Das Buch der Bewegung - Martin Schmid - E-Book

Das Buch der Bewegung E-Book

Martin Schmid

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Beschreibung

Alles ist eine ungeteilte, große Bewegung. Dieses Buch fördert die Integration in diese Bewegung. Wir lassen uns von ihr gestalten und werden Mitwirkende ihrer gestaltenden Kraft. Jeder Mensch auf ganz besondere, persönliche, einzigartige Weise. Darum wird jeder Mensch dieses Buch auch anders lesen. Das Buch der Bewegung bietet neue Möglichkeiten, Perspektiven und Anregungen. Es ist eine Quelle für Inspirationen und Impulse. Es dient als praktischer Werkzeugkasten und konkreter Leitfaden. Alles in einem. Vom Körper und der Körpersprache bis zu unserer Art, die Welt wahrzunehmen, zu interpretieren und somit zu gestalten, von der alltäglichen Begegnung bis zur Kampfkunst, von der natürlichen Bewegung bis zu den subtilsten Regungen des Geistes: zu allen Bereichen werden in diesem Buch unverzichtbare Impulse gegeben.

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Inhaltsverzeichnis

Zum Buch

CULTIVATE

Schüler– Lehrer– Lernen – Lehren

Der innere Meister

PRIMAL

MOVEMENT

Flow

Wave

PLAY

Das Unendliche Spiel

RHYTHM

Die 5

Die 3

Die 2

Die 1

Umi

Anhang A | RIVERS

Anhang B | TRADITION

Index

Martin Schmid

Weitere Bücher

Zum Cover der ersten Ausgabe

Auf dem Cover der ersten Ausgabe war ein Diskuswerfer zu sehen. Das hatte seine Gründe, die im Folgenden erläutert werden. Warum er jetzt woanders seinen Diskus wirft, ist ganz einfach: In diesem Buch geht es um jede und alle Bewegung, und das Bild suggerierte potenziell ein Sport-Buch, oder anders gesagt, es suggerierte ein Buch über essenzielle Bewegung statt existenzielle Bewegung (siehe dazu z.B. S. 471). Folgend der Text zu jenem Cover. Der Text hat Bestand.

Unsere evolutionär gewachsenen Spezialitäten sind Aktivitäten auf zwei Beinen: gehen, stehen, rennen und Gewichte auf dem Kopf tragen. Ansonsten sind wir Menschen nicht zu Spezialisten gemacht, wir sind eher Bewegungs-Allrounder. Doch obwohl wir so vielseitig begabt sind wie keine andere Spezies auf unserem Planeten, sind wir auch von Natur aus Spezialisten in einer bestimmten Bewegungsform: im Werfen. Das Werfen entstand durch Limitierungen. Wir können nicht so schnell rennen wie die Panther, wir sind nicht so wendig wie kleine Tiere. Der Mensch entwickelte Werkzeuge und den Körper, um zu werfen. Er wirft wie kein Anderer.

Darum widmen wir uns in der Vielfalt der Bewegungen, welche RIVERS eröffnet, als Verneigung vor der Evolution in verschiedensten Formen dem Werfen. Wir wollen damit das Bewusstsein fördern, dass wir Evolution verkörpern. Dass unser Körper das Produkt von Evolution ist. Und: dass Evolution nie abgeschlossen ist.

Der Diskuswurf ist schon 708.v.Chr. bei den Olympischen Spielen nachweisbar. Doch seine Wurzeln reichen in die Mythologie bis zu Perseus. Der Diskus wird auch in der Rigveda erwähnt, dem ältesten Teil der indischen vedischen Schriften, und reicht somit viele tausend Jahre zurück.

Werfen ist eine Hommage an das Wunder der Evolution und ein Ausdruck unserer tiefen körperlichen Verwurzelung in Natur und Kultur.

Die menschliche kulturelle Kreativität, einmal entfesselt, war ein unaufhaltsamer Motor, um den evolutionären Wandel zu beschleunigen.

— Daniel Lieberman

Wenn wir Experten eines Gebietes werden, werden wir Gefangene unseres Prototyps.

— Adam Grant

Ich würde gerne leben

wie ein Fluss fließt

getragen von der Überraschung

seines eigenen Werdens

— John O’Donohue

Verkörpert sein ist ein radikaler Akt.

— Michelle Boulé

Zum Buch

Ja, alles ist im Fluss. Auch Bücher können im Fluss sein. Deshalb hältst du hier die 3. Ausgabe des Buchs der Bewegung in deinen Händen.

Das Buch der Bewegung soll dich bewegen und dich in deiner Bewegung fördern. Es ist geschrieben, um dir ein Gefühl und einen Horizont dafür zu geben, was deine Bewegung sein kann und wohin sie dich führen kann. Es ist aus Material zusammengestellt, das aus 35 Jahren Praxis und mehr als 25 Jahren Unterrichtserfahrung entstanden ist.

Dieses Buch hat kein Ende. Es enthält keinen linearen Text, der von vorne bis zur letzten Seite gelesen wird. Der Text ist ein Kaleidoskop. Deine persönliche, einzigartige Linse auf die Realität. Deine persönliche Begleitung auf deinem Weg, einzigartig für dich und deinen Weg. Dein persönlicher und einzigartiger Werkzeugkasten, um mit deinen persönlichen und einzigartigen Bausteinen, Stolpersteinen und Potenzialen zu arbeiten. Die Art und Weise, wie du ihn liest, offenbart eine einzigartige Version der Verbundenheit von allem mit allem anderen.

Nur schon das Spektrum körperlicher menschlicher Bewegung ist unermesslich. Es entfaltet sich in hunderten von Sportarten, hunderten von Tanzstilen, bewegten Spielen, die nicht kategorisiert werden, intimer Bewegung, therapeutischer Bewegung, handwerklicher Bewegung und ganz alltäglicher Bewegung. Das Buch der Bewegung widmet sich nicht der Auffächerung, sondern der Bewegung an sich und damit der Bewegung in der Bewegung – und damit einer gesteigerten Realität. Es beschränkt sich auch nicht auf die körperliche Bewegung oder behandelt anatomische und physiologische Details, die für Spezialisten relevant sind, sondern widmet sich dem bewegten Menschen. Die große Bewegung, die du hier findest, ist viel mehr als körperliche Bewegung.

Bewegung ist Leben und Leben ist Bewegung. Bewegung ist Natur und Natur ist Bewegung. Bewegung ist für alle Menschen. Aber nicht jede Bewegung ist für jeden Menschen. Integrale Bewegung ist so grenzenlos, dass sie Zeit braucht, um sich zu entfalten. Sie entfaltet sich nach Gesetzmäßigkeiten und zugleich höchst individuell. Deshalb ist dieses Buch nicht linear aufgebaut. Wahrscheinlich interessiert dich nicht alles, was du in diesem Buch findest. Zur groben Orientierung ist es nach Kapiteln geordnet.

CULTIVATE gibt Hinweise und Tipps für die eigene Praxis und das Unterrichten.

PRIMAL geht den ursprünglichen Bewegungen und dem Körper-Sein auf den Grund.

MOVEMENT erforscht die körperliche Bewegung an sich.

PLAY beschäftigt sich mit der unverzichtbaren Bedeutung des Spiels und seinen vielen Dimensionen.

RHYTHM öffnet uns für die innewohnende Dynamik der Bewegung und unserer Praxis.

RIVERS führt zu einer (optionalen) Bewegungspraxis auf der Höhe unserer Zeit.

TRADITION zeigt den Kontext.

Lies die Dinge, die dich interessieren. Lass die anderen links liegen.

Bis sie dich vielleicht eines Tages ansprechen.

In der vorliegenden dritten Auflage wurden die Texte in allen Kapiteln ergänzt. Du findest neue Schwerpunkte zum Unendlichen Spiel, zum Mythos, zur Imagination und zu einem großen Thema, das immer mehr in unser Leben tritt: die Frage nach der Wirklichkeit. Diese drei Bereiche sind eng miteinander verknüpft.

Dieses Buch ruft nach einer irgendwie gearteten Bewegungspraxis, um sich – dich – verkörpern zu können. Denn wer keine Praxis hat, macht sich das Leben schwer. Und es ist schön, wenn diese Bewegungspraxis auch ein gemeinsamer Weg ist.

Neu ist daher auch, dass mit dieser Ausgabe die Workshop-Reihe By the Book startet. By the Book ist dabei ein Wortspiel. Es bedeutet in diesem Zusammenhang nicht nach Vorschrift. Die einzelnen Texte in diesem Buch, die Vor-Schriften, dienen uns als Grundlage für ein gemeinsames Erarbeiten und Erforschen.

Als TeilnehmerIn kommst du mit zwei oder drei Textstellen aus dem Buch, mit denen du arbeiten möchtest. Daraus entsteht ein einzigartiges Programm. Aus Worten werden konkrete Übungen, Bewegungen, praktische Impulse, Entdeckungsreisen, Spielfelder. So ist jeder Workshop einzigartig und entsteht aus dem Moment heraus. Alle Infos findest du auf der Website: integralmovement.info. Oder schreite einfach durch dieses magische Portal:

Wir sehen uns also hoffentlich bald!

Martin Schmid, 2024

1

CULTIVATE

/ˈkəltəˌvāt/

kultivieren

1. urbar machen

2. anpflanzen, anbauen

3. sorgsam, in besonderem Maße pflegen, fördern

4. verfeinern, auf eine höhere Ebene bringen

CULTIVATE

befasst sich damit, was es heißt, auf dem Weg zu sein, zu lernen und zu lehren

–––

Die Frage, was real ist, entfaltet in unserer Zeit neue Dimensionen und Dringlichkeiten.

Der Versuch, diese Frage mit dem Denken zu beantworten, wird nur wenig Früchte tragen, denn das Denken ist nur ein kleiner Teil der Wirklichkeit.

Der Weg, Antworten auf diese Frage zu finden, besteht also darin, sich auf eine breite und tiefe Weise auf die Wirklichkeit einzulassen.

