkampagnen. Colin Crouch hat all diese Trends in dem Band "Postdemokratie" präzise auf den Punkt gebracht. In diesem Band setzen sich nun acht herausragende politische Denkerinnen und Denker mit dem Zustand und den Perspektiven der am wenigsten schlechten aller Regierungsformen (Winston Churchill) auseinander, die tageszeitung sprach von einem »Who's who der internationalen linken Theorie«. Der Diskussionsband enthält Beiträge von Giorgio Agamben, Alain Badiou, Daniel Bensaïd, Wendy Brown, Jean-Luc Nancy, Jacques Rancière, Kristin Ross und Slavoj Žižek.

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Zu Beginn des dritten Jahrtausends ist die Situation der Demokratie paradox: Einerseits sind mehr Staaten denn jemals zuvor demokratisch verfaßt, andererseits nehmen die Krisensymptome in den Staaten, die einstmals so etwas wie eine demokratische Avantgarde bildeten, zu: Der Politik scheint die Kontrolle über Märkte und Unternehmen zu entgleiten, die Wahlbeteiligung sinkt, Wahlkämpfe geraten zu schalen Marketingkampagnen. Colin Crouch hat all diese Trends in Postdemokratie (es 2540) präzise auf den Punkt gebracht.

In diesem Band setzen sich nun acht herausragende politische Denkerinnen und Denker mit dem Zustand und den Perspektiven der am wenigsten schlechten aller Regierungsformen (Winston Churchill) auseinander, die tageszeitung sprach von einem »Who’s who der internationalen linken Theorie«.

Demokratie? Eine Debatte

 

Giorgio Agamben, Alain Badiou, Daniel Bensaïd, Wendy Brown, Jean-Luc Nancy, Jacques Rancière, Kristin Ross, Slavoj Žižek

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Suhrkamp

Die französische Originalausgabe dieses Buches erschien unter dem Titel Démocratie, dans quel état? bei La fabrique éditions (Paris 2009).

Da der darin enthaltene Essay Slavoj Žižeks sich mit dem Vorwort zur deutschen Ausgabe von Auf verlorenem Posten (Frankfurt am Main: Suhrkamp 2009) überschneidet, hat der Autor für diesen Band einen neuen Text verfaßt.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2012

© La fabrique éditions 2009

© der deutschen Übersetzung Suhrkamp Verlag Berlin 2012

Deutsche Erstausgabe

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile.

Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Umschlag gestaltet nach einem Konzept von Willy Fleckhaus: Rolf Staudt

 

eISBN 978-3-518-73645-6

www.suhrkamp.de

Inhalt

Vorwort

 

Giorgio Agamben: Einleitende Bemerkung zum Begriff der Demokratie

Alain Badiou: Das demokratische Wahrzeichen

Daniel Bensaïd: Der permanente Skandal

Wendy Brown: Wir sind jetzt alle Demokraten …

Jean-Luc Nancy: Begrenzte und unendliche Demokratie

Demokratien gegen die Demokratie. Jacques Rancière im Gespräch mit Eric Hazan

Kristin Ross: Demokratie zu verkaufen

Slavoj Žižek: Das »unendliche Urteil« der Demokratie

 

Über die Autorinnen und Autoren

Vorwort

In den zwanziger Jahren veröffentlichte die Zeitschrift La Révolution surréaliste in mehreren Ausgaben Umfragen zu Themen, deren Gemeinsamkeit in der scheinbaren Unmöglichkeit bestand, noch irgend etwas Neues dazu sagen zu können: die Liebe, den Selbstmord, den Pakt mit dem Teufel. Dennoch beleuchten die Antworten von Artaud, Crevel, Naville, Ernst und Buñuel diese Gegenstände aus verschiedenen Blickwinkeln, die uns noch heute, fast ein Jahrhundert später, verblüffen. Dieses Modell stand bei der Konzeption des vorliegenden Bandes Pate. Er stellt folgende Frage:

»In bezug auf den Begriff der ›Demokratie‹ scheint heutzutage ein breiter Konsens zu herrschen. Sicher wird teilweise heftig über die Bedeutung oder die Bedeutungen dieses Wortes diskutiert, dennoch ist es in der ›Welt‹, in der wir leben, gemeinhin positiv besetzt. Daher unsere Frage: Hat es für Sie einen Sinn, sich als ›Demokraten‹ zu bezeichnen? Falls nicht, warum? Und falls ja, gemäß welchem Verständnis des Begriffs?«

Einige der befragten Philosophen sind Autoren oder Freunde des Hauses. Andere kennen wir nur durch ihre Arbeiten, die Grund zu der Annahme geben, daß sie einen Demokratie-Begriff haben, der mit dem üblichen Diskurs nicht konform geht. Ihre Antworten fallen unterschiedlich aus und widersprechen sich teilweise, was vorherzusehen und sogar erwünscht war. In diesem Buch wird man folglich weder eine Definition der Demokratie noch eine Gebrauchsanweisung und am allerwenigsten ein Verdikt dafür oder dagegen finden. Es läßt lediglich die Schlußfolgerung zu, daß man diesen Begriff nicht aufgeben darf, da er noch immer den Angelpunkt bildet, um den sich in puncto Politik die entscheidenden Kontroversen drehen.

