Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
Yoga, Taiji (Tai Chi), Qigong, Therapien und mancherlei Esoterisches: da tummelt sich was im heutigen Bewegungssektor und in seinen wilden Zeiten der letzten Jahrzehnte. Martin Schmid hat vieles erlebt und hält es mit grosser erzählerischer Kraft, viel Humor und einer immer wieder berührenden Tiefe und Einfachheit fest. Diese Episoden werden dir bekannt vorkommen und gleichzeitig werden sie ganz neue Qualitäten im Bekannten freilegen. Vor allem aber sind sie ein Lese-Genuss, der dich bewegen wird.
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Seitenzahl: 119
Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
Viele Vorworte
Den Tiger umarmen und zum Berg zurückkehren
Hallende Stille
Öffne mich
Lichtgestalten oder Licht gestalten?
Die Poesie des Werdens
Ein Fluss ohne Grenzen
Das Hündchen der Meisterschaft
Pro-Fit. Ganz einfach.
Die innere Form
Heilige Liebe, Leidenschaft und Oliven
Einmümmeln hilft
Bitte berühren
Wahnsinn!
Komm näher, aber sag nichts
Werdend, wie ein Kind
Peitschen und Kompass
Der Kompass zur Quelle
Yes, Sir!
Himmlisch!
Filosofo
Der Türtrommler
Die innere Musik
Ein Hoch auf Jimmy
Der Körper vergisst nicht
Ganz. Wenig reicht.
Das kann ich nicht kenn ich nicht
Skywalker. Luke Skywalker
Salamba Sarvangasana
Federndes Füchslein
Zur Weihnachtszeit: Umwege zum Licht
Am Fluss zu Hause sein
Postludium: Nur der Wind
Der Erzähler
Die Episode generiert nicht Wissen über Fakten und generelle Aspekte der Welt, sondern erinnert an persönliches, individuelles Erleben. Die Episode beschreibt einen individuellen Einzelfall. Das Periodische und das Allgemeine sind ihre Gegenstücke. Die Episode ist ein Hinzukommendes, meist eine Nebenhandlung. Sie kann ohne vorherige oder folgende Episode auskommen, ist in sich abgeschlossen und stellt etwas vor, was erst übergeordnet das Ganze gestaltet. Nicht selten jedoch macht sie dabei im Erzählfluss bereits Verknüpfungen von scheinbar nicht kausal Zusammenhängendem und ist daher, obwohl punktuell, auch bereits kokreierender Ausdruck einer vernetzenden Gesamtbewegung. Den nicht dabei Gewesenen bietet sich in Erzählungen von Episoden die Gelegenheit, die Selbstwahrnehmung des Involvierten zum Zeitpunkt des Erlebens und des Erzählens zu erkunden, wobei diese beiden verschiedenen und sich vereinenden Zeitpunkte bereits eine kreative Spannung kreieren. Vielmehr aber noch bietet der Erzählstil an, die Episoden mit eigener Erfahrung zu verknüpfen und somit ein viel Größeres als das Individuelle und Punktuelle sichtbar zu machen. So generiert die Episode doch Wissen über Fakten und Aspekte, aber über die Welt des Unsagbaren: Unsagbar nicht daher, weil sie in anderen Sphären weilte, sondern weil sie schlicht und einfach nicht existiert, bis sie im konkreten Moment des Begegnens von Vergangenheit und Gegenwart, von Erzählenden und Zuhörenden als Raumfluss und Gesamtbewegung entsteht.
– Prof. Dr. Dr. Lukas Semmelwein
Sind Vorworte wie Vororte? Das, was man sieht, bevor man ins Zentrum kommt? Meist sind sie ja nicht die schönsten Orte, oder die spannendsten. Ich halte mich daher kurz.
Aber ich muss den Gedanken doch noch kurz weiterspinnen, sonst hätte ich ihn nicht beginnen müssen. Sind die Vororte nämlich schön, hält man sich vielleicht darin auf, und vielleicht kommt man nie bis ins Zentrum. Vielleicht ist das auch kein Verlust. Vielleicht gibt es auch gar kein Zentrum.
Ich glaube, diese Episoden sind Vororte.
Nun erst einmal: Es geht in dieser Sammlung von Episoden nicht um mich. Es geht darum, was Bewegung so alles bewegen kann, wenn sie tatsächlich ein Weg ist. Exemplarisch aufzeigen soll sie. Es geht aber vor allem darum, was diese Exemplare in der Leserin/ im Leser bewegen.
