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Mehr als 30 Jahre intensiver Auseinandersetzung mit Bewegung umfasst dieses Buch, dargestellt an den so zentralen Korsika-Kursen, den MOVEMENT ADVENTURES CORSICA. Es vereint als Sammelwerk die bereits erschienenen Korsika-Bände (Bewegung als Dialog, Stille Fülle volle Stille, Voll Mensch sein, Weites Herz weiter Geist) und gibt ihnen einen Rahmen, durch welchen das grosse Bild, die grosse Bewegung, klar hervortritt. Martin Schmid entwirft ein Bild von Bewegung, das den ganzen Menschen einbezieht und alle westlichen und auch östlichen Herangehensweisen nicht nur integriert, sondern transzendiert. Ob Sie in einer Tradition praktizieren (Yoga, Taiji, Qigong, Kampfkunst, Zen-Meditation, Vipassana) oder eine neuere westliche Bewegungs-Form: Ihnen werden in diesem Buch Türen geöffnet, von denen Sie vermutlich nicht wussten, dass sie existieren. Was dieses Buch bietet, ist keine objektive, streng strukturierte wissenschaftliche Abhandlung, sondern Martin Schmids sensitive Subjektivität, die uns alle der eigenen Bewegung und ihrer Schönheit, Tiefe und Einfachheit hin öffnet.
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Seitenzahl: 585
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Reise zum Unmöglichen
Was bisher geschah
Der Weg
Zum Unmöglichen
Bewegung als Dialog
Vorwort
Die Reise
Tag 1 zentrieren
Tag 2 öffnen
Tag 3 ausdehnen
Tag 4 begegnen
Tag 5 integrieren
Abschied
Stille Fülle volle Stille
Vorwort
Prolog
Der Weg nach Nirgendwo: zentrieren durch bezeugen
Spuren und Wege: öffnen durch empfinden
Endlich unendlich: ausdehnen durch differenzieren
Eine Traumreise in die Realität: begegnen durch subtilisieren
Die Würde des letzten Tages: integrieren durch verwesentlichen
Epilog
Voll Mensch sein
Vorwort
Zum Einstieg: Vom Da-Sein zum Ja-Sein
Tag 1 Bleib stehen…
Tag 2 …dreh dich um…
Tag 3 …schau der Sehnsucht ins Gesicht…
Tag 4 …und lass dich tragen, so weit sie reicht.
Tag 5 Bis in die Welt der Welt
Weites Herz weiter Geist
Vorwort
Präludium
Einführung
Tag 1 Willkommen heißen
Tag 2 Lass deinen Körper lächeln
Tag 3 Die dritte Kraft
Interludium
Tag 4 Die Kraft des Begegnens
Tag 5 Würdigen
Postludium
Übungen
Kein Buch, ein Anhang
Zur Integration
Eine Skizze des Raums
Integration ist Raum
Sehnsucht und Kreativität
Ganz. Wenig reicht.
Realität verändert
Krieger im Garten
Das Lied der Flüsse
Glossar
Dies ist die Gesamt-Ausgabe eines fünfjährigen Prozesses, welcher 15 Jahre umfasst und in vier bisherige Bücher mündete. Diese vier Bücher finden nun mit ergänzenden Teilen zu einem Ganzen zusammen.
In Bewegung als Dialog öffneten wir uns der Möglichkeit, dass Bewegung ein Dialog sein könnte. In Stille Fülle volle Stille erforschten wir spezielle Dialog-Paare, die scheinbar gegensätzlich sein können, etwa weiten durch differenzieren. Diese Dualismen und ihre Beziehung erforschten wir, um eine Dynamik in Gang zu bringen. Diese setzten wir in Voll Mensch sein in Beziehung zu unserem Menschsein. Menschsein bedeutet das Spektrum des Menschseins, auch wenn wir das in einer Woche natürlich nur punktuell eröffnen und erforschen konnten. Doch so es ist wie mit jedem Impuls: Wenn man ihn aufnimmt und weiterführt, entwickelt er eine Dynamik. Wenn man ihn konsumiert, wird er innert Kürze wieder ausgeschieden, und weg ist er. Dieses volle Menschsein zentrierten wir in Weites Herz weiter Geist im Herzen, wo wir aber auch die Dreiheit einführten und erforschten. Dies geschah einerseits, um einen neuen Reduktionismus auf einen Monismus (allein das Herz) zu verhindern. Zu diesen Monismen haben wir eine starke Tendenz, sei dies im Monotheismus, im Bemühen um eine Weltformel, die noch gefunden werden muss, im naiven Glauben «alles ist eins», in der Konzentration auf Wachstum und Marktwirtschaft oder auf eine einzige Bewegungs-Methode, die alles lösen und heilen können soll. Doch die Einführung der Dreiheit geschah nicht nur, um etwas zu verhindern, sondern um uns dem eigentlichen Tanz der Realität zu öffnen. Nun können wir dadurch eine Integration anstreben, die von Anfang an nicht von einer Isolation ausgeht.
Die Korsika-Buchreihe beschreibt den Weg, welchen wir in fünf aufeinanderfolgenden Jahren in den Korsika-Kursen gingen. Dieser Weg ist ein Ausschnitt, der sich in dieser Form nie wiederholen wird. Die Bücher zeigen auf, wie sich die Integraldynamik in integrale Bewegung entfaltet, und wie diese den Menschen bewegt.
In dieser Form wird er sich nicht mehr wiederholen, weil natürlich einerseits jede Kurswoche anders ist, weil andere Menschen, oder dieselben Menschen in anderen Lebensphasen, daran teilnehmen. Die Inhalte entfalten sich situationsbezogen und im Dialog, also in einem kreativen, offenen Prozess. Manchmal ist dieser Prozess auch von scheinbaren Brüchen begleitet, doch bei genauerem Hinsehen entfaltet sich auch da ein Sinn. Doch ein Dialog hat noch eine andere Grundzutat, ohne welche sich kein Dialog entfalten kann: die Ausrichtung. Und das ist auch der andere Aspekt im großen Entfalten der Korsika-Wochen: Jede Woche ist auch von der inneren Ausrichtung und der daraus folgenden Ausgestaltung verschieden. Die Ausrichtung entfaltet sich nach der Köbi-Dynamik, der wir im Folgenden immer wieder begegnen werden. Diese Ausrichtung erlaubt es uns, die Gegenwärtigkeit des Augenblicks in der Tiefe auszuloten, ohne uns darin zu verlieren und «Gefangener des Augenblicks» zu werden, wie John O’Donohue es so treffend bezeichnet, wenn man in der Beliebigkeit heimatlos ist.
Die Entwicklung der Korsika-Wochen ist innerlich folgerichtig und stringent. Die Bücher zeigen diesen differenzierteren Weg etwas auf.
In Bewegung als Dialog haben wir erforscht, dass Bewegung ein Prozess ist, der nicht isoliert für sich geschieht. Vielmehr entsteht Bewegung als eine vorläufige Antwort. Sie bewegt sich in Richtung Integration. Sie integriert auf der körperlichen Ebene – vormals isolierte Einzelteile werden wieder zu einem stimmigen Ganzen eingegliedert – als auch Qualitäten, die wir behelfsmäßig mit Körper, Energie, Wahrnehmung und Interpretation, oder Körper, Psyche, Seele und Geist bezeichnen könnten. Sie integriert aber nicht nur in sich, sondern in etwas Größeres: in etwas über sich Hinausweisendes, in eine Gemeinschaft, ein Miteinander, ein Wir. Denn das Ausdehnen ist sich nicht selbst genug. Es führt in die Ausgeglichenheit des Begegnens. Wir haben in Betracht gezogen, dass dieses Wir der eigentliche Ursprung aller Bewegung sein könnte. Wie ein Magnet zieht es uns als scheinbar Einzelne wieder zu sich. Eine Bewegung, die über sich selbst hinausweist, ist eine Geste. Ein wichtiger Aspekt für den begegnenden Dialog ist das Vertrauen.
In Stille Fülle volle Stille haben wir uns Möglichkeiten geöffnet, wie dieser Integrations-Prozess optimal ablaufen könnte. Wir haben entdeckt, dass jede Phase zwei scheinbar getrennte Kräfte vereinen kann, beziehungsweise jede Phase durch zwei gegensätzliche Kräfte vertieft werden kann: beobachten und zentrieren, empfinden und öffnen, differenzieren und weiten, subtilisieren und begegnen, verwesentlichen und integrieren. Dies ist die so genannte kleine Verzahnung der beiden Dynamiken, welche die Integraldynamik ausmachen.
Interessant dabei ist, dass zum Beispiel ausdehnen durch differenzieren scheinbare Gegenkräfte sind. Dieses Zusammenspiel macht den Moment in sich ganz, schafft in der Dynamik eine Ruhe und in der Weite eine Tiefe und führt in zwei zentrale Qualitäten, die wir im nächsten Buch betrachteten.
In Voll Mensch sein geht es um ein entspanntes Konzentrieren und ein offenes Fokussieren. Diese zwei Aspekte sind ganz zentral, gerade und vor allem, wenn wir im Ausdehnen ausdehnen. In der Korsika-Woche, aus welcher dieses Buch entstanden ist, widmeten wir uns vor allem dem Spektrum, welches sich entfalten kann: den sieben Quellen des Empfindens und Erkennens. Unser gesamtes Potenzial ist in diesen sieben Quellen angelegt, unsere gesamte Vergangenheit ist darin abgelegt. Zusammen haben das Abgelegte und das Angelegte das Potenzial, ein unglaublich reiches Hier und Jetzt zu entfalten. Reisen wir durch die Chakras oder durch den Kleinen Himmlischen Kreislauf (die vedische beziehungsweise chinesische Ausformung dieser Quellen), reisen wir durch unseren gesamten Lebensweg. Denjenigen, der bereits hinter uns ist, und denjenigen, der in uns als Potenzial angelegt ist. Und das immer im Jetzt.