Es ist offensichtlich, dass dies ein unendliches Spiel ist.

Die hilfreichere Frage als «Was ist Realität?» könnte daher lauten: Wie kann ich mich auf eine reichere, umfassendere und tiefere Weise auf die Realität einlassen?

Die Beantwortung dieser Frage führt dazu, dass wir die Wirklichkeit sowohl im Sinne des Verstehens als auch im Sinne des Verwirklichens, des Verkörperns und des Umsetzens realisieren.

Es wird ersichtlich werden, dass eine geeignete Methode oder ein geeigneter Weg, dies zu erreichen, die integrale Bewegung ist.

–––

Wie wir an Realität herangehen, gestaltet Realität.

Von der Selbstverwirklichung zur Weltverwirklichung.

–––

Leichtigkeit und Tiefe. Mythos und Spontaneität.

Alles in einer Bewegung.

–––

Man könnte meinen, ein Mythos sei eine alte Geschichte, die immer wieder erzählt wird. Das ist ein Missverständnis. Ein Mythos ist eine tiefe, unendliche Erzählung, die sich nie wiederholt. Ein Mythos entfaltet sich immer in der konkreten Gegenwart in seiner Totalität. Die Form einer Erzählung ist nur eine mögliche Ausdrucksform des Mythos. Bewegung, Verkörperung und gestaltendes Handeln sind andere Formen. Durch seine Verkörperung in der Gegenwart gestaltet der My-thos die Zukunft – die einzige Zukunft, die Zukunft hat. Denn eine Gegenwart ohne Mythos hat keine gestaltende Kraft. So wie einer Bewegung ohne Mythos die wesentlichste Kraft fehlt: die Kraft des Menschseins. Durch den Mythos wird die Bewegung nicht schwer, bedeutungsschwer. Nein, sie wird leicht. Trotz der unermesslichen Tiefe. Wir selbst werden nicht groß, sondern eingebettet und vernetzt. Mit und in unserem ganzen Menschsein.

–––

Wenn wir erfahren, dass wir in ein Ganzes hineinlassen und loslassen können, kann Gelassenheit in uns einziehen.

In dieser Gelassenheit gedeiht Hoffnung. Aus dieser Gelassenheit entfaltet sich Hoffnung ins Leben.

–––

Ein Mythos ist eine Geschichte, die sich in jedem Augenblick entfaltet. Ein Mythos ist deshalb mehr als eine Geschichte. Ein Mythos drängt zum Handeln. Er muss in die Tat umgesetzt, verkörpert werden. Er ist buchstäblich eine Entfaltung von Handlungen.

–––

Der Mythos, den wir uns nach einigen Jahrhunderten des Verlustes wieder aneignen, uns einverleiben, ist sehr einfach: Nichts ist getrennt. Nichts existiert isoliert.

Daraus folgt:

Meditiere, als ob alles verbunden wäre.

Handle, als ob alles verbunden wäre.

Bewege dich, als ob alles in deinem Körper verbunden wäre. Bewege dich, als ob Körper und Wahrnehmung verbunden wären. Bewege dich, als ob dein Körper und dein tiefstes Selbst verbunden wären. Bewege dich, als ob du und deine Umgebung verbunden wären.

–––

Sinn zeigt sich durch die Sinne. Es ist jedoch ein anderer Sinn – ein fließenderer Sinn – als ein Begreifen, denn wir ergreifen nichts. Es ist nicht ein konsolidierter, verfestigter Sinn und damit eine Erinnerung, sondern ein kontinuierlicher Sinn und damit eine Aktualität. Wir können sagen, dass etwas Sinn macht, wenn es sich im wahrsten Sinne des Wortes eingliedert. (Das Eingegliederte muss nicht konform sein. Denn ich spreche hier tatsächlich von einem Ein-gliedern. Das auf dem Hintergrund, dass nichts nur physisch ist.) Es ist eingegliedert, wenn es im Gesamten mitfließt – eventuell auch als Gegenströmung, Gegenkraft, Strudel im Fluss. Diesen stimmigen Gesamtprozess können wir Kohärenz nennen. Daraufhin steuert etwa die Kultivation der verschiedenen Rhythmen hin.

–––

Eine kohärente Bewegung ist eine kraftvolle Bewegung. Eine kohärente Bewegung beschränkt sich nicht nur auf den physischen Bereich. Je mehr alle Aspekte des Menschen kohärent sind, desto kraftvoller und effektiver wird die Bewegung und Handlung.

–––

Man muss viel lassen, um in der Kraft des Augenblicks anzukommen. So viele Konzepte und Diskussionen über starre Dinge, Ideen und scheinbar sichere Werte müssen losgelassen werden, um im Entfalten anzukommen.

–––

Wichtig sind nicht definitive Antworten, sondern intelligente Fragen.

–––

Wo holst du dir Wissen?

Wo findest du Weisheit?

Integrale Bewegung integriert Wissen und führt zur Weisheit.

Weisheit ist nicht etwas. Sie ist die Art, wie du dich bewegst.

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Fünf Grundsätze

Bewegung braucht inneren und äußeren Raum

Die erste Priorität ist daher, Raum zu schaffen. Freiraum. Dies gilt sowohl für den Innenraum als auch für den Außenraum. Raum und Bewegung können in eine Wechselwirkung treten.

Beibringen verhindert Selbstlernen

Wir haben Potenziale und Kräfte in uns, die uns formen und bewegen. Die Praxis ist das Gefäß für diese Kräfte. Kultivationsräume sind das Gefäß für das Üben. Wer sich in Kultivationsräumen frei bewegt, entwickelt sich auf natürliche Weise.

Bewegung ist Dialog

Dialog mit Raum und Landschaft. Dialog zwischen innerer und äußerer Natur. Zwischen innerer und äußerer Dynamik. Die richtige Umgebung und die richtigen Menschen wecken Potenziale. Potenziale entwickeln sich in individuellen und kollektiven Freiräumen.

Lernen ist Spielen, Spielen ist Lernen

Zentrales Element des Spiels ist die Offenheit. Im Spiel ohne Wettbewerb, also ohne Stress, entsteht eine sich selbst verstärkende Dynamik von Input und Output. Informationen werden aufgenommen, verarbeitet und in Handlungen umgesetzt. Wahrnehmung, Verarbeitung und Umsetzung werden kultiviert.

Gemeinsamkeiten und Unterschiede zählen

Jeder Mensch lernt anders, bewegt sich anders, hat andere Potenziale. Es gibt aber auch Gesetzmäßigkeiten, die uns allen gemeinsam sind. Beides zu kennen und zu fördern ist existenziell. Erwache in die Freiheit deiner eigenen Bewegung.

–––

Vertrau der Praxis.

Das Vertrauen wächst mit der Praxis.

–––

Das zentralste Element: der Kultivationsprozess. Wir lernen, wie wir lernen. Beobachten und empfinden, subtilisieren und verwesentlichen, differenzieren und integrieren. Das macht eine Studentin aus. Sie ist sich selbst das Studium-Objekt, und sie erforscht dieses Selbst-Objekt, indem sie es sowohl von innen (empfindend, subtilisierend, integrierend) als auch von außen (beobachtend, differenzierend, verwesentlichend) erforscht. Sie setzt dieses Selbst-Objekt verschiedenen Lern-Feldern aus, um einerseits Forscher-Futter zu generieren, und andererseits, um durch Adaption – als treibende Kraft der Evolution, nicht einfach als bequeme Anpassung – sich zu entwickeln. Sie bewegt sich alleine, in verschiedenen Tempi und Intensitäten, als auch in Verbindung mit anderen Menschen, als auch in Verbindung mit der Natur.

–––

Kenne, trainiere, kultiviere und harmonisiere deinen Körper.

Kenne, trainiere, kultiviere und harmonisiere deine Wahrnehmung.

Kenne, trainiere, kultiviere und harmonisiere deinen Intellekt.

Kenne, trainiere, kultiviere und harmonisiere deine Intuition, dein intimes Wissen.

Kenne, trainiere, kultiviere und harmonisiere deine Art, dich zu kennen, zu trainieren, zu kultivieren und zu harmonisieren.

–––

Praktiziere konzentriert, aber entspannt.

Konzentriere entspannt.

Praktiziere fokussiert, aber offen.

Fokussiere offen.

Das sind wesentlichste Faktoren der Praxis. Praktiziere hingebungsvoll, voll, leidenschaftlich, ausdauernd, radikal, hart – aber nie verbissen. Sich verbeißen ist nicht eine Bewegung, die wir praktizieren. Entspannt konzentriert, offen fokussiert. Das ist die Praxis-Haltung.

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Spielen heißt kultivieren. Kultur ist verarbeitete Natur. Kultur ist der differenzierte Mensch und damit – da dies alles ein natürlicher Vorgang ist und auch der Mensch Natur ist – Natur, die sich selbst differenziert hat.

Kultivieren ist spielen, spielen ist kultivieren. Kultivieren ist lernen, lernen ist kultivieren. Lernen ist spielen, spielen ist lernen.

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Stereotypen nehmen dem Menschen das Einzigartige. Als Phase ist das in Ordnung. Als Dauerzustand ist es fatal.

Etwas Authentisches, welches verallgemeinert wird, wird zum Stereotypen. Stereotypen nehmen dem Individuum das Einzigartige, fördern damit Klischees und bestätigen Vorurtei-le. Jeder Stil, jede Methode, jede Tradition, jede Lehrerin und jeder Lehrer kann zum Stereotyp werden, der die individuelle Entwicklung und Gestalt verhindern kann.

–––

Veränderung kommt nicht von Konformisten.

Neue Formen werden nicht mit Schablonen gezeichnet.

Stagnation ist Stillstand. Veränderung ist Bewegung.

Nachhaltige Veränderung braucht eine stabile und agile Struktur.

Wir können unsere Bewegungsfreiheit nicht entfalten, indem wir uns auf eine Form der Bewegung beschränken.