Da wir dies geklärt haben: Für alles gibt es eine Zeit. Sagt man. Es gab eine Zeit, in welcher ich mir monatlich Geschichten aus meiner Bewegungswelt notierte. Es war die Zeit der Werkstatt, eines Bewegungsraums, den ich geleitet hatte, mit einer begleitenden App. In jener App zu jener Zeit erschienen die meisten der Geschichten, die hier versammelt sind.
Die Werkstatt ist nicht mehr. Das ist gut so. Denn ich bin nomadisch, so wie meine Bewegung. Ein Fluss, der sich immer weiter bewegt. Ein Bewegungsfluss. Die Immobilie war mir zu immobil. Ich reise mit leichtem Gepäck. Mein Setting, um Bewegung zu vermitteln, muss im Freien sein. Meine Erfahrung von Bewegung ist die des Eingebundenseins und des Bewegtwerdens.
Die App ist auch nicht mehr. Sie war an die Werkstatt gebunden und wurde damit obsolet. Was geschieht also mit den Geschichten? Soll etwas mit ihnen geschehen? Haben sie einen Wert?
Genau das mögen die geneigten Leserinnen und Leser selbst entscheiden. Ich weiß nur, dass sich die Geschichten immer großer Beliebtheit erfreuten und viele positive Reaktionen generierten.
Das Leben ist noch nicht fertig, und damit mein Bewegungsweg auch nicht. Aber für den Moment zumindest ist das erste Bündel Geschichten erzählt. Es drängen keine neuen an die Oberfläche, obwohl ich natürlich fortlaufend neue erlebe und auch weiterhin schreibe, als ginge es um mein Leben. Vielleicht braucht es wieder einen guten Abstand, um neue Episoden zu teilen.
So finden offene Spurenleser und Spurenleserinnen hier Geschichten versammelt, auf die ich zurückblicken kann, und die zum Teil weit zurück reichen. Auf dass sie als Fährten zu neuen Orten der Gegenwart führen.
Martin Schmid, 2021
Wir waren einfach so von Ladakh im indischen Himalaya nach Kalifornien geflogen, mit einem Zwischenstopp in Hong Kong. Es wäre uns nicht in den Sinn gekommen, uns bei Chris vorher zu melden. War aber auch nicht so einfach in jenen Tagen der Prä-Internet-Zeit. In Los Angeles hatten wir den Zug genommen und waren nach Solana Beach gefahren. Hatten die Schule gefunden. Waren mit unseren Himalaya-Rucksäcken und zerrissenen Klamotten einfach reingelatscht, mitten in eine Privatstunde.
Ach, das Geschenk der Jugend. Einfach tun, ohne groß zu überlegen und zu planen.
Chris hatten wir schon gekannt, er war schon in der Schweiz gewesen, um Push Hands zu unterrichten. Er hatte uns so Eindruck gemacht, dass wir beschlossen hatten, zu ihm zu gehen. Jetzt waren wir in Kalifornien, und er glücklicherweise auch. Er hätte auch gerade irgendwo sein können, dann wäre Solana Beach unser Nirgendwo gewesen.
Von nun an durften wir zuschauen, in seiner «Senior Advanced Class». Sie waren die letzten, die kamen, nach allen Klassen am Morgen und am Abend, bei denen wir mitgemacht hatten. «Senior Advanced», das klang schon sehr eindrücklich. Und was wir, meine Frau und ich, sahen, war es auch. Nicht so sehr das Können, sondern das Wollen. Wenn mir eines klar wurde, in den Wochen, in denen ich nur zuschaute, bis wir dann auch als Gäste in die Senior Advanced Klasse eingeladen wurden, war es, wie verschieden Push Hands sich verkörperte. Einerseits hatte dies mit den Fähigkeiten zu tun, andererseits mit der Statur, und vor allem mit der Persönlichkeit. Durch jeden und jede entfaltete es sich anders. Manchmal harmonierte diese Andersartigkeit, manchmal kollidierte sie auch. Immer aber war ein Geist zu spüren, etwas über sich selbst Hinausweisendes verwirklichen zu wollen, nicht bloß sich selbst.
Dieses Zuschauen und das Entdecken der Andersartigkeit hat mich zutiefst geprägt. Hätte ich von Beginn an einfach Patterns, sich wiederholende Mikro-Formen zu zweit gelernt, hätte sich etwas ganz Anderes daraus entwickelt. Doch diese Diversität im gemeinsamen Ausgerichtet-Sein, das wohlwollende Anders-Sein, die bunte Gemeinschaft, hat mich für immer verändert.