Ein wichtiger Aspekt dabei ist der Zeithorizont. Die erste Quelle am Damm ist das Hier, die siebte Quelle am Scheitel das zeitfreie Jetzt. Zwischen dieser Verbindung entfalten sich verschiedene Zeit-Qualitäten und damit Dimensionen des Seins: das gar nicht zeitfreie Jetzt-und-Jetzt-Gleich der zweiten Quelle im Becken, die lineare Zeit mit Vergangenheit und Zukunft in der dritten Quelle, die zeitfreie Weisheit des Herzens, die den Raum transzendierende Kraft der fünften Quelle am Hals, wenn sie die Trennung von innen und außen auflöst. Die Kraft der sechsten Quelle, mit ihrer Subtilsicht und Weitsicht scheinbar Getrenntes als Einheit wahrzunehmen und so Ebenen der Realität freizusetzen, beziehungsweise die Realität hinter der dünnen, aber hartnäckigen Schicht der Rationalität sichtbar zu machen. Die eigentliche Realität. Die volle Realität.
Das Vertrauen als wichtige Voraussetzung für den Dialog und das Begegnen im Herzen konnten wir jetzt in der dritten Quelle verorten: der Solar Plexus stützt den Herzraum.
In Weites Herz weiter Geist haben wir die Dualismen – oder die Kräfte der polaren Einheit – weiter differenziert und haben entdeckt, dass für eine Dynamik, welche Innovation und Kreation anstrebt, drei Kräfte notwendig sind. Denn zwei Kräfte streben nach Gleichgewicht, welches nie erreicht wird. Zwei Kräfte kreisen quasi unaufhörlich um sich selber. Drei Kräfte erzeugen ein Feld, in welchem etwas ganz Neues entstehen kann. Dieses Lernfeld ist zentral. Drei Kräfte erzeugen eine Spirale, durch welche Evolution geschehen kann.
Diese Dreierstruktur ist übrigens auch biologisch verankert und bildet die Grundlage der Tensegrity-Strukturen, mit denen wir in integraler Bewegung arbeiten. Will man eine stabile und agile Struktur bauen, muss sie aus Dreiecken bestehen, denn nur Dreiecke sind mit flexiblen Gelenken stabil.
In diesem Buch hatte ich auch viele kulturelle Querverweise gegeben, um die Vernetzung – das Begegnen – in der Ausdehnung aufzuzeigen. Dieses Vorgehen ist sinnvoll, hat aber auch seine Grenzen. Denn wir erkennen Gemeinsamkeiten und Unterschiede. Wir befassen uns aber gleichzeitig mit nuancierten Begriffen, und diese zu vergleichen ist eine Aufgabe der Professoren an den Universitäten. Das Buch ist keine wissenschaftliche Arbeit. Ich wollte damit vor allem die Vielschichtigkeit, ja Komplexität aufzeigen, welche in der Einfachheit liegt.
Es geht in integraler Bewegung, in der Integraldynamik, in RIVERS immer um Rhythmen. Von der Fünf über die Zwei sind wir zur Drei gekommen, und diese mündet in die Eins. Eine Eins der Integration, und gleichzeitig eine Eins des ganz Anderen. Auf dieses ganz Andere weise ich immer wieder hin. Die Verstrickungen und Konditionierungen des Geistes machen es aber unmöglich, es mental oder rational oder geistig zu erkennen. Es ist eine körperliche Erfahrung. Es ist eine Initiation. Initiation ist immer körperlich. Und man muss darauf vorbereitet sein, so gut es geht. Denn niemand ist wirklich auf das Unmögliche vorbereitet.
In der Integrationsphase kehren wir zurück zur Einfachheit. Zur einfachen Bewegung, einfach so. Wir schließen den Kreis.
Doch es ist nicht nur eine Rückkehr, denn der Prozess läuft weiter. Wir öffnen hin zur Spirale.
Der Integrationsprozess nimmt alles Vorangegangene in sich auf und transzendiert es. So können wir uns in dieser Phase auf etwas ganz Anderes einstellen. Etwas, das so anders wie vertraut, überraschend wie folgerichtig erscheinen mag. Es kündigt sich schon an am Horizont. Darauf bewegen wir uns zu: auf das ganz Andere.
Suche das Unmögliche und verkörpere es.
Da mag mancher an seine Grenze kommen.
Und so war es auch.
Begonnen haben wir unser Korsika-Abenteuer vor vielen Jahren mit Taiji und Qigong. Jahr für Jahr hat sich das Abenteuer weiter entwickelt. Yoga kam hinzu, andere Methoden fanden Einzug, doch ebenso allmählich fielen Konzepte, Kategorisierungen und Begriffe weg. Mehr und mehr kommen wir im einfachen Hier an. Im einfachen Bewegt-Sein.
Und das ist gut so.
Das ist mehr als gut.
Es ist der Weg.
Das Praktizieren einer anderen Tradition bedeutet aktive Entfremdung von der eigenen Tradition. Und nicht nur das. Es hat sich gezeigt, dass das Umherwandern auf dem heute allen offenen Marktplatz der Traditionen uns den ureigensten Weg verbaut. Den Weg, den wir in uns haben. Den Weg in unsere Natur.
So kommen Teilnehmerinnen und Teilnehmer mit Konzepten, von denen sie vielleicht selber nicht wissen, woher sie stammen, und die sie selber nicht verstehen, weil sie sich nicht damit befassen, sondern sie als Lebenshilfe nehmen, weil sie gerade dienlich sind. Doch spirituelle Weisheiten, welche die Jahrtausende überstehen, sind keine Lebenshilfen, und schon gar keine Selbst-Hilfen, und in keiner Weise Instant-Rezepte für individuelles Wohlbefinden. Es sind Hilfen, alles, was Nicht-Selbst ist, zu entlarven und sterben zu lassen. Sterbe-Hilfen, die uns alles abverlangen.
Solche Teilnehmerinnen und Teilnehmer kommen etwa mit Wahrnehmungs-Mustern, die aus dem Theravada-Buddhismus stammen und eine ganz bestimmte Weltsicht repräsentieren, welche aus einem bestimmten Kontext, in einem bestimmten Kontext und für einen bestimmten Kontext gewachsen sind. Jetzt werden sie aber für universale spirituelle Wahrheiten gehalten. Kein Wunder, erscheint dann der Ort, an dem wir uns bewegen, nur als normaler Ort. Denn wir sehen ihn durch eine Brille, die nicht für diesen Ort gemacht ist. Kein Wunder ist dann Bewegung ein Turnen, wenn sie nicht mit Erklärungen über das Absolute geschmückt wird. Kein Wunder ist dann das absolute Wunder der Schöpfung nicht erkennbar, wenn wir uns anschauen, wie die Schulter durch Adaption gestaltet wurde, um Gegenstände werfen zu können, wie es kein anderes Lebewesen auf diesem Planeten kann. Kein Wunder ist die Schönheit lebendiger Biologie dann nicht erkennbar, wenn wir die Beschaffenheit eines Wirbels der Wirbelsäule betrachten. Kein Wunder ist dann dieser Ort nur ein Ort. Wenn wir all dies in einem ganz fremden, beliebig aufgefundenen und für universal gehaltenen Kontext betrachten, sehen wir das Unmittelbare nicht. Das, was die Tradition in ihrem eigenen Kontext erzeugen wollte, das Erkennen des Unmittelbaren, wird im falschen Kontext zu dem, was diese Schau verhindert.
So verstellen wir uns den Weg zu uns selbst.
Und wir tun damit auch den Traditionen keinen Dienst. Wir praktizieren das, was der Westen am besten kann: Vereinnahmung. Das ist die westliche Vereinnahmung durch Funktionalisierung und scheinbare Innovation. Sei dies in einem romantisierenden Geist (Taiji ist «eine geheimnisvolle Bewegungskunst voller magischer Symbole»), als Reduzierung hochkomplexer Systeme auf eine leere Worthülse wie «Achtsamkeit», als Fitness-Kult mit Yoga-Selbstdarstellungs-Bilderflut in sozialen Netzwerken, wo schlanke Girls in fast nichts und tätowierte Kerle oben ohne posieren und allenfalls einen «Achtsamkeits»-Spruch hinzu schreiben.
Wir tun weder den Traditionen einen Dienst, wenn wir sie übernehmen und sie umformen. Dabei spielt es keine große Rolle, ob dies nach unserem besten Wissen und Gewissen oder nach Modetrends und Marketing-Strategien geschieht. Noch tun wir uns einen Dienst. Im Gegenteil. Wir kultivieren unsere Entfremdung und kleiden sie in ein hübsches Gewand, vielleicht auch in einen hübschen Körper. Denn natürlich tun wir dem Körper allein einen Dienst, wenn wir uns bewegen. Doch wir sind so viel mehr als Körper. Integrale Bewegung bewegt den ganzen Menschen. Der Körper-Kult ist nur ein weiterer Ausdruck des platonischen Weltbildes, in welchem wir nach Ideal-Körpern streben. Dieses Weltbild hat ausgedient. Je mehr wir es noch nähren, desto mehr geschieht dies auf Kosten von Gesundheit und Ganzheit, nicht nur individuell, sondern auch kollektiv und auf den Planeten bezogen. Bewegung wird funktionalisiert und dem Geist und seinen Ideen unterworfen. Das ist in keiner Weise das, was wir mit integraler Bewegung kultivieren.
