Die Wurzeln des Lebens - Richard Powers - E-Book
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Die Wurzeln des Lebens E-Book

Richard Powers

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Beschreibung

»Die Wurzeln des Lebens« ist ein großer epischer Roman, der unseren Platz in der Welt neu vermisst - ausgezeichnet mit dem Pulitzer Preis 2019 für Literatur In Richard Powers Erzählwelt ist alles miteinander verknüpft. Die Menschen sind miteinander verwurzelt wie ein Wald. Sie bilden eine Familie aus Freunden, die sich zum Schutz der Bäume zusammenfinden: der Sohn von Siedlern, die unter dem letzten der ausgestorbenen Kastanienbäume Amerikas lebten; eine junge Frau, deren Vater aus China eine Maulbeere mitbrachte; ein Soldat, der im freien Fall von einem Feigenbaum aufgefangen wurde; und die unvergessliche Patricia Westerfjord, die als Botanikerin die Kommunikation der Bäume entdeckte. Sie alle tun sich zusammen, um die ältesten Mammutbäume zu retten – und geraten in eine Spirale von Politik und Gewalt, die nicht nur ihr Leben, sondern auch unsere Welt bedroht. »Wäre Powers ein amerikanischer Autor des 19. Jahrhunderts, welcher wäre er? Wahrscheinlich Herman Melville mit ›Moby Dick‹. Seine Leinwand ist so groß.« Margaret Atwood

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Seitenzahl: 965

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Richard Powers

Die Wurzeln des Lebens

Roman

Aus dem Amerikanischen von Manfred Allié und Gabriele Kempf-Allié

FISCHER E-Books

Inhalt

[Vorbemerkung][Widmung][Motto]WurzelnNicholas HoelMimi MaAdam AppichRay Brinkman und Dorothy CazalyDouglas PavlicekNeelay MehtaPatricia WesterfordOlivia VandergriffStamm[Fortsetzung des Kapitels STAMM]Krone[Fortsetzung des Kapitels KRONE]Samen

Dieses Buch ist ein Roman. Namen, Personen, Orte und Ereignisse entspringen der Phantasie des Autors und sind Teil der Fiktion. Jede Ähnlichkeit mit Ereignissen oder Orten, realen Personen, lebendig oder tot, ist rein zufällig.

Für Aida.

Die größte Freude, die Wiesen und Wälder bescheren, ist die Ahnung einer geheimen Beziehung zwischen den Menschen und der Welt der Pflanzen. Ich bin nicht allein, ich bleibe nicht unbemerkt. Sie nicken mir zu, und ich ihnen. Das Winken der Äste im Sturm ist neu für mich und zugleich alt. Es überrascht mich, und doch ist es nicht unbekannt. Die Wirkung ist wie die eines erhabeneren Gedankens, eines höheren Gefühls, das sich einstellt, gerade als ich glaubte, ich sei in Denken und Trachten gerecht.

Ralph Waldo Emerson

Wir können uns die Erde als ein Lebewesen vorstellen; nicht wie die Alten sie sahen – als Göttin mit einem Bewusstsein, mit Sinn und Verstand –, aber lebendig wie ein Baum. Ein Baum, der in Stille besteht; der sich nie regt, außer wenn der Wind ihn wiegt, der aber doch unablässig sein Zwiegespräch mit dem Licht der Sonne und dem Erdboden führt. Der aus Sonnenlicht und Wasser und den Nährstoffen der Mineralien wächst und sich wandelt. Und all das so unauffällig, so unmerklich, dass mir der alte Eichenbaum am Dorfanger noch genau der gleiche scheint wie zu Kindertagen.

James Lovelock

Der Baum … er beobachtet dich. Sieh einen Baum an, er hört dir zu. Er hat keine Finger, er spricht nicht. Aber das Blatt dort … es wird größer, es wächst in der Nacht. Wenn du schläfst, träumst du etwas. Der Baum und das Gras tun das auch.

Bill Neidjie

Wurzeln

Zuerst war da nichts. Dann war da alles.

Dann, in einem Park oberhalb einer Stadt im Westen nach Sonnenuntergang, schwirrt die Luft vor Botschaften.

Eine Frau sitzt auf dem Erdboden, an den Stamm einer Kiefer gelehnt. Sie spürt die harte Rinde im Rücken, hart wie das Leben. Die Luft ist erfüllt vom Duft der Nadeln, das Herz des Waldes von einer Kraft, einem Summen. Ihre Ohren stimmen sich ein auf die tiefsten Schwingungen. Der Baum spricht, in Worten aus einer Zeit, zu der es noch keine Worte gab.

Er sagt: Sonne und Wasser, das sind Fragen, die das Antworten lohnen, und das bis in alle Ewigkeit.

Er sagt: Eine gute Antwort muss man viele Male neu erfinden, immer wieder von Grund auf.

Er sagt: Jedes Fleckchen Erde braucht eine neue Art, es zu fassen. Zu erfassen. Es gibt mehr Möglichkeiten, sich zu verzweigen, als ein Bleistift aus Zedernholz je entdecken wird. Ein Ding kann überallhin reisen, einfach indem es an Ort und Stelle bleibt.

Genau das tut die Frau. Rings um sie her regnen Signale herab wie Samenkörner.

Die Themen des heutigen Abends sind bunt und vielfältig. Die krummen Äste der Erlen erzählen von Katastrophen aus alter Zeit. Blasse Blütendolden der Goldschuppenkastanien streuen ihren Staub; bald werden Stachelfrüchte aus ihnen. Pappeln erzählen weiter, was der Wind ihnen flüstert. Kaki- und Walnussbäume legen ihre Köder aus, Vogelbeeren leuchten in blutroten Dolden. Uralte Eichen raunen ihre Wettervorhersage. Hunderterlei Arten von Weißdorn können nur darüber lachen, dass man sie alle beim selben Namen nennt. Lorbeerbäume versichern, dass selbst der Tod nichts ist, was einem den Schlaf rauben muss.

Etwas im Duft dieses Abends fordert die Frau auf: Schließe die Augen und denke an eine Weide. Die Trauer, die du siehst, ist Einbildung. Stell dir einen Akaziendorn vor. Ganz gleich, was du vor Augen hast, es ist nicht spitz genug. Was ist das, was da gerade eben über dir hängt? Was schwebt über deinem Kopf – in diesem Augenblick?

Bäume, noch weiter entfernt, stimmen ein: Nichts, was deine Phantasie je aus uns macht – mystische Mangroven auf ihren Stelzen, ein Muskatnussbaum wie das Blatt eines Spatens, die knorrigen Rüssel des Elefantenbaums, der indische Salbaum, so raketengerade –, wird uns gerecht. Ihr seht uns niemals ganz. Die Hälfte seht ihr ohnehin nicht, mehr als die Hälfte. Es steckt immer noch genauso viel unter dem Erdboden wie darüber.

Das ist das Schlimme an den Menschen, die Wurzel allen Übels. Das Leben läuft an ihnen vorbei, unbemerkt. Direkt nebenan, direkt hier. Neuer Humus, der sich bildet. Der Kreislauf des Wassers. Austausch von Nährstoffen. Das Wetter. Entstehung der Atmosphäre. Nahrung und Schutz und Wohnung für mehr Gattungen von Geschöpfen, als Menschen überhaupt zählen können.

Ein Chor aus lebendigem Holz singt für die Frau: Hättest du auch nur ein klein wenig mehr Sinn für das Grün, dann hätten wir so viel Bedeutsames für dich, du würdest darin ertrinken.

Die Kiefer, an die sie gelehnt sitzt, sagt: Hör mir zu. Es gibt da etwas, das musst du hören.

Nicholas Hoel

Jetzt ist Kastanienzeit.

Die Leute schleudern Steine gegen die mächtigen Stämme. Ringsum gehen die Früchte zu Boden, ein himmlischer Hagel. An unzähligen Orten geschieht das am heutigen Sonntag, von Georgia bis Maine. Oben in Concord ist auch Thoreau dabei. Für seine Begriffe bewirft er mit seinen Steinen ein fühlendes Wesen, nicht ganz so empfindsam wie er selbst, aber doch ein Blutsverwandter. Alte Bäume sind unsere Eltern, und die Eltern unserer Eltern vielleicht. Wer die Geheimnisse der Natur ergründen will, muss lernen, menschlicher zu werden …

Auf dem Prospect Hill in Brooklyn juchzt Jørgen Hoel, erst vor kurzem ins Land gekommen, vor Glück über den Segen, der mit jedem Wurf herabprasselt. Jeder Treffer eine Schaufel voll Essen. Männer huschen hin und her wie Diebe, füllen Kappen, Säcke, Hosenaufschläge mit den aus ihren Stachelschalen befreiten Kastanien. Da ist er also, der sagenhafte Wohlstand Amerikas – nur eine unter den vielen Segnungen eines Landes, in dem selbst das, was von Bäumen fällt, geradewegs von Gottes Tafel stammt.

Der Norweger und seine Freunde aus der Brooklyner Marinewerft rösten ihre Beute über großen Freudenfeuern auf einer Waldlichtung. Das Hochgefühl, wenn sie die angekohlten Kastanien schmecken, ist kaum in Worte zu fassen: süß und würzig, mächtig wie glasierte Kartoffeln, erdig und geheimnisvoll, alles zugleich. Die klettigen Hülsen stechen, aber ihr Nein ist eher Spiel als echtes Hindernis. Die Kastanien wollen heraus aus ihrer Stachelhaut. Jede bietet sich gern zum Essen an, damit andere umso weiter verbreitet werden.

