ORFEO - Richard Powers - E-Book

ORFEO E-Book

Richard Powers

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Beschreibung

Nach ›Der Klang der Zeit‹ ein großer Roman über Musik, das Rätsel der Kreativität und die fragile Geborgenheit der Familie Erzählt wird die Geschichte von Peter Els, der an der Ostküste der USA Professor für Musik ist. In den wilden Siebzigern waren seine Stücke Avantgarde. Jetzt will er der DNA ihre musikalische Struktur ablauschen und mit Molekülen komponieren. Bis die Homeland Security in sein Labor stolpert und ihn verhört, denn nach dem 11. September ist jeder verdächtig. Auf einer Fahrt quer durch die USA flüchtet Els vor dem FBI, erinnert sein Leben und sucht seine Familie – ein spannendes Roadmovie voller Emotion und funkelndem Geist, unserer Gegenwart und ihren Themen immer einen Schritt voraus.

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Seitenzahl: 561

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Richard Powers

ORFEO

Roman

Überarbeitete Übersetzung aus dem Amerikanischen von Manfred Allié

FISCHER E-Books

Inhalt

OuvertüreIch habe genau das [...]Sei dankbar für alles, [...]Wiederum Cage: ›Was ist [...]Die einzigen harmlosen Werke [...]Dank

Am Anfang also eine Ouvertüre:

Sämtliche Lichter brennen in einem Arts-and-Crafts-Haus in einem stillen Viertel, spät an einem Frühlingsabend, im zehnten Jahr der nicht wiederzuerkennenden Welt. Schatten huschen an den Vorhängen vorüber: ein Mann, der noch spät bei der Arbeit ist, wie jeden Abend in diesem Winter, vor einem Regal voller Laborgläser. Er ist im Trainingsanzug; Schutzbrille, medizinische Latexhandschuhe, sein Giacomettikörper vorgebeugt wie zum Gebet. Ein grauer, aber noch kräftiger Beatles-Mopp hängt ihm in die Augen.

Er schlägt etwas in einem Buch nach, auf einem Arbeitstisch voll mit Gerät. In einer Hand eine Pipette, und er hält sie wie einen Dolch. Aus einer winzigen gekühlten Phiole saugt er eine farblose Flüssigkeit an, nicht mehr davon, als eine Schwebfliege von einem Zweig Zitronenmelisse nehmen würde. Dieser Klecks kommt in ein Röhrchen nicht größer als die Nase einer Maus, eine Menge so klein, dass er nicht sicher sein kann, dass sie tatsächlich da ist. Die behandschuhte Hand zittert, als er die gebrauchte Pipettenspitze in den Müll wirft.

Weitere Flüssigkeiten wandern aus Messgläsern in diesen Puppenstubencocktail: Oligonukleotide, damit der Zauber in Gang kommt; Polymerase für die Kettenreaktion; Nukleotide, die Aufstellung nehmen wie Soldaten beim Fünf-Uhr-morgens-Appell, tausend Verbindungen pro Minute. Der Mann folgt dem Rezept in dem Buch wie ein Hobbykoch.

Die Mischung dreht fünfundzwanzig Achterbahnrunden im Thermozykler, immer hin und her zwischen lauwarm und knapp unter dem Siedepunkt. Zwei Stunden lang schmilzt und hybridisiertDNA, schnappt sich freie Nukleotide und verdoppelt sich mit jedem Durchgang. Fünfundzwanzig Verdoppelungen machen aus ein paar hundert Strängen mehr Kopien, als es auf der Erde Menschen gibt.

Draußen biegen sich Bäume, an denen schon die ersten Knospen kommen, unter den Launen eines leichten Winds. Ein paar letzte Nachtschwalben fischen noch Insekten aus der Luft. Der genetische Bastler holt einen Stamm Bakterien aus dem Brutschrank und stellt ihn unter die Haube der Sicherheitswerkbank. Er schüttelt den flachen Kulturkolben und gießt die gelockerten Zellen in eine Mikrotiterplatte mit vierundzwanzig Näpfchen. Diese Platte kommt unter das Mikroskop, Vergrößerung vierhundertfach. Der Mann setzt das Auge ans Okular und erblickt die wahre Welt.

Nebenan verfolgt eine vierköpfige Familie gerade das Finale einer Fernseh-Tanzshow. Ein Haus weiter Richtung Süden bereitet die Chefsekretärin einer halbkriminellen Baufirma die herbstliche Kreuzfahrt nach Marokko vor. Jenseits der beiden Gärten liegen ein Marktanalytiker und seine schwangere Frau, eine Anwältin, im Bett und schauen auf ihre Tabletschirme, machen Pokerwetten und markieren Bilder von einer virtuellen Hochzeit. Das Haus auf der anderen Straßenseite ist dunkel; die Besitzer sind zu einer Geistheilernacht nach West Virginia gefahren.

Keiner macht sich Gedanken um den stillen, schon älteren Sonderling in dem Arts-and-Crafts-Haus South Linden Street 806. Der Mann ist im Ruhestand, und Leute im Ruhestand legen sich alle möglichen Hobbys zu. Sie besuchen die Geburtshäuser von Bürgerkriegsgenerälen. Sie spielen Euphonium. Sie lernen Tai Chi, sammeln Petoskeysteine oder fotografieren Felsen, die wie Menschengesichter aussehen.

Peter Els jedoch will nur noch eines in diesem Leben erreichen: Er will sich aus den Zwängen der Zeit befreien und will die Zukunft hören. Er hat nie etwas anderes gewollt. Und so etwas spätabends in diesem unverschämt schönen Frühling zu wollen ist nicht abwegiger, als dass man überhaupt etwas will.

Ich habe genau das versucht, was sie mir vorwerfen. Schuldig im Sinne der Anklage.

Auf dem Tonband das Rauschen des Raumes. Dann sagt eine klare Altstimme: Notrufzentrale Pimpleia County, Platz zwölf. Welchen Notfall wollen Sie melden?

Es folgt ein Geräusch wie von einer in ein Handtuch gewickelten Ratsche. Ein Knall, dann ein Klappern: das Telefon, das zu Boden geht. Nach einer Pause eine Tenorstimme, schrill vor Anspannung: Hallo?

Ja. Welchen Not–

Wir brauchen einen Arzt hier.

Die Altstimme wird lauter. Worum geht es?

Zur Antwort kommt ein tiefer, nicht menschlicher Schrei. Die Tenorstimme murmelt: Es ist gut, Liebling. Jetzt ist es gut.

Ist jemand krank?, fragt die Altstimme. Brauchen Sie einen Krankenwagen?

Ein weiterer gedämpfter Schlag, dann nur noch statisches Rauschen. Die Stille endet mit einem unterdrückten O. Dann schnelle, abrupte Worte, selbst mit digitalen Filtern und Korrekturprogrammen nicht zu entziffern. Vergebliche Trostworte.

Die Frau vom Notruf fragt: Sir? Können Sie Ihre Adresse bestätigen?

Jemand summt eine leise Melodie, ein Wiegenlied von einem fernen Planeten. Dann bricht der Anruf ab.

Ich war sicher, dass nie jemand einen Ton davon hören würde. Es war mein Stück für einen leeren Saal.

Die beiden Beamten, die mit dem indigoblauen Streifenwagen vor dem Haus South Linden 806 hielten, hatten es an dem Abend schon mit einer Überdosis Antidepressiva zu tun gehabt, einem Schläger in einem Gemischtwarenladen und einer Debatte zum Thema Rassenhygiene, bei der von Schusswaffen Gebrauch gemacht worden war. Das Leben in der kleinen Collegestadt in Pennsylvania ließ die Muskeln spielen, und die Nacht war noch jung.

Das Haus gehörte Peter Clement Els, vor drei Jahren als außerordentlicher Professor am Verrata College in Pension gegangen. Nichts in den Polizeiakten; anscheinend war Professor Els nie auch nur bei Rot über die Kreuzung gegangen. Die beiden Beamten – ein junger Mann mit dem Gang eines Kugelstoßers und eine ältere Frau, die sichernd um sich blickte – gingen zur Haustür. Ahornzweige knackten im Frühlingswind. Gedämpftes Gelächter drang über zwei Rasenflächen aus einem Nachbarhaus. Hoch oben das Heulen zweier Düsen, ein Regionalflugzeug im Landeanflug. Das zischende Geräusch der Autos auf der Schnellstraße, vier Häuserblocks entfernt.

Auf der Veranda vor dem Haus Sachen, die aufs Wegwerfen zu warten schienen: ein Gartenhäcksler, zwei zernagte Kauknochen, Stapel von Blumentöpfen, eine Fahrradpumpe. Der männliche Beamte hielt die Fliegentür auf, die Frau klopfte, auf alles gefasst.

Etwas flackerte hinter dem Lünettenfenster, und die Tür öffnete sich. Ein hagerer Mann wie ein Mönch stand in dem Lichtkegel. Er hatte eine randlose Brille auf und trug ein kariertes Arbeitshemd mit abgewetztem Kragen. Sein graues Haar sah aus, als habe eine Pioniersfrau es ihm mit einer auf den Kopf gestülpten Schüssel geschnitten. Ein Archipel von Essensflecken auf seiner Cordhose. Unsteter, huschender Blick.

In dem Zimmer hinter ihm herrschte milde Unordnung. Sessel, im American-Craftsman-Stil wie das Haus, umgeben von Bücherregalen. Bücher, CDs, Kerzen mit Talgnasen auf jeder freien Fläche. Eine Ecke des abgetretenen Perserteppichs war umgeschlagen. Das Abendessengeschirr türmte sich zwischen den Zeitschriftenstapeln auf dem Couchtisch.

Die Beamtin sah sich um. Peter Els? Sie haben bei der Notrufzentrale angerufen?

Els schloss die Augen, dann öffnete er sie wieder. Mein Hund ist gerade gestorben.