Wir können nicht Bewegungsfreude entwickeln, indem wir etwas leisten oder meistern müssen.

Wir entfalten unser Bewegungspotenzial nicht in einer Methode, die uns einschränkt.

Du möchtest eine Veränderung?

Starte mit einer anderen Bewegung. Starte, ein Fluss zu sein.

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Wir leben in Zeiten radikaler Veränderungen, die dazu aufrufen, uns radikal zu ändern.

Also praktizieren wir radikal. Das heißt, nach der ursprünglichen Wortbedeutung, mit Wurzeln, verwurzelt, Wurzeln schaffend. Von Grund auf. Ganz und gar. Vollständig. Mach keine halben Sachen. Geh den Dingen auf den Grund. Sei gründlich in deiner Praxis, und grundlegend.

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Wir kultivieren das Natürliche. Wir kreieren nichts Neues. Wir legen unsere ureigene Gestalt frei und kultivieren sie. Dazu brauchen wir nichts. Nichts anderes, keinen anderen Ort, keine Methode. Kein Wissen, das von irgendwo her hierher verfrachtet werden muss. Wir brauchen ein paar Kompetenzen. Die müssen wir uns nicht eigentlich erarbeiten, wir müssen sie verarbeiten. Denn sie sind schon da, sie sind in uns angelegt. Sie haben sich nur noch nicht voll entfaltet, sie sind hier als Potenzial, als Möglichkeit. Wir machen aus der Möglichkeit Wirklichkeit. Dies geschieht, indem wir mit dem arbeiten, was ist: mit uns. Mit dem Körper. Mit unserer Wahrnehmung. Mit unserem gegenwärtigen Zustand. Mit unseren eingeübten und eingefleischten Mustern. Mit dem Atem. Mit dem Ureigenen. Wir müssen nicht zuerst einen perfekten Körper erschaffen, wir müssen nicht zuerst atmen, nicht zuerst einen anderen Zustand erreichen, wir müssen keine Reaktionsmuster einkaufen gehen, so, jetzt sind wir bereit, jetzt haben wir alles, los geht’s. Wir sind bereits bereit. Es ist alles da.

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Wir brauchen aus Bewegung keinen Kult zu machen, keine Religion, keine zu erreichende Leistung, keine Kunst, kein Konzept. Es reicht, wenn wir uns daran erinnern, dass Bewegung unsere Natur ist. Dass unsere Körper dafür konzipiert sind, sich viel und vielseitig zu bewegen. Dass ein großes Bewegungs-Spektrum und die Fähigkeit, die Persönlichkeit durch Bewegung gezielt zu formen, zu unseren die Menschheit definierenden Eigenschaften gehört. Von dieser Erinnerung, von diesem Wissen, lassen wir uns bewegen. Wir müssen nicht zu Extremisten werden, und auch nicht zu Spezialisten.

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Bewegung braucht keinen Hype. Im Land der Bewegung gibt es keine Könige, auch keine selbst ernannten, denn dieses Land bewohnen alle Menschen als eine einzige Spezies. Spezialisten sind nicht maßgebend, sondern sie zeigen lediglich, worauf eine intensive Beschränkung hinaus laufen kann. Es braucht keine Propheten, weil Bewegung uns allen in unser Sein eingeschrieben ist. Wir können sie einfach entfalten.

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Es geht nicht darum, Bewegung um Bewegung zu erlernen. Es geht darum, ein Körper-Sein zu kultivieren, das sich aus sich selbst heraus bewegt. In diesem Kultivations-Prozess schmelzen (scheinbare) Trennungen von Körper und Geist, Körper und Psyche, Spiel und Therapie, Abwicklung von Altem und Entwicklung von Potenzial weg. Oftmals sind es subtile Bewegungen, subtile Variationen, subtile Differenzierungen, die das größte Entfaltungs-Potenzial besitzen. Wir suchen nicht das Spektakel, sondern die natürliche Entfaltung, die natürliche Bewegung, unser natürliches Sein.

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Produziere keine Form. Übergib dich der Form. Lass sie durch dich fließen. Lass dich von ihr gestalten.

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Lass dich von Bewegung gestalten, statt deine Alltagsgestalt in sie zu zwängen. Das ist der Schlüssel.

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Wenn wir fortwährend subtilisieren und großes Potenzial in subtilen Bewegungen finden, bedeutet dies nicht, dass wir entkörpern und vergeistigen. Im Gegenteil: wir dringen tiefer und tiefer in die Materie.

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Phase 1: imitieren. Um gut zu imitieren, muss man sich mit dem Empfinden der äußeren Form verbinden, mit dem Inneren der äußeren Form. Ein guter Imitator weiß, dass imitieren hilft, sich in eine Person hinein zu versetzen, wie es sonst kaum eine Form der Auseinandersetzung mit dieser Person schafft. Schaffen wir es voll und ganz, wie eine Person zu reden, zu stehen und uns zu bewegen, erfahren wir auch konkret und empfindbar, wie diese Person «funktioniert», wie sie denkt, interpretiert etc. Auch die andere Seite ist richtig: Schaffen wir es, so zu «funktionieren» wie eine andere Person, nehmen wir auch ihre Sprache, ihre Gestalt an.

Phase 2: integrieren. Integrieren bedeutet wirken lassen und verwesentlichen. Integration löst die äußere Form auf, potenziert sie in Strukturen: tiefer hinein in die die Strukturen formenden Prinzipien, tiefer hinein in die die Prinzipien formende Dynamik. Integrieren ist also die Rückkehr zum Ursprung, zur reinen Dynamik. Da diese nun durch einen Prozess erreicht worden ist, ist sie bewusster, differenzierter. Aus diesem bewussteren, post-naiven Sein können sich nun bewusstere Prinzipien und Strukturen äußern.

Phase 3: kreieren. Die kreative Dynamik ist die ganz natürliche Folge der Integration. Wir erfahren (hier: imitieren, wir können auch auf andere Weisen erfahren) und differenzieren. Dieses Differenzierte wird verwesentlicht und im integrativen Prozess von der äußeren Gestalt freigelegt. Was übrig bleibt, ist die Dynamik. Strömt diese Dynamik wieder nach außen, und das ist der natürliche Prozess, nimmt sie dadurch eine neue Form an. Ein «Werk» im weitesten Sinne entsteht.

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Das effektivste Lehren ist das Aktivieren von Potenzial. Als Instruktoren bringen wir nichts mit, das wir den Schülern verkaufen wollen. Wir bringen nichts mit, das sie übernehmen sollen. Wir kommen mit leeren, aber offenen Händen.

Es ist ein grundlegender Unterschied, ob wir jemandem etwas bei-bringen wollen oder ob wir Potenzial fördern. Es ist auch für die Geförderten ein grundlegender Unterschied, ob sie etwas von außen lernen, oder ob sie sich entfalten.

Die erste Qualität, die durch diese Grundhaltung entsteht, ist Freiraum. Das Individuum wird als Individuum gesehen und kann sich nach seinen eigenen Gegebenheiten entwickeln.

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Das Aktivieren von Potenzial ist das effektivste Lernen. Deshalb entfaltet sich in integraler Bewegung nicht nur die Bewegung aus dem Zentrum nach außen, sondern ebenso der Lernprozess. Und deshalb beschäftigen wir uns nicht mit ei-ner exotischen Kunst, sondern mit uns selbst.

Wenn wir integrale Bewegung kultivieren, aktivieren wir unser Potenzial. Sie bezieht dabei Körper, Energie und Geist ein, Meditation und Interaktion, Himmel und Erde, und immer den Menschen als Ganzes. Ja, wir befassen uns mit dem Menschen, mit dem, was in uns schlummert, und mit dem, was zur Entfaltung drängt.

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Es ist die heitere Qualität, welche die Entspannung fördert, welche so wichtig ist für integrale Bewegung. Und natürlich fördert – wenn wir uns von diesem Irrglauben lösen, still sein heiße ernst zu sein – entspannen die Heiterkeit. Die beiden Verben entspannen und heitern bilden zusammen einen kraftvollen und dynamischen selbstverstärkenden Zyklus.

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Es entwickelt sich nur, was auch beansprucht wird. Belastung macht stärker. Dies gilt in allen Bereichen.

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Kaum kommen wir in Bewegung, kommt der ganze Mensch in Bewegung, in seiner ganzen Vielschichtigkeit. Der Prozess ist offen, was und wer dabei herauskommt ist offen. Wenn wir offen sind und offen bleiben, überraschen wir uns unentwegt selbst. Dies verlangt die Bereitschaft zur Verletzlichkeit. Verletzlichkeit wird zur Kraft. Verletzlichkeit ist das Tor zur Transformation.

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Bewegung gibt nicht nur Sicherheit, sondern auch Freiheit. Ja, das Fundament der Bewegungsfreiheit ist nicht Sicherheit, sondern das Vertrauen in den eigenen Körper, die eigenen Fähigkeiten und Potenziale. Ein Vertrauen, das durch Praxis gewachsen und gefestigt ist.

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Eine Übung und eine Praxis sind nicht dasselbe. Einige Übungen machen bedeutet nicht, eine Praxis zu haben. Übungen sind situativ und zeitlich klar begrenzt. Üben ist spezifisch auf eine ganz bestimmte Teilfähigkeit oder ein Teilziel gerichtet, und ist daher ein endliches Spiel. Praktizieren ist breiter und umfassender und ein Unendliches Spiel. Übungen können Teil des Praktizierens sein.

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Nie geht es um reine Ästhetik. Die Ästhetik ist ein Neben-Produkt. Ein Hinweis darauf, dass sich das Natürliche entfaltet. Es geht nicht um Handstände, Akrobatik und Kunststücke. Es geht darum, unsere Natur freizusetzen. Es geht darum, eine tragfähige Struktur zu errichten, die das Leben trägt. Es geht darum, Bewegungen freizusetzen, die das Leben gestalten.