Als wir dann selber mitmachen durften, wurde mir auch klar, was für ein persönliches Bemühen dahinter steckt. Das eigene Ich nicht in den Vordergrund zu stellen, sondern den Fluss, das Einssein im Zweisein, die eigene Struktur zu behalten und sie gleichzeitig zu verbinden, das ist Arbeit. Kultivations-Arbeit, persönliche Arbeit.
Oftmals sind ich und meine Frau unter den Palmen an unserem Übungsplatz gesessen und haben geweint, einfach so. Weil es so schön war, und weil es so anspruchsvoll war. Durch die Körperarbeit – acht bis zehn Stunden täglich, ein halbes Jahr lang – lösten sich in den Tiefenschichten Dinge, die sich manchmal im Lösen offenbarten, oftmals aber auch dann noch unerkannt blieben und erst im Rückblick sich zeigten. Dadurch, dass sie fehlten.
Ich blicke dankbar auf eine Gemeinschaft zurück, die es in den neunziger Jahren so gab. Sie hatten uns wirklich geliebt, die zwei frisch Verheirateten aus der Schweiz, die eine ganze Weile gebraucht hatten, um herauszufinden, wie man das Wort «Sword» ausspricht. Und ich frage mich, was aus ihren Einzelnen wohl geworden ist. Ich weiß nur, was aus mir und meiner Frau geworden ist. Menschen, die immer noch werden, unaufhaltsam. Wenn erwachsen werden bedeutet, dass man sich im Leben einrichtet, dann sind wir noch nicht erwachsen geworden. Tag für Tag «investiere ich ins Verlieren», wie es Cheng Man-ch‘ing formuliert hatte, dessen Linie in jener Klasse weiterverfolgt wurde, und die ich im Grunde immer noch kultiviere, auch wenn andere Flüsse daraus entstanden sind. Ich stolpere vorwärts, tappe visionär im Dunkeln, verliere meine Struktur und finde sie wieder… Damals, an jenem ersten späten Abend, als die Seniors praktizierten und wir zuschauten, geschah mein Tiger-Moment. Der Moment, der einen endgültig auf die Reise schickt, und bei dem es keine Rückkehr mehr gibt. Auch wenn es im Taiji heißt, «den Tiger zu umarmen und zum Berg zurück zu kehren», und ich diese Position täglich praktiziere: Es ist ein Prozess, der nie zu Ende ist.
Unsere Reise hatte damals in den Bergen begonnen, im Himalaya. Seitdem umarme ich den Tiger. Seitdem kehre ich zurück. Zum Berg, zu meiner inneren Kraft, zu meiner Unerschütterlichkeit.
Einmal, in Korsika, an einem lauen Herbstabend. Unser Grüppchen hatte sich zusammengefunden, um zu speisen, zu reden, zu lachen und zu diskutieren. Eine Diskussion zwischen einer Teilnehmerin und einem Teilnehmer wurde engagierter. Über was sie diskutierten, weiß ich nicht mehr. Auf dem Höhepunkt, das heißt kurz vor der Eskalation, an jener Stelle, an der man eingestehen müsste, dass man eigentlich über gar nichts diskutiert hat, sondern nur seine Position verteidigte, also einen Standpunkt einnahm statt sich zu bewegen, wurden sie und wir alle still.
Die Stille dauerte eine Stunde. Sie war nicht bedrückend. Sie war einfach still. Und bewegend.
Kürzlich hatte mich ein Teilnehmer von damals darauf angesprochen. «Weißt du noch damals, in Korsika vor so vielen, zehn oder mehr Jahren, diese Stille.»
Ich wusste noch. Sie hallt nicht nur in ihm noch lange nach.
In einer Ausbildung, ein paar Jahre vor dieser Stille, hatte ich schon einmal etwas Ähnliches erlebt. In einer Gruppe von etwa 75 Leuten hatten wir eine psychodynamische Übung gemacht. Ich erinnere mich nicht mehr an die Übung selbst. Ich erinnere mich, wie wir danach alle am Boden saßen und die Lehrer und Assistenten den Wänden entlang auf Stühlen. Es kam die Zeit für ein «Sharing», die Gelegenheit zum Erlebnisbericht und Austausch.
Niemand sagte etwas. Alle waren still. Nicht, weil es nichts zu sagen gegeben hätte. Wir waren gemeinsam still, weil es die richtigste Form des Austausches war. Weil wir damit die Tiefe und Fülle des Lebens und der Gemeinschaft ausloteten.
Gemeinsam still. In diesen Formen der Stille fand der Dialog am Ende der Diskussion statt. Ein Dialog, der bis heute wirkt.
Manchmal ist es das größte Geschenk, wenn man gemeinsam still sein kann.