Am selben Abend macht Hoel, berauscht von Röstkastanien, Vi Powys einen Heiratsantrag, einem irischen Mädchen aus der Reihenhaussiedlung – alles ganz aus Kiefernholz – zwei Blocks von seinem eigenen Quartier, am Rande von Finn Town. Binnen dreitausend Meilen im Umkreis gibt es keinen, der etwas dagegen einwenden könnte. Sie heiraten noch vor Weihnachten. Als der Februar kommt, sind sie Amerikaner. Im Frühling blühen wieder die Kastanien, lange zottige Kätzchen, tanzen im Wind wie Schaumkronen auf dem graublauen Hudson.

Mit der Staatsbürgerschaft kommt der Drang in die unberührte Wildnis. Das junge Paar packt seine Habe und macht sich auf den langen Weg durch die Kiefernwälder des amerikanischen Ostens, von da in die dunklen Buchenwälder von Ohio, durch die lichten Eichenwälder des Mittleren Westens bis zu dem Siedlungsgebiet nicht weit von Fort Des Moines im neuen Staat Iowa, wo die Behörden jedem, der den Boden bestellen will, ein Stück gestern erst vermessenes Land geben. Ihr nächster Nachbar wohnt zwei Meilen weit fort. In diesem ersten Jahr pflügen und bepflanzen sie vier Dutzend Morgen. Mais, Kartoffeln und Bohnen. Die Arbeit ist knochenhart, aber es ist ihre. Besser als Kriegsschiffe zu bauen, egal für welches Land.

Dann kommt der Präriewinter. Die Kälte fordert alles, was sie an Willen zum Überleben haben. Das Blut gefriert ihnen in den Adern, nachts in der zugigen Blockhütte. Jeden Morgen müssen sie das Eis in der Schüssel aufhacken, wenn sie sich auch nur das Gesicht waschen wollen. Aber sie sind jung, frei und entschlossen – ihr Leben gehört ihnen allein. Der Winter bringt sie nicht um. Noch nicht. Die schwarze Verzweiflung in ihrem Herzen wandelt sich unter dem gewaltigen Druck zu Diamant.

Als wieder Saatzeit ist, ist Vi schwanger. Hoel hält sein Ohr an ihren Bauch. Sie lacht, als sie sein ehrfürchtiges Gesicht sieht. »Was sagt es?«

Er antwortet in seinem ungeschliffenen, holprigen Englisch: »Will essen!«

Im Mai findet Hoel in der Tasche der Jacke, in der er um die Hand seiner Frau angehalten hat, sechs vergessene Kastanien. Er steckt sie in die Erde des westlichen Iowa, in der baumlosen Prärie rund um ihre Hütte. Die Farm liegt Hunderte von Meilen außerhalb des natürlichen Verbreitungsgebiets der Amerikanischen Kastanie, Tausend fort von der Pracht von Prospect Hill. Von Monat zu Monat fällt Hoel die Erinnerung an die grünen Wälder des Ostens schwerer.

Aber das ist Amerika; dort reisen nicht nur die Menschen, sondern auch die Bäume weiter als irgendwo sonst. Hoel pflanzt, gießt, und er sagt sich: Eines Tages werden meine Kinder an diesem Stamm rütteln, und dann bekommen sie Essen geschenkt.

 

Ihr Erstgeborenes stirbt noch als Säugling, getötet von etwas, das noch nicht einmal einen Namen hat. Mikroben sind noch nicht entdeckt. Gott allein nimmt die Kinder, holt selbst Seelen, die noch nichts weiter als Platzhalter sind, aus dieser Welt in die andere, ganz wie Sein unerforschlicher Ratschluss es will.

Eine von den sechs Kastanien keimt nicht. Aber die anderen fünf Sämlinge hält Jørgen Hoel am Leben. Das Leben ist ein Zweikampf zwischen dem Schöpfer und Seiner Schöpfung. Hoel entwickelt sich zum Experten in diesem Kampf. Seine Bäume zu beschützen ist nur ein kleiner Krieg, verglichen mit den anderen, die er Tag für Tag auszufechten hat. Am Ende des Frühlings sprießt es überall auf seinen Feldern, und die tüchtigsten unter seinen Sämlingen sind schon zwei Handbreit hoch.

Vier Jahre vergehen, und die Hoels haben inzwischen drei Kinder und fast schon ein Kastanienwäldchen. Es sind spindeldürre Gerten, die braunen Stämmchen voller Korkwarzen. Die üppigen, bauchigen, sägezähnigen, stark geäderten Blätter lassen die Zweiglein, an denen ihre Knospen treiben, winzig wirken. Von diesen Anfängern abgesehen, und von ein paar vereinzelten einheimischen Eichen in den Auen, ist die Farm eine Insel in einem Meer aus Gras.

Selbst die mageren Baumkinder haben schon ihren Nutzen:

Aufguss aus Schösslingen gegen Herzbeschwerden,

Blätter der Baumkinder heilen Wunden,

kalter Rindensud stillt Blutungen nach der Geburt,

gewärmte Galläpfel lassen den Nabel eines Neugeborenen schrumpfen,

mit braunem Zucker aufgekochte Blätter dienen als Hustensaft,

Blattwickel gegen Verbrennungen,

Blätter, mit denen redselige Matratzen sich stopfen lassen,

ein Auszug gegen Verzweiflung, wenn die Qual zu groß wird …

Jahre kommen und gehen, magere und fette. Der Durchschnitt ist eher kärglich, aber Jørgen findet trotzdem, dass es aufwärts geht. Jedes Jahr nimmt er ein weiteres Stück Land unter den Pflug. Und die zukünftige Arbeiterschar der Hoels wird immer größer. Dafür sorgt Vi.

Die Bäumchen gedeihen wie von Zauberhand. Kastanien wachsen schnell: In dem Zeitraum, in dem eine Esche einen Baseballschläger produziert, produziert eine Kastanie eine Kommode. Man beugt sich zu Boden, um einen Schössling zu betrachten, und er sticht einem ins Auge. Risse in der Rinde winden sich in Spiralen um den Stamm, wenn er sich auf seinem Weg gen Himmel um die eigene Achse dreht. Im Wind flirren die Zweige zwischen dunklem und hellerem Grün. Knospen schwellen und platzen auf, immer auf der Suche nach mehr Sonne. Sie wiegen sich in der feuchten Augustluft, so wie Hoels Frau manchmal ihre einst bernsteingelbe Mähne schüttelt. Als der Krieg das nächste Mal das junge Land heimsucht, ragen die fünf Stämme schon höher auf als der, der sie gepflanzt hat.

Der gnadenlose Winter des Jahres ’62 will ihnen ein weiteres Kind nehmen. Dann begnügt er sich mit einem Baum. Der Älteste, John, bringt im Sommer darauf einen weiteren um. Der Junge kommt nicht auf den Gedanken, dass der Baum es nicht überleben könnte, wenn er ihm die Hälfte seiner Blätter als Spielgeld abreißt.

Hoel zieht seinen Sohn an den Haaren. »Na? Wie gefällt dir das, hm?« Er schlägt ihn mit der flachen Hand. Vi muss dazwischengehen, damit das Prügeln aufhört.

’63 werden die Männer eingezogen. Die jungen und unverheirateten zuerst. Jørgen Hoel, mit dreiunddreißig, einer Frau, kleinen Kindern und ein paar Hundert Morgen, bekommt Aufschub. Er hilft nie dabei, Amerika zu retten. Er hat mit der Rettung eines kleineren Landes genug zu tun.

Derweil schreibt in Brooklyn der Dichter und Krankenpfleger der sterbenden Union: Ein Grasblatt ist nicht geringer als das Tagwerk der Sterne. Jørgen liest diese Worte nie. Für ihn sind Worte Blendwerk. Sein Mais, seine Bohnen, sein Kürbis – allein was wächst, offenbart den wortlosen Geist Gottes.

Ein weiterer Frühling, und die drei verbliebenen Bäume schwelgen im Glanz ihrer cremefarbenen Blüten. Die Kätzchen verströmen einen beißenden Geruch, nach Wild, sauer, wie alte Schuhe oder schmutzige Unterwäsche. Dann kommt ein Fingerhut voll süßer Früchte. Selbst diese noch so kleine Ernte erinnert den Mann und seine verbrauchte Frau an das Manna, das einst vom Himmel fiel und sie zusammenbrachte, eines Nachts in den Wäldern östlich von Brooklyn.

»Irgendwann werden es Körbevoll sein«, sagt Jørgen. In Gedanken macht er bereits Brot daraus, Kaffee, Suppen, Kuchen, Soßen – all die Dinge, die, wie die Indianer wussten, dieser Baum schenken kann. »Den Überschuss verkaufen wir in der Stadt.«

»Den schenken wir den Nachbarn zu Weihnachten«, beschließt Vi. Aber es sind die Nachbarn, die den Hoels beim Überleben helfen müssen, in der schrecklichen Dürre jenes Jahres. Ein weiterer Kastanienbaum stirbt, in einem Sommer, in dem man nicht einmal für die Zukunft einen Tropfen Wasser erübrigen kann.

Jahre vergehen. Die braunen Stämme werden allmählich grau. In einem zundertrockenen Herbst fällt die eine Hälfte des letzten Kastanienpaars einem Blitzschlag zum Opfer, eine der wenigen Erhebungen, die in der flachen Prärie dem Blitz ein Ziel bieten. Holz, aus dem man alles hätte machen können, von der Wiege bis zum Sarg, geht in Flammen auf. Es bleibt nicht einmal genug für einen dreibeinigen Schemel.

Weiter treibt die letzte Kastanie ihre Blüten. Aber es ist keine zweite mehr da, die ihren Rufen antworten kann. Meilenweit im Umkreis gibt es keinen Partner, und eine Kastanie hat zwar männliche und weibliche Blüten, kann sich aber nicht selbst befruchten. Doch dieser Baum birgt ein Geheimnis in dem schlanken, lebendigen Zylinder unter seiner Rinde. Seine Zellen verfolgen eine uralte Regel: Halte still. Warte ab. Etwas in dem letzten Überlebenden weiß, dass man selbst das eiserne Gesetz des Jetzt überdauern kann. Er hat eine Aufgabe. Eine Aufgabe für die Sterne, aber doch an die Erde gebunden. Oder, wie der Gärtner für die Gräber der Unionssoldaten schreibt: Lass deine Seele kühl und gefasst vor einer Million Universen stehen. So kühl und gefasst wie ein Stück Holz.