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Entgegen dem Trend ist es nicht wichtig, wie der Körper aussieht. Es ist wichtig, wie er sich bewegt. (Und daraus ergibt sich auch ein Aussehen.)

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Es braucht nicht perfekt zu sein, um sich perfekt anzufühlen.

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Konstant werden. In der Natur gibt es das Prinzip der Homöostase. Es sorgt dafür, dass sich ein System im Gleichgewicht hält. Ein solches System wirkt auch in unserem Körper, wenn seine Temperatur immer gleich gehalten wird. Auch unsere Persönlichkeit ist ein System der Homöostase. Daher wird sich unser System, wenn wir den Weg des Wachstums gehen, gegen die Veränderungen wehren. Und zwar am meisten, bevor große Veränderungen passieren. Dies zeigt sich in Demotivation, in einer steigenden Zahl an Ausreden, vielleicht als Müdigkeit. Darum ist es wichtig, dass wir unseren Weg konstant gehen. Ob die Sonne scheint oder es regnet, erarbeiten wir uns eine Praxis, die wir durchziehen können, die wir in unser alltägliches Leben integrieren können. Am Anfang braucht es dazu den Willen, bis ein neuer Zustand konsolidiert ist. Dann wirkt wieder das Prinzip der Homöostase – es braucht dann Energie und den Willen, um nicht zu wachsen.

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Wir arbeiten bewegungszentriert. Doch diese Arbeit be-schränkt sich nicht auf den Körper. Sofort ist unsere Wahrnehmung involviert. Und damit die Verarbeitung des Wahrgenommenen. Und damit der ganze Mensch. Wir spulen keine Bewegungsabläufe ab oder sitzen in einer Maschine, die nur eine einzige Bewegung zulässt. Wir schaffen mit jeder Bewegung eine Fülle an Material, das wir differenzieren und integrieren können. Zeitgleich mit der Erfahrung müssen auch immer bereits an deren Interpretation arbeiten. Machen wir das nicht, können gute Erfahrungen falsche Muster nähren.

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Interpretationen sind nachträgliche Gedanken, wobei wir das «Nachträglich» streichen können, denn es ist eine Verdoppelung. Gedanken sind immer nachträglich. Gedanken sind immer Reaktionen, sind Konstrukte, Interpretationen und schlicht: Trennungen. Auch die Emotionen, welche durch Gedanken erzeugt werden, sind Trennungen, sind verkörperte Reaktionen dieser Reaktionen. (Das heißt natürlich nicht, dass jede Emotion oder jedes Empfinden eine Reaktion ist.) Das Ich ist dann emotional. Gedanken äußern sich durch das Ich in Reaktionsmustern, in Meinungen, Urteilen, ja Gewissheiten. Das Ich ist ein Funktions- und Reaktions-Konstrukt aus Gedanken. Das Ich ist eine Kontraktion, denn es entstand, um sich von der grenzenlosen Welt abzugrenzen. Es erzeugt daher Kontraktion. Das Gegenteil davon und das Gegenmittel ist das Öffnen und die Enaktion, mitgestaltendes Handeln. Darum: Öffnen ist der Schlüssel. Müsste man sich auf ein Verb der Integraldynamik beschränken, wäre es öffnen. Daraus folgt alles.

Wer den Flow-Zustand kennt, sei es in Solo-Bewegung, im Open Hands, in etwas ganz Anderem, im Lieben, Dankbar-sein, Schreiben, Komponieren, Meditieren, weiß um dieses offene Mitgestalten in völliger Ungetrenntheit, und weiß: das hat nichts mit Gedanken zu tun, nichts mit Kontraktion und nichts mit einem Ich. Auch Konzentration und Fokus brauchen kein Ich. Sanft fokussieren und offen konzentrieren: zwei grundlegende Kompetenzen, welche integrale Bewegung kultiviert.

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Lernen heißt entdecken. Lernen heißt erfinden. Unser größter Lehrer kommt von innen. Lassen wir uns von ihm leiten. Seien wir offen für verschiedene Perspektiven, denn sie sind eine Bereicherung. Nur ein starres Dogma erlaubt nur eine Sichtweise. Auf dem Weg des Lernens betrachten wir die Dinge aus den verschiedensten Blickwinkeln. Das ermöglicht eine kreative Gesamtschau.

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Zu Beginn entwickeln wir unseren inneren Zeugen/unsere innere Zeugin. Er ist die Grundkompetenz. Nur das, was er bezeugt, dringt in unser Bewusstsein und kann betrachtet werden. Da der integraldynamische Prozess nicht linear verläuft, sondern als eine Dynamik in einem vielschichtigen Beziehungsgeflecht, bedeutet das nicht, dass alles, was kultiviert werden soll, sich zuerst zeigen muss. Manchmal stellen wir erst viel später fest, dass sich etwas verändert hat, bevor die ursprüngliche Gestalt überhaupt in unser Bewusstsein getreten ist. Doch es bleibt dabei: Es ist wichtig, den Zeugen zu entwickeln. Er gibt den Rahmen vor. Je größer der Rahmen, desto mehr können wir erleben und kultivieren. Stell dir vor, das Leben sei eine riesige IMAX-Projektion. Wir dagegen haben nur eine Leinwand von der Größe einer Briefmarke. Es wird uns so viel entgehen. Wir entwickeln den Zeugen und vergrößern sein Fassungsvermögen, indem wir beobachten. Nicht andere, sondern uns. Und das klingt nun wahrlich nicht spektakulär: Ist meine rechte Schulter entspannt. Fällt mein Steißbein nach unten. Ist das Gewicht gut auf die Fußsohle verteilt. Kommt die Bewegung aus der Mitte. Ist der Atem natürlich. Und dann subtiler, aber immer noch nicht spektakulär: Wo ist es voll, wo ist es leer. Wo ist Fließen da, wo Stocken. Wo ist es warm, wo ist es kalt. Wo ist es lebendig, wo ist es Karton. Wohin führt mich mein Atem. Das sind alles Fragen. Der Beobachter hat, im Gegensatz zum Zeugen, eine Frage, und er hat eine Kompetenz, um diese Frage zu beantworten. Da wir hier die Kompetenzen zusammen mit dem Bezeugen erarbeiten und bezeugen eine dieser Kompetenzen ist, seid ihr hier nicht alleine. Darum sind wir als Begleiter hier: Wir können beobachten und auf Dinge hinweisen, bis der innere Beobachter herausgebildet ist. Genau darum kann man einen solchen Weg auch nicht alleine gehen. Zumindest in der Anfangsphase braucht man jemanden, der sich die beobachtende Kompetenz bereits erarbeitet hat.

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Es gibt nur zwei Möglichkeiten im Leben: Tod und Wachstum. Es gibt kein «Ich bleibe hier», keine Stagnation. Die Entscheidung ist immer: Praktiziere ich aktives Sterben, oder wachse ich?

Entweder der Mensch öffnet sich der Bewegung, dem Bewusstsein und dem Potenzial uneingeschränkt, oder er verweigert sich der Bewegung, dem Bewusstsein und seinem Potenzial. «Ein bisschen Bewusstsein entwickeln» oder «ein bisschen das eigene Potenzial leben» gibt es nicht. «Ein biss-chen bewegen» ist besser als nichts. Aber wir sind nicht geschaffen, um uns ein bisschen zu bewegen.

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Das Resultat integraler Bewegung ist grundsätzlich offen. Darum spreche ich nicht über das, was uns erwartet, wenn wir uns durch sie kultivieren. Denn ich weiß es nicht. Ich bin Zeuge wie jeder andere auch. Ich spreche darüber, wie wir die Bewegung kultivieren.

Ich begleite den Prozess mit Worten, benenne Gestalten, die sich bilden, um sie aus dem Verborgenen zu heben, damit sich die Wahrnehmung der Bewegten öffnet. Grenzen des Körpers nehmen wir wahr und ernst. Wir weiten Grenzen, indem sie sich entspannen können. Grenzen des Denkens, die nirgendwo anders als im Denken existieren, werden überwunden.

–––

Zu Beginn beginnen wir praktisch bei Null. Selbst der Körper ist nicht viel mehr als ein Gedanke. Wir wissen zwar, dass er da ist. Aber die Selbstwahrnehmung ist auf einem ganz rudimentären, unkultivierten Niveau. Das müssen wir zuerst einmal wahrnehmen, es uns eingestehen. Das ist der erste Akt des Zentrierens. Ich rede von sinken und erden, wir machen Übungen, doch wir spüren die Erde nicht in unserem Körper, wir können uns ihr nicht hingeben, wir können nicht sinken. Denn der Körper ist eine einzige, undurchdringliche Statue. Ich spreche von entspannen, und wir versuchen es, doch da entspannt nichts. Vielleicht meinen wir dann, wir seien bereits entspannt. Oder wir würden bereits sinken. «Warum wiederholt sich der Typ da vorne andauernd? Ich sinke ja. Nächs-ter Input bitte.»

Wir müssen uns unserem Anfängertum widmen. Wie ein Klavierschüler, der zuerst einzelne Töne spielt und noch nicht gleich eine Chopin-Etüde, müssen auch wir ganz von vorne beginnen. Anders als beim Klavierschüler aber, der sich einfach an das Klavier setzen kann, müssen wir zuerst unser Instrument entdecken. In dieser Phase ist es zum Beispiel förderlich eine Sequenz zu erlernen. Wir brauchen Zeit und viele Impulse, bis wir unser Instrument, den Körper, überhaupt in unser Bewusstsein gehievt haben. Zehntausend mal daran denken zu müssen, den Fuß nachzudrehen, hilft, ihn allmählich ins Bewusstsein zu verfrachten. Es geht dabei nicht um das Begreifen, es geht nicht um das Denken, es geht um das Verkörpern. In dieser Anfangs-Phase ist es förderlich, wenn wir innerhalb einer vorgegebenen Form oder eines Flows praktizieren können. Diese Form beinhaltet Bewegungen, die unser Körper kaum von sich aus produzieren würde. Sie weitet unser Bewegungsspektrum. Obwohl integrale Bewegung vor allem kreative Bewegung ist, ist jetzt noch nicht Zeit zur Improvisation, denn es fehlen uns noch die Werkzeuge. Ohne Hand-Werk können wir nicht wirklich etwas Kreatives erschaffen.