Ihr Hund?

Fidelio.

Sie haben den Notarzt für Ihren Hund gerufen?

Eine Sie. Golden Retriever, wunderschön. Vierzehn Jahre alt. Plötzlich lief ihr Blut aus dem Mund, ohne jedes Vorzeichen. 

Ihrem Hund fehlte was, sagte der Polizist, seine Stimme erstickt unter dem ganzen Gewicht der Menschheit, und Sie rufen den Notruf an und keinen Tierarzt?

Der Beschuldigte schlug die Augen nieder. Tut mir leid. Ein Schlaganfall wahrscheinlich. Sie hatte sich auf den Boden gedrückt und heulte. Als ich sie anfassen wollte, hat sie mich gebissen. Ich dachte, wenn jemand hilft, das Blut zu …

Hinter einem Gitter, vom Wohnzimmer einen Flur hinunter, lag etwas unter einer grünen Decke, so groß wie ein zusammengerolltes Kind. Der Polizist zeigte darauf, und Peter Els’ Blick folgte dem Finger. Sein Gesicht, als er sich wieder umdrehte, war ein Bild der Verwirrung.

Sie hat wohl geglaubt, ich wolle ihr etwas tun. An der Tür blieb er stehen und starrte zur Decke. Es tut mir leid, dass ich so einen Aufstand gemacht habe. Mir kam es wie ein Notfall vor.

Der Beamte wies mit dem Kinn auf das Bündel. Können wir mal sehen?

Els wand sich. Wozu das? Der Hund ist tot. Nach einer verlegenen Pause machte er Platz.

In Els’ Wohnzimmer sahen die Uniformen strenger aus, die Polizisten stärker bewaffnet. Die drei Wände mit Einbauregalen, von oben bis unten vollgestopft mit Büchern und CDs, machten den männlichen Beamten nervös. Er stieg über das Gitter, ging den Flur hinunter zu dem Bündel und schlug die Decke zurück.

Dieser Hund hat mir vertraut, sagte Els.

Gute Hunde, die Retriever, sagte die Frau.

Der Hund hat die ganze Welt geliebt. Ein Wunder, dass er das vierzehn Jahre lang ausgehalten hat.

Der Beamte deckte den Leichnam wieder zu. Er kehrte zurück und stieg von neuem über das Gitter. Er befingerte seinen Gürtel: Schlagstock, Handschellen, Sprechgerät, Schlüssel, Pfefferspray, Taschenlampe, Pistole. Auf dem Namensschild aus Messing stand Mark Powell. Sie müssen es beim Amt für Veterinärmedizin melden.

Ich dachte, ich … Els wies mit dem Daumen zum Garten hinter dem Haus. Gebe ihr ein anständiges Begräbnis. Sie ist immer gern da draußen gewesen.

Sie müssen es beim Amt für Veterinärmedizin melden, Sir. Gesundheitsrisiko. Wir können Ihnen die Nummer geben.

Ah! Peter Els hob die Augenbrauen und nickte, als seien damit alle überhaupt vorstellbaren Fragen auf Anhieb gelöst. Die Frau nannte ihm eine Nummer. Sie versicherte ihm, dass ein solcher Anruf von Gesetz wegen vorgeschrieben sei und nichts einfacher sein könne.

Officer Powell musterte die Regalbretter mit CDs: Tausende von Scheiben, frisch veraltete Technik. Vor einer dieser Wände stand ein großes Holzgestell wie ein freistehender Kleiderständer. Eine Reihe abgesägter großer Wasserflaschen hing an Gummikordeln daran.

Powell fasste sich an den Gürtel. Heilige Scheiße!

Nebelkammerschalen, sagte Els.

Nebelkammer? Ist das nicht für …?

Das ist nur ein Name, sagte Els. Man kann Musik drauf machen.

Sie sind Musiker?

Ich habe es unterrichtet. Komposition.

Songwriter?

Peter Els legte die Hände um beide Ellbogen und senkte das Haupt. Es ist kompliziert.

Wie meinen Sie das, kompliziert? Technofolk? Psychobilly-Ska?

Ich schreibe nicht mehr viel.

Officer Powell blickte auf. Warum nicht?

So viel Musik auf der Welt.

Das Sprechgerät am Gürtel des Polizisten zischte, eine Frauenstimme gab Phantomanweisungen.

Da haben Sie recht. Von allem gibt es so viel.

Die beiden Beamten wandten sich wieder in Richtung Haustür. Vom Esszimmer stand die Tür zu einem Arbeitszimmer offen. Auf den Regalen dort dicht gepackt Becher, Röhren, Gläser mit gedruckten Etiketten. Ein kleiner Kühlschrank stand am Ende einer langen Werkbank mit einem an einen Computer angeschlossenen Mikroskop darauf. Mit seinem weißen Metallgehäuse, den schwarzen Okularen und dem silbernen Objektiv sah es wie ein Sternenkriegerbaby aus. Auf einer zweiten Werkbank am anderen Ende des Raums standen weitere Geräte, an denen die bunten Glimmlämpchen leuchteten.

Wow, sagte Officer Powell.

Mein Labor, erklärte Els.

Ich dachte, Sie schreiben Songs.

Das ist mein Hobby. Zur Entspannung.

Die Frau, Officer Estes, blickte misstrauisch. Wozu brauchen Sie die ganzen Petrischalen?

Peter Els ließ die Finger spielen. Wohnungen für Bakterien. Genau wie wir.

Haben Sie was dagegen, wenn wir uns mal …?

Els trat einen Schritt zurück und betrachtete die Dienstmarke der Inquisitorin. Es ist schon spät.

Die beiden Beamten sahen sich an. Officer Powell wollte etwas sagen, überlegte es sich dann anders.

Na gut, sagte Officer Estes. Das mit Ihrem Hund tut uns leid.

Peter Els schüttelte den Kopf. Dieser Hund, der konnte stundenlang dasitzen und zuhören. Er hat Musik geliebt, egal welche. Er hat sogar mitgesungen.

Die Polizisten gingen. Der Wind hatte inzwischen aufgehört, die Insekten machten bei ihren gespenstischen Geschäften eine Pause. Einen halben Takt lang, während die beiden Beamten über den Bürgersteig schritten, herrschte eine Milde, die fast schon Frieden war. Diese dunkle Ruhe dauerte den ganzen Weg bis zum Wagen, wo beide sogleich zum Telefon griffen.

Was ich mir dabei gedacht habe? Eigentlich gar nichts. Man hat mir immer vorgeworfen, dass ich zu viel denke. Ich habe es ganz einfach getan.

Der Hund hörte nur auf Fidelio, vom ersten Mal an, als Els ihn bei diesem Namen nannte. Musik konnte Fidelio in Ekstase versetzen. Sie liebte lang ausgehaltene Intervalle, am liebsten große oder kleine Sekunden. Wenn ein Mensch einen Ton länger als einen Herzschlag hielt, musste sie einfach mitmachen.

Fidelios Gesang hatte Methode. Wenn Els ein d hielt, ging der Hund auf es oder e. Wechselte Els zu Fidelios Tonhöhe, ging der Hund einen Halbton höher oder tiefer. Sang ein Menschenchor einen Akkord, sang der Hund eine Note, die darin nicht vorkam. Egal mit welcher Tonhöhe die Meute daherkam, Fidelio fand eine, die noch nicht besetzt war.

Im Heulen dieses Geschöpfes hörte Els die Wurzeln der Musik – die heilige Gemeinschaft der nicht geringen Dissonanz.

Die wenigen brauchbaren Studien, die Els über die Musikalität von Hunden fand, schrieben, die Tiere nähmen nur etwa eine Dritteloktave wahr. Aber Fidelio antwortete stets mit einem Ganzton Unterschied auf jede Tonhöhe, die Els sang. Forschungen zur Auswirkung von Musik auf die Stimmung eines Hundes kamen zu dem Schluss, dass Heavy Metal sie erregte, Vivaldi hingegen hatte beruhigende Wirkung. Nicht gerade überraschend; in einem der wenigen Interviews, die jemals jemand von ihm haben wollte, hatte Els gesagt, die Vier Jahreszeiten sollten genauso mit einer Gesundheitswarnung versehen sein wie ein starkes Sedativum. Das war Jahre, bevor die Industrie auf Beruhigungsplatten für Tiere kam: Musik, von der Hunde träumen, erste Folge; Wiegenlieder für Ihren Liebling, Melodien, wenn niemand zu Hause ist.

Mit einundzwanzig war Els Jünger am Schrein Wagners gewesen. Also wusste er alles über Peps, Wagners Spanielmuse und Mitautorin von Tannhäuser. Peps lag während der Arbeit zu Wagners Füßen unter dem Klavier. Wenn dem Hund eine Passage nicht gefiel, sprang er auf den Tisch und heulte, bis Wagner die Phrase verwarf. Es gab Jahre, da hätte Els einen so freimütigen Kritiker brauchen können, und Fidelio wäre vielleicht zu Diensten gewesen. Aber als Fidelio in sein Leben kam, hatte Els das Komponieren bereits aufgegeben.

Wie Peps war auch Fidelio gut für die Gesundheit ihres Herrn. Sie machte Els darauf aufmerksam, wenn es Zeit für Mahlzeiten oder Spaziergänge war. Und als einzige Gegenleistung forderte sie, dass sie Teil der Zweiermeute sein durfte, loyal ihrem Leithund, und heulen durfte, wann immer es Musik gab.