 

Die Farm überlebt das Walten von Gottes Willen. Zwei Jahre nach Appomattox stellt Jørgen zwischen Pflügen, Eggen, Pflanzen, Pikieren, Jäten und Ernten auch noch das neue Haus fertig. Ernten werden eingebracht, Ernten werden verzehrt. Hoel-Söhne legen sich an der Seite des ochsenstarken Vaters ins Zeug. Töchter werden Ehefrauen auf den Farmen im Umland. Dörfer entstehen. Aus dem Feldweg, der an dem Hof vorbeiführt, wird eine richtige Straße.

Der jüngste Sohn arbeitet in der Gemeindeverwaltung von Polk County. Der Mittlere bei einer Bank in Ames. Der älteste Sohn, John, bleibt auf der Farm und übernimmt sie, als die Eltern alt werden. John Hoel setzt ganz auf Geschwindigkeit, auf Fortschritt und Maschinen. Er kauft einen Dampftraktor, der pflügen und dreschen, mähen und binden kann. Der Traktor stößt bei der Arbeit lautes Gebrüll aus, ein Geschöpf losgelassen aus der Hölle.

Für die letzte verbliebene Kastanie geschieht all das, während sie ein paar Risse entwickelt, einen Zollbreit Jahresringe anlegt. Der Baum wird üppiger. Die Spiralen auf der Rinde winden sich aufwärts, wie der Fries der Trajanssäule. Auch weiterhin verwandelt er mit seinen Schöpfkellenblättern Sonnenlicht in Materie. Er hält nicht nur durch; er wächst und gedeiht, ein grüner Globus, strotzend vor Kraft und Gesundheit.

Und so finden wir Jørgen Hoel im zweiten Juni des neuen Jahrhunderts, im Bett eines eichengetäfelten Zimmers im Obergeschoss des Hauses, das er gebaut hat, einem Schlafzimmer, das er nicht mehr verlassen kann, und er schaut zum Gaubenfenster hinaus auf den Schwarm aus Laub, wie er schwimmt und schimmert in der Sonne. Der Dampftraktor seines Sohns grollt weit draußen auf dem Acker, aber Jørgen Hoel hält es für die ersten Anzeichen eines heraufziehenden Gewitters. Licht durch die Zweige gefiltert tanzt auf seiner Gestalt. Etwas an diesen grünen, gezackten Blättern, ein Traum, den er einmal hatte, eine Vision von Überfluss und Wohlstand, lässt den Erntesegen noch einmal rund um ihn her prasseln.

Er fragt sich: Warum dreht und windet sich die Rinde, bei einem Baum, der so groß und so gerade ist? Kann es mit der Drehung der Erde zusammenhängen? Versucht er, damit die Aufmerksamkeit der Menschen zu erlangen? Siebenhundert Jahre zuvor bot in Sizilien eine Kastanie von zweihundert Fuß Umfang einer spanischen Königin und ihren einhundert Rittern Zuflucht vor dem Tosen des Unwetters. Dieser Baum wird, um hundert und mehr Jahre, den Mann überleben, der noch nie von ihm gehört hat.

»Weißt du noch?«, fragt Jørgen die Frau, die seine Hand hält. »Prospect Hill? Was haben wir geschmaust an dem Abend!« Mit dem Kinn weist er auf die Äste, die Blätter, das Land dahinter. »Das habe ich dir geschenkt. Und du hast mir – all das hier geschenkt! Das Land. Mein Leben. Meine Freiheit.«

Aber die Frau, die seine Hand hält, ist nicht seine Ehefrau. Vi ist schon vor fünf Jahren gestorben, an einer Lungenentzündung.

»Schlaf jetzt«, sagt seine Enkelin und legt seine Hand wieder zurück auf seine erschöpfte Brust. »Wir sind alle hier, gleich unten.«

 

John Hoel begräbt seinen Vater unter dem Kastanienbaum, den dieser gepflanzt hat. Ein drei Fuß hoher Gusseisenzaun umgibt nun den kleinen Friedhof. Der Baum, der sich darüber erhebt, spendet großzügig seinen Schatten, den Lebenden wie den Toten. Der Stamm ist inzwischen so dick, dass John ihn nicht mehr umarmen kann. Die untersten Äste stehen auf einer Höhe, an die er nicht mehr reicht.

Die Kastanie der Hoels wird zum Wahrzeichen, zu der Art Baum, die die Farmer einen Wächterbaum nennen. Familien orientieren sich beim Sonntagsausflug daran. Die Einheimischen nehmen ihn als Markierung, um Reisenden den Weg zu weisen, den einsamen Leuchtturm im wogenden Ährenmeer. Die Farm gedeiht. Inzwischen haben sie Geld genug, um Saatgut zu kaufen, sie können züchten und vermehren. Jetzt, wo sein Vater nicht mehr da ist und seine Brüder eigene Wege gehen, hindert niemand mehr John Hoel an seiner Jagd nach immer neuen Maschinen. Sein Geräteschuppen füllt sich mit Mähern, Worflern, Bindern. Er reist nach Charles City, um sich die ersten Traktoren mit Zweizylinder-Benzinmotor anzusehen. Als Telefonleitungen gelegt werden, schafft er sich einen Apparat an, auch wenn er ein Vermögen kostet und niemand in der Familie weiß, was er damit anfangen soll.

Der Sohn von Einwanderern wird Opfer der Krankheit namens Fortschritt, lange bevor es ein Heilmittel gibt. Er kauft sich einen Fotoapparat, eine Kodak Brownie. Sie drücken den Knopf, wir machen den Rest. Zum Entwickeln und Abziehen muss er den Film nach Des Moines schicken, ein Verfahren, das ihn bald ein Vielfaches der zwei Dollar kostet, die er für die Kamera bezahlt hat. Er fotografiert seine Frau im Baumwollkleid, mit einem zerknitterten Lächeln über die Kurbel der neuen Wäschemangel gebeugt. Er fotografiert seine Kinder an den Hebeln des Mähdreschers, auf dem Rücken der alten Zugpferde neben den Mähwalzen. Er fotografiert seine Familie im österlichen Feststaat, behütet von Hauben, gewürgt von Schleifen. Als er nichts anderes in seinem briefmarkengroßen Stück Iowa mehr zu fotografieren hat, richtet John seine Kamera auf die Hoelsche Kastanie, die genauso alt ist wie er.

Vor ein paar Jahren hat er seiner jüngsten Tochter zum Geburtstag ein Zoopraxiskop geschenkt und war schließlich der Einzige, der noch damit spielte, lange nachdem sie es leid geworden war. Jetzt beschäftigen diese Geschwader flügelschlagender Gänse ihn in seinen Gedanken, die Paraden wilder Mustangs, die zum Leben erwachen, wenn die gläserne Trommel sich dreht. Er ersinnt, erfindet ein Projekt. Er beschließt, während der Jahre, die ihm noch gegeben sind, den Baum in Bildern festzuhalten, damit er ihn darauf wachsen sehen kann, so schnell wie er es mit seiner menschlichen Ungeduld gern sähe.

Er baut sich in seiner Werkstatt ein Stativ. Dann wuchtet er einen alten Mühlstein auf eine Anhöhe nicht weit vom Haus. Und am ersten Frühlingstag des Jahres 1903 stellt John Hoel die Brownie auf das Stativ und nimmt ein Ganzporträt seines Wächterbaums auf, der Kastanie, die eben die ersten Knospen zeigt. Auf den Tag genau einen Monat später, von derselben Stelle, zur selben Stunde, macht er eine weitere Aufnahme. Am einundzwanzigsten jedes Monats steht er dort oben auf der Anhöhe. Es wird zum Ritual, selbst bei Regen und Schnee und in mörderischer Hitze, seine eigene ganz persönliche Liturgie in der Kirche des Gottes der gedeihenden Natur. Seine Frau zieht ihn gnadenlos damit auf, ebenso seine Kinder. »Er wartet drauf, dass der Baum was Interessantes tut.«

Wenn er die zwölf Schwarzweißbilder des ersten Jahres auf einen Stoß legt und mit dem Daumen durchblättert, hat er für seine Mühen nicht viel vorzuweisen. Von einem Augenblick auf den anderen hat der Baum plötzlich Blätter. Im nächsten opfert er sie schon wieder dem immer trüberen Licht. Abgesehen davon, sind die Äste einfach nur da. Aber Farmer sind geduldige Menschen, geprüft von der Grausamkeit der Jahreszeiten, und wären nicht die Träume vom Wachsen und Gedeihen ihre tägliche Qual, dann würden wohl nur die wenigsten in jedem neuen Frühling neu pflügen. Am 21. März 1904 steht John Hoel wieder auf seinem Hügel, als wären auch ihm noch die hundert oder zweihundert Jahre gegeben, in denen er festhalten kann, was die Zeit dem bloßen Auge für immer verbirgt.

 

Zwölfhundert Meilen weiter östlich, in der Stadt, in der John Hoels Mutter Kleider genäht und sein Vater Schiffe gebaut hat, schlägt das Unglück unbemerkt zu. Der Mörder schleicht sich aus Asien ein, im Holz chinesischer Kastanienbäume, die für schicke Gärten importiert werden. Ein Baum im Zoologischen Garten der Bronx färbt sich schon im Juli herbstlich wie im Oktober. Blätter rollen sich ein, verdorren zu Zimtbraun. Ringe von orangeroten Flecken breiten sich auf der aufgedunsenen Rinde aus. Schon bei der leichtesten Berührung gibt das Holz nach.