–––

Sich bewegen lassen heißt aufgebrochen werden, um zu neuen Horizonten aufbrechen zu können. Die wirkliche integrale Bewegung geschieht oft aus einem Bruch heraus, aus einem Riss, einer Ritze, nicht aus Perfektion. Durch ein Ungleichgewicht kommen wir in Bewegung, nicht durch perfektes Gleichgewicht. Es entsteht eine evolutionäre Spannung. Diese bringt uns in Bewegung.

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Es ist ganz simpel: Lade ein Verb ein und trete in einen Dialog. Ein Dialog ist eine bereichernde Dynamik, nicht das bloße Austauschen von Ansichten und Meinungen. Da unsere Dialogpartner ja Verben sind, ist die Sache noch etwas einfacher: die haben ohnehin keine Ansichten und Meinungen.

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Warum sind wir hier? Was hat uns hierher geführt? Die oberflächliche Antwort ist offensichtlich. Vermutlich bin ich hier, weil ich mich intensiv bewegen will.

Wenn wir jedoch eine Antwort nicht als Endstation, sondern als Stufe sehen, können wir Schritt für Schritt, Antwort für Antwort tiefer sinken. Warum bin ich hier? Was hat mich hierher geführt? Was bewegt mich?

Die Frage ist nicht etwas, was man beantwortet und abhakt, sondern eine Gesprächspartnerin. Die Frage ist meine Partnerin für einen inneren Dialog.

Die meisten von uns suchen nicht Antworten, und auch nicht Kunststücke und bloße Ästhetik, sondern Wachstum. Es ist wichtig, die Antwort nicht nur zu haben und zu sagen, sondern sie zu sein. Sie zu verkörpern.

Sonst werden wir zu Denkern, und das Denken kann die Bewegung hemmen. Stellen wir die Fragen und bringen wir die Antworten immer wieder durch Bewegung in Bewegung.

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Wenn wir uns öffnen, inneren und äußeren Bewegungen – etwa dem Wind, der nie derselbe ist, der unaufhörlich eine Melodie singt, eine Geschichte erzählt –, dann werden wir, wenn wir offen bleiben ohne zu Schlussfolgerungen zu springen, dann werden wir ergriffen. Begreifen ist ein Ergreifen. Definieren ist ein Eingrenzen. Wenn wir das Begreifenmüssen loslassen, können wir uns ergreifen lassen. Und damit können wir uns bewegen lassen.

Und hier sehe ich das große Potenzial. Ich muss Bewegung nicht begreifen. Und ich kann es auch nicht, ohne dass ich sie auf ein kleines Frequenzband reduziere, das der denkende Verstand erfassen kann. Aber ich kann mich ergreifen lassen. Bewegen sein. Und damit eine Fülle erfahren, die mich übersteigt, die ich aber auch bin.

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Wir machen nicht auf Selbsterfahrung. Wenn schon, dann auf Ent-Selbstung. Das klingt ein wenig wie Enthauptung, und das ist makaber, doch es trifft auch: Wir machen uns hier nicht zur Hauptsache. Lasst uns die Bewegung zur Hauptsache machen, und dann lasst uns schauen, was passiert.

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Der Körper als Objekt. Als Gefährt. Als Werkzeug unseres Tuns. Ist der Körper ein Objekt? Ein Objekt besitzt man. Man hat es. Man beherrscht es. Man ist es nicht. Wer hat denn hier einen Körper? Zeige mir diesen Jemand, der einen Körper besitzt! Wenn wir konkret schauen, müssen wir entweder realistisch kapitulieren, oder wir müssen uns mit metaphysischen Konzepten behelfen: die Seele hat einen Körper. Oder man lässt das Haben sein und kommt ins Körper-Sein.

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Nicht nur der Körper bewegt sich, nicht nur Energie bewegt sich: auch das Denken bewegt sich. Jeder Prozess ist eine Bewegung. Im Idealfall bewegt es sich integraldynamisch, es kann also durch unsere zehn Verben und deren Verwandte beschrieben werden. Oftmals bewegt es sich jedoch nicht integraldynamisch, sondern muss mit anderen Verben beschrieben werden, etwa hadern, grübeln, ausbrennen, sich erschöpfen, ärgern, fragmentieren. Ja, auch Empfindungen wie Hader, Wut und Ärger entspringen unserem Denken.

Wenn wir nicht das Bewusstsein darauf lenken, nehmen wir die Bewegung des Denkens gar nicht wahr, sondern nur die Äußerungen, die Resultate, die daraus entstehen. Darum ist es essenziell, dass wir, ebenso wie auf der körperlichen Ebene, unser Wahrnehmen auf unser Denken richten und betrachten, was geschieht. Was mache ich da? Differenziere und integriere ich, oder dissoziiere ich, spalte ich ab? Subtilisiere und verwesentliche ich, oder stemple ich ab und vergebe Etiketten? Wahre und weite ich, oder kategorisiere ich und bestätige mir nur meine Konzepte? Nehme ich wahr, was ist, oder nehme ich wahr, was ich will? Woher entspringt dieser Gedanke? Ist er ein Imitat oder Implantat, etwas mir nicht Eigenes, das ich unhinterfragt übernommen habe? Ist dieser Gedanke eine Geschichte, die nicht mir gehört?

Indem wir lernen, uns diese Fragen in Bezug auf unseren Körper und unsere Bewegungen zu stellen – Wo entspringt diese Bewegung? Wie verhindere ich ihre freie Entfaltung? Wie kann ich diese fördern? Ist dies ein Bewegungsmuster, das ich übernommen habe? –, verankern wir sie im Nervensystem und können sie dadurch einfacher auf die subtileren Bereiche und auf das Denken und unsere Interpretationen anwenden.

Wir können alle Prozesse zu ihren Ursprüngen zurückverfolgen. Dadurch dekonstruieren wir ungünstige Muster und legen die dynamische Entfaltung frei.

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Wenn man im Rahmen unserer Arbeit Unbewegtes oder Unentfaltetes entdeckt, dann kommt das in Bewegung. Wie kommt es in Bewegung? Ganz einfach: Lass dich überraschen. Potenzial ist kein Potenzial, wenn es vorhersehbar ist. Vielleicht ist eine Richtung und Tendenz erkennbar, aber du kannst den Entfaltungsprozess nicht lenken.

Nochmals: Lass dich überraschen. Überrasche dich mit deiner eigenen Entwicklung.

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Wir machen also erste neue Schritte. Sie sind ein Versuchen. Wir versuchen. Im Versuchen ist das Suchen drin. Lass dich von deinem Potenzial versuchen. «Ok, mal schauen, was passiert, wenn ich das Potenzial sich so entfalten lasse.» Anders geht’s gar nicht. Wenn wir lernen, machen wir Fehler. Sonst haben wir nichts zu lernen.

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Damit ich eine Grenze wahrnehmen kann, muss ich möglichst genau und differenziert beobachten und empfinden. Und schon sind wir mittendrin. Zuerst nehmen wir Grenzen auf der körperlichen Ebene wahr. Grenzen der Dehnung, Grenzen der Kraft. Doch Grenzen sind nicht so starr, wie wir vielleicht meinen. Man kann in Grenzen hinein öffnen und sie beginnen sich auszudehnen. Und manchmal ist eine scheinbare Grenze noch gar keine Grenze, sondern einfach eine Gewohnheit. Die Gewohnheit geht bis hier und nicht weiter. Aber in Tat und Wahrheit gibt es vielleicht gar keinen Grund, dort eine Grenze zu setzen. Nehmt also eure Grenzen wahr und weitet sie. Grenzen weiten ist weise, Grenzen überschreiten ist – nicht förderlich. (Diesen Satz gibt es auch in einer sich reimenden Version.) Darum praktizieren wir das Weiten zusammen mit dem Wahren als dynamisches Ganzes: wahren und weiten gleichzeitig. Immer beobachtend, empfindend, differenzierend und integrierend, subtilisierend und verwesentlichend. Öffnend aber zentriert, ausdehnend aber zentriert, begegnend aber zentriert.

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Wir erarbeiten uns eine «Stehen-wie-ein-Baum-Struktur», oder stehen wie eine Säule. Oder stehen wie ein Berg. Das ist wunderbar. Wir erarbeiten uns verschiedene Positionen in einer optimalen Ausrichtung. Ganz wichtig. Doch stehen ist immer Bewegung. Alles schwingt, wir sind die Verkörperung von Rhythmen. Stehen ist nicht statisch. Fortwährend finden und suchen wir das Gleichgewicht. Ein dynamischer Prozess.

Doch dann können wir diese statischen Strukturen in Bewegung bringen und den Bewegungsradius, den Bewegungsumfang, das Bewegungs-Spektrum weiten. Wir entdecken die Entspannung in schwierigen Positionen, die nicht so klar von Fuß bis Scheitel ausgerichtet sind. Wir werden zum Bambus im Wind. Biegsam und doch stabil. Wir entdecken die Möglichkeit, mit gezieltem und dosiertem Kraftaufwand Strukturen herzustellen. Wir lernen, zu fallen, ohne aufzuprallen. Dieser Kraftaufwand besteht mehr aus sanften Impulsen zur richtigen Zeit am richtigen Ort, als dass wir uns durchbeißen und etwas aus-halten. Wir halten es eher ein, das Versprechen, das wir am Anfang unserer Reise an uns selbst gemacht haben: ganz zu werden. Das Entscheidende an diesem Kraftaufwand ist, dass wir Gefäß sind. Wir erarbeiten uns ein Geist-Gefäß, das auch in Unruhe Ruhe bewahren kann, in Un-Struktur seine Geist-Struktur wahrt. Wenn wir eine Verspannung spüren, oder Enge, Nicht-Raum, oder ein Stocken, Nicht-Fließen, ist das wunderbar. Die Bruchstellen werden bewusst. Es sind keine Probleme, es sind Potenziale. Und die Tatsache, dass sie sich zeigen, ist das sichere Zeichen dafür, dass sich etwas bewegt. Was ausgelöst wird, wird aufgelöst.