Els las von anderen musikalischen Hunden. Da gab es den Bullenbeißer Dan – unsterblich gemacht durch die elfte von Elgars Enigma-Variationen –, der Sänger anknurrte, wenn sie aus dem Takt kamen. Der Bullterrier Bud hatte im Weißen Haus für Eleanor und Franklin D. ein Stephen-Foster-Medley dargeboten, fünf Jahre bevor Peter zur Welt gekommen war. Dreißig Jahre später, als er in Urbana, Illinois, durch ein John-Cage-Happening streifte, sah er, wie Lyndon Johnson vor den Kameras der verblüfften Nation ein Duett mit seiner Promenadenmischung Yuki sang. In den drei kurzen Jahrzehnten zwischen Bud und Yuki waren Mondraketen an die Stelle von Doppeldeckern getreten, das Arpanet hatte den Morsescheinwerfer abgelöst. Musik hatte sich von Copland zu Crumb entwickelt, von »A Fine Romance« zu »Heroin«. Doch nicht das Geringste änderte sich in der musikalischen Welt der Hunde.

Fidelios Sangesfreude ließ niemals nach. Sie war keine von denen, die ständig etwas Neues brauchten. Kein Klassiker, der ihr zu viel wurde – aber sie erkannte auch nie etwas von dem wieder, was Els ihr vorspielte, ganz egal wie oft sie es gehört hatte. Ein nie endender Tanz in einer immerwährenden Gegenwart: so nahm sie jedes Stück an, das sie gemeinsam hörten, Abend für Abend, jahrelang. Fidelio liebte die Schlüsselwerke des zwanzigsten Jahrhunderts, aber genauso sang sie mit, wenn an einem Sommerabend Häuserblocks entfernt ein Eiswagen seine digitalen Töne dudelte. Es war eine Kennerschaft, gegen die Els die seine, ohne zu zögern, eingetauscht hätte.

Ich hatte keine Ahnung, was daraus wird. Das ist ja das Schlimme, wenn man Sachen macht. Man weiß es nie.

Existierte Tonalität an sich – gottgegeben? Oder waren diese magischen Proportionen wie alles Menschliche improvisierte Regeln, die man auf dem Weg zu einer noch gnadenloseren Freiheit brechen musste? Fidelio wurde für Els zum Versuchstier in seinem Experiment, seiner Suche nach den Universalien der Musik. Der Hund wurde rege, allein schon wenn Els nach dem abgeschabten Klarinettenetui seiner Kindheit griff. Duettzeit. Fidelio fing schon an zu bellen, bevor Els die erste Note gespielt hatte. Erster Versuchsgegenstand war die Oktaväquivalenz. Els hielt einen Ton, der Hund antwortete in einem klagenden Intervall. Wenn aber der Klarinettenton um eine Oktave wechselte, blieb der Hund bei seinem Ton, als sei die Höhe unverändert.

Dieses Experiment überzeugte Els davon, dass sein Hund Oktaven in der gleichen Art wie Menschen hörte. Oktaven waren im Bau des Körpers programmiert, das war eine Gewissheit, die nicht nur kulturen-, sondern sogar genomübergreifend galt. Spielte man von do bis do, ganz egal wie man die Schritte dazwischen aufteilte, dann hörten selbst Vertreter anderer Spezies, dass die Töne in einem Kreis wieder zu sich zurückführten wie in einem Farbenzirkel.

Nur ein Verrückter hätte sich deswegen Gedanken gemacht. Aber Fidelios Reaktion faszinierte Els. Die Reaktion brachte ihn zu all den Jahren in der Wildnis zurück, der Zeit, als er das menschliche Ohr an Orte gebracht hatte, an die es freiwillig nie gehen würde, als er versucht hatte, durch die Mathematik der Musik eine Abkürzung zum Erhabenen zu finden. Fidelio, dieses glückliche Geschöpf, das zu den Launen von Els’ Klarinette gebellt hatte, hatte auf etwas in der Musik verwiesen, das über Bildung hinausging, etwas, das zum Bauplan jedes höher entwickelten Gehirns gehörte.

Els hatte sein Leben der Suche nach diesem Größeren gewidmet. Nach etwas Großartigem, Dauerhaftem, das unter der altersmüden Oberfläche der Musik verborgen lag. Irgendwo hinter dem Vertrauten lagen Konstellationen von Noten, Folgen von Tönen, die den Verstand ans Ziel bringen konnten.

Der Glaube, dass dieses Etwas existierte, war immer noch lebendig in ihm. Doch jetzt, wo der Hund tot war, er selbst auf der Warteliste, glaubte er nicht mehr daran, dass er es in der Zeit, die ihm blieb, noch finden würde.

Vielleicht habe ich einen Fehler gemacht. Aber Cage sagt, Fehler ist ein falscher Begriff. Wenn etwas geschieht, existiert es und ist echt.

Er ging hinaus in den Garten, mit Taschenlampe, Schaufel und dem Bündel in der Decke. Er wählte eine Stelle an einer Buchsbaumhecke aus, die Fidelio immer gerne markiert hatte. Der kleine Garten war bereits mit einem dichten Geflecht von Frühlingsunkräutern überzogen. Dass ein so verschwenderisches Übermaß das Wesen des Lebens war, konnte ihn immer wieder neu verblüffen. Els klemmte die Taschenlampe zwischen den Zweigen eines Geißblattbusches fest, nahm die Schaufel und grub.

Der tiefe Ton, wenn Schuhsohle auf Schaufelblatt traf, das helle Kratzen, wenn die Schaufel in den steinigen Boden drang, erklangen als angenehmer Wechselschritt. Als das Loch tief genug war, dass die Gefährtin seiner späten Jahre hineinpasste, legte er die Schaufel ab und nahm den Leichnam. Fidelio fühlte sich nun leicht an, als sei etwas in den anderthalb Stunden seit ihrem Tod aus ihr fortgegangen.

Er stand am Rande des Grabes und betrachtete die Decke. Es war ein Quilt, den seine Exfrau aus ihrer beider alten Kleidern genäht hatte, vor über vierzig Jahren, in den glücklichsten Tagen ihrer gemeinsamen Zeit. Ein großer Quilt, in den strahlendsten, leuchtendsten Tönen von Coelin, Jade, Smaragd und Chartreuse. Das Muster hieß »Night in the Forest«, Nacht im Walde, und Maddy hatte fast zwei Jahre daran gearbeitet. Neben dem Satz Nebelkammerschalen war diese Decke das Schönste, was Els besaß. Die Vernunft hätte gefordert, dass er sie abnahm, wusch, in den Schrank legte, wo seine Tochter sie nach seinem Tod gefunden hätte. Doch Fidelio war in diesem Quilt gestorben, ein Tod, wie man ihn sich unverständiger nicht vorstellen konnte, und die vertraute Decke war ihr einziger Trost gewesen. Wenn Menschen eine Seele hatten, dann hatte dieses Geschöpf mit Sicherheit ebenfalls eine. Und wenn Menschen keine hatten, dann war keine Geste hier zu edel oder zu lächerlich. Els entschuldigte sich bei Maddy, die er seit Jahrzehnten nicht mehr gesehen hatte, und legte das Bündel in die Erde.

Der Leichnam ruhte in seinem Quilt in dieser Lehmgrube. Im Licht der Taschenlampe schimmerte die Nacht im Walde in den schönsten, kühlsten Farben. Einen Moment lang waren diese dunklen Grüntöne allen Schmerz wert, den er und Maddy sich je zugefügt hatten.

Els griff wieder zur Schaufel, summte eine aufsteigende Melodielinie vor sich hin, die langsam Gestalt annahm. Sechsmal in den sieben Dekaden seines Lebens hatte er sich vergegenwärtigen müssen, wie der Kummer einen Menschen das kleinste, verirrteste Ding lieben ließ. Dies war das siebte Mal.

Eine Stimme sagte: Was machen Sie da? Mit einem erschrockenen Laut ließ Els die Schaufel fallen.

Von dem Schrecken erschreckt rief die Stimme, Ich bin’s.

Der achtjährige Nachbarsjunge hatte sich auf einen Gartenstuhl gestellt und lugte über den Lattenzaun. Kinder, die unbeaufsichtigt durch die Nacht geisterten. Els wusste nicht mehr, wie der Junge hieß. Wie alle Jungennamen im Zeitalter der sozialen Netzwerke begann er mit einem J.

Was ist das?, fragte J in verschwörerischem Ton.

Ich begrabe meinen Hund.

Da drin?

Es ist eine Art Grabbeigabe.

Aus Multiplayer-Onlinespielen wusste J alles über Grabbeigaben.

Darf man denn seinen Hund im Garten begraben?

Er hat sich hier immer wohl gefühlt. Und es muss ja keiner wissen, oder?

Kann ich ihn ansehen?

Nein, sagte Els. Er hat jetzt seinen Frieden.

Els griff wieder zur Schaufel und schüttete das Loch zu. J beobachtete ihn gebannt. Er hatte in seinem jungen Leben schon Tausende von Toden gesehen. Aber ein anständiges Begräbnis, das war neu für ihn, unerhört.

Aus der Grube wurde ein flacher Hügel. Els stand da und überlegte, was als Nächstes kam, in dieser improvisierten Totenfeier.

Sie war ein guter Hund, Fidelio. Sehr klug.

Fidelio?

So hieß sie.

Ist das die lange Form von Fido oder so was?

Dieser Hund konnte singen. Der Hund konnte unterscheiden zwischen schönen und hässlichen Lauten.

Els verschwieg, dass Fidelio die hässlichen bevorzugt hatte.

J machte ein misstrauisches Gesicht. Was hat sie gesungen?

Alles. Sie war sehr aufgeschlossen. Els nahm die Taschenlampe und leuchtete in Richtung Zaun. Meinst du, wir sollten etwas für sie singen?

J schüttelte den Kopf. Ich kenne keine traurigen Lieder. Außer den lustigen.

Ich wollte mich erinnern, wie das Leben tatsächlich funktionierte, und ich wollte sehen, ob die Chemie von mir noch etwas brauchen konnte.