Qigong dient heute der Stress-Reduktion, dem Erholen nach dem obligaten Burnout oder allenfalls der Prävention oder Hinauszögerung desselben. Daran ist nichts falsch. Doch es hilft, sich zu erinnern, dass Qigong nicht dafür entwickelt wurde.
Qigong ist Einbettung ins Ganze, ins Dao. Qigong hat eine Ausrichtung auf das Große. Yoga ist auch diese Einbettung. Yoga bedeutet verbinden, und zwar klar auf Gott hin, Athman und Brahman. Diese Ausrichtung wirkt auf das Große hin, nicht auf das kleine Ich und auf momentanes Wohlbefinden und Wellness. Und Taiji? Taiji ist eine Kampfkunst. Man schlägt, haut, stößt, womöglich gezielt in Punkte, um den größtmöglichen Effekt zu erzielen, wirft zu Boden. Selbst wenn wir Taiji im schützenden Geist und mit minimal invasivem Aufwand praktizieren: Taiji ist, wenn wir es als Taiji praktizieren, eine Kampfkunst. Selbst wenn diese Kampfkunst eine Friedens-Kunst ist: Sie ist eine Kampfkunst.
Unsere Kultur hat keine Bewegungs-Tradition. Körper und Geist wurden im Prozess, in welchem Mythos durch Rationalität ersetzt wurde, abgespalten. Das intim Erfahrbare wurde im Rahmen männlich-überheblicher Logik durch von jedermann Erklärbares verdrängt. Es fand eine Ent-Körperung statt, die heute einen neuen Höhepunkt erreicht.
Die Konsequenz davon baden wir heute in allen Bereichen aus. Doch das sind nicht die Wurzeln unserer Kultur, das ist bereits ihre Perversion in Unkultur. An unserer Wurzel liegt Mythos, das Intime, das Körperliche, die Empfindungs-Fähigkeit, und ja, das Heilige. Heilig heißt ganz. An der Wurzel unserer Kultur liegt die Realisation der Ganzheit, welche in alle Aspekte des Lebens und Zusammenlebens strömt.
Wir haben den Weg zu uns in uns.
Das Entscheidende ist unsere Bereitschaft, der Sehnsucht zu folgen, und nicht Räucherstäbchen, Mantras und leeren Worthülsen, die uns bezaubern. Entscheidend ist unsere Bereitschaft, der Realität so zu begegnen, wie sie tatsächlich ist, statt der von uns herunter gebrochenen, vereinfachten, erklärbaren, vernünftigen Schein-Realität.
Und hier hilft dieser Platz. Zumindest mir ist er ein Ort der Realität. Wieder und wieder zeigt er mir, was ist. Wo ich stehe, wer ich nicht bin, wer ich sein könnte, was ich zu tun habe. Er bewegt mich aus der Tiefe, und er bewegt mich in die Tiefe.
Und das ist, einfach gesagt, die Wurzel unserer Kultur. Einfach gesagt. So einfach, dass es schnell überlesen ist. Doch alles andere mündet in Worte, die so oft benutzt werden, dass sie längst zu leeren Worthülsen verkommen sind.
Der Weg zur Wurzel ist radikal. Radikal kommt vom Lateinischen radix für Wurzel. Wir kennen es vom Radieschen. Radikal bedeutet von Grund aus erfolgend, ganz und gar, vollständig, gründlich. Grundlegend. Der Weg zur Wurzel ist also in der Wurzel. Die Wurzel ist hier. Das ist gemeint, wenn ich sage, dass der Weg zu uns selbst in uns selbst ist. Die Wurzel ist die differenzierte Ungetrenntheit von Körper, Seele, Psyche und Geist. Die Wurzel ist Hier und Jetzt in ihrer Gesamtheit.
Und der Weg dazu? Wie soll es einen Weg zur Gesamtheit geben? Er müsste ja von ihr getrennt sein. Doch das gibt es nicht. Es gibt nichts Getrenntes. Es gibt nur die Illusion von Trennung. Hier kommen wir in die gefährliche Nähe von leeren Floskeln. Darum ist es besser, zu schweigen und ein paar Bewegungs-Impulse zu geben.
Der Weg ist die Dekonstruktion von illusorischen Trennungen. Durch und durch. Grundlegend. Man wird radikal auf sich selbst zurück geworfen. Auf das Helle und das Dunkle, das man ist. Die Werkzeuge für diese Dekonstruktion kommen nicht aus vergangenen Jahrtausenden und nicht aus fremden Kulturen. Sie sind alle hier, wenn wir uns kultivierend bewegen und still sind. Diese Werkzeuge – ganz einfache, simple, darum wieder schnell zu übersehende, schnell zu übergehende – werden in den vier Korsika-Büchern wieder und wieder ausgepackt, von verschiedensten Seiten in die Hände genommen und auf Verschiedenstes angewendet.
Es ist also alles da. Die Leistung ist es, dies nicht nur als Idee einleuchten zu lassen, sondern zu verkörpern und in klares Handeln umzusetzen. Diesen Prozess zu begleiten ist unsere Aufgabe als Leiter. Und die Leiter, sie sind eines der wichtigsten Werkzeuge zur Dekonstruktion. Eines der Werkzeuge, welche längst nicht alle Teilnehmerinnen und Teilnehmer bereit sind, in die Hand zu nehmen, ja geschweige denn, es als Werkzeug zu erkennen und anzuerkennen.
Leiter ist dabei ein interessantes Wort. Denn auch eine Leiter, die man benutzt, um empor oder hinab zu steigen, ist eine Leiter. Die Leiter an sich erhebt sich dabei nicht, und sie erniedrigt sich nicht. Sie ist einfach.
Dann gibt es den Leiter, der Energie leitet. Das Kabel, welches Strom leitet. Eine ganz einfache Aufgabe. Der Leiter ist nicht das Licht, der Strom ist nicht das Licht.
Eigentlich sind Leiter, in welcher Ausführung auch immer, eine so praktische wie unspektakuläre Sache. Doch ganz so einfach ist es in der Realität mit menschlichen Leitern nicht. Denn sie sind Menschen.
Als Menschen sind sie fehlbar. Als Menschen sind sie Spiegel und Projektionsflächen. Und das müssen sie sein.
Leiter müssen um ihre Fehlbarkeit wissen und daraus keinen Hehl machen. Sie müssen nicht unfehlbar sein, denn Potenzial ist immer auf alle Seiten offen. Und wir können noch so lange auf dem Weg sein: an jedem Goldstück, das wir in uns finden, klebt ein Stück Dreck. Und öfter als selten ist es so, dass der Weg zu einem winzigen Goldstückchen durch einen bodenlosen Abgrund von Dunkelheit führt.
Die Fehlbarkeit der Leiter zu erkennen, ist ein ganz wesentlicher Prozess der Teilnehmerinnen und Teilnehmer. Dennis Genpo Merzel hat es in seinem Buch Spitting Out the Bones: A Zen Master’s 45 Year’s Journey so treffend formuliert, dass ich ihn nur zitieren kann: «Es ist jedoch die Aufgabe und Verantwortung des Lehrers, diese Art von Illusion (der Unfehlbarkeit, meine Anmerkung) zu brechen. Irgendwann, wenn der Schüler fortgeschritten ist, muss er oder sie enttäuscht sein, vom Lehrer ernüchtert werden. Nicht, dass der Lehrer versuchen müsste, dies zu tun; man kann nichts dagegen tun. Früher oder später müssen unsere Menschlichkeit, unsere Fehler, unsere Schatten, all unser Kram zum Vorschein kommen, weil wir Menschen sind. Wenn wir distanziert bleiben, können wir diese Illusion der Vollkommenheit beibehalten, aber dann hat der Schüler nicht die Gelegenheit, desillusioniert zu werden. Je näher wir kommen, desto deutlicher werden unsere Fehler. Aus der Ferne sehen alle gut aus. Du kommst näher, siehst all die Probleme. Das ist ein ganz wesentlicher Teil der Arbeit des Lehrers, denn sonst werden wir als Schüler uns selbst nie so akzeptieren, wie wir sind.» (Meine Übersetzung aus dem Englischen.)
Nicht wenige Schülerinnen und Schüler scheitern genau an diesem Punkt. Wird die Fehlbarkeit der Leiter offensichtlich, wird die Übung abgebrochen. Denn plötzlich fehlt die Projektionsfläche, und man wäre gezwungen, sich selbst zu betrachten. Es ist einfacher, sich eine neue Projektionsfläche zu suchen.
Und hier kommt wieder unsere kulturelle Arroganz ins Spiel. Wir meinen, wir seien über das hinaus gewachsen, was sich über Jahrtausende bewährt hat: eine gesunde Distanz zwischen Leiter und Schüler. Denn auf der Grundlage des Mythos der Evolution von Bewusstsein begegnen wir uns heute auf Augenhöhe.
Jahrtausende lang gab es zwischen der Lehrperson (oder dem Meister, dem Guru etc.) und der lernenden Person einen Abstand. Eine Hierarchie. Mit dem Pluralismus fielen Hierarchien weg, wir sind alle gleichwertig. Freunde. Mit einem integralen Bewusstsein werden sie anders wieder installiert. Nicht als hierarchische Abstufungen mit einem Machtgefälle, aber als klar definierte Segmente, die miteinander aus klar definierten Perspektiven, mit klar definierten Rollen wieder in einen Austausch treten. Es gibt kein Machtgefälle mehr, aber ein Kompetenzgefälle. Deshalb nimmt man ja mit einer Lehrperson Kontakt auf. Und nicht, um Freunde zu sein.