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Wir arbeiten mit Bewegung. Wir kultivieren Bewegung. Wir kultivieren uns durch Bewegung.

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Wir arbeiten mit Bewegung, weil sie gesund und heilend ist. Bewegung freizusetzen bedeutet, Gesundheit freizusetzen.

Wir arbeiten mit Bewegung, weil sie in uns abgelegt und angelegt ist. Wir dekonstruieren Altes und rekonstruieren Neues.

Wir arbeiten mit Bewegung, um unser Bewegungsspektrum zu weiten. So haben wir eine differenziertere Körper-Sprache. Mehr Ausdrucks-Möglichkeiten. Alles Wichtige kann man mit dem Körper sagen.

Wir arbeiten mit Bewegung, um real zu sein.

Aus dem Kopf in den Körper. Aus den Ideen und Konzepten in die Materie. Aus dem Wissen um einen Körper ins Körper-wissen. Zu meinen, etwas verstanden zu haben, und es tatsächlich zu verkörpern, sind unter Umständen zwei Dinge, die weit auseinander klaffen können.

Wir arbeiten mit Bewegung, um Erfahrungen zu machen und diese einzuordnen. Damit Neues entstehen kann, das wir dann verstehen können. Damit wir es stehen – verkörpern – können. Damit wir tragfähige Strukturen errichten können, auf allen Ebenen.

Wir arbeiten mit Bewegung, weil Leben Bewegung ist.

Wir arbeiten mit Bewegung, um uns eine regelmäßige Praxis aufbauen zu können, die uns als Anker dient, wenn wir vom Leben hin und her geworfen werden.

Doch vor allem bewegen wir uns einfach. Weil wir Bewegte sind.

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Wenn wir uns bewegen, erfahren wir ein Ganzes, das (mehr oder weniger) fließt. Das ist eine Erfahrung, die man sich nicht denken kann. Denken geschieht immer in Begriffen, und Begriffe sind Abstraktionen. Wir denken sozusagen in einer Serie von Bildern. Diese werden zwar wieder zu einem Fluss, doch der Fluss besteht aus Einzelnen. Das direkte Erleben des Bewegungs-Flusses ist die Erfahrung der ursprünglichen Ganzheit, nicht einer geschickten Koordination von Einzelteilen.

Mit Bewegung meine ich natürlich die körperliche Bewegung, aber nicht nur. Es ist das, was ich mit den zehn Verben der Integraldynamik beschreibe. Diese laufen auf verschiedenen Ebenen und nicht nur «innerlich» und im «Individuum», sondern ebenso im Austausch mit der Natur und anderen Menschen (mit der Kultur).

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Komplexe Bewegung ist das beste Mittel, um Intelligenz zu fördern.

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Komplex bedeutet nicht kompliziert. Im Gegenteil. Kompliziertes ist meist mehr oder weniger willkürlich Zusammengesetztes. Komplexität hingegen entfaltet sich aus dem Einen (welches nicht ein Singuläres oder Monistisches ist, sondern das Eine Ganze). Man meint nur, es sei kompliziert, wenn man aus der Perspektive von Einzelnem das Ganze verstehen möchte. Aus der Perspektive des Ganzen können wir Einzelnes erforschen, ohne uns darin zu verlieren.

Wie kommen wir zur Perspektive des Ganzen? Sie wäre die ursprüngliche Perspektive. Bewege dich. Und sofort ist das Ganze in Bewegung.

Es geht also nicht darum, immer noch komplexere Bewegungen zu finden. Lass dich von der Ganzheit berühren. Und ein einfaches Öffnen der Schulter wird ein Ausfalten der Ganzheit.

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Subtile Bewegung führt zu subtiler Wahrnehmung.

Subtile Wahrnehmung führt zu subtilem Bewusstsein.

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Natur ist Bewegung. Und Bewegung ist unsere Natur.

Wir bewegen uns in der Natur.

Natur verbindet.

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Wir haben die Tendenz, zu schnell verstehen zu wollen. Verstehen und entstehen blockieren sich. Zuerst muss entstehen, verstehen können wir es später. Es muss erst etwas entstehen können, damit wir nachher etwas zu verstehen haben.

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Lass dich von deiner Größe nicht einschüchtern.

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Schlichte Präsenz und Leuchtkraft.

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Von der Idee immer wieder zur direkten Erfahrung zurückkommen.

Erfahrung ist körperlich.

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Verben sind Kraft. Verben sind nicht lokalisierbar. Und dar-um können sie integral wirken. Ihr Effekt, etwa der Effekt des Öffnens, ist im konkreten Einzelfall natürlich klar lokalisierbar. Die Gestalt der Verben ist jedoch schon das Produkt.

Verben sind die gestaltende Kraft.

Wir gehen zu Recht davon aus, dass, wo eine Lampe leuchtet, auch Strom ist. Doch der Strom leuchtet nicht.

So sehr wir hinter der Diversität der Natur eine gestaltende, evolutionäre Kraft vermuten, die Kraft an sich können wir nie lokalisieren, nie messen. Wir sehen nur ihren Effekt.

So verhält es sich auch mit den Verben. Sie sind die besten Lehrer.

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Wenn das Wasser des Meeres das Licht der steigenden Sonne zu uns bringt, bewegt es das Unbewegte. Das Licht wird gebracht, indem es gebrochen wird. Es lässt sich brechen, so wie die Wellen früher oder später auch brechen. Natur lässt sich brechen. Das gebrochene Licht erstrahlt und bewegt, die brechende Welle entfaltet wunderbare Klänge und eine große Kraft. Nur wir wollen uns auf Biegen und Brechen partout nicht brechen lassen. Wir stehen stabil und arbeiten an dieser Stabilität. Wir bleiben im Open Hands in unserer Struktur. Das ist richtig und wichtig. Das Spannende ist aber, dass wir nicht dann wachsen, wenn wir stehen bleiben, sondern wenn wir fallen, wenn unsere Struktur bricht. Wir werden zum Gefäß für unsere Brüche.

Ein wichtiger Aspekt integraler Bewegung ist, dass wir uns nicht nur in integrierten Positionen bewegen. Wir lassen uns in Positionen und Bewegungen führen, in welchen es für den Körper eine Herausforderung ist, die Struktur zu finden.

Agilitäts- und Stabilitäts-Training bereiten uns auf den Fall vor, dass wir uns plötzlich in einer ungünstigen Position wie-derfinden. Was machen wir dann?

Darum ist auch das Fall-Training ein wichtiger Aspekt. Wer richtig fällt, nutzt den Fall für zusätzlichen Schwung, um vorwärts zu kommen.

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Unsere Talente sind unsere Pioniere, wenn es darum geht, über uns selbst hinaus zu wachsen. Talente haben eine Kraft in sich, sich selbst zu entfalten. Unsere Kreativität, die im Zusammenhang mit unseren Talenten aufscheint, ist genau das, was wir im Moment brauchen, um uns zu entwickeln. Jeder Mensch hat den Weg zu sich selbst und in die Welt in sich selbst. Dieser Weg ist wie ein Fluss, der aus einer eigenen Dynamik nur ein Ziel hat – sich in ein Größeres zu integrieren und dieses zu nähren. Unsere Talente sind dabei das Boot, unsere Kreativität ist der Steuermann/die Steuerfrau.

Wenn wir meinen, wir hätten kein Talent, ist das auf eine bestimmte Weise ein sehr kreativer Gedanke. Denn wir kreieren eine Wirklichkeit, die nicht existiert.

Natürlich suchen wir jedoch eine Form der Kreativität, die integriert statt isoliert. Öffnen wir uns also der Möglichkeit, dass trotzdem Talente in uns schlummern. Es müssen ja nicht gleich Genies sein. Talente genügen. Weiten wir unsere Wahrnehmung, bis unsere Talente darin Platz haben.

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So schreite ich voran von Einsicht zu Einsicht, nur um sie wieder loszulassen, denn während das Einsehen selbst ein empfundener und körperlicher Moment (kairos, der richtige Moment) ist, sind die Einsichten Gebilde der Zeit und des Ver-standes (chronos, die lineare Zeit). Was ich in der Zeit festhalte, wird zur Illusion. Was ich zu sehr verstehe, kann nicht mehr entstehen. Was ich festhalte, verhärtet sich und mich. Wichtig ist vielmehr das Fortschreiten. Denn dieser Fortschritt ist eine Bewegung.

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Das Hier und Jetzt kann nur verkörpert werden.

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Achtsamkeit ist ein Kurzwort für eine körperliche Praxis.

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Je mehr wir das Körper-Sein kultivieren, desto weniger Plätze gibt es im Körper, an denen ich mich oder etwas verstecken kann. Der Körper und das gesamte Wesen sind offen und durchlässig. Verdrängen geht nicht mehr, ganz einfach darum, weil die Stauräume verschwinden, wo wir etwas hin verdrängen könnten. Denn das ist ein wesentlicher Effekt unserer Arbeit: Stauungen abbauen und die Wege wieder zu Wegen werden lassen.

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Zurück zur Quelle. Eine beliebte Aussage. Kann man gegen den Strom schwimmen, zurück zur Quelle? Ich meine nicht den Mainstream, aber ich meine, dass Methoden Flüsse sind. Was mit zurück zur Quelle eigentlich gemeint ist, ist das Bedürfnis nach Sinn. Zurück zum Sinn, um die Methoden vom wuchernden Unsinn zu reinigen. Doch ist der Weg zur Quelle und zum Sinn ein Weg zurück? Geschieht Evolution, indem ich zurück zu Jahrtausende alten Texten gehe, die also zu einer ganz anderen Zeit in einer ganz anderen Kultur in einem ganz bestimmten Kontext geschrieben wurden? Ich meine, das macht nur Sinn, wenn man damit Anlauf holt. Eine Be-Sinnung, die in ein neues Handeln führt.