Binnen nur eines Jahres zeigen sich orangerote Flecken auf Kastanienbäumen überall in der Bronx – die Fruchtkörper eines Parasiten, der seinen Wirt bereits umgebracht hat. Jede befallene Stelle setzt eine Horde von Sporen frei, und Regen und Wind verteilen sie. Die Gärtner der Stadt machen zum Gegenangriff mobil. Sie hacken angegriffene Äste ab und verbrennen sie. Von Pferdewagen aus besprühen sie die Bäume mit einer Mischung aus Kalk und Kupfersulfat. Das Einzige, was sie damit bezwecken: Die Äxte, mit denen sie die befallenen Äste abschlagen, verbreiten die Sporen noch weiter. Ein Wissenschaftler am New Yorker Botanischen Garten identifiziert den Schädling als eine bisher unbekannte Pilzart. Er publiziert seine Ergebnisse, dann flieht er vor der Sommerhitze an einen weniger heißen Ort. Als er ein paar Wochen später zurückkehrt, ist in der ganzen Stadt keine einzige Kastanie mehr einen Rettungsversuch wert.

In erschreckendem Tempo breitet der Tod sich über Connecticut und Massachusetts aus, rückt jedes Jahr über Dutzende von Meilen vor. Hunderttausende von Bäumen fallen der Seuche zum Opfer. Fassungslos sieht das ganze Land zu, wie Neuenglands Kastanienpracht zugrundegeht. Der Baum, der das Holz für die Gerbereien lieferte, für Eisenbahnschwellen, Eisenbahnwaggons, Telegrafenstangen, für Zäune, Häuser, Scheunen, feine Schreibtische, Esstische, Klaviere, Packkisten, Zellstoff, der als Brennholz diente, unbegrenzt Schatten spendete und Nahrung als Geschenk gab – der wichtigste Baum für die Holzindustrie im Land – verschwindet.

Pennsylvania versucht, eine mehrere hundert Meilen breite Schneise als Barriere quer durch den Staat zu schlagen. In Virginia, am Nordrand der größten Kastanienwälder des Landes, wird der Ruf nach religiöser Erneuerung laut, einer Austreibung der Sünden, für die Gott die Menschen mit dieser Seuche straft. Der Inbegriff eines Baums in Amerika, das Rückgrat der Ökonomie ganzer ländlicher Regionen, der biegsame, beständige Mammutbaum des Ostens mit seinen drei Dutzend Einsatzgebieten in der Industrie – jeder vierte Baum eines Waldes, der sich zweihundert Millionen Morgen weit von Maine bis hinunter zum Golf von Mexiko erstreckt – ist dem Untergang geweiht.

 

Im westlichen Iowa hört man nichts von der Seuche. Am Einundzwanzigsten jedes Monats kehrt John Hoel zu seinem Hügel zurück, bei jedem Wetter. Der Pegel der Hoel’schen Kastanie, die Hochwassermarke ihrer Blätter, steigt weiter. Der Baum will etwas da oben, denkt der Farmer bei sich, sein einziger Ausflug in die Philosophie. Der hat was vor.

In der Nacht vor seinem sechsundfünfzigsten Geburtstag wacht John um zwei Uhr morgens auf und fährt mit der Hand über die Bettdecke, als suche er etwas. Seine Frau fragt, was los ist. Mit zusammengebissenen Zähnen antwortet er: »Das ist gleich vorbei.« Acht Minuten später ist er tot.

Die Farm geht an seine beiden ältesten Söhne über. Der Ältere, Carl, will das Fotoritual, das nichts als Unkosten verursacht, beenden. Frank, der Jüngere, lässt nicht zu, dass ein ganzes Jahrzehnt obskurer Forschungen seines Vaters vergebens war, und macht mit den Aufnahmen weiter, mit der gleichen Unbeirrtheit, mit der der Baum seine Krone jedes Jahr höher in den Himmel reckt. Gut einhundert weitere Fotos entstehen, und allmählich enthüllt der kürzeste, langsamste, ehrgeizigste Stummfilm, der je in Iowa gedreht wurde, die Absichten des Baums. Das Daumenkino der Aufnahmen zeigt, wie der Porträtierte sich reckt, den Himmel nach etwas abtastet. Einer Gefährtin vielleicht. Mehr Licht. Der Erfüllung seines Kastanienlebens.

Als schließlich auch Amerika seinen Teil zum großen Weltenbrand beiträgt, wird Frank Hoel mit dem Zweiten Kavallerieregiment nach Frankreich geschickt. Seinem neunjährigen Sohn Frank junior nimmt er das Versprechen ab, bis zu seiner Rückkehr weiter Aufnahmen zu machen. Es ist ein Jahr der großen Versprechen. Was dem Jungen an Phantasie fehlt, macht er durch Gehorsam wett.

Das schiere, blinde Schicksal lässt den älteren Frank die Hölle von Saint-Mihiel überleben, nur um ihn in den Argonnen, bei Montfaucon, von einer Mörsergranate in Stücke reißen zu lassen. Es bleibt nicht genug von ihm, um es zum Begraben in eine Kiste aus Kiefernholz zu stecken. Seine Hinterbliebenen schnüren aus Kappe, Pfeife, Taschenuhr eine Zeitkapsel und bestatten sie auf dem Familienfriedhof unter dem Baum, von dem er allmonatlich ein Bild gemacht hat, für viel zu kurze Zeit.

 

Hätte Gott eine Brownie, dann hätte Er einen weiteren Kurzfilm aufnehmen können: Die Seuche, wie sie einen Moment lang auf dem Kamm der Appalachen innehält, bevor sie ins Herz des Kastanienlands einfällt. Schon die Kastanienbäume des Nordens waren majestätisch. Aber die des Südens sind Götter. Meile um Meile stehen sie dort, der Vollkommenheit nah. In den Carolinas sind die Stämme älter als die Vereinigten Staaten, zehn Fuß dick, hundertzwanzig hoch. Ganze Wälder blühen, wogende weiße Wolken. Hunderte von Bergdörfern entstehen aus dem schönen, gleichmäßig gemaserten Holz. Bis zu vierzehntausend Schindeln lassen sich aus einem einzigen Baum schneiden. Was an Essbarem knöcheltief herabregnet, ernährt ganze Gemeinden, jedes Jahr ein fettes Jahr.

Jetzt liegen die Götter im Sterben, und zwar alle. Auch noch so viel menschlicher Einfallsreichtum kann die Katastrophe nicht aufhalten, die über den Kontinent hereinbricht. Die Seuche verbreitet sich entlang Kammlinien, lässt die Wälder auf den Höhen einen nach dem anderen absterben. Jemand, der in einem Ausguck oberhalb der südöstlichen Bergwelt der Vereinigten Staaten säße, könnte zusehen, wie die Baumstämme sich in grauweiße Gerippe verwandeln, als schwappe eine Welle der Zerstörung über sie hinweg. Holzfäller schlagen im Laufschritt ein Dutzend Staaten kahl, um abzuernten, bevor der Pilz kommt. Die erst im Aufbau begriffenen Forstbehörden ermuntern sie dazu. Lasst uns wenigstens noch etwas aus dem Holz machen, bevor alles verlorengeht. Und mit dieser Rettungsmission bringen die Männer jeden Baum um, der vielleicht das Geheimnis des Widerstands in sich getragen hätte.

Eine Fünfjährige in Tennessee, die die ersten orangeroten Flecken in ihrem Zauberwald entdeckt, wird ihren eigenen Kindern nichts mehr zeigen können, außer Bildern. Sie werden nie den Baum in ihrem vollen Blätterkleid sehen, niemals die Bilder, Klänge, Gerüche der Kindheit ihrer Mutter kennen. Aus Millionen toter Stämme wachsen Schösslinge, die weiterkämpfen, Jahr um Jahr, bis schließlich auch sie an der Infektion sterben, die nie aufhört, gerade weil die störrischen Schösslinge sie bewahren. Bis 1940 hat der Pilz auch die letzten Bäume zerstört, am äußersten Rand im südlichen Illinois. Vier Milliarden Bäume im natürlichen Verbreitungsgebiet verschwinden ins Reich der Legende. Von ein paar wenigen heimlichen Widerstandsnestern abgesehen, sind die einzigen überlebenden Kastanienbäume die, die Siedler in weit entfernten Gegenden gepflanzt haben, so weit fort, dass selbst der Wind die Sporen nicht bis dorthin tragen konnte.

 

Frank Hoel junior hält das Versprechen, das er seinem Vater gegeben hat, lange nachdem der Vater zu unscharfen, schemenhaften Schwarzweißerinnerungen verblasst ist. Jeden Monat legt der Junge ein weiteres Foto in die Schachtel aus Balsamholz. Der Junge wächst. Bald ist er ein Mann. Er behält das Ritual bei, so wie die ganze Familie Hoel jedes Jahr den Olafstag feiert, ohne dass noch jemand weiß, was da gefeiert wird.

Unter einem Übermaß an Phantasie hat Frank junior nicht zu leiden. Nicht einmal das denkt er: Gut möglich, dass ich diesen Baum hasse. Aber auch gut möglich, dass ich ihn mehr liebe, als ich meinen Vater geliebt habe. Solcherart Gedanken können einem Mann, der im Grunde keine eigenen Sehnsüchte hat, nichts bedeuten; er ist im Schatten dieses Dings geboren, er ist daran gekettet, wird auch in seinem Schatten sterben müssen. Er denkt: Dieses Ding hat hier nichts zu suchen. Es ist niemandem nütze, es sei denn, wir machen Holz daraus. Aber dann gibt es auch wieder Monate, in denen erscheint seinem staunenden Auge beim Blick durch den Sucher die immer mächtigere Krone geradezu als der Inbegriff der Bedeutsamkeit.