Oder doch? Zu Beginn vielleicht doch auch. Wir möchten zumindest am Anfang gesehen und anerkannt werden. Wir möchten etwas vom Lehrer erhalten, das nur wir erhalten, um uns einzigartig zu fühlen. Um uns ermächtigt zu fühlen, damit die Welt zu verändern. Das ist für manche die unbewusste Anfangsphase. Viele noble Absichten, doch immer gespickt mit ebenso viel Selbst-Bezogenheit.
Darum ist eine Abgrenzung wichtig. Sie gibt den Rahmen, die Sicherheit, den Kontext für alle. Nochmals Dennis Genpo Merzel, wie er beschreibt, wie sein traditioneller japanischer Meister seine amerikanische Art, Lehrer zu sein, kritisiert: «Seine große Kritik an mir als Lehrer war, dass ich zu egalitär, zu sehr auf der gleichen, horizontalen Ebene mit den Schülern interagierte. Ich kann jetzt sehen, wie Recht er hatte und wie wichtig es ist, dass wir Lehrer uns über Grenzen im Klaren sind. Als Lehrer müssen wir in der Lage sein, mit den Schülern auf horizontaler Ebene in Kontakt zu treten, aber immer unter Einhaltung angemessener Grenzen im Kontext des Lehrer-Schüler-Verhältnisses.» (Meine Übersetzung aus dem Englischen.)
Das mag im Widerspruch stehen zur Tradition an der Wurzel unserer Kultur, die ich in Stille Fülle volle Stille (S. 186-193) beschreibe, wo sogar Adoption fester Bestandteil der Ausbildung war. Denn das Intime kann nur in Vertrautheit weiter gegeben werden.
Nun. Wir müssen differenzieren. Ich bin kein Weisheits-Vater, der irgend etwas auf eine Weise weiterzugeben hätte, wofür engste Vertrautheit, Freundschaft oder Adoption nötig wäre. Meine Methodik ist Bewegung, und alles, was ich weiter zu geben habe, kann durch Bewegungs-Impulse im richtigen Kultivations-Umfeld initiiert werden. Intimität ist dabei ein wichtiger Faktor, ein unersetzlicher Faktor. Doch sie ist im richtigen Rahmen gewährleistet, da wir körperlich arbeiten. Körperlich ist intim. Ich bin kein Meister und kein Guru und wurde nicht von einer bestehenden Tradition autorisiert und beauftragt, sie lebendig zu erhalten und weiter zu geben. Denn Yoga-Diplome und Bestätigungen von Taiji-Schulen spielen nicht in dieser Liga.
Es ist aber auch so, dass die allermeisten Kurs-Teilnehmer keine Schülerinnen und Schüler sind, die nach Korsika kommen, um ihr Leben für eine größere Sache hinzugeben, zu sterben, bevor sie sterben, auf der dünnen Linie zwischen Vernunft und Wahnsinn zu wandeln und voll und ganz, mit ihrem ganzen Wesen und Sein, in das numinose Mysterium einzugehen.
Eine ganz andere Liga also.
Welche Relevanz haben diese Überlegungen? Es sind keine Überlegungen, keine Ideen, sondern die Reflexion eines Prozesses, auf den ich gleich konkret zu sprechen kommen werde. Doch zuerst möchte ich noch auf etwas Anderes hinweisen: auf die schlichte Tatsache, dass wir Leiter ohnehin nicht die Meister und Gurus sind. Der Platz, die Bewegung und unsere eigenen Körper sind es.
Wenn wir uns hier bewegen, im tanzenden Schatten unter den Pinien, den Meeres-Horizont vor uns, den Wind in den Haaren und auf unserer Haut, die Düfte in der Nase, dann lassen wir uns von hier bewegen, nicht von einer Tradition aus dem Osten, nicht von einer Idee oder einem Konzept, und seien sie noch so ausdifferenziert und hilfreich. Wir sind in intimer Vertrautheit mit uns an diesem Ort. Wir sind eingebettet, in uns, im Hier, wenn wir es nur zulassen. Das ist unser Lehrer, unsere Lehrerin. Wir hören auf unsere Körper und praktizieren gewaltfrei, indem wir das tun, was uns tatsächlich gut tut (was nicht immer angenehm sein muss), und das nicht tun, was uns nicht gut tut. Denn wir lernen, auf den Körper zu hören, und diese Empfindungen von inneren Stimmen zu unterscheiden, die irgendwo aus dem Labyrinth der Psyche herausrufen und wichtig tun. Das ist ein ganz wesentlicher Teil unserer Arbeit.
Dieser Platz interessiert sich nicht für unsere um sich selbst kreisenden und sich selbst nährenden Dramen (die citta-vritti, wie sie im Yoga heißen), sondern er hilft uns bei unserer Ausrichtung auf das Größere. Unsere Ich-Prozesse interessieren ihn nicht. Hin und weg sind sie für ihn, vom Winde verweht, selbst von den Wildschweinen im tiefen Gestrüpp, wo sie sich verfangend noch um ein kurzes Überleben kämpfen, verschmäht. Während wir uns weiterhin an ihnen laben und uns ach so wichtig nehmen.
Wir Leiter sind keine Dienstleister und die Teilnehmerinnen und Teilnehmer sind keine Konsumentinnen und Konsumenten. Ja, es geht nicht einmal darum, durch das Ganze Heilung zu finden. Oder, herunter gebrochen, durch Bewegung gesund zu werden oder gesund zu bleiben, und wir zeigen euch, wie das geht. Vielmehr geht es darum, dass wir alle dem Ganzen dienen, denn wir sind das Ganze. Wir pflegen das Ganze. Wir gestalten das Ganze. Wohin unbewusstes Gestalten des Ganzen führt, sehen wir gegenwärtig in allen Bereichen und in allen Gebieten der Welt. Unser aller Aufgabe ist es, das Ganze bewusst zu gestalten. Dadurch wird auch das Individuum ganz, dadurch heilt jeder und jede Einzelne.
Traditionen und die Lehrer-Schüler-Beziehungen waren nie gedacht, das individuelle Ich-Wohlsein zu pflegen.
Einen Moment lang streifte es mein Bewusstsein, ob ich die ersten vier Bücher der Korsika-Reihe in der Versenkung versinken lasse, weil sie ausgedient hätten. Ein nicht sehr integrativer Gedanke. Er verfloss mit dem Lesen des Untertitel des ersten Buches: Strandsichten aus Korsika. Und der Ausführung dazu im Vorwort, dass Strandsichten temporäre Ansichten sind, welche umgeschichtet werden, denn ein Strand wird fortdauernd umgewälzt und umgestaltet. Ein Strand ist in Bewegung. Und so sind diese Bücher – und das fünfte, sie umrahmende und darüber hinausweisende „Buch“ – Spuren im Sand, die auf etwas hinweisen, das einmal war, und das uns hierher gebracht hat. Hier zu sein wäre unmöglich, ohne diese Spuren hinterlassen zu haben.
Alle vier Bücher und der in der Gesamtausgabe gegebene Rahmen sind also Zeichen, sanft in den Sanft gemalt, ganz nah am Wasser, um sie wieder dem Meer zu übergeben, wenn es sie holen möchte.
Doch in welchem Kontext streifte mich der Gedanke der Versenkung?
Wir bewegen uns immer in einem Dreier-Fluss. Darauf hatte ich die letzten vier Jahre in Korsika hingearbeitet.
Einfach gesagt, ist da die sich bewegende Person und die Bewegung. Und da bin ich als Vermittler, als einende Kraft. Solche Dreiheiten sind immer Kräfte. Die dritte Kraft ist die vermittelnde, einende und transformierende Kraft, mit derer Hilfe eine ganz neue, vierte Qualität entsteht.
Die erste Kraft ist die bejahende Kraft. Die sich bewegende Person sagt ja zu sich, zum Bewegen. Sie möchte sich öffnen, das Bewegungsspektrum weiten, den Körper integrieren, neue Bewegungen entdecken und kultivieren, Bewegungsfreude vertiefen.
Die zweite Kraft ist eine Form von Reibung, von Widerstand. Sie ist das «Ja aber», das «Halt mal, nicht so schnell». Sie könnte ganz oberflächlich – und darum falsch – als Problem betrachtet werden. Sie ist diejenige Kraft, welche die Potenzial-Entfaltung erst anfacht. Eine komplexe Bewegung ist kein Problem, sondern ein Potenzial. Der/die Bewegende kann eine Bewegung nicht ausführen, sei dies physiologisch, sei dies von der Koordination her, sei dies von der Komplexität eines Ablaufs her. Wer nur Wellness sucht, sucht und schätzt nicht diese Art der Bewegung. Wer jedoch etwas entfalten und sich entwickeln möchte, begrüßt diese Reibung.
Ich als dritte Kraft bin der Vermittler. Ich gebe Hinweise, Tipps und Impulse. Ich bin Mediator.
So weit so gut. In jenen letzten Jahren hatte sich in der Wahrnehmung von immer wiederkehrenden Teilnehmern eine Verschiebung in diesem Kräfte-Verhältnis ergeben, und ich war daran natürlich nicht unbeteiligt, auch wenn ich keinerlei solche Absicht hegte. (Siehe dazu S. 148.)