Der achtjährige Peter versteckt sich in der Speisekammer des elterlichen Pseudo-Tudorhauses, kauert dort in seinem Gene-Autry-Schlafanzug, bespitzelt Mutter und Vater, missachtet jedes Gesetz Gottes und der Menschen. Ihm ist es gleich, ob er ertappt wird. Er ist so oder so verloren. Ein paar Wochen zuvor haben die Roten eine Atombombe gezündet, und Karl Els hat den versammelten Vätern des Viertels bei Spare Ribs an einem mächtigen Lagerfeuer versichert, dass die Welt noch fünf Jahre zu leben hat, bestenfalls. Das Grillfest wird das letzte in diesem Viertel sein. Als alles aufgegessen ist, versammeln die todgeweihten Väter und ihre Frauen sich um die Els’sche Hammondorgel, in jeder zweiten Hand ein Glas Gin, der Chor der blauen Unschuldsengel, versammelt zum Abschiedslied.

O nimm Du die blühende Rose vom Strauch,

Verläng’re ihr Dasein mit lieblichem Hauch!

Umtönt ihre Blüte Dein holder Gesang,

So wähnt sie, noch sei es der Nachtigall Klang.

Sein großer Bruder Paul schläft im Dachzimmer, ein Stock über ihnen. Susan quengelt in ihrem Bettchen am Fußende der Treppe. Und Peter steht in der Brandung dieser Akkorde, umtost von Amerikas letztem Gesang. Immer höher erheben sich die Töne. Sie machen die Sprache so unsinnig wie Bauchreden im Radio. Licht und Dunkel ergießen sich über Peter mit jeder neuen Akkordfolge, Begeisterung ohne Mittelsmann. Schwankende Tonreihen purzeln Takt um Takt übereinander, folgen einer inneren Logik, dunkel und schön.

Wieder ein milchiger, aufgewühlter Ton, der dem Jungen an den Magen geht. Gleich mehrere verlockende Pfade führen zu unbekannten Noten. Aber vor lauter möglichen Verzweigungen verliert die Melodie die Orientierung. Ein unerwarteter Tonsprung, von dem Peter Gänsehaut bekommt. Quaddeln auf seinen Unterarmen. Sein kleines Glied wird steif vor erstem Begehren.

Der Chor der trunkenen Engel versucht es mit einem schwierigeren Lied. Diese neuen Akkorde sind wie die Wälder auf dem Hügel bei Peters Großmutter, wo sein Vater einmal mit ihnen Schlitten gefahren ist. Schritt für Schritt stolpern die Sänger voran in ein Dickicht aus verschlungenen Harmonien.

Etwas greift nach ihnen und bringt sie aus dem Takt. Die Finger seiner Mutter verirren sich auf den Tasten. Sie schlägt mehrere an, alle falsch. Unter lautem Gelächter plumpsen die Sänger in einen Graben, das Ginglas in der Hand. Dann singt der Schlafanzugjunge von seinem Versteck aus genau den verlorenen Ton. Der ganze Chor starrt diesen Eindringling an. Jetzt werden sie ihn bestrafen, weil er mehr Regeln gebrochen hat, als überhaupt jemand zählen kann.

Seine Mutter versucht es mit diesem Ton. Einem, den sie nie genommen hätte, aber er liegt auf der Hand – besser als der, nach dem sie gesucht hatte. Die beschwipsten Sänger applaudieren dem Kind. Peters Vater kommt vom anderen Zimmerende und gibt ihm einen Klaps auf den Hintern, schickt ihn zurück ins Bett, Strafe suspendiert. Und bleib oben, es sei denn, wir brauchen dich noch mal.

 

Zwei Monate später steht der junge Peter in den Kulissen, klammert sich an die Klarinette, wartet auf seinen Auftritt, sein erster stadtweiter Wettbewerb. Jedes Vergnügen, das hat er bereits gelernt, wird zwangsläufig zum Wettstreit. Seine Mutter möchte ihm diesen Auftritt, als Gladiator in der Arena, ersparen, doch sein Vater, der – wenn er Paul, dem Bruder, glauben will – im Krieg einen deutschen Gewehrschützen getötet hat, ist der Ansicht, dass man einen Jungen am besten dadurch vor dem öffentlichen Urteil schützt, dass man ihn diesem in großen Dosen aussetzt.

Jemand ruft Peters Namen. Er stolpert auf die Bühne, sein Kopf wie ein Heliumballon. Als er sich vor dem Raum, in dem er nichts als Schwärze sieht, verneigt, verliert er das Gleichgewicht und stolpert nach vorn. Der ganze Saal lacht. Sein Stück spielt er im Sitzen, Schumanns »Von fremden Ländern und Menschen«. Der Begleiter wartet auf ein Zeichen, doch Peter fallen die ersten Töne nicht mehr ein. Seine Arme sind wie Pudding. Irgendwie finden die Hände sich zurecht. Er dudelt das Stück herunter, zu schnell, zu laut, und lange bevor er am Ende angekommen ist, laufen die Tränen. Der Applaus ist das Zeichen, dass er von der Bühne laufen kann, blamiert.

Er landet auf der Toilette, kotzt sich die Seele aus dem Leib. Die Aufsteck-Fliege ist besudelt, als er wieder herauskommt und sich seiner Mutter stellt. Die drückt seinen Kopf an ihre Brust und sagt Petey, so was musst du nie wieder machen.

Er reißt sich los, entsetzt. Du verstehst das nicht. Ich muss spielen.

Er bekommt den zweiten Preis in seiner Altersklasse – einen Violinschlüssel aus Zinn, den seine Eltern neben die Baseballtrophäe der Junior-B-Liga 1948 seines Bruders auf den Kaminsims stellen. Drei Jahrzehnte später wird er das Ding in Zeitungspapier gewickelt auf dem Dachboden seiner Mutter wiederfinden, ein Jahr nach ihrem Tod.

Ich hatte diese Melodie sechzig Jahre lang gehört. Unser Musikgeschmack verändert sich so wenig. || Was wir am Ende der Kindheit mögen, wird auch auf unserer Beerdigung gespielt.

Carnegie Elementary, Fisk Junior, Rockefeller High: Peter Els überlebt sie alle, von der Fibel mit Dick und Jane über Gerundien und Partizipien, Pilgerväter und Panzerkreuzer bis zu Stanley und Livingstone, Schienbein und Wadenbein, Basen und Säuren. Er lernt Hiawathas Kindheit auswendig, Ozymandias, Emma Lazarus’ Neuen Koloss; die üppig punktierten Rhythmen vertreiben ihm die Öde seiner Spätnachmittage.

Mit zwölf meistert er den mystischen Rechenschieber. Er spielt mit Quadratwurzeln, sucht nach versteckten Botschaften in den Kommastellen von Pi. Er berechnet den Inhalt unzähliger rechtwinkliger Dreiecke und kartiert das Hin und Her französischer und deutscher Armeen über Europa im Laufe von fünf Jahrhunderten. Lehrer ziehen vorüber wie Quintenzirkel, und alle bestehen darauf, dass an die Stelle der Kindheit das Ansammeln von Fakten gehört.

Am meisten mag er seine Musikstunden. Woche um Monat um Jahr erobert er die Klarinette. Die Etüden, die seine Lehrer ihm zu spielen geben, sind der Schlüssel zu immer exotischeren, immer verzauberteren Orten. Offenbar spricht er diese Sprache von Natur aus.

Es ist eine Gabe, sagt seine Mutter.

Ein Talent, verbessert sein Vater.

Auch sein Vater ist besessen von Musik, oder zumindest von ihrer immer getreueren Wiedergabe. Alle paar Monate leistet Karl Els sich neue, bessere Geräte, bis die High-Fidelity-Lautsprecher, die er an seinen Röhrenverstärker anschließt, größer sind als die Hütte eines Wanderarbeiters. Mit Hilfe dieser Apparaturen bombardiert er seine Familie mit populärer Klassik. Walzer von Strauß. Die lustige Witwe. Der Mann brüllt, »I am the very model of a modern Major General«, bis ihr friedfertiger Nachbar ihnen mit der Polizei droht. Jeden Sonntagnachmittag, manchmal auch wochentagsabends, hört der junge Peter zu, wenn die Platten sich drehen. Er sucht die immer neuen Harmonien ab, und manchmal findet er Geheimbotschaften, die über dem Getümmel schweben.

Und vom Plattenspieler seines Vaters hört der elfjährige Peter zum ersten Mal Mozarts Jupitersinfonie. Ein verregneter Sonntagnachmittag im Oktober, zäh dahinfließende Stunden quälender Langeweile; wer hätte sagen können, wo die anderen Kinder waren? Saßen oben und hörten Radioshows, spielten Astragal oder Mikado oder Flaschendrehen in Judy Breyers Keller. Tief in Sonntagsöde versunken arbeitet Peter sich durch die väterliche Langspielplattensammlung auf der Suche nach dem Heilmittel für seinen ewigen Schmerz – ein Mittel, das irgendwo in diesen bunten Papphüllen verborgen sein muss.

Drei Sätze der 41. Sinfonie verstreichen: Schicksal und edles Opfer, Sehnsucht nach der verlorenen Unschuld und ein Menuett so elegant, dass er vor Langeweile beinahe vergeht. Und dann der Schlusssatz mit seinen vier bescheidenen Noten. Do, re, fa, mi: eine halbe, durcheinandergeratene Tonleiter. Zu einfach, als dass man von Komposition sprechen könnte. Aber dieses Ding schießt hinaus in die Welt wie eine afrikanische Antilope, ein Antilopenbaby, das aus dem Schoß der Mutter purzelt, noch nass und kann doch schon rennen.