Im Sommer steigt Wasser durch das Gewebe des Baums auf und wird von Millionen winziger Mäulchen auf der Unterseite der Blätter wieder ausgehaucht; hundert Gallonen – knapp vier Hektoliter – pro Tag entlässt die luftige Baumkrone in den feuchten Äther von Iowa. Im Herbst erfüllen die gelben Blätter Frank junior mit Sehnsucht. Im Winter knarren und ächzen die kahlen Äste über den Schneewehen, die stumpfen Knospen geradezu sinister, wie sie im Warten verharren. Aber jedes Frühjahr bringen die blassgrünen Kätzchen und die cremefarbenen Blüten den jungen Frank zum Nachdenken, auch wenn er nicht einmal wüsste, wie er diese Gedanken nennen soll.

Der dritte Fotograf der Familie Hoel macht weiter seine Aufnahmen, genauso wie er weiter zur Kirche geht, obwohl er schon lange überzeugt ist, dass die Gläubigen nur mit Märchen abgespeist werden. Das sinnlose Fotoritual gibt dem Leben des jüngeren Frank einen blinden Zweck, den nicht einmal das Farmen ihm verleihen kann. Es ist seine allmonatliche Übung, das Wahrnehmen von etwas, das das Wahrnehmen nicht lohnt, ein Geschöpf so beständig und so beharrlich wie das Leben selbst.

Während des Zweiten Weltkriegs überschreitet der Stoß Fotos die Fünfhundertermarke. Eines Nachmittags nimmt Frank ihn zur Hand und blättert ihn durch. Er selbst fühlt sich immer noch wie der Junge, der mit neun Jahren seinem Vater ein unbedachtes Versprechen gegeben hat. Der Baum dagegen ist im Zeitrafferbild kaum wiederzuerkennen.

Als alle erwachsenen Bäume im natürlichen Verbreitungsgebiet der Kastanie fort sind, wird der Baum der Hoels zur Sehenswürdigkeit. Ein Dendrologe, ein Baumkundler, reist eigens aus Iowa City an, um nachzuforschen, ob die Gerüchte wahr sind: eine Kastanie, die dem Holocaust entgangen ist. Ein Journalist des Register schreibt einen Artikel über ihn, Inbegriff des Baums in Amerika, einer der letzten seiner Art. Östlich des Mississippi gibt es über zwölfhundert Ortschaften, in deren Namen das Wort »Chestnut« vorkommt. Aber Sie müssen schon bis ins ländliche Iowa reisen, um einen solchen Baum noch mit eigenen Augen zu sehen. Ganz normale Leute, mit dem Auto unterwegs auf der neuen Schnellstraße von New York nach San Francisco, die am Rande der Hoel’schen Farm eine Schneise ins Land schneidet, sehen nur eine Insel aus Schatten in dem einsamen Flachland, in dem es sonst nichts gibt als die endlose Weite von Mais und Soja.

In der bitteren Kälte des Februars 1965 geht in der Brownie etwas zu Bruch. Frank junior ersetzt sie durch eine Instamatic. Der Stapel wird dicker als jedes Buch, das er je zu lesen versucht hat. Aber jedes einzelne Foto dieses Stoßes zeigt nur den einen einsamen Baum, wie er der überwältigenden Einsamkeit trotzt, die der Mann so gut kennt. Immer wenn er auf den Auslöser drückt, liegt die Farm hinter Franks Rücken. Auf den Fotos sieht man sie nicht: die Zwanziger, die alles andere als golden für die Hoels waren. Die Wirtschaftskrise, in der sie zweihundert Morgen verlieren und die Hälfte der Familie nach Chicago geht. Die Radioshows, die schuld daran sind, dass es zwei Söhne von Frank junior nicht auf der Farm hält. Den Hoel, der im Südpazifik umkommt, und die zwei Hoels, die schuldbewusst zurückbleiben. Die Parade der John Deeres und der Caterpillars im Traktorschuppen. Die Scheune, die eines Nachts abbrennt, unter den Schreien der hilflosen Tiere. All die glücklichen Hochzeiten, Taufen, Schulabschlüsse. Das halbe Dutzend Ehebrüche. Die beiden Scheidungen so traurig, dass selbst die Singvögel schweigen. Den Sohn, der erfolglos für das Parlament kandidiert. Den Gerichtsstreit zwischen Vettern. Die drei unvermuteten Schwangerschaften. Den langen Kleinkrieg der Hoels gegen den protestantischen Pfarrer und die halbe Gemeinde. Die Nachwirkungen von Heroin und Agent Orange, die Neffen aus Vietnam mitbringen. Den vertuschten Inzest, die heimliche Trunksucht über Generationen, die Tochter, die mit ihrem Englischlehrer durchbrennt. Die Krebsfälle (Brust, Dickdarm, Lunge), die Herzerkrankungen, den Arbeiter, dem eine Förderschnecke die Haut von der Hand reißt, das Kind einer Cousine, das am Abend des Abschlussballs mit dem Auto umkommt. Die unzähligen Tonnen Chemikalien mit Namen wie Rage, Roundup oder Firestorm, das patentierte Saatgut, gezüchtet, um Pflanzen hervorzubringen, die sich nicht vermehren. Die Goldhochzeitsreise nach Hawaii und die katastrophalen Folgen. Lebensabende in Arizona und Texas. Generationen von Groll, Mut, Ausdauer und überraschender Großzügigkeit – alles, was Leute die Geschichte nennen, ist in dem Zeitrahmen geschehen, den diese Fotos abdecken. In hundertfacher Wiederkehr der Jahreszeiten zeigen die Bilder immer nur diesen einzelnen Baum, seine rissige Borke, die sich nun beinahe schon zum mittleren Lebensalter hinaufgeschraubt hat, Wachstum nach dem Zeitmaß des Holzes.

Die Tage der Hoel-Farm sind gezählt – die sämtlicher kleinen Farmen im westlichen Iowa. Die Traktoren werden zu riesig, die Bahnwaggonladungen Stickstoffdünger zu teuer, die Konkurrenz zu groß und zu tüchtig, die Gewinnspannen zu klein, der Boden ist durch die immergleichen Aussaaten ausgelaugt; der Betrieb wirft nicht mehr genug ab, um davon zu leben. Jedes Jahr gibt ein weiterer Nachbar auf, sein Land wird von den gewaltigen, gnadenlos produktiven Monokulturfabriken geschluckt. Wie Menschen überall im Angesicht der Katastrophe stolpert Frank Hoel junior gutgläubig weiter. Er verschuldet sich. Er verkauft oder verpachtet Land. Er lässt sich auf Verträge mit den Saatgutkonzernen ein, auf die er sich nicht einlassen sollte. Nächstes Jahr, da ist er sich sicher – nächstes Jahr, da tut sich etwas, und das ist die Rettung; so ist es doch schon immer gewesen.

Alles in allem fügt Frank junior siebenhundertfünfundfünfzig Fotos zu den einhundertsechzig hinzu, die sein Vater und sein Großvater aufgenommen haben, Bilder des einsamen Riesen. Am Einundzwanzigsten des letzten Aprils seines Lebens schafft es Frank junior nicht mehr aus dem Bett, und sein Sohn Eric nimmt vierzig Minuten Autofahrt auf sich, kommt zur Farm und steigt auf den Hügel, um noch ein weiteres Schwarzweißbild zu machen, jetzt ganz ausgefüllt von dem Baum in seiner Pracht. Eric zeigt dem alten Herrn den Abzug. Das ist einfacher, als wollte er versuchen, seinem Vater zu sagen, dass er ihn liebt.

Frank junior verzieht das Gesicht, als hätte er auf eine Bittermandel gebissen. »Hör mal. Ich habe mein Versprechen gegeben, und das habe ich gehalten. Aber du bist niemandem was schuldig. Lass den Blödsinn sein.«

Ebenso gut hätte er der mächtigen Kastanie befehlen können, sie solle aufhören zu wachsen.

 

Ein Dreivierteljahrhundert schwirrt in fünf Sekunden Daumenkino vorbei. Nicholas Hoel blättert den Tausendbilderstoß durch, hofft, dass sich ihm die geheime Bedeutung dieser Dekaden offenbart. Er ist fünfundzwanzig und wieder einmal kurz zu Besuch auf der Farm, auf der er bisher jedes Weihnachtsfest seines Lebens verbracht hat. Er hat Glück, dass er es überhaupt dorthin geschafft hat, bei all den Ausfällen. Schneestürme peitschen von Westen her übers Land, und überall bleiben die Flugzeuge am Boden.

Er ist mit seinen Eltern im Auto gekommen, die Großmutter besuchen. Morgen werden weitere Verwandte eintreffen, von überallher aus dem Staat. Mit der Revue der Bilder kommen auch die Erinnerungen an die Farm zurück: die Feiertage seiner Kindheit, der ganze Clan, der zum Truthahnessen oder Weihnachtsliedersingen zusammenkam, Flaggen am Mittsommertag, Feuerwerk. Irgendwie steckt das alles in dem Baum, der beim Blättern zum Leben erwacht, die Familientreffen rund ums Jahr, die Tage, an denen die Cousins und Cousinen gemeinsam loszogen, zu Abenteuer oder Langeweile im Maisfeld. Wenn er rückwärts blättert, kommt es Nicholas vor, als lösten die Jahre sich ab wie Tapete unter Wasserdampf.

Immer gab es Tiere. Zuerst die Hunde – besonders der dreibeinige, der sich vor Begeisterung beinahe überschlug, wenn der Wagen von Nick und seinen Eltern in den langen Kiesweg bog. Dann der heiße Pferdeatem, das überraschend harte Fell der Kühe. Schlangen, die sich durch die Stoppelfelder wanden. Ein zufällig entdeckter Kaninchenbau, unten am Briefkasten. Einmal im Juli waren unter der Veranda halbwilde Katzen hervorgekommen, rochen nach Geheimnis und saurer Milch. Die toten Mäuse, die sie als kleine Geschenke auf die Schwelle der Hintertür legten.