 

Aus dem Französischen von Tilman Vogt

Giorgio Agamben Einleitende Bemerkung zum Begriff der Demokratie

Jeder Diskurs über den Begriff der »Demokratie« wird heute durch eine ihm eingeschriebene Mehrdeutigkeit verfälscht, die jeden, der dieses Wort gebraucht, dazu verdammt, mißverstanden zu werden. Wovon spricht man, wenn man von Demokratie spricht? Welcher Logik gehorcht dieser Begriff überhaupt? Schon bei einer oberflächlichen Betrachtung wird deutlich, daß diejenigen, die in der Gegenwart über Demokratie reden, diese einmal als eine Verfassung des Gemeinwesens, ein anderes Mal als eine Regierungstechnik verstehen. Der Terminus verweist also zugleich auf die Konzeption des öffentlichen Rechtes und auf die der Verwaltungspraktik: Er beschreibt ebenso eine Legitimationsform der Macht wie auch die Art und Weise ihrer Ausübung. Da es innerhalb des heutigen politischen Diskurses offensichtlich für jedermann evident ist, daß sich dieser Begriff überwiegend auf eine Regierungstechnik bezieht – die per se nichts auffallend Vertrauenerweckendes an sich hat –, versteht man das Unbehagen derer, die ihn in gutem Glauben weiterhin in ersterem Sinne verwenden.

Daß die enge Verschränktheit der beiden Konzepte – juridisch-politisch das eine, verwaltungsökonomisch das andere – weit zurückreicht und dementsprechend schwer zu entwirren ist, wird an dem folgenden Beispiel deutlich. Erscheint bei den griechischen Klassikern des politischen Denkens das Wort politeia (häufig im Rahmen einer Diskussion über die verschiedenen Formen der politeia: Monarchie, Oligarchie, Demokratie, sowie ihre parekbaseis, d.h. ihre Entartungen), greifen die Übersetzer ebensooft zu dem Wort »Verfassung« wie zu dem Wort »Regierung«. So wurde die Passage aus Der Staat der Athener (Kap. XXVII), in der Aristoteles die »Demagogie« des Perikles beschreibt – »dēmotikōteran synebē genesthai tēn politeian« –, in der englischen Übersetzung folgendermaßen wiedergegeben: »[T]he constitution became still more democratic«. Direkt im Anschluß fügt Aristoteles hinzu, daß das Volk »apasan tēn politeian mallon agein eis hautous«, was derselbe Übersetzer mit »brought all the government more into their hands« wiedergibt. (Offenkundig wäre die eigentlich durch die Kohärenz gebotene Übertragung »brought all the constitution« problematisch gewesen.)

Woher kommt nun diese veritable »Amphibolie«, diese Doppeldeutigkeit jenes politischen Grundbegriffes, aufgrund welcher er mal für die Verfassung, mal für die Regierung steht? Es genügt hier, aus der Geschichte des abendländischen politischen Denkens zwei Textstellen heranzuziehen, in denen diese Ambiguität besonders deutlich zum Ausdruck kommt. Die erste findet sich in der Politeia (1279a 25ff.), wo Aristoteles sich anschickt, die verschiedenen Formen der Verfassung (politeiai) aufzuzählen und zu erörtern: »Da nun politeia und politeuma ein und dasselbe bedeuten und die politeuma die oberste Gewalt [kyrion] der Stadtstaaten ist, muß diese Gewalt entweder einem oder wenigen oder der Mehrzahl des Volkes eignen.« Gängige Übersetzungen lauten hier: »Da Verfassung und Regierung dasselbe bedeuten, die Regierung das Herrschende in den Staaten ist«. Wenngleich eine getreuere Übersetzung die Nähe der beiden Begriffe politeia (die politische Handlung) und politeuma (ihr politisches Resultat) hätte bewahren müssen, wird deutlich, daß Aristoteles’ Versuch, die Amphibolie mittels der von ihm kyrion getauften Figur aufzuheben, das zentrale Problem dieses Abschnittes darstellt. In eine moderne Terminologie übertragen – wobei die Konvergenzen etwas strapaziert werden –, verbinden sich die verfassungsgebende Gewalt (politeia) und die verfaßte Gewalt (politeuma) in Form eines Souveräns (kyrion), der die beiden Ebenen der Politik zusammenzuhalten scheint. Weshalb aber ist das Politische gespalten, und weshalb drückt das kyrion, gerade im Zusammenfügen, diese Spaltung aus?