Der junge Peter stützt sich auf die Ellenbogen, in die Falle gelockt mit einer Erinnerung aus der Zukunft. Die durcheinandergewürfelte halbe Tonleiter gewinnt an Masse – ein Sog, der andere Melodien in sein Schwerefeld zieht. Stimmen und Gegenstimmen spalten sich ab und vervielfältigen sich in einem kosmischen Fangspiel. Nach zwei Minuten öffnet sich unter dem Jungen eine Falltür. Das Erdgeschoss des Hauses verschwindet, darunter klafft ein Loch. Junge, Plattenspieler, Lautsprecher, das Zweiersofa, auf dem er sitzt: alles steht still, schwebt auf dem Strom des Klanges, wie er sich in den Raum ergießt.

Fünf Stränge breiten sich wie ein Virus aus, infizieren die Luft mit unbändiger Freude. Bei dreieinhalb Minuten wird Peter von einer Hand ergriffen, die ihn hoch über den Bretterzaun seiner Tage erhebt. Er steigt auf in einer wirbelnden Lichtsäule, blickt hinunter in den Raum, in dem er die Musik hört. Wortloser Frieden erfüllt ihn beim Anblick seines zusammengesunkenen, lauschenden Leibs. Und Mitleid mit jedem, der dieses Scheuklappenleben für die Wirklichkeit hält.

Sechs Minuten Staunen, und die fünf galoppierenden Melodien stellen sich zur fünffachen Fuge auf. Melodielinien bilden Echos, umspielen einander, enthüllen, wohin die Musik vom allerersten do an unterwegs war. Das fünfsträngige Geflecht ist zu dicht, er kann nicht alles heraushören, was dort geschieht. Der Klang umhüllt ihn, und Peter steckt in all dem mittendrin, ein kleiner, doch entscheidender Teil von allem.

Als die Stille ihn wieder absetzt, glaubt er nicht mehr an diesen Ort. Benommen streift er den Rest des Nachmittages umher. Das Elternhaus bestreitet, dass da gerade etwas geschehen ist. Die Platte ist sein einziger Beweis, und die nächsten drei Tage lang schabt Peter das Vinyl ab, setzt immer wieder die Nadel auf die gleiche Stelle. Selbst sein Vater schnauzt ihn an, dass er endlich mal was anderes hören soll. Jeden Abend schläft er unter der Kaskade dieser Noten ein. Er möchte sein ganzes Leben damit verbringen, dieses großartige Uhrwerk auseinanderzunehmen und die feinen Rädchen wieder zusammenzusetzen. Dieses Gefühl der Klarheit wiederzuerlangen, der Gegenwart, des Hierseins, so flirrend und vielfältig, so vornehm und groß wie ein Planet in den Weiten des Alls.

Jupiter lockt, doch jeder Besuch ist ein klein wenig zaghafter als der vorhergehende. Binnen eines Monats gibt Peter es auf, sitzt von neuem auf der unerbittlichen Erde fest. Er hastet durch die Zimmer, schlägt die Türen dieses zweistöckigen Ranchhauses. Wütend tritt er in die Pedale, fährt mit seinem Rad die Straßen ab, Häuser eins wie das andere genau wie bei sich zu Hause, Straßen, die sich umeinanderwinden wie die Linien eines Daumenabdrucks. Musik sickert zu den Küchenfenstern heraus, Melodien so aromatisch wie Ochsenbrust mit Kohl. Aber dafür hat Peter jetzt keine Geduld mehr. Sein Ohr hat sich erhoben und ist anderswohin gegangen.

Er verliert den Anschluss an seine Umgebung. Versteht nach diesem Erlebnis die Vergnügungen der anderen nicht mehr. Sport kommt ihm wie eine Kinderschaukel vor, Filme sind ihm entschieden zu klamaukig, der Lärm der Autos macht ihn krank. Er hasst die graue, falsche, zweidimensionale Pappdeckelwelt des Fernsehens, obwohl er sich einmal, um sich in Trance zu versetzen, eine halbe Stunde lang davorsetzt und den Schirm mit dem statischen Rauschen anstarrt, eine Botschaft aus dem Weltall. Und selbst als er abschaltet, starrt er noch in das immer kleiner werdende Periskop im Mittelpunkt des Schirms, eine Pforte zu jenem Ort, an den er nicht mehr zurückkann.

Mit dreizehn hat Peter Els mit dem ganzen aerodynamischen Achtzylinderrummel Amerikas nichts mehr gemeinsam. Es kümmert ihn nicht mehr, wem seine Vorlieben peinlich sind. Er braucht nichts außer seiner Mathematik und seinem Mozart, Sternkarten für die Rückkehr zu jenem fernen Planeten.

An einem endlosen Juninachmittag – Peter ist inzwischen vierzehn Jahre alt – entführen Bruder Paul und dessen Freunde ihn und zerren ihn in den Partykeller, binden ihn an einen Barhocker und zwingen ihn, sich Singleschallplatten auf einem tragbaren Plattenspieler so groß wie ein Überseekoffer anzuhören. Maybellene. Earth Angel. Rock Around the Clock. Sie flößen ihm Hits ein, überzeugt, dass sie aus diesem Spinner doch noch einen normalen Menschen machen können. Sogar von Schocktherapie ist die Rede.

Jetzt mach doch mal, Mann. Sperr die Ohren auf, und hör dir das an.

Peter versucht es. Der ist gut, sagt er. Toll, der gleitende Bass.

Er gibt sich Mühe, begeistert zu klingen, doch die Bande durchschaut ihn. Die nächste Nummer: The Great Pretender. Ein mitreißender Song, zum Mitsingen, chinesische Wasserfolter nach dem ersten Refrain.

Was ist denn jetzt schon wieder falsch, Armleuchter?

Es ist überhaupt nichts falsch. Nur dass … Er schließt die Augen und zählt auf, eins um eins: Tonika. Subdominante. Dominante. Die müssten mal ein paar neue Akkorde lernen. 

Klar doch. Stimmt was nicht mit denen, die sie haben?

Die sind vollkommen in Ordnung für alle, die mit diesen dreien zufrieden sind. Aber was bedeutet schon »in Ordnung«, wenn man die Ewigkeit gehört hat?

Hier geht’s nicht um Akkorde, schnauzt Paul ihn an.

Diese Musik kommt nicht voran, Paul. Sie dreht sich im Kreis, wie Wasser an einem Abfluss.

Dreht …? Bist du taub oder was? Ein verklärter Ausdruck kommt in die Augen seines Bruders: das Hämmernde, Bohrende, der Sex der frühen Rockmusik. Hörst du das nicht? Das ist Freiheit, du vertrockneter Haufen Kacke!

Peter hört nur harmonisches Gefängnis.

Das Tribunal legt Blue Suede Shoes auf. Peter zuckt mit den Schultern: Warum nicht? Schmissiger Spaß für billiges Geld. Die Weigerung, sich beeindrucken zu lassen, bringt seinen älteren Bruder in Wut. Er hebt den Arm, um dem Deppen eine Magic-8-Kugel an den Kopf zu schmeißen. Doch ein ekstatischer Backbeat reißt ihn mit, und er ruft, Hör dir das an. Jeeesus! Kann Musik besser sein?

Er schnickt die Kanonenkugel durch den bassdröhnenden Kellerraum. Peter fängt sie, senkt den Kopf zum Lesen und schaut, was der Plastikwahrsager auf diese Frage antwortet:

KONZENTRIERE DICH UND FRAGE NOCH EINMAL.

Mein Leben lang habe ich geglaubt, ich wüsste, was Musik ist. Aber ich war wie ein Kind, das seinen Großvater für Gott hält.

Ein Junge stapft durch das flache Wasser am Ufer eines sommerlichen Sees. Himmel und Kiefern in allen Richtungen, das Stimmengewirr der Verwandtschaft. Bleischwer lasten die Ferien auf der Luft, und wieder einmal unternimmt Peter erste Versuche in Sachen Leben.

Es mag Spätnachmittag sein, aber noch Stunden bis zum Sonnenuntergang. So weit im Norden, so nah an der Sonnenwende, hängt die Sonne ganze Tage in ihrem Zenit, bis sie sich auf den Weg in Richtung Dämmerung macht. Der See füllt sich mit badenden Kindern – es ist Elsfest, die jährliche Sause, zu der ihr abtrünniger Zweig der Familie nur selten den Weg findet. Das Südufer dieses nördlichen Sees ist ganz in Elsenhand. Dreißig Meter draußen tummeln sich Kinder auf einer auf leeren Ölfässern schwimmenden Holzplattform wie Ameisen auf einem Zuckerwürfel. Am Ufer fischen Onkel Bierflaschen aus einer eisgefüllten Zinkwanne und öffnen sie am Henkel der Wanne. Tanten und Schlimmeres liegen auf einer Strandtuchstraße zum Sonnenbad. Else in allen Richtungen. Nicht einmal Peters Vater kann alle aus der Sippschaft beim Namen nennen. Eine winzige russische Bombe – sogar eine konventionelle –, und mit den Elsen wäre es aus.

Zum Mittsommer gibt es eine kristallklare Melodie, die Peter schon seit Tagen bis zum Umfallen geübt hat. Heute ist er bereits im ersten Morgenlicht aufgestanden und hat Stunden damit zugebracht, in seinem Versteck oben auf dem Hügel mit der Klarinette von Evette & Schaeffer, die sein Vater bei einer Haushaltsauflösung für ihn entdeckt hat. Als er zu den anderen unten am See stieß, war die Sommermelodie tief in seinem Hirn eingebrannt.

Seine Klarinette ist das eine, was Peter mit auf eine Mondfahrt nehmen würde, auf eine einsame Insel oder ins Gefängnis. Seine Finger spüren die Noten – selbst hier, im Wasser des sommerlich schwappenden Sees, übt er noch. Er kann Crescendi und Riffs blasen, Läufe in einem Tempo, in dem er sich unbesiegbar vorkommt. Spielen ist wie ein mathematischer Beweis – quod erat demonstrandum.