Ein Geschenk nenne ich das deshalb, weil beide Situationen nicht geplant waren. Es waren keine «Silent Retreats», bei denen Stille das Gebot waren. Diese habe ich auch erlebt, doch ironischerweise war das größte Geschenk in einem solchen Retreat das Geschenk eines (verbotenen) Gesprächs («Das darfst du nicht», waren ihre ersten Worte. Gibt es einen besseren Einstieg in ein Gespräch), draußen, auf der Parkbank, bis in alle Nacht.
Das Wichtige ist, offen zu sein, damit solche Momente Gestalt annehmen können. Das Unerwartete erwarten, ohne es anzustreben oder konstruieren zu wollen. Manchmal finden wir Stille in der Weite des Horizontes oder im Rauschen des Windes. Manchmal finden wir sie im größten Durcheinander einer Großstadt. Wir können sie überall finden, weil sie unser Fundament ist. Sie ist immer da.
Und wenn diese Stille, die immer da ist, in Gestalt eines anderen Menschen auf uns zukommt, ist dies das größte Geschenk. Den eigenen innersten Kern in den Augen eines anderen Menschen zu sehen, in einer Berührung zu spüren, im Atem des Anderen zu hören. Werden wir gemeinsam still, verschwindet die oberflächliche Trennung zwischen uns. Die Unendlichkeit wird Gegenwart, die Erinnerung wird Zukunft, ein kurzer Moment währt immer und bringt die Ewigkeit in Schwingung. So werden wir unsterblich.
Denn das waren wir schon immer.
Kürzlich saß ich im Zug, als eine alte Dame durch den Waggon gewackelt kam und vor mir stehen blieb. Sie streckte mir zitternd eine PET-Flasche Rivella (unser Nationalgetränk) entgegen und frage mich: «Könnten Sie mir das öffnen? Sie sehen nach mehr Kraft aus als ich.»
Ich lachte und öffnete die Flasche für sie. Sie bedankte sich herzlich und wackelte wieder davon. Während eine junge Frau neben mir «so süüüüüß» hauchte, schaute ich ihr nach und stellte fest, dass sie einen weiten Weg zu mir gewackelt war, durch den ganzen Waggon und dann noch weiter. Sie ist dabei an Dutzenden von Menschen vorbeigegangen, die auch «nach mehr Kraft» ausgesehen hätten, jedenfalls in meiner Wahrnehmung.
Was hat sie dazu bewogen, mich auszuwählen? Vielleicht war sie ein Engel, und nur unterwegs, um mich wissen zu lassen, dass es einen Platz für mich im Leben gibt. Ich werde mich daran erinnern, sollte ich jemals wieder einmal meinen Platz suchen und nicht finden.
Ich könnte mich geehrt fühlen, dass sie mich auserwählt hatte. Für mich war es jedoch eher ein Moment des Scheiterns. Meine Praxis ist eigentlich, nicht «nach mehr Kraft» auszusehen, schon rein körperlich nicht. Das hat seinen Ursprung in den Kampfkünsten, wo es förderlich ist, wenn man nicht auffällt. Aus der Masse dermaßen herauszustechen ist nicht in meinem Sinn. Aber scheitern ist okay. Es ist meine tägliche Praxis.
Scheitern ist ein interessantes Wort. Es kommt von «in Stücke brechen», wie ein Scheit Holz, das gebrochenes Holz ist. Differenzieren, ein wichtiges Verb der Kultivationsdynamik, trägt dieses Scheitern in sich. Wir müssen erst differenzieren, was wir integrieren wollen. Und das ist nicht immer angenehm.
Ich wäre gerne der daoistische ungehobelte, naturbelassene Holzklotz, den niemand beachtet und der deshalb seinen Frieden hat.
Durch meine Taiji-, Qigong- und Yoga-Praxis lerne ich zu scheitern. Erfolgreich zu scheitern. Das praktiziere ich seit Jahrzehnten. Jede Taiji-Form, jede Qigong-Bewegung, jeder Yoga-Fluss, jede integrale Bewegung ist, wenn sie gelingt, ein erfolgreiches Scheitern. Nicht weil die Bewegungen nicht perfekt sind (obwohl sie das nicht sind), sondern weil immer differenziert wird. Weil es nicht das Ende ist. Und weil das Scheitern in der Natur der Sache liegt. Jeder Versuch zum Handstand ist, früher oder später, ein erfolgreiches Scheitern. Für ein paar Sekunden Erfolg braucht es Hunderte von Stunden des erfolgreichen Scheiterns. Ein Scheitern, das weitergeht. Scheitern als differenzieren, das subtilisiert wird, verwesentlicht.