Das Echo der Erinnerung - Richard Powers - E-Book
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Das Echo der Erinnerung E-Book

Richard Powers

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Beschreibung

Nach seinem Bestseller ›Der Klang der Zeit‹ erforscht Richard Powers, was Familien im Innersten zusammenhält: das zerbrechliche Geflecht aus Gefühl und Erinnerung. Die ergreifende Geschichte eines Geschwisterpaares und ein Panorama des heutigen Amerikas vereinen sich hier in seinem neuen großen Roman. Kearney ist die geographische Mitte der USA - und die Mitte von Nirgendwo. In einer Winternacht überschlägt sich Mark mit dem Auto. Als er wieder ins Leben zurückfindet, hält er seine Schwester Karin für eine feindliche Doppelgängerin. Sie hingegen versucht alles, um ihm ein normales Leben zu ermöglichen. Auf einer bewegenden Reise in das Innerste einer Familie macht uns Richard Powers mit dem größten Geschichtenerzähler bekannt: unserer Erinnerung. Sie schafft das Echo unseres Lebens, das uns trägt, umfängt und bisweilen grausam täuscht.

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Seitenzahl: 911

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Richard Powers

Das Echo der Erinnerung

Roman

Aus dem Amerikanischen von Manfred Allié und Gabriele Kempf-Allié

FISCHER E-Books

Inhalt

»Wer seine Seele finden [...]Erster Teil - Ich bin niemandZweiter Teil - Aber heute Nacht auf der North Line RoadDritter Teil - Führte Gott mich zu dirVierter Teil - Damit du leben kannst, Teil 1Vierter Teil - Damit du leben kannst, Teil 2Fünfter Teil - Und jemand anderen zurückholen

»Wer seine Seele finden will, muss sie zuerst verlieren.« –

A. R. Lurija

Erster Teil ICH BIN NIEMAND

In Wahrheit sind wir allesamt potenzielle Fossilien und tragen noch die Unfertigkeit in uns, die Roheit vergangener Daseinsformen. Die Merkmale einer Welt, in der lebendige Geschöpfe durch ihre Zeit trieben, von kaum größerer Stofflichkeit als der von Wolken.

Loren Eiseley, The Immense Journey (Die ungeheure Reise)

Kraniche landen in der Dämmerung. Sie schweben in lockeren Ketten vom Himmel. Zu Dutzenden streben sie aus allen Richtungen herbei und sinken mit der Dunkelheit herab. Hunderte von Grus canadensis rasten an dem noch halb gefrorenen Fluss. Sie sammeln sich auf den Inseln im seichten Wasser, wo sie grasen und unter Flügelschlagen ihre Trompetenrufe ertönen lassen: die Vorhut einer gewaltigen Wanderung. Von Minute zu Minute werden es mehr, und die Luft färbt sich rot von ihren Schreien.

Ein Hals reckt sich lang, die Beine baumeln herab. Flügel wölben sich nach vorn, ihre Spannweite so groß wie ein Mensch. Die Schwungfedern wie Finger gespreizt, legt er sich schräg in den Wind. Der blutrote Kopf macht eine Verbeugung, und die Flügel berühren sich – ein lang gewandeter Priester spendet den Segen. Die Schwanzfedern richten sich auf, und der Leib sackt nach unten, dem plötzlich näher kommenden Boden entgegen. Beine strampeln; mit den nach hinten abgewinkelten Knien sehen sie aus wie das gebrochene Fahrgestell eines Flugzeugs. Ein weiterer Vogel im Sinkflug findet strauchelnd einen Platz auf der dicht bevölkerten Landebahn an diesem wenige Meilen langen Ufer, wo der Fluss noch sauber und breit genug ist, dass er ihnen Sicherheit bietet.