Es sind archetypische Szenen, die dieser Fünfsekundenfilm ins Gedächtnis ruft. Der Maschinenschuppen mit seinen großen Geräten und unbekannten Werkzeugen. Die Küche voller Hoels, die alle den Modergeruch des schrundigen Linoleums einatmeten, und die Eichhörnchen polterten dazu in der Wandfüllung, in ihren verborgenen Nestern. Stunden mit der Schaufel, mit zwei jüngeren Cousins; mit uralten Spaten, Stiele aus Birnenholz, hatten sie gegraben, immer tiefer, denn Nick hatte ihnen versichert, sie würden binnen kurzem auf Magma stoßen.

Er sitzt im oberen Stock am Rollschreibtisch seines verstorbenen Großvaters und studiert das Projekt, das nun schon vier Generationen derer, die es betrieben, überlebt hat. Unter all dem Plunder, der sich im Hoel’schen Farmhaus angesammelt hat – den hundert Keksdosen und Schneekugeln, der Schachtel auf dem Dachboden mit den alten Schulzeugnissen seines Vaters, dem Harmonium, gerettet aus der Kirche, in der sein Urgroßvater getauft worden war, dem uralten Spielzeug seines Vaters und seiner Onkel, einem Tischkegelspiel aus poliertem Kiefernholz und einer unglaublichen Stadt, in der sich alles mit Magneten unter den Straßen bewegen lässt –, ist dieser Stoß Fotos seit jeher der eine Schatz gewesen, von dem er nie genug bekommen konnte. Jedes Bild für sich zeigt nur den Baum, auf den er so oft gestiegen ist, dass er es am Ende mit geschlossenen Augen tun konnte. Aber beim Blättern wächst unter seinem Daumen eine korinthische Säule aus Holz, regt sich, schüttelt sich frei. Ein Dreivierteljahrhundert läuft ab, in der Zeit, in der man ein Tischgebet spricht. Einmal, als er als Neunjähriger zu Ostern auf der Farm war, blätterte Nick den Stoß so oft durch, dass sein Großvater ihm einen Klaps hinter die Ohren gab und die Schachtel mit den Bildern auf das oberste Brett des Schranks stellte, in dem es immer nach Mottenkugeln roch. Kaum waren alle Erwachsenen außer Sichtweite, da stand Nick auch schon wieder auf dem Stuhl und hatte von neuem die Bilder in der Hand.

Es ist sein Erbe, das Symbol der Familie. In der ganzen Gegend gab es keine andere, die einen Baum hatte wie den der Hoels. Und keine andere hatte etwas auch nur annähernd so Kurioses vorzuzeigen wie das Mehrgenerationen-Fotoprojekt. Aber die Erwachsenen hatten sich anscheinend verschworen, nicht zu verraten, was es mit diesem Projekt eigentlich auf sich hatte. Weder seine Großeltern noch sein Vater konnten ihm sagen, wozu das dicke Daumenkino da war. Sein Großvater sagte: »Ich habe es meinem Vater versprochen, und der seinem.« Derselbe Mann sagte bei anderer Gelegenheit aber auch: »Da sieht man die Dinge ganz anders, nicht wahr?« Und das stimmte.

Auf der Farm fing Nick mit dem Zeichnen an. Hingekritzelte Jungenträume – Raketen, exotische Autos, marschierende Soldaten, Phantasiestädte; von Jahr zu Jahr wurden sie reicher an Details. Dann folgten unruhigere Motive nach eigenen Beobachtungen in der Natur – das Gestrüpp der Haare auf einem Raupenrücken, die unwetterdrohenden Isobaren in der Maserung der Fußbodendielen. Und auf der Farm, berauscht vom Daumenkino, zeichnete er zum ersten Mal Äste. Am Nationalfeiertag, während alle anderen Hufeisen warfen, lag er auf dem Rücken im Gras und blickte hinauf in die Kuppel des Baumes. Es steckte ein geometrisches Prinzip hinter diesem Sich-immer-weiter-Verzweigen, ein Gleichgewicht im Verhältnis von Dicke und Länge, die über alles, was er als Künstler zustande brachte, hinausging. Beim Zeichnen fragte er sich, wie sein Verstand wohl beschaffen sein müsste, wenn er die Hunderte von Lanzettblättern jedes einzelnen Astes unterscheiden und sie ebenso leicht erkennen wollte wie die Gesichter seiner Cousins und Cousinen.

Noch einmal blättert er durch den Zauberfilm, und schneller, als der schwarzweiße Broccoli wieder zum himmelhohen Giganten wächst, wird aus dem Neunjährigen, dem sein Großvater einen Klaps versetzt, ein Teenager, der sich in Gott verliebt; der zu Gott, wenn auch meist erfolglos, betet, Er solle ihn davor bewahren, beim heraufbeschworenen Bild Shelly Harpers zu masturbieren; der Gott überwindet und zur Gitarre findet, für einen halben Joint eingelocht wird, zu sechs Monaten Schikane in einem Jugendknast bei Cedar Rapids verurteilt, und der dort – wo er stundenlang alles skizziert, was er durch das Drahtgitter seines Zellenfensters sehen kann – begreift, dass es sein Schicksal sein wird, den Rest seines Lebens mit der Erschaffung von Merkwürdigkeiten zu verbringen.

Das würde bei seiner Familie nicht leicht durchzusetzen sein. Die Hoels waren Farmer, betrieben Futterhandlungen, verkauften landwirtschaftliche Geräte wie sein Vater, gnadenlos praktisch denkende Menschen, ganz in der Logik der Landwirtschaft verwurzelt, Leute, die bei der Arbeit nie nachließen, Tag für Tag, Jahr um Jahr, und nie fragten, warum sie das taten. Nick stellte sich auf eine große Auseinandersetzung ein, eine Szene wie in den Romanen von D.H. Lawrence, die ihm halfen, die Highschool zu überstehen. Wochenlang probte er, und sein Hals war wie zugeschnürt, wenn er sich vorstellte, wie absurd seine Bitte war: Dad, ich möchte gern alle Vernunft in den Wind schlagen und auf deine Kosten einen Beruf ergreifen, der nie im Leben ein brauchbares Stück Arbeit hervorbringen wird.

An einem Abend im Vorfrühling versuchte er es. Sein Vater lag auf dem Sofa der geschlossenen Veranda, so wie meistens am Abend, und las in einer Biographie von Douglas MacArthur. Nick setzte sich neben ihn, auf einen Lehnstuhl. Eine sanfte Brise wehte durch die Latten und brachte sein Haar durcheinander. »Dad? Ich will auf die Kunstakademie.«

Sein Vater lugte über den Rand des Buches, als mustere er die toten Leiber seiner Familie auf dem Schlachtfeld. »Hab mir schon gedacht, dass so was kommt.« Und schon war Nick fort, losgelassen an einer Leine, die bis zur Hochbahn von Chicago reichte, mit der Erlaubnis, sich selbst anzusehen, wie viel seine Träume wert waren.

Auf der Schule in Chicago lernte er einiges:

Die Geschichte der Menschheit war die Geschichte eines immer zielloseren Hungers.

Kunst war ganz anders, als er gedacht hatte.

Die Leute machten alles, was man sich überhaupt nur vorstellen konnte. Mikroskopisch kleine Porträts auf einer Bleistiftspitze. In Kunststoff gegossenen Hundedreck. Landschaftsinstallationen, die man für kleine Länder hätte halten können.

Da sieht man die Dinge ganz anders, nicht wahr?

Seine Mitstudenten lachten ihn aus für seine kleinen Bleistiftskizzen und die hyperrealistischen Trompe-l’œil-Gemälde. Aber er machte damit weiter, jedes Semester neu. Und im dritten Jahr kannten ihn alle, manche bewunderten ihn sogar auf ihre gehässige Art.

In einer Winternacht seines letzten Studienjahrs, in seinem besenkammergroßen Zimmer in Rogers Park, hatte er einen Traum. Eine Studentin, in die er verliebt war, fragte ihn: Was willst du eigentlich wirklich machen? Er reckte die Hände gen Himmel, hob nur die Schultern. Ein blutender Fleck erschien auf jeder Handfläche. Aus diesen Blutmalen wuchsen zwei Stämme, verzweigten sich. Er schlug verzweifelt danach, wurde wach. Er brauchte eine halbe Stunde, bis sein Herzschlag sich wieder beruhigt hatte und ihm aufging, welche Stämme er da gesehen hatte: die Zeitrafferbilder von dem Kastanienbaum, den sein Urururgroßvater, der Norweger, den es nicht in seiner Heimat gehalten hatte, vor hundertzwanzig Jahren gepflanzt hatte; und auch der war durch seine eigene Schule der Volkskunst gegangen, das Flachland im westlichen Iowa.

Nick sitzt am Schreibtisch, blättert noch einmal durch den Stapel aus Fotos. Letztes Jahr hat das Art Institute ihn mit dem Stern-Preis für Skulptur ausgezeichnet. Dieses Jahr räumt er Regale für ein berühmtes Chicagoer Kaufhaus ein, das schon seit einem Vierteljahrhundert vor sich hin siecht. Immerhin hat er einen akademischen Grad erworben, der ihn dazu berechtigt, abartige Kunstobjekte zu produzieren, die seinen Freunden peinlich sind und an denen Fremde Anstoß nehmen. In Oak Park gibt es einen Lagerraum vollgestopft mit Pappmaché-Kostümen für Straßentheater und mit den surrealen Requisiten für eine Show, die auf einer Bühne außerhalb von Andersonville herauskam und nach drei Abenden abgesetzt wurde. Aber mit fünfundzwanzig möchte der Sproß einer alten Farmersfamilie gern glauben, dass er seine besten Arbeiten noch vor sich hat.

