Das Buch Ich # 9 - Richard Powers - E-Book

Das Buch Ich # 9 E-Book

Richard Powers

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Beschreibung

Wir schauen in unsere Gene wie in die Kristallkugel der Wahrheit. Alles glauben wir dort zu erkennen. Aber wir zahlen einen Preis. Die Angst vor einer angeborenen Neigung zu Depression oder Alzheimer würde unser Leben vergiften. Keine Zukunft, die wir in den Genen lesen, kann dies wettmachen. Richard Powers arbeitete an seinem Roman über das »Glücks-Gen«, als er die Chance erhielt, der neunte Mensch auf der Erde zu werden, dessen Genom vollständig entschlüsselt wird. Er zögerte lange, aber die Neugier siegte. Powers flog nach Boston, traf die Forscher und Macher der neuen Industrie, lernte den komplizierten Prozess der Entschlüsselung kennen. Schließlich hielt er einen USB-Stick in Händen mit der Wahrheit. Näher kam noch nie ein Schriftsteller dieser Welt, und genauer konnte uns noch nie jemand davon erzählen, wie wir in Zukunft mit unseren Genen leben.

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Seitenzahl: 61

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Richard Powers

Das Buch Ich #9

Eine Reportage

Aus dem Amerikanischen von Manfred Allié und Gabriele Kempf-Allié

Fischer e-books

Exposition

Ich schreibe diese Zeilen in den letzten Tagen meiner seligen Unwissenheit. Am kommenden Montag, in drei Tagen, fliege ich nach Massachusetts, um mir dort als einer der neun ersten Menschen weltweit mein vollständiges Genom entschlüsseln zu lassen.

Ich weiß nicht recht, warum ich mich dazu bereit erklärt habe und ob es eine kluge Entscheidung war. Vor zwei Monaten, im Januar, gleich nachdem diese Möglichkeit erstmals kommerziell angeboten wurde, bekam ich per Mail eine Anfrage vom Gentlemen’s Quarterly, ob ich Interesse hätte, einen Artikel über die Entschlüsselung (oder Sequenzierung, wie die Fachleute sagen) des individuellen Genoms zu schreiben. Als die E-Mail kam, hatte ich etwa 80 000 Wörter von meinem neuesten Roman zu Papier gebracht, einem Roman über eine nur notdürftig verschleierte Welt (der als Vorlage weitgehend unsere heutige diente), die geradewegs in das postgenomische Zeitalter stolpert. Wenn ich innehielt, um die Reportage zu schreiben, würde es meine Arbeit für längere Zeit unterbrechen. Andererseits bot mir dieses Angebot eine wunderbare Gelegenheit zu Feldstudien. Ich hatte zwar keine große Lust, etwas zu erforschen, was mir womöglich auf lange Sicht Nachteile bei der Krankenversicherung einbrachte, ich wollte nicht unbedingt wissen, wie groß die Wahrscheinlichkeit war, dass ich irgendwann diese oder jene entsetzliche Krankheit bekam oder woran ich vermutlich einmal sterben würde. Doch hier hatte ich Gelegenheit, aus erster Hand – ein paar Jahre, bevor es zur Selbstverständlichkeit würde – den nächsten epochalen Schritt der Biotechnologie kennenzulernen: mein persönliches Genom.

Ich habe auf mütterlicher Seite eine lange Ahnenreihe von Leuten, denen es durchweg schwerfällt, Entscheidungen zu fällen. Die Familie meines Vaters hingegen besteht ganz aus Leuten, die immer alles spontan entscheiden. Diesmal behielten die väterlichen Gene die Oberhand, und eine halbe Stunde, nachdem ich die Anfrage gelesen hatte, sagte ich zu.

Ich machte mich also daran, mich umzusehen. Ein Tag im Internet verschaffte mir einen ersten Begriff davon, wie unglaublich viele Genetikprodukte es schon jetzt zu kaufen gibt. Es gab Family Tree DNA, eine Firma, die Stammbäume auf genetischer Grundlage erstellte. Es gab DNADirect, deren Website fragte: »Haben Sie eine chronische Krankheit unbekannter Ursache? Sie könnte genetisch sein.« Für 260 Dollar konnte ich mich auf Mukoviszidose testen lassen; für 370 Dollar würde ich erfahren, ob ich ein Risiko für eine Erkrankung an Diabetes Typ 2 hatte. Dann gab es das in Island beheimatete CODEme (»Das ist mein CODE!«), das mir anbot, mein Risiko auf 25 genetisch bedingte Krankheiten berechnen zu lassen, alles zusammen für 985 Dollar.

Aber warum sollte ich mich mit ein paar kleinen Gesundheitstests zufriedengeben? Wie ich immer sage: Wer sich auf die erste Verwicklung der Handlung einlässt, lässt sich auf die ganze Story ein.

Ein Angebot zur Genotypisierung, das mir besonders auffiel, war 23andMe mit dem Slogan »Genetik für jedermann«. Die hübsche pastellfarbene Homepage fragte: »Was verraten Ihre Gene über Sie? Woher stammen Ihre Vorfahren? Haben Sie den guten Geschmack Ihrer Mutter?« Für 999 Dollar, eine juristisch gültige Einverständniserklärung und eine Speichelprobe bot 23andMe die Untersuchung von 600 000SNPs an – Einzelnucleotid-Polymorphismen, individuellen Variationen –, innerhalb der 6 Milliarden Basenpaare meines doppelten (diploiden) Chromosomensatzes. Mit Hilfe der interaktiven Werkzeuge der Site konnte ich diese Daten dann auswerten und erfahren, was meine Mutationen bedeuteten.