Die Musik unter seinen Fingern ist in diesem Sommer die neue Hymne im Staat seiner Sehnsucht. Im folgenden Monat wird er damit sein Debüt in der Stadt geben, zusammen mit zwölf älteren Musikern. Dieses Stück ist überall, im Hüpfen des Wassers, im Geschnatter auf dem Floß. Er liebt diese Tanzsuite wie er seine Mutter liebt, die am Ufer dieses nördlichen Sees in ihrem schlabbrigen einteiligen Badeanzug mit Röckchen liegt, in dem sie aussieht wie eine ponchiellische Flusspferd-Ballerina. Er kennt seine Musik besser als seinen Vater, der Dienst als Bademeister tut, Lucky Strike in der einen Hand, Carling Black Label in der anderen, und das Streitgespräch der Els-Onkel dirigiert.

Peter könnte nicht sagen, warum die Suite eine solche Macht über ihn hat. Doch irgendwie bilden die ersten paar Noten, wie die Strahlen des Sonnenaufgangs über einem Gebirge im Osten, das Fundament für alles, was kommt. Am Ende kehren all diese Variationen zu ihrem Ursprung zurück, gegen ein altes Kirchenlied der Shaker gesetzt, und es entsteht ein Klang größer als jedes Land. Er kommt nicht dahinter, wieso diese einfache Reprise eine so großartige, so erschütternde Auflösung hervorbringt. Er weiß nur, dass das Stück sogar diesen sonnenheißen Nachmittag voraussagt, diesen belebenden Seewind. Peter hat versucht, es nachzuahmen, hat seine eigenen Akkorde auf einem frischen Blatt Notenpapier festgehalten – die Bleistiftskizze eines Jungen, in der das ungläubige Staunen zum Ausdruck kommen soll, von dem ihm immer wieder schwindelt, sooft er dieses Stück, diese Offenheit hört.

Er wird diese Musik zu Tode lieben. Noch ein paar Jahre, dann wird er über ihre Gefühligkeit die Nase rümpfen, die ergreifenden Harmonien verspotten. Wenn man erst einmal dermaßen geliebt hat, ist Verachtung die einzige Zuflucht. Erst wenn es zu spät ist, wird Peter begreifen, dass er sein Leben lang nur ein Einziges wollte: ein Ohr so zu rühren, wie diese Variationen ihn gerührt haben.

Doch der Soundtrack aus den Kehlen von Dutzenden jüngerer Cousins und Cousinen, das ist eine andere Sache. Einer nach dem anderen klettern sie auf das Floß, wackeln mit den besenstieldünnen Hüften, brüllen I’m all shook up! und machen Hechtsprünge ins Wasser. Die Älteren spielen ein Spiel, das sie Abplatschen nennen, bei dem jeder untergetaucht wird, der es wagt, einen orangeroten Wasserball anzufassen. Schrille Schreie durchschneiden die Luft. Peter hält sich an der algenbedeckten Leiter des Floßes fest, gibt gut acht, dass seine Finger unter Wasser in Sicherheit bleiben. Stechfliegen groß wie Kolibris knabbern an seinem Nacken.

Er sieht zu, wie Cousine Kate aus Minnesota manisch ihre Schneise in diesen Schwarm schlägt. Wer hätte gedacht, dass so viel Überraschung auf zwei nackten Beinen stehen kann? Peter hat ihren Namen mit Kugelschreiber tief drin auf die Sohlen seiner All Stars geschrieben, und keiner außer ihm wird je wissen, dass das Wort dort versteckt ist. Er hat von ihren Hüften geträumt und ihren Kniekehlen. Jetzt ist sie überall zugleich in dieser Wasserbalgerei, konspiriert, kollidiert, schießt wie der Blitz durch die Luft, klettert wieder zurück auf die Plattform, zieht einen heruntergerutschten Träger hoch, als hätte ihre Aprikosenbrust nicht gerade in die Sonne geschaut. Ihre Mayday-Rufe lassen Peters Herz schneller schlagen, und der Rhythmus ihrer strampelnden Beine passt zur Ballettsuite, die in seinem Kopf pulsiert. Ihr Lächeln verrät, dass sie in Gedanken schon bei der nächsten Eskapade ist, bevor die aktuelle vorüber ist.

Am Ufer, wo die Grillfeuer zischen, führen die Els-Patriarchen ihre eigene Schlacht. Peter hört ihre Worte sogar noch durch das Geschrei der Balgereien am Floß. Von Sonnenstühlen und Mah-Jonggtischen rufen die Frauen ihren Männern zu, dass sie’s gut sein lassen sollen. Mal was runterschlucken oder noch besser runterspülen. Hey Mabel – Black Label! Peters drei Lieblingstanten – zwei echte und die Freundin von einer; jeden Abend singen die drei am Lagerfeuer, lassen die Zeiten aufleben, in denen sie als Verschnitt der Andrews-Sisters auftraten und ihre Seidenstrumpf-Sextakkorde einmal sogar den Chor für niemand Geringeren als Sinatra abgaben – legen aus vollem Halse los: Ac-Cent-Tchu-Ate the Positive. Die Hälfte des Els’schen Tabernakelchors stimmt ein: Don’t mess with Mister In-Between.

Aber der Herr dazwischen ist überall, mischt sich in alles ein. Die Männer sind bei der Tagespolitik angelangt. Sie wissen, was in Korea los war. Peters Vater – managt die Maklertruppe einer Versicherung, von ganz unten hochgearbeitet, erbeutete Nazifahne im Trimm-dich-Raum in seinem Keller – erklärt, die Amerikaner hätten sich an beiden Ufern des Yalu hinaufbomben sollen. Else jeglicher Couleur heben empört die Bierflaschenlanzen. Hör sich einer diesen Kerl an! Der hat nicht mehr alle Tassen im Schrank!

Ein Juchzer der ranken Kate vertreibt alle Politik. Sie macht einen Sprung vom Floß, beschreibt einen Bogen in der Luft, mit einem Freudenschrei in Cis, ein Geschoss, das mit tödlicher Präzision in der Mitte eines Rings von Pittsburgher Vettern einschlagen wird.

Als Peter sein Ohr wieder Richtung Ufer richtet, marschieren die Erwachsenen auf der blutbefleckten Landkarte eben in Ungarn ein. Onkel befinden, grundlos die Russen herauszufordern wäre Selbstmord gewesen. Grundlos?, brüllt Peters Vater. Wir haben diese Leute angestiftet, und dann haben wir sie im Stich gelassen. Doch die anderen sind in der Überzahl; selbst der Chor aus sonnenbadenden Tanten schnaubt verächtlich.

Die Onkel wechseln von Ungarn nach Hause zurück, angetrieben von der familientypischen Streitlust. Sie geraten sich wegen der Omnibusse im Süden in die Haare, dem schwarz-weißen Schachspiel um die Seele der Nation. Karl Els piekt seinen Bruder Hank mit einer Bierflasche in die Brust und sagt, die Schwarzen hätten eher Anrecht auf Nordamerika als die Weißen. Onkel fuchteln mit den Armen, verwerfen ihn, den ganzen kranken Familienzweig. Ach, geh doch, und wiegle die Neger im Kongo auf.

Hässliche Worte kommen vom Ufer herüber, Worte, die auf der Verbotsliste stehen. Peters Mutter weint. Ihr Mann schnauzt sie an, sie soll endlich erwachsen werden. Es sieht ganz so aus, als solle es dem Elsfest nicht besser ergehen als dem Weltgeschehen. Peter sucht den See nach Hilfe ab. Seine hundert Cousins und Cousinen handeln gerade die Regeln für ein Wasserballspiel aus. Seine Mutter sitzt in ihr Frotteetuch gewickelt und schluchzt. Sein Vater nimmt einen Zug von einer Zigarette, die er mit der hohlen Hand beschirmt. Peter wirft seinem Bruder Paul einen Blick zu, und der feuert einen Warnschuss zurück. Paul ist noch nie so gut angekommen wie heute, und er wird nicht zulassen, dass die Party jetzt zu Ende geht. Am anderen Ende des Floßes dreht sich die kleine Schwester Susan, schon da geradezu süchtig nach Schwindelgefühlen, in ihrem Schwimmreifen immer und immer wieder im Kreis.

Die Musik bricht ab. Seine Mutter geht am Wasser entlang, sucht ihre Sachen zusammen und stopft sie in die Strandtasche. Peter gleitet von seinem Platz auf der schleimigen Leiter, im Begriff, zum Strand zurückzuschwimmen. Doch eine Stimme von hinten packt ihn.

He, Lakritzstange. Komm mal her.

Cousine Kate, glatt und schimmernd wie alle Meeressäuger, strahlt ihn mit einem umwerfenden Lächeln an. Sie fordert ihn heraus, wie sie es in Peters privatem Kino schon hundertmal getan hat. Aber sie wartet nicht auf eine Antwort, schwimmt einfach nur zur geheimen Grotte auf der abgewandten Seite des Floßes. Peter folgt im Sog ihres Kielwassers. Endlich beginnt das große Abenteuer seines Lebens, und die Melodie entwickelt sich genau so, wie er sie geübt hat.

Er nähert sich ihr, da wo sie schwebt, mit einer Hand am Floß.

Lakritzstange. Magst du mich?

Er nickt, und sie stürzt sich über das Wasser auf ihn. Sie packt ihn mit den Beinen an der Brust und zieht. Ihr ganzes Gewicht hängt an ihm, und beide tauchen sie in die Tiefe. In der wassergrünen Wolke schmiegt sich ihr Körper um den seinen. Ihre Zunge findet den Weg in seinen Mund, und er schmeckt Seewasser. Ein Oberschenkel trifft ihn hart in der Leiste. Schmerz schießt seinen ganzen Körper hinauf, doch mit ihm eine Faser schärfster Lust. Er befühlt ihre glatte Haut, bekommt einen heruntergerutschten Träger zu fassen. Sie reißt sich los, taucht wieder an die Luft. Auf dem Weg nach oben trifft ihn ihr Fuß im Gesicht, und er bekommt Wasser in die Nase. Er lernt das Dunkel dessen kennen, was nach dem Leben kommen mag. Wasser dringt ihm in die Luftröhre, er ertrinkt.