Die Dunkelheit kommt früh, und so wird es noch einige Wochen lang bleiben. Der Himmel, eisblau hinter den Wipfeln der Weiden und Pappeln, flammt für kurze Zeit rosenrot auf, dann verglüht er zu Indigo. Ende Februar am Platte River; der kalte Nachtdunst hängt über dem Fluss und überzieht die Stoppelfelder des vergangenen Herbsts mit weißem Raureif. Die aufgeregten Vögel, groß wie Kinder, stehen dicht gedrängt, Flügel an Flügel, an diesem Abschnitt des Flusses, den die Erinnerung sie zu finden gelehrt hat.

Wie seit Urzeiten versammeln sie sich zum Ende des Winters hier am Ufer, bedecken wie ein Teppich das Sumpfland. In diesem Licht erinnern sie fast noch an Saurier: die ältesten Flugtiere der Erde, nur einen zaghaften Schritt entfernt vom Pterodaktylus. Als es endgültig dunkel wird, ist es wieder eine Welt der Anfänge, der gleiche Abend wie damals, als vor sechzig Millionen Jahren diese Wanderung begann.

Eine halbe Million Vögel – vier Fünftel aller Kanadakraniche auf der Erde – versammeln sich an diesem Fluss. Sie folgen dem Central Flyway, der Zugroute, die sich einer riesigen Eieruhr gleich über den gesamten Kontinent legt. Sie kommen aus Neumexiko, Texas und Mexiko, legen Tag für Tag Hunderte von Meilen zurück und haben noch Tausende vor sich, ehe sie ihre in der Erinnerung eingeprägten Nistplätze erreichen. Für einige Wochen beherbergt dieser Flussabschnitt den meilenlangen Vogelschwarm. Doch wenn der Frühling beginnt, erheben sie sich in die Lüfte und verschwinden, folgen ihrem inneren Kompass bis hinauf nach Saskatchewan, Alaska oder noch darüber hinaus.

Dieser Flug steht außerhalb der Zeit. Etwas lässt diese Vögel einer Route folgen, die schon Jahrhunderte alt war, als sie sie von ihren Eltern erlernten. Und jeder Kranich erinnert sich an den Weg, der noch in der Zukunft liegt.

Auch heute Abend kreisen sie wieder über dem verzweigten Wasserlauf. Noch für eine Stunde ertönen ihre Rufe, bis der Himmel sich leert. Die Vögel schlagen nervös mit den Flügeln, unruhig von der Wanderung. Einige zupfen bereifte Halme aus dem Boden und schleudern sie in die Luft. Sie sind so gereizt, dass sie anfangen zu kämpfen. Doch schließlich kommen sie zur Ruhe und schlafen, auf einem Bein stehend und immer noch wachsam, die meisten im Wasser, einige wenige weiter oben auf den Stoppelfeldern.

Quietschende Bremsen, das Kreischen von Metall auf Asphalt, ein erstickter Schrei, dann ein zweiter wecken den Schwarm. Der Truck fliegt im hohen Bogen durch die Luft und bohrt sich in das Feld. Ein Schwall von Erde prasselt auf die Vögel nieder. Sie schrecken auf und schlagen mit den Flügeln. Der Teppich erhebt sich verstört in die Lüfte, kreist über dem Fluss und landet wieder. Schreie wie von Kreaturen, scheinbar doppelt so groß wie sie, sind meilenweit zu hören, doch schließlich verhallen sie.

Als der Morgen anbricht, hat es diese Laute nie gegeben. Wieder herrscht nur das Hier und Jetzt, das geflochtene Band des Flusses, ein Festmahl aus verstreuten Körnern, das diese Vögel nach Norden tragen wird, bis über den Polarkreis hinaus. Beim ersten Lichtstrahl erwachen die lebenden Fossilien wieder zum Leben, noch unsicher auf den Beinen schmecken sie die frostige Luft, springen in die Höhe, die Schnäbel gen Himmel gereckt, die Kehle weit aufgerissen. Und als hätte die Nacht nichts genommen, vergessen die Kraniche alles außer diesem Moment in der Morgendämmerung und beginnen zu tanzen. Einen Tanz, der älter ist als der Fluss.