Noch ein Tag bis Heiligabend. Morgen werden ganze Horden von Hoels einfallen, und seine Großmutter ist schon ganz aufgeregt. Das ganze Jahr über freut sie sich auf diesen Tag, an dem das alte, zugige Haus sich mit ihren Nachkommen füllt. Die Farm gibt es nicht mehr, nur noch das Haus auf seinem kleinen Hügel wie einer Insel. Sämtliches Land der Hoels ist an Firmen verpachtet, die ihre Geschäfte von Büros Hunderte von Meilen entfernt führen. Der Boden von Iowa ist an sein industrielles Ende gekommen. Aber ein Weilchen, einen Feiertag lang, wird sich alles um eine wundersame Geburt, um den Heiland in der Krippe drehen, wie es bei den Weihnachtsfesten der Hoels schon seit hundertzwanzig Jahren war.

Nick geht wieder nach unten. Es ist Vormittag, seine Großmutter und seine Eltern sitzen am Küchentisch, wo es Berge von Nusskringeln gibt und die Dominosteine immer dünner werden. Draußen ist es mehr als nur bitterkalt. Gegen die Polarluft aus dem Norden, die durch die Zedernplanken der Wände dringt, hat Eric Hoel den alten Propangas-Heizofen bis zum Anschlag aufgedreht. Im Kamin prasselt ein Feuer, Lebensmittel stehen zur Speisung der Fünftausend bereit, und auf einem neuen Fernseher so groß wie Wyoming läuft ein Fußballspiel, das niemanden interessiert.

Nicholas sagt: »Also, wer kommt mit nach Omaha?« Im Joslyn-Museum gibt es eine Ausstellung zur amerikanischen Landschaftsmalerei, nur eine Stunde Fahrtzeit. Als er die Idee am Vorabend aufbrachte, schienen die älteren Herrschaften interessiert. Jetzt wenden sie den Blick ab.

Seine Mutter lächelt, es tut ihr leid für ihn. »Ich glaube, mir steckt eine Erkältung in den Knochen, Schatz.«

Sein Vater fügt hinzu: »Hier ist es gerade so schnuckelig warm, Nick.« Die Großmutter döst zum Zeichen der Zustimmung.

»Na gut«, sagt Nicholas. »Dann bleibt eben hier hocken. Zum Essen bin ich zurück.«

Schnee weht über die Interstate, weiterer fällt vom Himmel. Aber er ist ein Mann aus dem Mittelwesten, und sein Vater wäre nicht sein Vater, wenn er nicht nagelneue Winterreifen aufgezogen hätte. Die Ausstellung ist spektakulär. Allein schon die Bilder von Sheeler versetzen Nick in eine Ekstase aus Seligkeit und Neid. Er bleibt im Museum, bis die Aufseher ihn vor die Tür setzen. Als er geht, ist es schon dunkel; die Schneewehen kräuseln sich um seine Stiefel.

Er bahnt sich einen Weg zurück zur Interstate, von da geht es im Schneckentempo nach Osten. Die Straße ist nicht mehr zu sehen, nur Weiß in Weiß. Alle, die so dumm sind, überhaupt zu fahren, hängen sich an das Rücklicht des Vordermanns, eine Prozession in Zeitlupe. Die Spur, durch die Nick schlittert, hat nur noch eine sehr abstrakte Beziehung zu der Straße darunter. Die Warngeräusche, die der Randstreifen abgeben soll, ersticken im Schnee.

Unter einer Brücke gerät er auf ein Stück blankes Eis. Der Wagen schlittert zur Seite. Er gibt dem Slalom nach, lenkt den Wagen wie einen Drachen, bis er ihn wieder auf gerader Linie hat. Immer wieder wechselt er zwischen Fern- und Abblendlicht, kann nicht entscheiden, was bei dieser Schneewand weniger blendet. In nur einer Stunde legt er fast zwanzig Meilen zurück.

In dem schneeschwarzen Tunnel spielt sich eine Szene ab wie bei einer Wärmebildaufnahme in einer Polizeidoku. Ein entgegenkommender Sattelschlepper rutscht über die Mittellinie und stellt sich quer, steht wie ein verwundetes Tier, keine hundert Meter vor Nick auf seiner Seite der Straße. Er versucht einen Schlenker darum und gerät rechts auf die Böschung. Die rechte Seite des Hecks macht Bekanntschaft mit der Leitplanke, die vordere Stoßstange streift den hintersten Lastwagenreifen. Schlingernd kommt er zum Stehen; er zittert am ganzen Leibe, so stark, dass er nicht mehr weiterfahren kann. Er bugsiert den Wagen auf einen Parkplatz, wo es schon vor gestrandeten Autofahrern wimmelt.

Am Toilettenhäuschen gibt es ein Münztelefon. Er will zu Hause anrufen, aber er kommt nicht durch. Der Abend vor Weihnachten, und überall im Staat hat der Schnee die Leitungen zerstört. Seine Eltern werden krank vor Sorge um ihn sein. Aber das einzig Vernünftige ist, im Wagen ein paar Stunden zu schlafen, bis alles vorbei ist und die Schneepflüge wegräumen, was Gott ihnen hingekackt hat.

Kurz vor Tagesanbruch fährt er weiter. Es schneit nur noch wenig, und in beide Richtungen tasten sich Autos voran. Im Kriechgang Richtung Heimat. Das schwierigste Stück ist die kleine Steigung am Ende der Schnellstraßenausfahrt. Er bewältigt sie im Zickzack, dann kommt die Straße zurück zur Farm. Sie ist vollkommen zugeweht. Die Hoel’sche Kastanie, unter einer Säule aus Schnee, sieht er schon aus der Ferne, der einzige Kirchturm bis zum Horizont. Im Haus leuchten zwei kleine Lichter, die Fenster im oberen Stock. Er kann sich gar nicht vorstellen, dass sie schon so früh auf sind. Jemand muss die ganze Nacht auf ihn gewartet haben.

In der Auffahrt liegt dick der Schnee. Die alte Schneefräse seines Großvaters steht noch im Schuppen. Eigentlich hätte sein Vater schon mindestens zweimal damit auf- und abfahren sollen. Nick will sich durch die Schneewehen kämpfen, aber es geht nicht. Er lässt den Wagen stehen und geht das letzte Stück zu Fuß. Als er durch die Haustür kommt, schmettert er los: »Oh, the weather outside is frightful!« Ach, das Wetter da draußen ist schrecklich. Aber unten ist keiner, der sich mit ihm amüsiert.

Später wird er sich fragen, ob er es da schon wusste, gleich als er das Haus betrat. Doch nein: Er muss erst bis zum Fuß der Treppe gehen, wo sein Vater liegt, kopfunter, die Arme unnatürlich verrenkt, ein Gebet an den Fußboden. Mit einem Schrei geht Nick in die Knie, um seinem Vater zu helfen, aber dem kann niemand mehr helfen. Er springt wieder auf und stürmt die Treppe hinauf, zwei Stufen auf einmal. Inzwischen hat er ja längst begriffen, er weiß alles, was er wissen muss. Oben liegen die beiden Frauen im Bett, und nichts wird sie je wieder wecken – sie schlafen an diesem Weihnachtsmorgen in himmlischer Ruh.

Alles um seine Beine, seinen Leib beginnt zu schwimmen. Er ertrinkt wie ein Insekt im Bernstein. Er stürzt wieder nach unten, wo der Gasofen noch immer auf vollen Touren läuft, Kohlenmonoxid ausstößt, das aufsteigt, sich unsichtbar ansammelt unter der Decke, die Nicks Vater erst vor kurzem so schön neu isoliert hat. Nick schafft es zur Haustür, strauchelt auf den Stufen und stürzt in den Schnee. Er wälzt sich in dem eiskalten Weiß, keucht, kommt wieder zu sich. Als er die Augen aufschlägt, blickt er in das Geäst des Kastanienbaums, der dort steht und wacht, einsam, mächtig, abstrakt und kahl in der weißen Wüste, seine untersten Äste hebt, sein großes Rund schüttelt. Der ganze Baum knarrt im Windstoß dieses Augenblicks, als wolle er sich von dem Moment, so unbedeutend, so vergänglich er auch ist, eine Notiz in seinen Jahresringen machen, etwas, das die Äste und Zweige in ihre Gebete einschließen können, wenn sie ihre Zeichen geben, wenn sie winken unter dem unvorstellbar blauen Winterhimmel des Mittelwestens.

Mimi Ma

Von dem Tag im Jahr 1948 an, der Ma Sih Hsuin sein Dritter-Klasse-Ticket für die Überfahrt nach San Francisco beschert, spricht sein Vater nur noch Englisch mit ihm. Erzwungene Übung, zu seinem eigenen Guten. Das schulmeisterliche Kolonialenglisch seines Vaters wickelt sich wie Wollfäden um das praktische Pidgin, das Sih Hsuin als Elektrotechniker gelernt hat. »Mein Sohn. Höre mich an. Wir sind dem Untergang geweiht.«

Sie sitzen in dem Büro im Obergeschoss des großen Hauses in Schanghai, halb Handelskontor, halb Wohnhaus der Familie. Die Laute des geschäftigen Treibens auf der Nanjing Road dringen durchs Fenster, und nach Untergang sieht es nirgendwo aus. Aber Ma Sih Hsuin ist kein politischer Mensch, und er hat die schwachen Augen eines Mannes, der zu viele Rechenaufgaben bei Kerzenschein gelöst hat. Sein Vater – Kunstgelehrter, meisterlicher Kalligraph, Patriarch mit einer Haupt- und zwei Nebenfrauen – verfällt wie stets in bildliche Ausdrucksweise, er kann nicht anders. Sih Hsuin sind Metaphern peinlich.