Im Auftauchen stößt er an eine schleimige Masse. Er ist unter dem Floß herausgekommen. Stößt sich an grünverschmierten Ölfässern. Sein Kopf pocht, ringt nach Luft. Er stößt seitwärts vor, sucht verzweifelt nach einem Weg ins Freie, aber er verfängt sich in der tangverschlungenen Ankerkette.

Endlich kommt er frei. Er taucht auf, spuckt Algen, sucht Halt am Floß und ringt nach Luft. In der Nähe lachen zwei Cousins aus Kalifornien darüber, das Komischste, das sie den ganzen Tag über gesehen haben.

Er sieht wieder klar. Hält Ausschau nach Cousine Kate. Sie ist weit weg, hüpft in den Wellen und schmettert ein Lied für die Schar ihrer Bewunderer. Come smoke a Coca-Cola, drink ketchup cigarettes. See Lillian Russell wrestle with a box of Oysterettes.

Seine Mutter ruft vom Ufer her. Petey! Alles in Ordnung? 

Ein kalifornischer Cousin ruft, Das weiß nur sein Friseur!  

Peter winkt; alles in Ordnung. Seine Lungen pressen weiteres grünes Wasser aus. Die Luft füllt sich mit einem Kreischen, das als Gelächter gilt. Vielleicht ist er tot, überlegt er, stößt immer noch mit dem Kopf gegen die Unterseite des Floßes. Sein Vater steht wichtig am Ufer und bläst seine Bademeisterpfeife. Alle an Land zum Abzählen. Hopp-hopp.

Schwester Susan hört ihn nicht. Sie will ihren ganzen Schwimmreifen auf einmal unter Wasser drücken. Bruder Paul, der seine kurze Regentschaft als König des Floßes genießt, ruft zurück: Noch fünf Minuten!

Von wegen fünf Minuten! Jetzt sofort! Mit seinem Vater feilscht man nicht.

In Wirklichkeit ist jede Auseinandersetzung mit dem Mann eine Feilscherei gewesen, seit ihrer frühesten Kindheit. Einige unruhig gewordene Tanten rappeln sich von ihren Strandlaken auf und zählen ihre Sprösslinge. Eine weitere ruft vom See aus nach ihren Töchtern. Überall wird gerufen, und widerwillig macht sich die gesamte Kinderschar bereit, ans Ufer zu schwimmen; wieder einmal müssen sie den Launen der Erwachsenen nachgeben.

Dann, auf ein unsichtbares Zeichen – ein Wechsel der Windrichtung, eine Wolke vor der Sonne –, beschließt die gesamte Gruppe, sich zu weigern. Die Anführer entdecken eine entscheidende Schwäche in der Forderung vom Ufer. Wir kom-men!, rufen sie im Falsett, halb Kompromiss, halb Hohn. Sie schwimmen zurück zum Floß, bilden einen Burggraben, den kein vom Bier besäuselter alter Mann überqueren kann. Karl Els bläst noch einmal seine Pfeife – zwei scharfe Triller ins Leere.

Ein Pittsburgher Offizier schnaubt: Denkt der, er kann herschwimmen und uns einzeln rausholen?

Kates hünenhafter Bruder Doug lacht verächtlich von seinem Horst am Floßrand. Ein dunkler Haarsaum reicht ihm von der Höhlung des Brustbeins bis hinunter zum Nabel. Mit diesem Fell herrscht er über das ganze Floß. Soll er mal probieren. Sein Grinsen gibt zu verstehen, dass ihm alles Menschliche in all seiner Vielfalt am Arsch vorbeigeht.

Karl Els ruft seine Söhne nun mit Namen. Paul beobachtet den Mann, der am Ufer festsitzt, Peter beobachtet Paul. Zu viele Sekunden vergehen; das Leben wird nie wieder in Ordnung kommen. Selbst wenn sie jetzt nachgeben, wird die kleinste vorstellbare Strafe entsetzlich sein.

Peter schämt sich für die Blamage seines Vaters. Eine gescheiterte Ein-Mann-Regierung, verspottet von einem See voller Kinder … Nur die kurze Strecke zum Ufer, und Peter könnte den Mann noch retten, ihm helfen, so zu tun, als sei die Ordnung der Dinge unverändert geblieben.

Pauls höhnisches Grinsen lähmt ihn. Auch Kate bannt Peter mit ihrem Blick, droht mit bodenloser Verachtung, falls er nachgibt, verspricht Lohn, wenn er durchhält. Alle Welt will seine Loyalität.

Peter tritt Wasser und betrachtet seinen Vater. Er möchte dem Mann gerne sagen: nicht der Rede wert. Ein Sommerspiel. Etwas, das in der Luft liegt – schon im nächsten Moment vorbei. Er ist gelähmt in seiner Unschlüssigkeit. Wie einfach wäre es, jetzt hinaus auf den See zu schwimmen, bis er nicht mehr schwimmen kann. Doch Peter hüpft nur auf dem Wasser, schwerelos zwischen dem Floß der Rebellen und dem gebieterischen Ufer. Die Musik in seinem Kopf, die Shakermelodie, die er noch zwischen Algen geübt hat, zerstreut sich zu Lärm. Er wird hier auf der Stelle weiterpaddeln, ein einsames Kind, wird mit stockdünnen Armen wedeln, mit seinen Beinchen strampeln, bis seine Kräfte aufgezehrt sind und er untergeht.

Der Tag zersplittert zu eisigen Scherben. Sein Vater, puterrot geworden, schwankt, lässt Zigarette und Bier fallen. Er stürzt vornüber ins Wasser. Aber er schwimmt nicht. Leute kommen gelaufen, Rufe, Verwirrung. Onkel im Wasser, sie zerren die um sich schlagende Masse wieder ans Land. Sein gebrochener Vater presst sich die Hand an die Brust, an die Wand einer Hütte gelehnt, aschfahl, blickt triumphierend die Menge an und wartet, was sie nun sagt. Die Menge steht dort am Strand wie versteinert, alle Häupter gesenkt. Zu spät schwimmt Peter an Land, so kräftig er kann. Aber er traut sich nicht zu dem bleichen Mann hin, er hat Angst vor ihm, und gleich darauf haben sie seinen Vater schon im Auto und sind unterwegs zum Arzt.

Musik sagt die Vergangenheit voraus, erinnert an die Zukunft. Dann und wann werden die beiden eins, und allein mit der simplen Gabe eines kreisenden Lauts entziffert das Ohr das ganze verworrene Kryptogramm. Ein gleichbleibender Rhythmus, ewige Gegenwart, schon ist man frei. Doch nach ein paar Takten schließt sich der Mantel der Zeit wieder um uns.

Der letzte, tödliche Herzanfall kam eine Stunde später, in einer Landklinik, wo der einzige Mediziner mit seinem Regal mit Verbandsstoffen, Zungenhölzchen und Desinfektionsmitteln nichts anderes für Karl Els tun konnte, als ihn weiterzuschicken, mit einem Krankenwagen in die Stadt. Unterwegs starb er, meilenweit fort von allem, blies immer noch seine Bademeisterpfeife und ließ einen Sohn zurück, der von seiner Mitschuld am Tod des Vaters überzeugt war.  

Im mittleren Lebensalter verbrachte Peter Els Jahre mit der Komposition einer Oper, der Geschichte einer gescheiterten ekstatischen Rebellion. Jahrelang sah er die Prophezeiung des Weltendes in diesem Werk. Erst mit siebzig, als alter Mann, der seinen Hund begrub, erkannte er es schließlich als das, was es war: eine Kindheitserinnerung.

Crumb: ›Musik ist ein System von Proportionen im Dienste eines spirituellen Impulses.‹ Mein spiritueller Impuls war eben zufällig kriminell.

Els klopft die Erde von sich ab, geht zurück ins Haus und sucht etwas, das er zum Begräbnis seines Hundes spielen kann. Bei Mahlers Kindertotenliedern hält er inne: fünf Lieder, fünfundzwanzig Minuten. Dieser Zyklus konnte Fidelio um den Verstand bringen, früher, als sie noch klein war. Bei den ersten Takten stimmte sie ein, ein Gesang wie in den Herbstnächten bei Vollmond, wenn sie in den Park gingen.  

Ein wenig rührselig ist die Wahl schon. Es ist ja nicht so, als ob ein Mensch gestorben ist. Nicht Sara, der Anruf um drei Uhr morgens, den er sich nicht einmal gut genug ausmalen kann, um ihn zu fürchten. Nicht Paul oder Maddy oder ein Schüler von ihm. Nicht Richard. Nur ein Haustier, das überhaupt nicht verstand, was geschah. Nur ein alter Hund, der ihm allzeit Freude gemacht und immer treu gewesen war, ohne jeden vernünftigen Grund.

Er und Fidelio besuchten oft gemeinsam imaginäre musikalische Begräbnisse – vorgezogene Totenfeiern aus schierem Klang. Nichts belebte mehr als düstere Musik, die Freude eines Probelaufs, die Chance, die Phantasie dem Tod ebenbürtig zu machen. Aber heute, das ist keine Probe. Er hat die eine Partnerin verloren, die jeden Abend die selben alten Stücke neu anhören konnte, immer wieder zum ersten Mal. Ein Lämplein verlosch in meinem Zelt! / Heil sei dem Freudenlicht der Welt!

Die Aufnahme steht im Regal; die Prophezeiung ist hundert Jahre alt. An diesen fünf Liedern hatte Els gelernt, was Musik konnte. In dem halben Jahrhundert seither ist er durch jede musikalische Revolution zu ihnen zurückgekehrt. Keine Musik würde je wieder so geheimnisvoll sein, wie diese es gewesen war, an dem Tag, an dem er sie entdeckt hatte. Aber am heutigen Abend kann er noch einmal zuhören, kann ihren wilden Tönen lauschen, wie ein Tier es täte.