Was passierte, war, dass die Bewegung als eigentlicher Bezugspunkt und als eigentlicher Fokus in den Hintergrund geriet. In der Dreiheit gesprochen, verlagerte sich die Bewegung von Platz 2 auf Platz 3. Sie wechselte mit mir den Platz. Das Physische wechselte mit meinen Worten Platz, und, so sehr es mich schmerzt, dies zu sagen (denn es ist mir ein großes Anliegen, das Physische von der Last des überalterten Metaphysischen zu befreien), das Physische wechselte den Platz mit dem Metaphysischen. Ich hielt jeweils zuerst eine Rede, die, so verwurzelt sie doch in meinem physischen Erleben war, ohne dieses Erleben philosophisch war. Danach benutzten wir die Bewegung als Vermittlerin, um dieses Philosophische zu inkorporieren, zu verkörpern. Diese Umstellung der Kräfte war enorm. Was wir dadurch praktizierten, war ein Download von Philosophie in die Materie, also eine klassische platonisch orientierte Praxis, die sich grundsätzlich in keiner Weise etwa von einem kirchlichen Ritual unterschied, dessen Sinn sich nicht selbst erschließt, sondern das erklärt werden muss. Was ich eigentlich immer anzustreben versuchte, war, dass Einsichten aus dem Material selbst entstehen, also aus der Bewegung selbst, aus dem Materiellen. Dann wären die Einsichten das Vierte, die Dreiheit übersteigend. Eine neue Qualität, organisch aus Bejahung, Verneinung und Vermittlung gewachsen. Denn dies ist auch mein persönlicher Prozess. So war es aber mehr eine Übermittlung denn eine Vermittlung.
Ich verletzte meinen Grundsatz, nicht Dinge zu erklären, sondern Erfahrungen zu klären. Und es führte zu der unweigerlichen Folge, dass ich an die zweite Stelle rückte. Somit wurde ich zum Lehrer, der sich letztendlich zwischen die Bewegung und die sich bewegende Person stellt. Man konnte sich nur noch bewegen, wenn ich dazu anleitete. Und es führte noch einen Schritt weiter, sicherlich durch meine Persönlichkeit und Taten unterstützt: Es erschien die Illusion von Freundschaft. Aus dem Vermittler im Stillen wurde ein ganz neuer Bezugspunkt, der, in Bezug auf Bewegung, keine transformative Kraft besitzt, im Gegenteil. Diese Konstellation hemmt die Bewegung eher, da sie eher eine binäre denn eine tertiäre Konstellation ist, und damit eher Gleichgewicht als fortdauernde Evolution anstrebt.
Nun, meine Funktion ist nicht, Freund zu sein. Das hatte ich erkannt und im letzten Jahr geändert. Ich stellte radikal die Bewegung ins Zentrum und mich in den Hintergrund. Denn dies war die einzige Möglichkeit zur Integration. Hätte ich zuerst einen langen Vortrag dazu halten sollen? Vielleicht schon. Vielleicht hätte ich damit Reibung mindern können. Gleichzeitig hätte ich damit gemacht, was ich nicht mehr machen wollte. Mensch, hätte ich ausholen müssen. Und gleichzeitig war Reibung nun mal meine Aufgabe auf Platz 2. Und wer mich dort verankern wollte, rieb sich entsprechend.
Die zweite Kraft ist die Kraft der Reibung und des Widerstands. Und so rieb man sich in dieser Woche an mir. Das nahm und nehme ich auf mich, solange die Bewegung als Vermittlerin eingesetzt wird und sich dadurch eine neue Konstellation bilden kann.
Der ganze Prozess dieser ersten Verschiebung der Kräfte verlief weitgehend unbemerkt. Mitmenschen bleiben, wie man sich selbst auch, immer auch ein Mysterium. Was sich bildet, bildet sich im Verborgenen. Dann zeigen sich Zeichen, die noch naiv gedeutet werden können, beziehungsweise für deren richtige Deutung der Kontext sich noch nicht manifestiert hat. Und erst im Aufbruch zeigt sich dann vielleicht, was sich im Verborgenen entwickelt hat.
Im zweiten Buch besprechen wir, dass ein Prozess immer zwei scheinbar entgegengesetzte Kräfte hat. Scheinbar deshalb, weil noch eine dritte, vermittelnde Kraft wirkt. Während ich über die Jahre die Methodik RIVERS herauskristallisierte und persönlich immer diesen Fokus der Bewegungs-Entwicklung hatte und damit den Platz der Bewegung auf Platz 2 vertiefte, war dieser Fokus gegen außen nicht immer klar sichtbar, vermutlich gerade darum, weil er für mich so klar war. Wie gerne verweilt man doch in der Illusion, dass das, was persönlich klar ist, für alle anderen auch klar ist. Und so sind ich und einige Teilnehmer zwei ganz entgegengesetzte Wege gegangen, obwohl es lange so ausschaute, als wären wir zusammen unterwegs.
Aufbrechen. Ein Wort des Bruchs, aber auch der Fortbewegung. Eines Neu-Anfangs. Integration kann genau das bedeuten: aufbrechen. In der Integrationsphase zeigt sich am deutlichsten, was nicht integrationsbereit ist. Das ist der Turbo für eine weitere Runde – sofern man integrativ ausgerichtet ist.
Es braucht diese Aufbrüche, und nach meiner bisherigen Praxis-Erfahrung geschehen sie ungefähr alle fünf Jahre.
Die Definition des Yoga ist, dass es ein Zustand ist, in welchem das Um-Sich-Selbst-Kreisende zur Ruhe kommt. Denn dies ist nicht die Bewegung, die wir suchen. Wir suchen die Ausrichtung. Diese entsteht in der Ruhe. Im Innehalten. So kann ein neuer, zarter Anfang entstehen.
Nun brechen wir also wieder auf. In eine neue Konstellation, in welcher die Bewegung wieder und neu als zweite Kraft wirkt und wir Leiter als Vermittelnde. Ich freue mich auf Bewegungsbegeisterte, welche ihre Begeisterung für Bewegung vertiefen möchten und uns Leiter dafür dankend in Kauf nehmen, ohne uns zur Hauptsache zu machen. Das System, das sich in den letzten Jahren in Korsika herausgearbeitet hat, nennen wir RIVERS. Ich werde im Anhang noch etwas darauf eingehen. RIVERS will nichts zum Lärm der Welt beisteuern. Korsika wird immer eine kleine Insel sein.
Die Bücher haben ihre Gültigkeit. Sie waren schon immer zur Reflexion und Integration gedacht, nicht zur Hinführung und Anleitung. Auch wenn sie Persönliches enthalten, das ich heute so nicht mehr darstellen würde – weder in Buchform, noch in meinen Kursen –, so sind es doch Spuren, die ich gerne betrachte. Ich betrachte meine Spuren und diejenigen meiner Weggefährten und erinnere mich gerne. Ich sehe Spuren, die nun einen anderen Weg gehen, und ich gebe diesen meine Wünsche für ein bewegtes Leben mit. Ich sehe Spuren, die bleiben, und ich freue mich. Und ich sehe Spuren, die neu hinzukommen und bin dankbar und motiviert, noch viele Spuren zu hinterlassen. Die Korsika-Kurse werden anders werden, wie sie immer anders wurden. Korsika ist eine Reise ohne Ende.
Ein eigentliches fünftes Buch gibt es nicht, beziehungsweise ganz anders: Das Buch der Bewegung. Denn das ist meine Integration. Sie spannt einen großen Bogen, um einen Pfeil weit zu schießen. Darin versammle ich Texte, die in den letzten dreißig Jahren entstanden sind, also auch aus den Büchern der Korsika-Reihe, und die vorausschauend für die kommenden Phasen der Arbeit Gültigkeit haben.
Am Ende dieses Sammelbandes habe ich eine Hommage an den Platz eingefügt, die schon im Vorfeld der Korsika-Woche erschienen war. Auch da habe ich an einer Integration erst gezweifelt, da diese Hommage anscheinend Anlass war, den Platz als magischen Ort zu interpretieren, der sich jedem einfach offenbart, ohne sich selbst einbringen zu müssen. Oder dass zumindest ich als Magier diesen Part übernehmen würde. Doch es ist einerseits kein Marktplatz, und es lohnt sich auch nicht, mich zum Archetypen zu machen, denn ich bin nur ein Typ. Es lohnt sich nicht, mich auf einen Thron zu setzen. Man wird mich nur stürzen müssen. Zum Sturz zu kommen ist ein leidvoller Prozess. Denn um jemanden, den man selbst inthronisiert hat, zu stürzen, muss man zuerst selbst hart aufprallen.
Andererseits machte man mich durch den Text zum Einsamen. Auch das ist weit gefehlt.
Auf die Gefahr hin, dass solche Eindrücke wieder getriggert werden, integriere ich den Text trotzdem. Denn er ist wichtig. Wichtig deshalb, weil da, wo die Worte versiegen, bevor sie versagen, kurz vorher die Poesie vielleicht noch eine Chance hat, ein Türchen zur Quelle zu öffnen.
Dazu geselle ich weiteres Material aus der Integrations-Woche, außerdem den Bericht von zwei aufeinanderfolgenden Erlebnissen, die man als Träume bezeichnen könnte, welche ich an diesem Ort hatte. Vielmehr aber sind es Berichte von der wahren Natur dieses Ortes, die sich offenbart, wenn man hinter die eigenen Einschränkungen schaut.
Und das ist die eigentliche Aufgabe, die wir an diesem Ort bearbeiten. RIVERS, das System, welches sich in und durch Korsika heraus gearbeitet hat, ist eine nie endende Einladung in den Ozean der Bewegung.
Versuche. Spiele. Erfahre. Erforsche. Entfalte. Lass dich hinweg tragen von deiner eigenen Bewegung, sei sie einfach, sei sie roh, sei sie spektakulär, sei sie subtil, sei sie ruhig, sei sie kantig.
Hinweg tragen in das wahre Hier und Jetzt.
Wo das Unmögliche möglich wird.
Grenzenlos.