»Diese Familie hat es so weit gebracht. Von Persien bis zum Athen von China, könnte man sagen.«

Sih Hsuin nickt, obwohl er selbst es nie so sagen würde.

»Wir Hui-Muslime, wir haben alles genommen, was dieses Land uns vor die Füße geworfen hat, haben es abgepackt und damit gehandelt. Das Haus hier, unser Handelshaus in Hangzhou … Denke daran, was wir alles überstanden haben. Die Widerstandskraft der Ma!«

Ma Shouying blickt hinaus in den Augusthimmel, sieht in Gedanken all die Krisen, die die Ma Trading Company schon überstanden hat. Die Ausbeuter der Kolonialzeit. Den Taiping-Aufstand. Die Zerstörung der Maulbeerplantagen, der Seidenproduktion der Familie, durch Taifune. Die Revolution von 1911, das Massaker von ’27. Jetzt schaut er in die düstere Ecke des Raums. Leichen in jedem Keller, Gespenster, deren Namen nicht einmal der philosophierende Magnat, der einen Pilger angeheuert hat, um für ihn nach Mekka zu ziehen, laut auszusprechen wagt. Er legt eine Hand flach auf den mit Papieren übersäten Tisch. »Nicht einmal die Japaner konnten uns brechen.«

 

Von Geschichte bekommt Sih Hsuin Pickel, von diesem ewigen Auf und Ab. In vier Tagen soll er in die Vereinigten Staaten aufbrechen, als einer von nur einer Handvoll chinesischer Studenten, die 1948 ein Visum bekommen haben. Schon seit Wochen studiert er Landkarten, liest sich immer wieder die schriftliche Zusage durch, übt die Aussprache rätselhafter Namen: U.S.S. General Meigs. Greyhound Supercoach. Carnegie Institute of Technology. Schon seit anderthalb Jahren besucht er die Vormittagsvorstellungen in den Kinos, übt mit Gable Clark und Astaire Fred seine neue Sprache.

Deshalb antwortet er auch in englischer Sprache, denn er ist stolz darauf. »Wenn Vater wollen, ich bleiben.«

»Hierbleiben? Du verstehst überhaupt nicht, was ich sagen will.«

Die Art, wie sein Vater ihn anstarrt, ist wie ein Gedicht:

Warum hast du innegehalten

an dieser Gabelung des Weges

und reibst dir die Augen?

Du hast keine Ahnung,

stimmt’s, Junge?

Shouying hievt sich vom Stuhl hoch und tritt ans Fenster. Er blickt hinunter auf die Nanjing Road, die wie eh und je danach giert, Profit aus dem Irrenhaus zu schlagen, das man die Zukunft nennt. »Du wirst die Rettung unserer Familie sein. In einem halben Jahr sind die Kommunisten hier. Dann werden wir alle … Du musst der Wahrheit ins Auge sehen, mein Sohn. Du bist nicht zum Geschäftsmann geschaffen. Du solltest dein Leben lang auf die Ingenieursschule gehen. Aber deine Schwestern und Brüder? Deine Cousins und Cousinen, deine Tanten und Onkel? Kaufleute der Hui, wohlhabende Leute. Wir werden uns keine drei Monate halten, wenn der Untergang kommt.«

»Aber die Amerikaner. Sie versprechen.«

Ma Shouying kehrt an den Schreibtisch zurück und fasst den Jungen unters Kinn. »Mein Sohn. Mein naiver Sohn mit seinem Heimchen als Haustier und seinen Brieftauben und dem Kurzwellenradio. Der Goldene Berg frisst dich bei lebendigem Leibe.«

Er lässt das Gesicht seines Sohns wieder los und führt ihn den Flur hinunter ins Gelass des Buchhalters, wo er die Gittertür aufschließt und einen Aktenschrank beiseiteschiebt; dahinter kommt ein Tresor zum Vorschein, von dessen Existenz Sih Hsuin nichts wusste. Shouying zieht drei in Satintücher geschlagene Holzladen heraus. Selbst Sih Hsuin weiß, was dort zu finden ist: der Wohlstand der Familie Ma über Generationen, von der Seidenstraße bis nach Schanghai, umgewandelt in bewegliche Habe.

Ma Shouying nimmt Händevoll Glitzerdinge heraus, betrachtet sie einen Moment, dann wirft er sie zurück. Schließlich findet er, wonach er sucht: drei Ringe wie kleine Vogeleier. Drei Jade-Landschaften, die er ans Licht hält.

»Sieh die Farbe!«, haucht Sih Hsuin. Die Farbe der Gier, des Neids, der Frische, des Wachstums, der Unschuld. Grün, grün, grün, grün und grün. Aus einem Beutel, den er an einer Schnur um den Hals trägt, holt Shouying ein Uhrmacherglas. Er hält die Jaderinge ans Licht und betrachtet sie; er weiß, dass er sie zum letzten Mal sieht. Er reicht den ersten Ring Sih Hsuin, der ihn anstarrt, als wäre es ein Stück Marsgestein. Ein Baumstamm aus Jade, Äste in die Tiefe gestaffelt.

»Du lebst dein Leben zwischen drei Bäumen. Der eine steht hinter dir. Das ist der Lotusbaum – der Baum des Lebens deiner persischen Vorväter. Der Baum an der Grenze des siebten Himmels, die niemand überschreiten darf. Aber ein Ingenieur kann mit der Vergangenheit nicht viel anfangen, nicht wahr?«

Die Worte verwirren Sih Hsuin. Er hat keinen Sinn für den Sarkasmus seines Vaters. Er will den ersten Ring zurückreichen, aber sein Vater ist schon mit dem zweiten beschäftigt.

»Ein weiterer Baum steht vor dir – Fusang. Ein magischer Maulbeerbaum weit im Osten, wo das Elixier des Lebens gehütet wird.« Er schließt die Hand um die Lupe und blickt auf. »Nun, du fährst ja jetzt nach Fusang.«

Er reicht ihm den Jadering. Ein solches Wunder an Einzelheiten, es ist nicht in Worte zu fassen. Ein Gewirr von Blattwerk, darüber ein fliegender Vogel. An den knorrigen Ästen hängt eine Reihe Seidenraupenkokons. Der Schnitzer muss mit einer mikroskopisch kleinen Nadel mit Diamantspitze gearbeitet haben.

Shouying drückt sein glasbewehrtes Auge ganz nah an den letzten Ring. »Der dritte Baum umgibt dich auf allen Seiten: das Jetzt. Die Gegenwart. Und wie die Gegenwart selbst wird er dich begleiten, wohin du auch gehst.«

Er reicht den Ring seinem Sohn, und der fragt: »Welche Art Baum?«

Sein Vater nimmt von einer weiteren Kiste das Tuch ab. Dunkellackiertes Holz lässt sich an zwei Scharnierleisten aufklappen, und zum Vorschein kommt eine Bildrolle. Er knüpft das Band der Rolle auf, schon seit langem ist es nicht mehr gelöst worden. Ausgebreitet zeigt sie eine Reihe von Porträts, uralte Männer, deren Haut faltiger ist als ihre Gewänder. Einer stützt sich auf einen Stab in einer Waldlichtung. Einer späht durch ein schmales Fenster in einer Mauer. Einer hockt unter einer gekrümmten Kiefer. Sih Hsuins Vater pocht mit dem Finger auf die Luft darüber. »Diese Art.«

»Wer sind Männer? Was die machen?«

Sein Vater betrachtet die Schriftzeichen; so alt, dass Sih Hsuin sie nicht lesen kann. »Luóhàn. Arhats. Adepten, die die vier Stadien der Erleuchtung durchmessen haben und jetzt im Zustand der reinen, wissenden Freude existieren.«

Sih Hsuin wagt nicht, etwas so Wertvolles zu berühren. Gewiss, seine Familie ist reich – so reich, dass viele von ihnen ein Leben in Muße führen. Aber reich genug, um so etwas zu besitzen? Es ärgert ihn, dass sein Vater solche Schätze geheimgehalten hat, und Sih Hsuin hat kein Talent zum Ärgerlichsein. »Wie kommt, ich nichts wissen davon?«

»Jetzt weißt du es.«

»Was soll tun?«

»Ich muss wirklich sagen, dein Englisch ist entsetzlich. Ich will nur hoffen, jene, welche dich Elektrizität und Magnetismus lehrten, waren tüchtiger als deine Sprachlehrer.«

»Wie alt ist? Tausend Jahre? Älter?«

Beschwichtigend legt er dem jungen Mann die Hand auf die Schulter. »Höre mich an, mein Sohn. Den Wohlstand einer Familie zu bewahren ist keine leichte Aufgabe. Ich habe mich entschlossen, es auf diese Art zu tun. Ich hatte mir vorgestellt, dass wir diese Dinge um uns scharen, ihnen Schutz bieten. Wäre die Welt wieder zur Vernunft gekommen, hätten wir ihnen ein Zuhause gesucht – ein Museum irgendwo, in dem jeder Betrachter unseren Namen verbunden hätte mit …« Er weist mit dem Kinn auf die Luóhàns, stillvergnügt an der Schwelle zum Nirwana. »Tue damit, was du willst. Sie gehören dir. Vielleicht werden sie dir eines Tages offenbaren, was sie von dir wollen. Vor allem kommt es darauf an, dass sie nicht in die Hände der Kommunisten fallen. Die Kommunisten werden sich den Hintern damit abwischen.«

»Ich soll nach Amerika bringen?«

Sein Vater wickelt die Rolle auf, bindet das zerschlissene Band wieder behutsam um den Zylinder. »Ein Muslim aus dem Land des Konfuzius kommt in die christliche Festung Pittsburgh, mit einer Handvoll buddhistischer Bilder von unschätzbarem Wert. Wer fehlt noch?«