Während er die Scheibe aus der Plastikschachtel holt, stellt er eine kleine Berechnung an: Jemand, der als Achtjähriger Schumanns eben gedruckte Kinderszenen gehört hätte, hätte mit fünfundsiebzig der Uraufführung von Mahlers Kindertotenliedern beiwohnen können. Vom Frühling der Romantik zum Winter der Moderne binnen einer Lebensspanne. Das war der Fluch der Schriftlichkeit: Wenn man Musik erst einmal aufschrieb, dann war das Spiel schon halb vorüber. Sobald sie auf dem Papier stand, setzte der Wettstreit ein, hinter jeden Trick zu kommen, der sich in den Regeln der Harmonie verbarg. Zehn kurze Jahrhunderte hatten alle verfügbaren Neuerungen verbraucht, jede vergänglicher als ihre Vorgängerin. Der Tag musste kommen, an dem dieser immer schneller rasende Karren vor die Wand fuhr, und Els hatte das Glück gehabt, dass er den Augenblick des Aufpralls miterleben konnte.

Als Peter Mahlers Lieder zum ersten Mal hörte, war seine eigene Kindheit längst gestorben. Sie endete mit dem Herzanfall seines Vaters, dem Aufstand am Floß. Über lange Zeit beschwichtigte nichts so gut Peters Schuldgefühle wegen dieses Tages als die besten Aufnahmen aus der Sammlung seines Vaters: die Jupitersinfonie, die Eroica, die Unvollendete. Ein- oder zweimal öffnete die Musik noch die Tür zu einer reineren Welt, gleich neben der gelegen, die er kannte. Dann gab seine Mutter sämtliche Schallplatten seines Vaters weg, sämtliche Kleider, jedes Stück, das der Erinnerung Gewalt über die Gegenwart gab. Ohne die Kinder auch nur zu fragen, verschenkte sie die Musik an einen Wohltätigkeitsbasar.

Viel zu früh heiratete Carrie Els neu, einen Schadenssachbearbeiter aus dem Büro seines Vaters. Ronnie Halverson nahm auf seine sanfte Art das Elshaus in Besitz, ein massiger, gutmütiger Mann, dessen müde Witze und unaufgeregte Moral so unerschütterlich waren wie der Tod. Am Samstagvormittag, wenn er für alle Omeletts und Kartoffelpuffer briet, füllte er das Haus mit Bigbandklängen, und er verstand nie, warum sein begabter Stiefsohn aus der wohlig swingenden Freiheit von Woody Herman und Artie Shaw nicht heraushören konnte, wie eine gut gespielte Klarinette klang. Peter schloss Frieden mit dem Eindringling, machte seine Hausaufgaben, trug seine Zeitungen aus, übte, spielte im örtlichen Jugendsymphonieorchester, lächelte zurück, wenn ein Erwachsener ihn anlächelte, und schrieb furiose, rachedürstende Tutti für empörtes Orchester in ein spiralgebundenes Notenheft, das er zwischen Matratze und Bettlatten versteckte.

Mit fünfzehn entdeckte er seine Liebe zur Chemie. Die Formelsprache von Atomen und Orbitalen war sinnvoll auf eine Art, wie man sie sonst fast nur in der Musik fand. Chemische Gleichungen zu lösen, das war, als ob einem ein Tangramspiel gelang. Die Symmetrien, die sich in den Spalten des Periodensystems verbargen, hatten etwas von der Größe der Jupitersinfonie. Und noch dazu konnte man mit so etwas seinen Lebensunterhalt verdienen.

Und dann, am ersten Tag des Abschlussjahrs, sah Els am anderen Ende des vollbesetzten Versammlungsraums Clara Reston, und er begriff, dass sie von einem Planeten kam, der noch weiter draußen lag als sein eigener. Mit schmerzlicher Lust hatte er sie im Jahr zuvor im Highschoolorchester sitzen sehen, herausgeputzt hinter ihrem Cello in Musselinrock und einem dünnen Rippstrickpullover, den die Schule hätte verbieten sollen, hatte sie mit einem Lächeln, als sei nichts dabei, ihren Bogen über die Saiten gezogen. Zart gebaut, aufrecht wie eine Buchstütze und mit Haar, das ihr bis unter die Knie reichte, sah sie aus wie eine Tolkien’sche Elfe. Und sie spielte das blödsinnigste Arrangement der Landeshymne wie die erste Melodie, die Apolls Lyra je hervorgebracht hatte.

Er betrachtete Clara am anderen Saalende in einer Trance der Bewunderung. Und als habe er sie mit seiner Willenskraft dazu bewogen, hob sie den Blick, fing den seinen auf, neigte ihr nobles Haupt, wusste alles. Ihr Blick sagte: hast ja lange genug gebraucht. Und mit diesem Blick wurde aus dem Morgen seines Lebens stürmischer Mittag.

Zwei Tage später kam sie in der Aula zu Peter hin und stellte sich mit der Fußspitze auf seinen rechten Fuß. He, sagte sie. Was hältst du von Zemlinskys Klarinettentrio?

Er hatte noch nie von Zemlinsky gehört. Sie bedachte ihn mit einem Lächeln, das zu verstehen gab, dass die Liste von Dingen, von denen er noch nie gehört hatte, sehr lang war.

In der nächsten Woche hatten sie Stimmen, damit sie vom Blatt spielen konnten. Sie brauchten zwei Stunden allein für das Andante. Nur sie beide – es gab an der Schule keinen Klavierspieler, der das Stück hätte spielen können. Der Satz begann mit einer langen Solopassage für Klavier, und Peter hätte gedacht, dass sie die einfach überspringen. Aber Clara bestand darauf, dass sie dasaßen und die Takte abzählten, in denen sie beide schwiegen. Sie konnte das Geisterklavier hören, als stünde es im Raum und spielte mit ihnen. Und es dauerte nicht lange, da hörte er es auch.

Nach dieser Methode studierten sie ein Dutzend Stücke – Trios, Quartette, Quintette –, und ihre beiden Partien erhoben sich über der Stille der abwesenden Instrumente. Wenn sie ein Stück durchgespielt hatten, hörten sie sich als Nächstes eine Aufnahme davon an.

Er saß neben ihr und lauschte, und nach und nach hörte er die gedämpfte Botschaft, die er seit jeher unter der Oberfläche der Töne vermutet hatte. Und wenn er Clara beim Hören zusah, dann wusste er, dass sie einen Schlüssel besaß, den er nicht kannte.

Wenn ich Musik höre, sagte sie zu ihm, dann kann ich überall sein.

Bald lauschten sie an zwei oder drei Abenden gemeinsam. Und nicht lange, da wurde aus dem Musikhören eine andere Art von Spiel.

Im November, als Clara ihn für reif genug befand, gab sie ihm schließlich die Kindertotenlieder. Els wusste, wer Mahler war, aber er war der Musik immer aus dem Weg gegangen. Er nahm die vorherrschende Meinung über den Mann für bare Münze: zu langatmig, zu banal, zu neurotisch, zu viele Märsche und Ländler und Wirtshauslieder. Wie Clara noch als Teenager ihre Liebe zu diesem damals kaum gespielten Komponisten entdeckt hatte, erfuhr Peter nie. Denn als sie die Nadel erst einmal auf die Rille zum ersten dieser fünf abgrundtiefen Lieder gesenkt hatte, drängten sich wichtigere Fragen auf.

Sie hörten es sich in Claras Zimmer an, die Tür einen Spalt offen, damit der Anstand gewahrt blieb, während eine Etage tiefer ihre Eltern das Abendessen machten. Ein Novemberabend 1959: die ersten künstlichen Monde der Erde zogen am Himmel über ihnen ihre Bahn. Die Platte drehte sich, die chromatischen Wanderungen des Liedes begannen, und Peter Els hörte Musik nie wieder wie zuvor.

Während sie lauschten, stand Clara über ihn gebeugt. Ihr vier Fuß langes Haar, seit ihrem sechsten Lebensjahr von keiner Schere mehr berührt, weil sie, wie sie versicherte, solchen Schmerz dabei empfand, umhüllte ihn wie ein Zelt in der Einöde. Errötet, verwirrt, die Miene ein wenig düster, knöpfte sie die rosa Seersucker-Bluse auf und steckte seine Hand hinein. Und sie saßen stockstill, ihr Blut pochte, ineinander verschlungen, lauschten den gedämpften Rot- und Rostrottönen sterbender Kinder.

Die Geschichte sollte Peter besser im Gedächtnis bleiben als seine eigene Kindheit: Wie im ersten Jahr des neuen Jahrhunderts Mahler der Rastlose, der dreifach Heimatlose – als Böhme in Österreich, als Österreicher unter Deutschen und als Jude auf der ganzen Welt – nach einem schweren Blutsturz, hervorgerufen durch Überanstrengung, zusammenbrach. Nur eine rasche Operation rettete ihm das Leben. Während seiner erzwungenen Ruhe beschäftigte er sich mit einer Sammlung von Friedrich Rückert, über vierhundert Gedichte, die dieser für seine beiden kleinen, im Abstand von nur zwei Wochen an Scharlach gestorbenen Kinder verfasst hatte.

Die Gedichte waren aus Rückert nur so herausgeströmt – zwei oder drei am Tag – Tausende drängender, ungeschliffener Strophen. Manche waren Totgeburten. Manche waren erfüllt von einer unnatürlichen Ruhe. Manche waren im Abgedroschenen untergegangen, andere nur mit sich beschäftigt in einer muffigen Gruft. Rückert schloss sie weg, nur für seinen eigenen Gebrauch. Kein einziges wurde zu seinen Lebzeiten veröffentlicht.