Martin Schmid, 2019
Strandsichten aus Korsika
Seit vielen Jahren fahren wir nun jährlich nach Korsika und widmen uns dort durch Bewegung unserem Menschsein. Ein wichtiger Fokus dieser Tage ist jeweils der Dialog. Jedoch nicht der mündliche Dialog, sondern das Begegnen des ganzen Menschen im Rahmen integraler Bewegung. Integrale Bewegung ist sowohl eine Methodik, die das Potenzial in verschiedensten Bewegungs-Methoden freisetzt, als auch die Bezeichnung für den ganzen Menschen, der in Bewegung ist – körperlich, subtil, psychisch, seelisch, geistig, wie wir dieses Unteilbare auch immer unterteilen wollen. Es steht in den Korsika-Kursen nicht so sehr der technische Aspekt integraler Bewegung im Vordergrund, sondern diese ganz eigene Qualität des Dialogs. Dieser geschieht vielschichtig und vielgestaltig. Die Kurse sind in dem Sinn einmalig, weil jede Kurswoche wieder ganz anders ist. Die Wochen sind nicht anders, weil ich sie anders gestalte – sie verlaufen immer nach demselben Muster, dem so zentralen Köbi-Muster all meiner Arbeit: zentrieren, öffnen, ausdehnen, begegnen, integrieren. Sie sind anders, weil sie sich anders gestalten. Mit der Reise nach Korsika entsteht ein Gewebe vielschichtiger, sich überlagernder Prozesse: die Reise selbst, die Gruppe, Bekannte und Unbekannte, unser einmaliger, einsamer Platz unter den Pinien am Strand, die Bewegungen unserer Körper und unseres Geistes, die Sonne, das Meer, die Düfte und Klänge, das Zusammensein an den Abenden... Was es von Seiten der Kursleiter her braucht, ist vor allem Präsenz in dieser Vielschichtigkeit. Daraus entstehen Bewegungsübungen und daraus entstehen auch die Worte, die nun in diesem Buch einen neuen Hafen finden. Obwohl sie jetzt relativ beständig auf Papier festgehalten sind, möchte ich die treuen Leser ermuntern, sie als ganz nah am Wasser in den Sand geschrieben zu betrachten, sie zu kosten, mit ihnen zu flirten, zu tanzen, sich zu reiben, und sie dann wieder dem sanften Wind, der durch die Pinienäste flüstert, zu übergeben. Denn «Strandsichten», wie es im Untertitel des Buches heißt, das sind Strandgeschichten, Strandschichten und Ansichten. Strandschichten werden immer wieder umgestaltet. Ansichten können immer wieder losgelassen werden, damit sie Einsichten Platz machen können. Trotzdem macht eine Ansichtskarte ja auch Freude, wenn wir sie aus den Ferien eines Freundes erhalten.
Es ist nicht so, dass ich nach Korsika reise, um Vorträge zu halten, und auch sonst rede ich nicht wirklich gerne, auch wenn das manchmal anders ausgelegt wird. Am liebsten arbeite ich körperzentriert, oder ich stelle Fragen. Es ist aber so, dass wir zeitgleich mit der Erfahrung auch immer bereits an deren Interpretation arbeiten müssen. Machen wir das nicht, können gute Erfahrungen falsche Muster nähren.
Das Resultat integraler Bewegung ist grundsätzlich offen. Darum spreche nicht über das, was uns erwartet, wenn wir uns durch sie kultivieren. Denn ich weiß es nicht. Ich bin Zeuge wie jeder andere auch. Ich spreche darüber, wie wir die Bewegung kultivieren. Dies geschieht immer aus einem ganz einmaligen Kontext heraus. Wenn wir integrale Bewegung als Lebenspraxis verstehen – und die Tage in Korsika laden ein, dies zu erproben – nimmt alles, worauf ich hinweise, und noch viel mehr, aus sich selbst heraus Gestalt an.
Ich begleite den Prozess mit Worten, benenne Gestalten, die sich bilden, um sie aus dem Verborgenen zu heben, damit sich die Wahrnehmung der Teilnehmer öffnet und Grenzen des Denkens, die nirgendwo anders als im Denken existieren, überwunden werden.
Die Momente, aus denen die Worte entstanden sind, sind Momente in Bewegung, was in Buchform natürlich fehlt. Lesend ist es vielleicht mehr ein Moment der Stille, also der Differenzierung von Erlebtem und der Integration. Die folgenden Texte haben ihren Schwerpunkt nicht im körperlichen Bereich, es werden keine Übungen beschrieben, und auch nicht im subtileren Bereich der Energien, sondern im geistigen Bereich und dem Bereich des Denkens, welches immer ein Prozess ist und daher eine Bewegung, die wir integral kultivieren können. Hier kann ein Buch die klarste Arbeit leisten. Denke ich.
So sind in diesem Buch, das auch zum zehnjährigen Jubiläum unserer Korsika-Reisen entsteht, Worte versammelt, die in und durch die Kurse in Korsika entstanden sind. Das Buch ist als Monolog angelegt, der hoffentlich im Leser zum Dialog wird, denn dadurch kehrt er zu seinem Ursprung zurück. Was hier zusammengefasst ist, sind in vielen Fällen ursprünglich Dialoge. Um die freie Gesprächsform zu fokussieren, ist diese Textform daraus entstanden.
Ich danke allen, die mit ihrer Teilnahme an den Korsika-Wochen der letzten zehn Jahre diesen Dialog in Gang gehalten haben.
Martin Schmid
von den Inseln Korsika, Molokai und Rifferswil,
Sommer 2014
Das Meer hat mich sanft durch die Träume und die Nacht gewiegt. Jetzt sitze ich draußen. Es ist fünf Uhr morgens. Ich blicke über die dunkle Fläche Richtung Sonnenaufgang. Wolken verschleiern den Horizont. Alles ist tiefblau. Die feuchte Wärme umhüllt mich. Von Korsika kündet das wiederkehrende Licht des Leuchtturms.
Auch ich kehre zurück.
Der Wind fährt durch die Weite meines Herzens. Ich lächle.
Da ist der dunkle, tiefe Ton des Wassers, über welches das Schiff hinweggleitet. Da ist der höhere, aber immer noch dumpfe Rhythmus des Wassers, das vom Schiff verdrängt und zur Seite geworfen wird. Und da ist das hohe Rauschen der Gischt, wie nur das Salzwasser klingt. Der Klang von Ferien, obwohl es keine Ferien sind.
Im Morgengrauen dann endlich ganz zart die Berge.
Stille:
ein leiser Hauch aus den Bergen,
das sanfte Rauschen des Meeres.
Die Unberührbarkeit des Morgens
berührt mich immer wieder neu.
Die Vögel haben sich
still und schweigend
auf dem höchsten Baum versammelt.
Ich atme die Weite,
spüre Dankbarkeit.
Das große Muster der vielen kleinen Wellen,
es ist Wandel und Sein zugleich.
Mit dem ersten Sonnenstrahl beginnen die Vögel
zu singen, zu rufen, zu jubilieren,
verwandeln das Licht
in Lebensklang.
Sie klingt auch in mir, schwingt,
die Sinfonie meines Körpers und meiner Energie,
eine Sinfonie von tausend Stimmen,
Wandel und Sein zugleich,
wie die Wellen des Meeres,
tiefere Strömungen,
vielschichtig ineinander verwoben
und doch Gesamtklang,
wie das Lied der Vögel
im Rhythmus des Meeres.
Und in der Mitte all dessen,
der Ursprung: die Stille,
alles überstrahlend,
ohne Anfang und Ende
Dieses Platzes wegen sind wir hier. Darum haben wir unsere Reise unternommen. Wir sind ja nicht hierher gezaubert worden, sondern sind schon ein, zwei Tage unterwegs. Wir haben uns genähert. Jetzt sind wir an unserem Platz angekommen. Jetzt sind wir da.
Warum sind wir hier? Was hat uns hierher geführt? Die oberflächliche Antwort ist offensichtlich. Vielleicht bin ich hier, weil ich intensiv Yoga, Qigong oder Taiji machen will. Vielleicht bin ich hier, weil ich Ferien in einer Gruppe machen möchte. Oder weil ich schon hier war und es mir gefällt.
Wenn wir jedoch eine Antwort nicht als Endstation, sondern als Stufe sehen, können wir Schritt für Schritt, Antwort für Antwort tiefer sinken. Warum bin ich hier? Was hat mich hierher geführt?
Die Frage ist nicht etwas, was man beantwortet und abhakt, sondern eine Gesprächspartnerin. Die Frage ist meine Partnerin für einen inneren Dialog.
Die meisten von uns suchen nicht Antworten, sondern Wachstum. Es ist wichtig, die Antwort nicht nur zu haben und zu sagen, sondern sie zu sein. Sie zu verkörpern. Sie zu leben. So entsteht der Dialog des Lebens.
Eine andere Frage, auf den ersten Blick vielleicht eine einfachere: Welche Farbe hat das Meer? Sofort mag man antworten: blau. Doch das ist falsch. So haben wir eine Schlussfolgerung gezogen, bevor wir überhaupt geschaut haben. Bevor wir wirklich geschaut haben. Bevor wir ganz genau beobachtet haben. Schauen wir genau hin, kommen wir zur Antwort: Die Frage ist falsch.
Denn das Meer hat nicht eine Farbe. Da ist hellblau, dunkelblau, türkis, grün, braun, gelb, beige, schwarz, grau, und all die wunderbaren Farben, für die zumindest ich keinen Namen kenne. Und sie ändern sich unaufhörlich. Je nach Lichteinfall bewegt sich das Spektrum von tiefblau nach gleißend glänzend, als hätte jemand einen Teppich aus Lichtseide darüber gelegt.