 

Ihr Bruder brauchte sie. Der Gedanke rettete Karin in dieser feindlichen Nacht. Sie fuhr wie in Trance in einem weiten Bogen, vom Siouxland erst südwärts auf dem Nebraska-Highway 77, dann in Richtung Westen auf der Nummer 30, die dem Verlauf des Platte River folgt. Die direkte Route über kleinere Straßen war in ihrem Zustand unmöglich. Immer noch verstört von dem Anruf um zwei Uhr morgens, der sie wie ein Messerstich getroffen hatte: Karin Schluter? Hier ist das Samariter-Hospital in Kearney. Ihr Bruder hatte einen Unfall.

Mehr wollte der Pfleger am Telefon nicht sagen. Nur dass Mark auf der North Line Road von der Straße abgekommen und, im Führerhaus eingeklemmt, fast erfroren wäre, bis die Sanitäter eintrafen und ihn befreiten. Nach dem Auflegen konnte sie lange Zeit ihre Finger nicht spüren, bis sie merkte, dass sie sie gegen die Wangen presste. Ihr Gesicht war taub, so als hätte sie selbst da draußen gelegen, in der eiskalten Februarnacht.

Mit steifen, blau angelaufenen Händen umklammerte sie das Steuer und schlitterte durch die Reservate. Erst das Winnebago-Reservat, dann das Hügelland der Omaha. Die Bäume am Rand der holprigen Straße duckten sich unter der Last des Schnees. Winnebago Junction, das Powwow-Areal, das Stammesgericht und die freiwillige Feuerwehr, die Tankstelle, wo sie ihr steuerfreies Benzin kaufte, das handgemalte Holzschild mit der Aufschrift »Indianisches Kunsthandwerk«, die Highschool, die sich Home of the Indians nannte und wo sie freiwillig unterrichtet hatte, vor ihrer verzweifelten Flucht: all das schien ihr abweisend und feindselig. Auf dem langen, leeren Stück östlich von Rosalie stapfte ein einzelner Mann, so alt wie ihr Bruder, in einem viel zu dünnen Mantel und einer Baseballmütze durch die Schneewehen am Straßenrand. Er drehte sich um und sah sie mürrisch an, als sie vorüberfuhr, als wolle er den Eindringling vertreiben.

Die Mittellinie – eine Wundnaht auf dunklem Asphalt – sog sie hinab in die verschneite Finsternis. Es war unbegreiflich: Ein routinierter Fahrer wie Mark war von einer schnurgeraden Landstraße abgekommen, die er wie seine Westentasche kannte. Wie konnte man mitten in Nebraska von der Straße abkommen? Das war gerade so, als würde man von einem Schaukelpferd abgeworfen. Sie dachte an das Datum: 20.2.02. Hatte es eine Bedeutung? Sie schlug mit der flachen Hand auf das Steuer, und der Wagen schlingerte. Ihr Bruder hatte einen Unfall. Genau genommen nahm er schon seit langem jede falsche Abzweigung, die man im Leben nur nehmen konnte, und stets aus der falschen Richtung. Anrufe zu den unmöglichsten Zeiten, soweit sie überhaupt zurückdenken konnte. Aber nie so einer.

Sie schaltete das Radio an, um nicht einzuschlafen, und landete bei einer schwachsinnigen Sendung mit Höreranrufen zu der Frage, wie man seine Haustiere am besten vor terroristischen Giftanschlägen auf das Wasser schützen könne. In der Dunkelheit krochen die knisternden Stimmen in sie hinein und flüsterten ihr zu: Du bist allein auf einer einsamen Straße, nur eine halbe Meile von deinem eigenen Verhängnis.