Jemand, der «von Sinnen ist», produziert Unsinn. Der Unsinn, von dem man sich mit der Be-Sinnung auf die Quellen reinigen möchte, entstand nicht durch den Verlust des Sinns, sondern der Sinne, vor allem der körperlichen Sinne. Durch einen Entfremdungs-Prozess und Entkörperungs-Prozess, weil aus Erleben Konzepte wurden. Darum finden wir den Sinn nicht in alten Texten, sondern in den Sinnen. Zurück zur Quelle heißt also: zurück zu den Sinnen. Das ist die eigentliche Wieder-Be-Sinnung.

Die Be-Sinnung. Zu den Sinnen kommen. Das machen wir hier. Und natürlich ist das ein Reinigungsprozess, in welchem die Un-Sinne aller Art weggewascht werden.

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Der Weg zum Sinn ist der Weg zu den Sinnen.

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Jeder Fluss ist anders. Jeder Fluss hat seine eigene Gestalt, die sich ändert, und die ihr Umfeld ändert. Tiefe Schluchten, weite Ebenen – Flüsse prägen unsere Landschaft entscheidend. Die Landschaft formt den Fluss, der Fluss formt die Landschaft.

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Große Kunst inspiriert uns, hebt uns empor, öffnet uns neue Horizonte, berührt unser Wesen. Sei das ein großartiges Buch oder eine vollendete Bewegung. Beide atmen dieselbe transzendente Schönheit. Und diese Schönheit, die aus der Zurücknahme der Persönlichkeit zu Gunsten der Einen Quelle entsteht, ist auch das, was viele Leute so tief berührt, wenn sie Zeuge der Entfaltung integraler Bewegung werden, als Praktizierende oder als Zuschauer.

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Wenn ich eine Anweisung gebe und ich sehe, dass sie sich verkörpert, dann ist sie gelandet. Dann ist der äußere Impuls durch die Weite des Geistes gereist und ist angekommen, und von da aus kann sich der innere Impuls neu entfalten. Die Weite des Geistes ist keine Ferne, es ist keine Distanz, und es ist kein Labyrinth. Wenn wir das Labyrinth der Wirrungen und Verwirrungen, welche wir als legitime innere Stimmen wahrnehmen, abbauen, bleibt ein weites, offenes Feld. In diesem kann sich auch der innere Impuls entfalten. Eine Geist-Lichtung. Diese Lichtung ist wie ein Kraft-Feld. Es hat Eck-Punkte. Diese Eck-Punkte sind die Verben der Integraldynamik. Sie stehen im Kreis, alle sind miteinander verbunden, bilden ein unsichtbares, dynamisches Netz. Ein Impuls kommt, wird beobachtet, empfunden, differenziert, integriert, subtilisiert, verwesentlicht. Das Ganze immer zentriert, öffnend, weitend, begegnend und ins Zentrum zurückführend. In der Mitte dieser Geist-Lichtung bewegt sich als Verdichtung und Ausdruck dieses Prozesses unser Körper.

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Es geht darum, deine innere Bewegung zu befreien, die dich bereits bewegt. Es geht nicht um Formen, Schablonen, Abläufe, das sind nur Werkzeuge. Kreiere dein Eigenes damit. Denn wir sind nicht alle dieselben. Wir haben nicht alle dieselben Bewegungen in uns.

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Natürlich spielt imitieren im Entfalten der ureigenen Bewegung eine wichtige Rolle. Es ist wichtig, dass das Imitieren in einen größeren Prozess involviert ist: imitieren, integrieren, innovieren. Die Innovation ist die Entfaltung der eigenen Bewegung. Das Imitieren hilft uns, eigene einengende Bewegungsmuster zu erkennen und neue Bewegungen zu entdecken. Altes wird abgebaut, Neues wird aufgebaut. Daraus entsteht schließlich das Eigene.

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Ein Tanzlehrer kann dir die Schritte beibringen, aber er kann dir nicht beibringen, die Musik zu spüren. Er kann dir zeigen, wie du dich bewegen kannst, aber er kann dir nicht beibringen, bewegt zu werden. Es geht nicht, weil es das Natürlichste der Welt ist, Musik zu spüren und sich davon bewegen zu lassen. Musik ist klingendes, bewegtes Empfinden. Man kann dich das nicht lehren, weil es nichts zu lernen gibt. Es gilt nur, die richtige Musik zu finden.

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Unser Hauptfokus liegt darauf, die richtige Stille zu finden, die deine innere Fülle bewegt. Dich zu ermuntern, deine eigene innere Musik zu hören, auf dass du in Bewegung kommst. Deine Sehnsucht wahrzunehmen, die dich bereits trägt, damit du dich bewusst tragen lassen kannst. Allenfalls öffnet sich dein Spektrum. Die Chance ist groß, dass du dich plötzlich zu Musik bewegen kannst, die dich vorher nie bewegt hat. Öffnen sich die Quellen des Empfindens, weitet sich unser Spektrum. Das Spektrum der Bewegung, der Persönlichkeit, das Interaktions-Spektrum, und eben auch die Fähigkeit, sich bewegen zu lassen. Alles andere, die Techniken, die Kultivationsschritte, die Kompetenzen, sind Werkzeuge, um das Schiff intakt (in Takt) zu halten, damit die Reise möglichst lange dauern kann. Auf dass es dich an die unerwartetsten Orte deines Lebens bringe.

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Äußere Formen haben einen Vorteil, der deutlich dafür spricht, sie nicht über Bord zu werfen, sondern sie zu differenzieren und zu integrieren. In einer Anfangsphase (der Phase des Imitierens) führen wir Bewegungen aus, auf die wir selber vermutlich nicht kommen würden. Sie weiten unser Bewegungsspektrum. Deshalb ist es sinnvoll, sich mit den verschiedensten Bewegungsstilen und -methoden zu befassen.

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Wenn wir uns in unserer integralen Bewegungspraxis nicht auf das Imitieren beschränken, wird die Bewegung aus sich heraus entstehen. Ohne unser Zutun, aber mit uns. Ob innerhalb oder außerhalb einer Form. Nicht jede Kreation führt zur Improvisation. Es sind nicht nur Komponisten kreativ, die neue Musik aufschreiben, sondern auch die Musiker, die diese Musik zum Leben erwecken – vielleicht zum hundertsten Mal. Die Phase der Innovation führt nicht nur zu neuen Formen, sondern vor allem zu neuem Sinn. Erst die Innovation entfaltet den Sinn voll und ganz.

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Entstehen und verstehen bilden zusammen die Kette der Evolution. Erst muss etwas entstehen können. Es entsteht als Subjekt. Dann kann ein Schritt daraus heraus gemacht werden, um es beobachtend, das heißt mit Kriterien betrachtend, zu verstehen. Dieses Heraustreten kreiert ein neues Subjekt, welches betrachtet. Es entsteht aus dem vorherigen Subjekt das Objekt, das betrachtet wird. Dieser Vorgang kann sehr schnell gehen, von Mikro-Moment zu Mikro-Moment, oder er kann sich zeitlich ausdehnen und klar versetzt als klar erkennbare Sequenz entstehen. Manchmal braucht es Jahre, um in die beobachtende Perspektive zu kommen. Diese Dynamik braucht Raum. Einerseits kann nur in einem Raum etwas entstehen. Andererseits kann nur im geweiteten Raum eine Außenperspektive eingenommen werden. Ganz wichtig ist: Es muss zuerst entstehen, was wir verstehen möchten. Zu schnelles Verstehenwollen hindert das Entstehen, und damit Bewegung, Wachstum, Erkenntnis und Evolution.

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Es kommen immer wieder Menschen in meine Kurse, die jahre- oder jahrzehntelang irgendwelche fixe Formen gelernt haben und dabei nicht fanden, was sie eigentlich suchten. Beginnen sie dann, integrale Bewegung zu verkörpern, kommt oft eine Phase, in der sie Formen ablehnen. Das ist innerhalb des Lernprozesses sinnvoll und lässt sich mit der pubertären Phase vergleichen, in welcher sich Jugendliche von ihrem kindlichen (und naiven) Elternbild lösen. In diesem Lösungsprozess kann es auch zu Ablehnung kommen, doch ein gesunder Lösungsprozess integriert. Die zeitweilige Ablehnung ist nicht das, was bleibt.

Natürlich lehnen die Studenten in dieser Phase nicht nur Formen ab, sondern rigide, manchmal leere Traditionen und Strukturen, und das macht Sinn. Zu oft werden leere Formen praktiziert, vielleicht virtuos zwar und blendend, aber ohne Innenleben.

Wichtig ist deshalb, dass die Lernenden erkennen, dass die Ablehnung von Formen und Methoden eine Ablösungsphase ist. Das eigentliche Ziel ist, die integrale Bewegung immer zu kultivieren – ob in einer Form oder formlos, das spielt keine Rolle. Wahre integrale Bewegung transzendiert diese dualistischen Ansichten. Schließlich ist bewegen bewegen, oder nicht? Form hin oder her.

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Wir befreien uns mit integraler Bewegung Schritt für Schritt, Atemzug für Atemzug immer ein wenig mehr. Wir befreien uns aber nicht die Himmelseiter hinauf oder auf eine Erleuchtung hin, sondern ins Menschsein hinein. Wir befreien uns von Unbewusstem, das unser Leben ohne uns gestaltet. Wir befreien uns von Reaktionen, die keinen Sinn machen. Wir befreien Strukturen – Körperstrukturen, Gedankenstrukturen, Interpretationsstrukturen, psychische Strukturen –, indem wir Altes dekonstruieren und es wieder dem Fluss zurückgeben, damit es sich rekonstruieren und neu entfalten kann. Wir befreien uns von Auferlegtem, von Zwängen, unhinterfragten Konventionen. Wir befreien uns vom Artigen und werden einzigartig.