Im Verweilen bemerken wir erst die Veränderungen. Und erst dadurch erkennen wir das Beständige. Auf diese Weise funktioniert das, was wir Achtsamkeit nennen. Achtsamkeit ist ein beständiges Erinnern an den vorherigen Moment, die vorherige Mikrosekunde. Durch beobachten und empfinden, differenzieren und integrieren, subtilisieren und verwesentlichen wird dieses Erinnern zum Tor zum Jetzt. Wir erkennen den Wandel und wir erkennen das, was sich nicht wandelt: das Wasser, das alle Farben in sich aufnimmt; die Leinwand, auf die alle Veränderungen projiziert werden; den Betrachter, der dies alles wahrnimmt. Bis auch dies alles sich im reinen Fließen – in den Verben – auflöst und so seine wahre Natur offenbart. Es gibt keinen «Wandel», das ist eine Abstraktion. Aber es gibt «wandeln», was ein Wort ist für eine körperliche Bewegung, die im Dialog ist mit dem Geist und der Seele des Wandelnden. Eine körperliche Bewegung also, die sich nicht auf den Körper beschränkt.
Es gibt keinen «Betrachter», aber es gibt «betrachten». Wir betrachten in einem ersten Schritt die äußerlichen Vorgänge, mit der Zeit wird jedoch das Betrachten selbst zum Gegenstand des Betrachtens, bis es sich in sich selbst auflöst, bis es sich sich selbst offenbart.
Schon sind wir mittendrin im Kern integraler Bewegung, dem Kern, der Stille und Bewegung vereint und über eine Vereinigung hinausführt. Und das nur, weil wir uns auf das Betrachten des Meeres einlassen.
Es ist immer sehr einfach, wenn unser denkender Verstand es nicht schafft, es kompliziert zu machen. (Meistens schafft er es.) In einem weiteren Schritt arbeitet integrale Bewegung natürlich damit, dies alles zu verkörpern, der Achtsamkeit eine körperliche Gestalt zu geben, dem Erinnern eine körperliche Bewegung.
Wir sind hier, um im Sehen zu verweilen und diesem Sehen eine Gestalt zu verleihen. Um im Beobachten zu sein, das Vielfalt und Wandel zulassen kann, weil es nicht gleich zu Schlussfolgerungen springt. Im Alltag müssen wir schnell schlussfolgern, nur so können wir mit der Informationsfülle umgehen. Wir können uns nicht auf alles voll und ganz einlassen.
Dieser Ort hilft uns, uns einzulassen. Nicht nur visuell. Beobachten ist nicht nur ein visueller Aspekt. Wenn ich frage: Wie klingt das Meer, dann kommt die Antwort: Es rauscht.
Doch was heißt das? Hören wir genauer hin. Bleiben wir im Hören, ohne das, was wir hören, mit Rauschen zu klassifizieren und es in eine Schublade zu stecken, nächster Input bitte. Hören wir genauer hin, erfahren wir, dass verschiedene Wellenformen verschiedene Klänge haben. Wir finden, dass das Klangspektrum riesig ist, vom tiefsten Dröhnen bis zu feinsten Flüsterklängen, von dumpf donnernd bis leise entlauschend. Und dass der Großteil des Meeres still ist, doch diese Stille scheint zu vibrieren, als wären alle Weltenmeere eine einzige riesige Trommel, die, vor Millionen von Jahren einmal angeschlagen, weiter schwingend einen Klang von sich gibt, der alles Leben ins Leben ruft. Der sich selbst in sich selbst ruft.
Ich gebrauche Bilder, Analogien, um wegzuführen von der schnellen Schlussfolgerung, vom schnellen Schluss und vom Schnellschuss. Es ist ein wenig paradox, doch nur scheinbar. Wir gehen durch die Welt und sehen nicht die Welt, sondern die Bilder, die wir von ihr haben. Mit Analogien können wir das Hirn dazu verleiten, genauer wahrzunehmen, was wirklich da ist, indem wir unsere kategorisierten Bilder durch analoge Bilder ersetzen.
Durch Bilder, durch Analogien, durch Poesie und Geschichten können wir mehr und mehr zu dem zurückkehren, was tatsächlich ist, indem wir das, was nicht ist – unsere mentale Projektion –, von dem wir aber glauben, dass es ist, durch etwas ersetzen, das zwar auch nicht ist, von dem wir aber auch nicht glauben, dass es ist. Poesie öffnet uns das Fenster zur Welt. Nicht zu einer anderen, sondern zu dieser. Die eine andere ist, wenn wir sie das erste Mal seit langer Zeit tatsächlich wieder sehen. Poesie öffnet uns dem Leben entgegen. Auch sie ist ein Dialog mit dem Leben.
Sich einlassen. Dieser Ort hier ist ein poetischer Ort. Ein Ort, an dem wir unsere Schnellschüsse sein lassen können, um uns der Fülle zu öffnen, die mit einem Schuss nicht getroffen werden kann. Dieser Ort ist ein Ort, der uns dem Leben entgegen öffnet. Und so werden alle Bewegungen, die wir üben, zu Bewegungen, die nur eine Richtung haben: hin zum Leben.
Wir werden in dieser Woche vielen Analogien begegnen, vielen Bildern und Geschichten, die uns helfen, unsere Vor-Stellungen zu weiten und loszulassen. Wer loslässt, kann ergriffen werden.
Wenn wir uns öffnen – etwa dem Wind, der nie derselbe ist, der unaufhörlich eine Melodie singt, eine Geschichte erzählt –, dann werden wir, wenn wir offen bleiben ohne zu Schlussfolgerungen zu springen, dann werden wir ergriffen. Begreifen ist ein Ergreifen. Definieren ist ein Eingrenzen. Wenn wir das Begreifenmüssen loslassen, können wir uns ergreifen lassen.
Und hier sehe ich das große Potenzial. Ich muss doch Yoga, oder Taiji, Qigong, oder diesen Platz, das Meer, den Wind, das Leben, das alles muss ich nicht begreifen. Und ich kann es auch nicht, ohne dass ich es reduziere auf ein kleines Frequenzband, das der denkende Verstand erfassen kann. Aber ich kann mich von all dem ergreifen lassen. Und damit eine Fülle erfahren, die mich übersteigt, die ich aber auch bin.
Wir machen das nicht nur sehend und hörend. Wenn wir Partnerarbeit machen, geht es dann darum, den Partner zu begreifen? Oder geht es nicht viel eher darum diese Fülle und Einzigartigkeit wahrzunehmen und sich davon ergreifen zu lassen? Wenn ich mich davon ergreifen lasse, kann ich es genießen (selbst wenn es nicht angenehm sein sollte, denn ich genieße die Fülle des Seins, das auch Unangenehmes einbezieht). Wir haben uns hier versammelt, haben diese Reise auf uns genommen, weil es ein Platz des Genießens ist. Wichtig ist, dass unser Genießen einschließlich ist, nicht ausschließlich. Im Laufe der Woche wird man auch mal müde sein oder genug Inputs haben. Oder etwas Zeit ohne andere Menschen brauchen. Genieße das.
Dieser Ort flirtet mit uns. Die Farben des Meeres, seine Klänge, Rhythmen und seine Stille, der Wind, die Düfte der Pinien, des Bodens, der Kräuter – sie alle verführen uns. Sie umkreisen, umkosen, umlieben uns. Die Erde erzählt uns vom Hier, der Wind vom Jetzt. Ein Jetzt, das Jahrmillionen umfasst. Schon unsere Eltern, Großeltern, alle unsere Vorfahren haben seinem Lied gelauscht, haben sich berühren lassen, und alle diese Berührungen trägt er mit sich, die Sehnsüchte und das Ankommen von Millionen von Menschen durch die Jahrtausende trägt er mit sich, trägt sie in diese eine Berührung und verbindet uns mit allen unseren Vorfahren, mit allen Menschen.
Wenn am Abend der Mond aufgeht, ist das der Mond, den schon unsere Eltern und Großeltern empfunden haben, von dem sie sich haben berühren lassen, und die Sterne, in die wir blicken und darin etwas Unsagbares von uns selbst finden, sind die Sterne, in die sie schon geblickt haben und in denen sie dasselbe Unsagbare gefunden haben. Wir lassen uns darauf ein und hören das unhörbare Lied, Mutter aller Lieder, aller Musik, aller klingenden Menschen und spüren dieses Verbundensein, das wir in unserem Kern sind.
Dieser Ort fordert uns auf, uns berühren zu lassen und zu berühren. Uns mit ihm zu vereinen. Er lädt uns nicht nur ein als Gäste, als Fremde, sondern als Teil von ihm. Und so wollen wir uns nicht nur als höfliche Gäste verhalten, sondern als Teil, als Mitmensch in einer Mitwelt, einer Welt, die uns willkommen heißt, die sich uns anbietet. Ich kann es nicht definieren – und will dies auch nicht tun –, aber ich habe das Gefühl, dass diese Bereicherung gegenseitig ist. Denn wenn wir uns wirklich einlassen und uns ergreifen lassen, besteht keine Trennung mehr. Wir lernen viel an diesem Ort, und mein Gefühl ist, dass auch er etwas lernt. Und sei es nur in der Art, wie wir etwas lernen, wenn uns wirklich jemand berührt, statt nur die Hand geschüttelt zu bekommen. Wenn uns jemand tatsächlich berührt, erleben wir eine Steigerung des Bewusstseins, des bewussten Seins. Denn wir existieren nicht isoliert. Wir existieren im Wahrgenommen-Sein. Wenn wir diesen Ort wahrnehmen, dann ist auch er wahr. Wir sind mit ihm im Dialog, wir gebrauchen ihn nicht für unsere Zwecke. Wir achten ihn.