Was für ein warmherziges Kind Mark gewesen war, wie rührend er sich um seine Regenwurmklinik gekümmert hatte, wie er seine Spielsachen verkauft hatte, um die Farm zu retten, wie er sich als Achtjähriger zwischen ihre Eltern geworfen hatte, in jener entsetzlichen Nacht vor neunzehn Jahren, als Cappy mit einem Stück Stromkabel auf Joan losgegangen war. Das war das Bild, das sie von ihm hatte, nun wo sie unaufhaltsam in die Finsternis stürzte. Das war die Wurzel all seines Missgeschicks: Er nahm zu viel Anteil.

Hinter Grand Island, zweihundert Meilen von Sioux entfernt, sah sie den Platte River in der pfirsichfarbenen Dämmerung. Die ersten Strahlen der Morgensonne blitzten auf den schlammbraunen Fluten, und das beruhigte sie. Dann erregte etwas ihre Aufmerksamkeit, tanzende, perlweiße Wellen mit roten Schaumkronen. Selbst sie glaubte anfangs, die Fahrt auf dem Highway hätte sie hypnotisiert. Ein Teppich aus riesigen Vögeln erstreckte sich bis zu den Baumreihen in der Ferne. Sie hatte sie in jedem Frühjahr gesehen, seit mehr als dreißig Jahren, und doch hätte sie bei dem Anblick beinahe das Steuer herumgerissen und wäre dem Beispiel ihres Bruders gefolgt.

Er hatte gewartet, bis die Vögel zurückkamen. Schon im Oktober, als sie auf dem gleichen Weg zur Beerdigung ihrer Mutter gefahren war, war er in einem desolaten Zustand. Damals war er mit seinen Kumpels aus der Fleischfabrik in den neunten Kreis der Nintendohölle hinabgestiegen und hatte zum flüssigen Frühstück das erste Sechserpack Bier angebrochen, um dann in volltrunkenem Zustand zur Schicht zu fahren. Lieb gewonnene Traditionen, Rabbit; bin ich der Familienehre schuldig. Damals hatte sie nicht die Kraft, ihm gut zuzureden. Er hätte ohnehin nicht auf sie gehört, selbst wenn sie es versucht hätte. Aber er hatte den Winter überstanden, hatte sich sogar ein wenig aufgerafft. Und jetzt das.

Vor ihr tauchte Kearney auf: die weitläufigen Randbezirke, das neue Einkaufszentrum am Stadtrand, die schmierigen Schnellrestaurants an der Second Street, die alte Hauptstraße. Die ganze Stadt kam ihr plötzlich vor wie eine überdimensionale Raststätte an der Interstate 80. Der vertraute Anblick erfüllte sie mit einer seltsam unpassenden Ruhe. Zuhause.

Sie fand das Krankenhaus so wie die Vögel den Platte River. Sie sprach mit dem Unfallchirurgen und bemühte sich nach Kräften, ihn zu verstehen. Er sagte mehrfach ziemlich ernst, stabil und Glück gehabt. Er sah jung aus, so jung, dass er ohne weiteres früher am Abend mit Mark gefeiert haben könnte. Sie hätte am liebsten gefragt, ob sie sein Diplom von der medizinischen Hochschule sehen könne. Stattdessen erkundigte sie sich, was genau er mit »ziemlich ernst« meine, und nickte höflich zu seiner unverständlichen Antwort. Sie fragte nach der Bedeutung von »Glück«, und der Unfallchirurg erwiderte: »Glück, dass er noch am Leben ist.«

Die Feuerwehr hatte ihn mit einem Schweißbrenner aus dem Führerhaus geschnitten. Er hätte womöglich die ganze Nacht direkt neben der Landstraße in seinem Sarg gelegen und wäre, durch die Windschutzscheibe gepresst, erfroren oder verblutet, wenn es nicht einen anonymen Anruf von einer Tankstelle am Stadtrand gegeben hätte.