Eine Etage höher gab es Navigenics (»Meine Gene. Meine Gesundheit. Mein Leben«). Für 2500 Dollar wollten sie über eine Million meiner SNPs (was sich snips ausspricht) untersuchen, und der Preis schloss eine Beratung ein, um die Ergebnisse richtig zu deuten. Je 250 Dollar kostete es, wenn man durch jährliche Updates immer auf der Höhe der wissenschaftlichen Erkenntnis bleiben wollte.

Doch diese Firmen verkauften Genotypisierung, keine vollständige Entschlüsselung des Erbguts. Sie konnten eine Reihe von Allelen identifizieren – individuellen Ausprägungen bestimmter Gene – und mir ein wenig über die Risiken, Wahrscheinlich- und Empfindlichkeiten erzählen, die ich geerbt hatte. Sie untersuchten etwa 0,02 % meiner 6 Milliarden Genbausteine, und auch das nicht mit hundertprozentiger Sicherheit. Im besten Falle hatten sie einen groben Überblick zu bieten, gewissermaßen das Inhaltsverzeichnis zu einem Buch, von dem im Grunde keiner weiß, wie es zu lesen ist. Ich aber wollte die ungekürzte Fassung sehen.

Wie viel sind 6 Milliarden? Das diploide Genom enthält beinahe ebenso viele Einzelinformationen, wie es Menschen auf der Erde gibt. Wenn wir ein 250 Seiten starkes Buch mit 500 000 Buchstaben veranschlagen, bräuchten wir 12 000 solche Bände, um das Genom eines einzelnen Menschen zu veröffentlichen. Wenn wir die Basenpaare des Genoms in einem pennygroßen Abbild alle hintereinanderlegen wollten, würde diese Kette etwa dreimal um die Erde reichen. Wäre das Genom eine Melodie, die man im flotten Allegrotempo von 120 Beats pro Minute spielte, würde der Song knapp ein Jahrhundert dauern.

Knome, Inc., ebenfalls ein gerade erst ans Netz gegangenes Unternehmen, bot die volle 6-Milliarden-Sequenz an. Die karge, zen-artige Website – »Erkenne dich selbst« – kündigte an, dass sie auf der Suche nach zwanzig Personen seien, die bereit waren, ihr Leben in Ahnungslosigkeit gegen ein neues zu tauschen, von dem noch keiner recht wusste, wie es aussehen würde. Indem sie sich als erste Individuen überhaupt zur Verfügung stellten, um ihr gesamtes Genom entschlüsseln zu lassen, würden diese Teilnehmer zu Pionieren auf dem eben erst im Entstehen begriffenen neuen Fachgebiet der Individualgenomik.

Nur drei Menschen – James Watson, J. Craig Venter und ein anonymer chinesischer Wissenschaftler – hatten bisher ihren weitestgehend vollständigen Satz von diploiden Genomen sequenzieren lassen. Ein paar weitere solche Sequenzen waren in Arbeit. Schon hatte der Wettlauf darum, wer als Erster aus dieser Untersuchung eine Routineangelegenheit machte, begonnen. Das war die Story, um die es mir eigentlich ging: das Entstehen des Begriffs vom vollständigen genetischen Bauplan als Konsumprodukt.

Es gab nur einen einzigen Haken. Die vollständige Sequenzierung sollte bei Knome über eine Drittelmillion Dollar kosten. So gut gefüllt die Taschen beim GQ auch sein mochten, würden sie doch nicht bereit sein, dermaßen viel Geld für einen Blick in die Zukunft auszugeben, nicht einmal in die der Menschheit.

Ich suchte weiter. Ich stieß auf das Personal Genome Project (PGP), ein hochinteressantes, nichtkommerzielles Versuchsprojekt unter der Federführung von Harvard. Zehn Freiwillige hatten sich schon bereit erklärt, einen Großteil jener Bereiche des Genoms, von denen bisher bekannt ist, dass sie für Gesundheit und Funktion unseres Körpers entscheidend sind, sequenzieren zu lassen. Damit wurde etwa 1 % der 6 Milliarden Basenpaare erfasst – die Mittelposition zwischen den 0,02 % von 23andMe und den 98 von Knome. Und was am bemerkenswertesten war: die Untersuchung sollte kostenlos sein, unter der Bedingung, dass der Freiwillige seine Ergebnisse der Öffentlichkeit zur Verfügung stellte. Ich schrieb eine E-Mail an den Leiter des Projektes, George Church, und fragte, ob sie Interesse an mir als elftem PGP-Freiwilligen hätten. Er schrieb zurück, dass ich mitmachen könne, wenn ich eine Eingangsprüfung bestünde, bei der ich Genetikkenntnisse auf dem Wissensstand eines Magisterabschlusses nachweisen müsse. Ich fing sofort mit dem Pauken an.

Auf der ellenlangen Liste seiner akademischen Positionen findet man George Church auch als Leiter des Lipper Center for Computational Genetics (Lipper-Zentrum für Computergenetik) an der Harvard Medical School. Vor über zwanzig Jahren entwickelte Church in seiner Dissertation für den Nobelpreisträger Walter Gilbert das erste Verfahren zur direkten Genomsequenzierung. Als Assistent bei Biogen und an der UCSF