Wenn wir in einer Partnerübung zusammen arbeiten, dann ist die Gefahr da, dass wir unseren Partner zu einem Objekt machen, so wie wir die Farbe des Meeres zu einem Objekt machen. Doch hier ist die Gefahr noch größer, dass wir unseren Partner als Objekt gebrauchen. Wir benutzen ihn für unsere Selbstverwirklichung. Dann ist der andere mein Objekt. Schauen wir, dass wir dies tunlichst vermeiden. Lassen wir uns ein.
Sich auf einen Menschen einlassen heißt weder, die eigenen Grenzen oder die des anderen nicht wahrzunehmen, noch, sein eigenes Zentrum zu verlieren, noch, in eine psychische Endlosschlaufe einzusteigen, sich «gegenseitig zu spüren», sich gemeinsam in der Misere des Lebens zu suhlen und andauernd vor dem psychischen Ertrinken zu retten – das Einzige, was zu ertrinken droht, ist das mit sich selbst beschäftigte Ego. Wir werden erforschen, was es heißt, sich aufeinander einzulassen, und wenn wir es schaffen, werden wir es als gegenseitige Bereicherung erleben.
Das klingt nun nach einem Selbsterfahrungstrip, doch genau das ist es eigentlich nicht. Früher oder später zeigt sich im Prozess der Selbsterfahrung, dass gar kein Selbst existiert. Es gibt kein isoliertes Ich. Es gibt nur eine Fülle von sich überlagernden Prozessen – die Farben, Rhythmen und Klänge des Meeres, der Wind, die Düfte, die Wärme der Sonne, unser Beobachten, Empfinden, unser Herzschlag, unser Atem… –, und irgendwo in diesen Prozessen zieht eine Instanz eine Grenze und unterscheidet in «Ich» und «alles Andere». Dieser Grenzsetzungsprozess wird allmählich aufgedeckt und die Grenze als willkürlich erkannt. Dann beginnt die Umerziehung des Grenzsetzers, der meint, er sei jemand. Doch in Wahrheit ist auch er nur ein Prozess, ein Algorithmus sozusagen, ein Wind in den Pinienästen.
Wir machen hier also nicht auf Selbsterfahrung. Wenn schon, dann auf Ent-Selbstung. Das klingt ein wenig wie Enthauptung, und das ist makaber, doch es trifft auch ein bisschen: Wir machen uns hier nicht zur Hauptsache. Lasst uns den Ort und die Bewegung zur Hauptsache machen, und dann lasst uns schauen, was passiert. So wird aus einer Yoga- oder Qigong-Übung integrale Bewegung. Eine Bewegung, die integrativ ist, nichts von vorne weg ausschließt. Keine Grenzen setzt, wo keine Grenzen sind. So sind wir als ganze Menschen in Bewegung und machen nicht nur ein wenig Gymnastik und Wellness, und wir fragen uns auch nicht: Ist das jetzt Yoga oder Qigong, oder beides oder nichts davon?
Die Verknüpfung von Wellness und Spiritualität ist eine New-Age-Verknüpfung. Und ich finde, wir machen hier spirituelle Arbeit. Integrale Bewegung ist spirituelle Bewegung. Spiritualität definiere ich als das Bewusstsein, das sich selbst erforscht. Oder anders ausgedrückt: fortwährend beobachten und empfinden, differenzieren und integrieren, subtilisieren und verwesentlichen, das kann man zusammenfassen unter dem Wort Spiritualität, und auch unter dem Wort Achtsamkeit. Achtsamkeit ist der Anfang jeder Form von Spiritualität. Die Form, die geglückte Form, kann wieder durch einen Verbenhaufen verstanden beziehungsweise erforscht werden: zentrieren, öffnen, ausdehnen, begegnen, integrieren. Aus den englischen Bezeichnungen center, open, expand, blend, integrate ergibt sich das Kürzel coebi, und das ergibt im Schweizerdeutschen das Kürzel Köbi. «Köbi» ist etwa der einzige feststehende Begriff in meiner Arbeit mit integraler Bewegung, und es ist ein heiterer, lockerer und spielerischer Begriff. Die fünf Verben von Köbi, diese Dynamik, die sie beschreiben, findet sich in jeder Gestalt, die glückt, sei es in einer Aikido-Interaktion, in einem Yoga-Flow, in einem kirchlichen Ritual oder in der alltäglichen Begegnung mit der Nachbarin. Zusammen mit den sechs Kultivationsverben bilden die fünf Köbi-Verben ein vielschichtiges Netz, mit dem wir bewusst in Beziehung treten können. Dadurch wird ein integraldynamischer Prozess gestartet, eine Dynamik, die Potenzial freisetzt, und dies in allen Bereichen und auf allen Ebenen des Menschseins.
Aus diesem Grund sind wir nicht hier für Wellness. Wellness wird nicht ausgeschlossen, und wunderbare Zustände werden sich hoffentlich im Laufe dieser Tage immer wieder einstellen. Doch daran anhaften wird nicht gelingen. Anhaften ist kein Verb des integraldynamischen Prozesses. Zustände sind flüchtig, sie kommen und gehen, und daher ist es bereits Teil des Prozesses, dies zu erkennen.
Ich weiß, man meldet sich als Neuling an für ein paar Tage Yoga oder Qigong oder Taiji, und das machen wir ja auch. Wir machen in der Tat nichts Anderes. Nur sind Yoga, Qigong und Taiji verschiedene Gestalten des integraldynamischen Prozesses, es sind keine Wellness-Methoden. In ihrem Ursprung und Kern geht es immer um das Menschsein und um Befreiung aus selbstauferlegten Zwängen. Auch hier ist die Wellness-Idee eine moderne und postmoderne Idee, die auch in den Ursprungsländern mitgeformt wurde. Aber seid versichert: Alles, was wir hier tun, ist Yoga, Qigong, Taiji, Achtsamkeitspraxis. Manchmal ist es auch Wellness, manchmal nicht. Ist eine gute Übung eine angenehme Übung und eine unangenehme Übung ist eine schlechte Übung? Das gilt es zu überdenken.
Alles, was wir hier tun, ist eine Einladung. Wir müssen nichts lernen. Aus verschiedenen Gründen. Wir müssen einerseits nichts lernen, weil es sich entfaltet. Wir müssen dieses Entfalten nur zulassen und begleiten. Wir müssen ihm einen Entfaltungsraum zur Verfügung stellen, und diesen Raum müssen wir nicht erschaffen, wir sind dieser Raum – ja, man könnte sagen, wir sind nichts als dieser Raum, in dem sich alles entfaltet. Damit dies nicht nur ein Kalenderspruch bleibt und auch nicht ein Glaube oder einfach ein mentales Konzept, müssen wir es erfahren. Es ist die grundlegende Erfahrung, aus der heraus alle Bewegung geschieht. Diese Erfahrung können wir gezielt herbeiführen. Was dafür wichtig ist, ist Praxis. Ich komme darauf zurück.
Wir müssen andererseits nichts leisten, weil integrale Bewegung denkbar einfach ist. Sie ist die Verkörperung des integraldynamischen Prozesses, und der besteht aus zehn Verben, die miteinander in Beziehung treten, und wir sind mitten drin. Wir müssen uns nur einlassen. Wir können die Dynamik einfach zulassen. Meist ist «zulassen» in unserem Verständnis gar passiv verankert. Zulassen bedeutet nicht einfach, sich ohne Wenn und Aber allem hinzugeben und auszuliefern. Es ist wichtig, dass wir unsere Grenzen wahrnehmen. Und es ist gleichzeitig wichtig, dass wir nicht in unserer Komfortzone verharren. Denn Wachstum geschieht nicht in der Komfortzone.
Damit ich eine Grenze wahrnehmen kann, muss ich möglichst genau und differenziert beobachten und empfinden. Und schon sind wir mittendrin. Zuerst nehmen wir Grenzen auf der körperlichen Ebene wahr. Grenzen der Dehnung, Grenzen der Kraft. Doch Grenzen sind nicht so starr, wie wir vielleicht meinen. Man kann in Grenzen hinein öffnen und sie beginnen sich auszudehnen. Und manchmal ist eine scheinbare Grenze noch gar keine Grenze, sondern einfach eine Gewohnheit. Die Gewohnheit geht bis hier und nicht weiter. Aber in Tat und Wahrheit gibt es vielleicht gar keinen Grund, dort eine Grenze zu setzen. Nehmt also eure Grenzen wahr und weitet sie. Grenzen weiten ist weise, Grenzen überschreiten ist – nicht förderlich. (Diesen Satz gibt es auch in einer sich reimenden Version.) Darum praktizieren wir das Weiten zusammen mit dem Wahren als dynamisches Ganzes: wahren und weiten gleichzeitig. Immer beobachtend, empfindend, differenzierend und integrierend, subtilisierend und verwesentlichend. Öffnend aber zentriert, ausdehnend aber zentriert, begegnend aber zentriert.
Mit dem Wachstum hatten wir begonnen. Ich habe die Behauptung aufgestellt, dass wir nicht Antworten suchen, sondern Wachstum. Das ist meine Erfahrung aus meiner Arbeit mit Menschen. Warum sind wir hier? Lasst uns durch die oberflächlichen Antworten hindurch sickern zu immer neuen Antworten, die zu Stufen werden.
Schicksal, Fügung und alle anderen metaphysischen Konzepte, in denen sich Antworten auf solche Fragen gerne aufhalten, wenn man versucht, etwas tiefer zu sinken – für mich sind sie nicht wichtig, nicht relevant. Mit den metaphysischen Antwort-Versuchen ist es so, wie es schon eine andere Insel-Person treffend benannt hat: «Jede Antwort führt zu einer neuen Frage.» Wichtig sind ganz einfache Fragen, auf die ich mit meinem Leben antworte. Und so möchte ich euch ermuntern, die Fragen einfach zu halten und mit dem Leben zu antworten.