Sie ließen sie zu ihm. Eine Schwester wollte sie auf den Anblick vorbereiten, aber sie hörte nicht zu. Sie stand vor einem Nest aus Kabeln und Monitoren. Auf dem Bett lag ein weiß bandagiertes Bündel. Ein Gesicht schwamm in dem Schlauchgewirr, geschwollen und in allen Regenbogenfarben, über und über mit Schürfwunden bedeckt. In seinen zerschundenen Lippen und Wangen steckten noch Glaskörner. An einer Stelle hatte man ihm das verfilzte Haar abrasiert, und aus der kahl rasierten Kopfhaut sprossen Drähte. Die Stirn sah aus, als hätte er damit auf einem glühenden Grillrost gelegen. Ihr Bruder, im dünnen taubenblauen Krankenhausnachthemd, rang nach Luft.

Sie hörte sich wie von ferne seinen Namen rufen. »Mark?« Er öffnete die Augen, harte Plastikaugen, wie die Puppenaugen ihrer Kindheit. Nichts rührte sich, nicht einmal die Lider. Nichts, bis er lautlos pumpend die Lippen bewegte. Sie beugte sich vor zwischen Apparate und Schläuche. Durch das Surren der Monitore hörte sie ein Zischen aus seinen Lippen. Ein Windhauch in einem reifen Weizenfeld.

Sein Gesicht zeigte Zeichen des Erkennens. Aber aus seinem Mund kam nichts als ein dünner Speichelfaden. Die Augen flehten angsterfüllt. Er wollte etwas von ihr, Leben oder Tod. »Alles in Ordnung; ich bin da«, sagte sie. Doch ihr Versuch, ihn zu beschwichtigen, verschlechterte seinen Zustand nur noch weiter. Er wurde unruhig, und genau das hatten die Schwestern verboten. Sie wandte den Blick ab und sah irgendwohin, nur nicht in seine Tieraugen. Das Zimmer brannte sich tief in ihre Erinnerung ein: der geschlossene Vorhang, die beiden Wagen mit bedrohlich aussehenden elektronischen Geräten, die limonadengelbe Wand, der Rolltisch neben seinem Bett.

Sie unternahm einen neuen Versuch. »Markie, ich bin’s, Karin. Alles wird gut.« Indem sie es aussprach, schuf sie eine Art Wahrheit. Ein Stöhnen drang über seine versiegelten Lippen. Seine Hand, an der ein Infusionsschlauch baumelte, hob sich und packte sie am Handgelenk. Diese Zielsicherheit erstaunte sie. Der Griff war kraftlos und dennoch unentrinnbar, und er zog sie hinunter in das Labyrinth aus Schläuchen. Seine Finger flatterten wild, als könne sie in diesem Bruchteil einer Sekunde verhindern, dass sein Wagen die Böschung hinunterstürzte.

Die Schwester schickte sie nach draußen. Karin Schluter saß im Wartezimmer der Unfallstation, einem gläsernen Terrarium am Ende eines langen Korridors, wo es nach Desinfektionsmitteln, Angst und uralten medizinischen Zeitschriften roch. Farmer und Farmersfrauen in dunklen Sweatshirts und Overalls saßen mit gesenkten Köpfen neben ihr auf den ringsum aufgereihten orangefarbenen Polsterstühlen. Sie sah sie taxierend an: Vater mit Herzinfarkt, Ehemann mit Jagdunfall, Kind mit Überdosis. Auf dem Fernsehbildschirm in der Ecke flimmerten tonlose Bilder von einer kahlen Berglandschaft mit versprengten Guerillakämpfern. Afghanistan, Winter 2002. Nach einer Weile entdeckte sie einen Blutstropfen an ihrem rechten Zeigefinger, wo sie die Nagelhaut durchgebissen hatte. Sie merkte, wie sie aufstand, die Toilette ansteuerte und sich dort übergab.