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Eine Antwort ist etwas ganz Anderes als eine Reaktion. Eine Reaktion geschieht in festgelegten Mustern. Wenn ein Hund auf einen Befehl reagiert, antwortet er nicht, er funktioniert einfach nach einem Muster. Und wir sind genau so. Jedes Mal, wenn wir nicht antworten, reagieren wir. In dem Maße, in dem wir vergessen haben, dass wir Antwortende sind, sind wir Reagierende. In dem Maße, wie wir uns die Kompetenz zu antworten nicht erarbeitet haben, sind wir Reagierende wie der Hund. Dieses Kommando löst in uns diese Reaktion aus, jenes Wort jene Reaktion. Jedes Mal, wenn ein Moment nicht aus sich heraus mit unserer Beteiligung ganz neu entsteht, wird einfach Vergangenheit reproduziert. Das heißt natürlich nicht, dass alles immer ganz neu ist. Aber es ist ein wesentlicher Unterschied, ob wir re-agieren oder co-kreieren.

Ein Blick, eine Situation, ein Tonfall, das reicht schon, um in uns eine ganze Maschinerie an Mustern in Gang zu bringen und einen Prozess, der eigentlich gar nichts mit der tatsächlichen Situation zu tun hat. Wir reagieren dabei auf etwas und etwas, trennen uns davon und halten das Ganze für die Wirklichkeit. Wir reagieren auf einen Trigger und re-agieren, also re-produzieren ein Muster. Dies geschieht zum großen Teil automatisch und unbewusst.

Eine Antwort hingegen ist etwas ganz Anderes. Eine Antwort hat mit Ver-Antwortung zu tun. Ich übernehme meine Verantwortung für mein Tun. Ich bin nicht das Opfer des Anderen. Ich bin in meinem Zentrum verankert. Niemand zwingt mich zu einer bestimmten Reaktion. Es ist meine freie Entscheidung, ob ich reagiere oder antworte. Natürlich muss ich mir dafür verschiedene Kompetenzen erarbeiten. Das erfahren wir auf deutlichste Weise im Open Hands, der Kampfkunstform des Friedens, die uns Zeit und Raum gibt, unsere Reaktionen aufzuspüren, zu lösen, in ein stabiles und agiles Ganzes wieder einzugliedern durch Dekonstruktion und Rekonstruktion. Open Hands schafft Raum, um Antworten zu lernen, denn antworten ist eine Kompetenz, und die Kernkompetenz ist das Zentrieren und Offensein. Kampfkunst wird zur Kunst des Liebens und des Antwortens.

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In unserer Zeit sind wir überschwemmt mit Information. Wir brauchen Filter, um nicht hinweggeschwemmt zu werden, oder wir sagen ganz bewusst nein zu den Informations-Technologien und -Kanälen. Eine Woche Insel-Dasein ist auch ein bewusstes Abschalten von zu vielen Kanälen und Tätigkeiten. Dass Information nicht einfach zu Transformation führt, ist an allen Ecken und Enden der Welt offensichtlich. Transformation braucht Praxis. Praxis braucht nur so viel Information, damit wir wissen, was wir tun sollen, wenn wir praktizieren. Meiner Erfahrung nach reichen da zehn Wörter – die zehn Verben. Information ist vor allem bei der Interpretation wichtig. In einem integraldynamischen Prozess ist Interpretation Inspiration. Es geht nicht darum, etwas endgültig zu verstehen. Zu praktizieren bedeutet, das scheinbare Ver-Stehen immer wieder in Bewegung zu bringen. Zu praktizieren bedeutet, Fragen immer wieder zu stellen und den Antworten zu lauschen. Diese Möglichkeit gibt uns eine regelmäßige Praxis. Wir lassen uns von diesen Antworten gestalten. Oder anders gesagt, die Antwort kommt in einer Gestalt. Eine Gestalt ist eine Aus-Formung. Eine Aus-Formung ist das pure Gegenteil einer In-Formation. Die Aus-Formung geschieht von innen her. Sie ist einzigartig und macht uns zum eingebetteten Individuum mit unserer ureigenen Gestalt. Die In-Formation kommt von außen und macht uns zum Teil einer Masse. Wir stehen in-formiert in Formation. Lassen wir uns aus-formen.

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Wir machen keine Entdeckungen, indem wir uns in vertrautem Gebiet aufhalten. Wir machen keine Entdeckungen, wenn wir etwas nicht an uns heranlassen, indem wir es gleich interpretieren und erklären und somit in unser Weltbild zwängen. Es geht in diesem Prozess nicht darum, dass wir unser Weltbild bestätigen. Was hätte das für einen Sinn? Es ist eine Qualität großer Menschen, nicht alles erklären zu wollen, nicht alles in eine Gestalt pressen zu müssen. Nicht aus Arroganz, sondern aus Erkenntnis. Sie können sich im Unbekannten aufhalten und es so lange auf sich wirken lassen, bis es sich verkörpert, bis daraus irgendeine Form von Bewegung im weitesten Sinne wird.

Es ist wie bei einer großartigen Geschichte: Eine großartige Geschichte wird nicht dadurch definiert, dass sie alle Fragen, die sie aufwirft, beantwortet. Und diejenigen, die sie beantwortet, werden anders beantwortet, als man es erwartet hätte. Die Antwort erhält eine andere Gestalt als diejenige, die man erwartet. Sie ist großartig, weil sie nicht alles auf eine Lösung reduziert. Sie ist großartig wegen ihres Spektrums an Innenwelt, an Tiefe und was daraus entsteht. John Keating, ein englischer Poet der Romantik, hat das so formuliert:

«… und plötzlich wurde mir klar, welche Qualität die großen Menschen [...] ausmacht. Ich meine die Fähigkeit des Aushaltens, das heißt die Fähigkeit, Unsicherheiten, Geheimnisvolles oder Zweifel zu umfassen, ohne sie faktisch und mit dem Verstand erklären zu müssen...»

… Ohne den Gestalten eine andere Gestalt überstülpen zu müssen. Ohne das Gestaltlose in eine Gestalt zu zwängen.

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Bewegungsfreiheit und Freiheit in der Bewegung. In der Sprache bedeutet Freiheit nicht nur die Fähigkeit, Worte zu kennen, sondern auch, sie passend und nuanciert einzusetzen. Wenn jemand nur über einen begrenzten Wortschatz verfügt, wird seine Kommunikation eingeschränkt sein.

Musikalische Freiheit erlangen wir nicht, indem uns jemand eine Gitarre in die Hand drückt und sagt: Spiel einfach. Wir lernen vielmehr das Handwerk des Instruments, die Gesetze der Musik, und je mehr wir diese Dinge verinnerlichen, desto freier können wir uns musikalisch bewegen und ausdrücken – und damit andere Menschen berühren.

Ähnlich verhält es sich mit der körperlichen Freiheit: Ein flexibler, agiler, starker Körper erlaubt uns, uns frei und ohne Einschränkungen zu bewegen. Im Geist hingegen bedeutet Freiheit, über ein breites Spektrum von Ideen, Emotionen, Denkweisen und Interpretationsmodellen zu verfügen, um so unsere Gedanken und Entscheidungen bewusst formen zu können.

Eine Kampfkünstlerin oder eine Tänzerin, die ihr Handwerk meisterlich beherrscht, erlebt Freiheit in ihrer Bewegung, auch in der gemeinsamen Bewegung, dem gemeinsamen, di-alogisch-dynamischen Tanz um ein gemeinsames Zentrum.

Auf der Ebene des Geistes ist die Freiheit eng mit der Fähigkeit verbunden, die eigenen Gedanken und Emotionen zu verstehen, zu lenken und sein zu lassen, ohne automatisch darauf zu reagieren. Ein mental starker Mensch ist in der Lage, auch in schwierigen Situationen klar zu denken, neue Perspektiven zu erkennen und mit Ruhe und Weisheit zu handeln. Weisheit ist die «innerste Bewegung», im Gegensatz zu oberflächlichen Reaktionen.

Die Kampfkunst ist nicht nur die Kunst des Kämpfens, sondern auch die Kunst der Freiheit und des Friedens. Ein Meister in einer Kampfkunst lernt nicht nur, wie man kämpft, sondern auch, wie man den Konflikt transformiert und dadurch integriert. Praxis einer Kampfkunst führt nicht nur zu physischer Stärke und innerer (faszialer) Kraft, sondern auch zu innerer Gelassenheit.

Wenn wir durch Praktiken der Freiheit erfahren, dass wir in ein Ganzes hinein lassen und loslassen können, kann Gelassenheit in uns einziehen. Aus dieser Gelassenheit entfaltet sich die Freiheit ins Leben.

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Es geht nicht um glauben, es geht um erfahren. Glaube etwas lieber nicht, wenn der Glaube dazu verleitet, die Erfahrung zu ersetzen. Es geht immer ums Erfahren, beziehungsweise um das Ermöglichen einer Erfahrung.

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Wenn wir uns als Erwachsene wundern, dann legen wir die Stirn in Falten. Denn wir verstehen etwas nicht. Sich wundern hat eher einen negativen Beigeschmack. Ein Kind macht das Gegenteil. Wenn es sich wundert, reißt es die Augen weit auf und staunt. Es hat eine völlig offene Wahrnehmung, ohne dass ein konditionierter Interpretationsmechanismus alles schon unmöglich macht, bevor es überhaupt entsteht.

Dieses Wundern können wir wieder lernen. Dann können Wunder geschehen. Eine offene, unvoreingenommene Wahrnehmung, die nicht bereits vorgibt, was sie wahrnehmen will. Nehme ich das Öffnen der Integraldynamik wirklich ernst, bin ich in einem konstanten Zustand des Mich-Wunderns. Ich kann mich nicht ausruhen auf Erkenntnissen, auf Weltbildern, und möchte das auch nicht.

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