Die zweite Passage stammt aus dem Gesellschaftsvertrag. Schon Foucault hatte 1977/1978 in seiner Vorlesung »Sicherheit, Territorium, Bevölkerung« gezeigt, daß sich Rousseau genau dem Problem einer Versöhnung der verfassungsjuridischen Terminologie (»Vertrag«, »Gemeinwille«, »Souveränität«) mit der »Kunst des Regierens« widmete. Für unsere Fragestellung ist jedoch der Komplex der Unterscheidung und Verknüpfung von Souveränität und Regierung, der zu den Grundlagen des politischen Denkens von Rousseau gehört, entscheidend. »Ich bitte meine Leser«, schreibt er in seiner »Abhandlung über die Politische Ökonomie«, »sehr genau zwischen der Politischen Ökonomie, von der ich spreche und die ich Regierung nenne, und der höchsten Autorität, die ich Souveränität nenne, zu unterscheiden. Der Unterschied besteht darin, daß die eine die Legislative innehat […], während die andere nur die Vollstreckungsgewalt innehat.« Im Gesellschaftsvertrag wird diese Unterscheidung in Form einer Koppelung von Gemeinwille und Legislative auf der einen und von Regierung und Exekutive auf der anderen Seite bestätigt. So geht es Rousseau genau darum, beide Elemente gleichzeitig zu unterscheiden und zu verknüpfen, weshalb er sogar noch im Zuge der Feststellung ihrer Verschiedenheit nachdrücklich verneinen muß, daß es sich um eine Spaltung des Souveräns handelt. Wie bei Aristoteles ist die Souveränität, das kyrion, ein Begriff zur Unterscheidung und gleichzeitig das, was die Verfassung und die Regierung in einem unauflösbaren Knoten miteinander verbindet.

Wenn wir heute Zeugen einer überwältigenden Vorherrschaft von Regierung und Ökonomie über eine sukzessive entleerte Volkssouveränität werden, dann möglicherweise deshalb, weil die westlichen Demokratien jetzt den Preis für ein philosophisches Erbe bezahlen, das sie unbesehen angetreten haben. Das Mißverständnis, die Regierung lediglich als Exekutive zu begreifen, gehört zu den folgenreichsten Fehlern in der Geschichte der westlichen Politik. Er führte zu einer politischen Reflexion der Moderne, die sich durch leere Abstraktionen wie das Gesetz, den Gemeinwillen und die Volkssouveränität irreleiten läßt und darüber das in jeglicher Hinsicht entscheidende Problem der Regierung und ihrer Verbindung mit dem Souverän aus den Augen verliert. In einem meiner letzten Bücher1 habe ich zu zeigen versucht, daß das zentrale Rätsel der Politik nicht in der Souveränität, sondern in der Regierung, nicht in Gott, sondern im Engel, nicht im König, sondern im Minister, nicht im Gesetz, sondern in der Polizei besteht – oder präziser, in der doppelköpfigen gouvernementalen Maschine, die sie konstituieren und am Laufen halten.

Das westliche politische System ist das Ergebnis einer Verschränkung zweier heterogener Elemente, die sich gegenseitig legitimieren und stützen: eine politisch-juridische und eine ökonomisch-gouvernementale Rationalität, eine »Verfassungsform« und eine »Regierungsform«. Warum bleibt die politeia in dieser Zweideutigkeit befangen? Was verschafft dem Souverän (dem kyrion) die Macht, ihre rechtmäßige Einheit zu sichern und zu garantieren? Handelt es sich dabei nicht vielleicht um eine Fiktion, die darauf abzielt, die Tatsache zu verschleiern, daß das Zentrum der Maschine leer ist und daß zwischen den beiden Elementen und ihren Rationalitäten keinerlei Vermittlung möglich ist? Und geht es nicht genau darum, in ihrer Unvermittelbarkeit jene Unregierbarkeit zutage zu fördern, die den Ursprung und Fluchtpunkt aller Politik markiert?

Solange das Denken sich nicht dazu entschließen kann, es mit diesem Knoten und seiner Amphibolie aufzunehmen, ist es wahrscheinlich, daß jede Diskussion über Demokratie – als Verfassungsform wie als Regierungstechnik – wieder zum Geschwätz zu verkommen droht.

 

Aus dem Französischen von Tilman Vogt

1

  

Herrschaft und Herrlichkeit. Zur theologischen Genealogie von Ökonomie und Regierung. Homo Sacer II.2, Berlin: Suhrkamp 2010.

Alain Badiou Das demokratische Wahrzeichen1

All dem zum Trotz, was Tag für Tag das Ansehen der Demokratie beschädigt, bleibt das Wort »Demokratie« doch zweifellos das Wahrzeichen der gegenwärtigen politischen Gesellschaft. Ein Wahrzeichen ist das Unantastbare eines Symbolsystems. Das heißt, Sie können über das politische System sagen, was Sie wollen, Sie können ihm gegenüber eine »kritische« Haltung von beispielloser Schärfe einnehmen und etwa »den Terror der Ökonomie« verdammen – man wird es Ihnen nicht übelnehmen, solange Sie es nur im Namen der Demokratie tun (nach dem Muster: »Wie kann eine Gesellschaft, die vorgibt, demokratisch zu sein, dieses oder jenes tun?«). Denn letztlich haben Sie versucht, die Gesellschaft im Namen ihres Wahrzeichens und damit in ihrem eigenen Namen zu verurteilen. Sie haben sich nicht außerhalb ihrer gestellt, sind, wie man so schön sagt, kein Schurke geworden, sondern Staatsbürger geblieben, einer, den man auf seinem demokratischen Posten weiß und den man, keine Frage, bei den nächsten Wahlen sehen wird.

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

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