Später aß sie etwas Warmes, Klebriges aus der Krankenhauskantine. Irgendwann fand sie sich in einem jener halbfertigen Betontreppenhäuser, die man eigentlich nur zu Gesicht bekommt, wenn das Gebäude in Flammen steht, und telefonierte mit Sioux City, mit der großen Firma für Computer und Heimelektronik, wo sie in der Kundenbetreuung arbeitete. Sie stand da und strich den zerknitterten Bouclérock glatt, als könnte ihr Abteilungsleiter sie durch die Leitung hindurch sehen. Sie erzählte ihm so vage wie möglich von dem Unfall. Ein bemerkenswert nüchterner Bericht: dreißig Jahre Routine im Vertuschen von Familiengeheimnissen. Sie bat um zwei Tage Urlaub. Er bot ihr drei. Zuerst wollte sie protestieren, dann nahm sie dankbar an.

Wieder zurück im Wartezimmer sah sie acht Männer mittleren Alters in Flanellhemden; sie standen im Kreis und starrten auf den Fußboden. Ein Raunen drang aus ihrer Mitte, Wind, der an den Fliegenfenstern eines einsamen Farmhauses rüttelt. Das Murmeln schwoll in Wellen an und ab. Sie brauchte einen Augenblick, bis sie es einordnen konnte: ein Gebetszirkel; sie beteten für ein anderes Opfer, das unmittelbar nach Mark eingeliefert worden war. Ein improvisierter Gottesdienst der Pfingstler, der das übernahm, was Skalpelle, Medikamente und Laser nicht zu leisten vermochten. Die Gabe der Zungenrede kam über den Kreis von Männern, es klang wie das Stimmengewirr bei einem Familientreffen. Zuhause: der Ort, dem man niemals entrinnt, nicht einmal in seinen schlimmsten Träumen.

Stabil. Glück. Diese Wörter hielten Karin aufrecht bis zum Mittag. Doch als der Unfallchirurg das nächste Mal mit ihr sprach, hörte es sich anders an: zerebrales Ödem. Etwas hatte den Druck im Schädel ihres Bruders in die Höhe getrieben. Die Krankenschwestern versuchten, seinen Körper zu kühlen. Der Arzt sprach von einem Ventilator und ventrikulärer Drainage. Keine Rede mehr von Glück und Stabilität.

Als sie Mark das nächste Mal sehen durfte, erkannte sie ihn nicht mehr. Die Person, zu der man sie diesmal brachte, lag im Koma, das eingefallene Gesicht eines Fremden. Seine Augen öffneten sich nicht, als sie seinen Namen rief. Seine Arme hingen reglos, selbst wenn sie sie drückte.

Krankenhausangestellte kamen und redeten auf sie ein. Sie behandelten sie, als hätte sie einen Hirnschaden. Sie versuchte etwas aus ihnen herauszubekommen. Marks Blutalkoholwert hatte knapp unter dem Grenzwert für Nebraska gelegen – drei oder vier Bier in den Stunden, bevor er im Graben gelandet war. Sonst keine auffälligen Werte. Der Truck war nicht mehr zu retten.

Zwei Polizisten nahmen sie auf dem Flur beiseite und stellten ihr Fragen. Sie sagte ihnen, was sie wusste, nämlich nichts. Eine Stunde später überlegte sie, ob das Gespräch nur in ihrer Einbildung stattgefunden hatte. Später am Nachmittag setzte sich ein fünfzigjähriger Mann im blauen Arbeitshemd im Wartezimmer neben sie. Sie zwang sich, ihn anzusehen und zu lächeln. Unmöglich, selbst hier in dieser Stadt: ein Kundenbetreuerlächeln im Wartezimmer der Unfallstation.

»Sie sollten sich einen Anwalt nehmen«, sagte der Mann.

Sie blickte wieder zu ihm hin und schüttelte den Kopf. Schlafentzug.

»Sie gehören doch zu dem Burschen, der seinen Truck zu Schrott gefahren hat? Ich hab’s im Telegraph gelesen. Sie sollten sich wirklich einen Anwalt nehmen.«

Sie schüttelte noch einmal den Kopf. »Sind Sie Anwalt?«

Der Mann sträubte sich. »Gott bewahre. Nur ein Rat unter Freunden.«

Sie suchte nach der Zeitung und las den knappen Unfallbericht immer wieder, bis er ihr vor den Augen verschwamm. Sie saß in dem Glaskasten, so lange sie konnte, dann wanderte sie durch die Gänge der Station und setzte sich wieder. Stündlich flehte sie die Schwestern an, sie zu ihm zu lassen. Jedes Mal wurde ihre Bitte abgeschlagen. Hin und wieder döste sie auf ihrem aprikotfarbenen Plastikstuhl für fünf Minuten ein. Mark erschien in ihren Träumen, wie Büffelgras nach einem Präriefeuer. Ein Kind, das aus Mitleid immer die schlechtesten Spieler in seine Mannschaft wählte. Ein Erwachsener, der nur anrief, wenn er vom Alkohol in rührseliger Stimmung war. Ihre Augen brannten und ihr Mund war trocken und geschwollen. Sie musterte sich im Spiegel auf der Toilette: verquollen und schwankend, die roten Haare ein zerzauster Perlenvorhang. Aber trotz allem immer noch ansehnlich.

»Sein Zustand hat sich verschlechtert«, erklärte der Arzt. Er sprach von B-Wellen und Quecksilbersäulen, Gehirnlappen und Hirnkammern und Hämatomen. Schließlich verstand Karin, was er meinte. Mark musste operiert werden.

Sie schnitten ihm die Luftröhre auf und trieben einen Bolzen in seinen Schädel. Die Krankenschwestern antworteten nicht mehr auf Karins Fragen. Stunden später bat sie mit ihrer besten Kundenbetreuerstimme erneut darum, dass sie ihn sehen dürfe. Sie sagten, er sei zu geschwächt von dem Eingriff. Die Schwestern boten an, ihr etwas zu geben, und Karin brauchte eine Weile, bis sie begriff, dass sie Beruhigungsmittel meinten.

»Nein, danke«, sagte sie. »Mit geht es gut.«

»Gehen Sie eine Weile nach Hause«, sagte der Unfallchirurg. »Ärztliche Anweisung. Sie brauchen Ruhe.«

»Andere schlafen auch auf dem Boden im Wartezimmer. Ich kann einen Schlafsack holen und wiederkommen.«

»Im Augenblick können Sie nichts tun«, versicherte ihr der Arzt. Aber das war nicht möglich; nicht in der Welt, aus der sie kam.

Sie versprach sich auszuruhen, wenn sie sie vorher zu Mark ließen, nur für einen Augenblick. Sie stimmten zu. Seine Augen waren noch immer geschlossen, und er reagierte auf nichts.

Dann sah sie den Zettel. Er lag auf dem Nachttisch. Keiner konnte ihr sagen, wie er dorthin gekommen war. Ein Bote war unbemerkt ins Zimmer geschlüpft, als Karin vor der Tür warten musste. Die Schrift war dünn und krakelig: die Schrift eines Einwanderers aus dem vorigen Jahrhundert.

Ich bin Niemand aber

Heute Nacht auf der North Line Road

Führte GOTT mich zu dir

damit Du Leben kannst

und jemand anderen zurückholen.

Ein Schwarm von flammenden Vögeln. Sterne stürzen herab wie Geschosse. Glutrote Punkte werden Fleisch, nisten sich ein, Körperteil, Körper nur zum Teil.

Es dauert eine Ewigkeit: nichts, was man messen kann.

Ein Schwarm von glühenden Schlacken. Wenn der graue Schmerz sich lichtet, bleibt nur noch Wasser, immer. Flach und endlos, träger als jede Flüssigkeit. Am Ende nichts als ein zeitloses Fließen, niederstes Dasein, unergründlich. Ein Etwas, die Kälte selbst, kann sie nicht spüren.

Der Körper, ein seichtes Gewässer, fällt pro Meile um einen Zoll. Ein Torso so lang wie die Welt. Vereist von Anfang bis Ende. Große Schleifen, vom Alter gekrümmt, schleppende, lang gezogene Mäander halten den Strom so lange wie möglich auf und zögern den einen langen Absturz hinaus, den er doch bereits vollzieht.

Nicht einmal ein Fluss, nicht einmal nass, braun, träge, westwärts, kein Jetzt oder Später, nur dann und wann steigend. Ein Gesicht taucht auf, ein tonloser Schrei. Eine weiße Säule, lichtumflutet. Dann schallendes, nacktes Entsetzen in der Luft, ein Flattern und Fallen, überallhin, nur nicht ins Ziel.

Ein wortloser Laut sagt dennoch: Komm. Komm mit. Versuch’s mit dem Tod.

Am Ende nur noch Wasser. Seichtes Wasser breitet sich überall aus. Wasser, das Nichts ist und doch ins Nichts stürzt.

 

Sie nahm sich ein Zimmer in einem der Motels für Kranichtouristen direkt an der Interstate. Es sah aus, als sei es gerade von der Ladefläche eines Lastwagens gekippt. Das Zimmer war sündhaft teuer. Aber es war nah am Krankenhaus, und das allein zählte. Sie blieb eine Nacht, danach musste sie sich eine andere Bleibe suchen. Als unmittelbare Verwandte hätte sie im Gästehaus des Hospitals wohnen können, einer Unterkunft, die teils mit dem Kleingeld aus den Taschen des weltweit größten Fastfood-Riesen finanziert wurde. Das Clownshaus hatten sie und Mark es getauft, damals vor vier Jahren, als ihr Vater unheilbar an Schlaflosigkeit litt. Der Mann war erst nach vierzig Tagen gestorben, und am Ende, als er schließlich einwilligte, ins Krankenhaus zu gehen, übernachtete ihre Mutter manchmal im Clownshaus, um in seiner Nähe zu sein. Karin konnte den Gedanken daran nicht ertragen, nicht jetzt. Lieber fuhr sie zu Marks Haus, auch wenn es eine halbe Stunde entfernt lag.

Sie machte sich auf den Weg nach Farview, wo Mark nur Monate nach dem Tod ihres Vaters von seinem Anteil aus dem spärlichen Erbe ein Fertighaus gekauft hatte. Sie verfuhr sich und musste den Walter-Brennan-Darsteller an der Texaco-Tankstelle nach dem Weg zur Siedlung River Run fragen. Typisch. Sie hatte nie gewollt, dass Mark dorthin zog. Aber nach Cappys Tod hörte Mark auf niemanden.

Schließlich fand sie das Homestar-Haus, Marks ganzen Stolz. Er hatte es gekauft, ein Jahr nachdem er als Wartungs- und Reparaturtechniker bei der Fleischwarenfabrik in Lexington angefangen hatte. An dem Tag, an dem er den Scheck für die Anzahlung ausstellte, lief Mark durch die Stadt und feierte, als hätte er sich gerade verlobt.

Ein frischer Hundehaufen erwartete sie gleich hinter der Haustür. Blackie kauerte in der Wohnzimmerecke und winselte schuldbewusst. Karin ließ die arme Hündin nach draußen und fütterte sie. In dem handtuchgroßen Garten fing der Border Collie, Hütehund, der er war, sofort an, alles zusammenzutreiben – Eichhörnchen, Schneeflocken, Zaunpfähle –, nur um den Menschen zu zeigen, dass er ihrer Liebe nach wie vor wert war.

Die Heizung war aus. Allein die Tatsache, dass Mark grundsätzlich nie einen Wasserhahn ganz zudrehte, hatte verhindert, dass die Leitungen platzten. Sie beförderte den Kothaufen in den frostigen Garten. Die Hündin pirschte sich heran, bereit, mit ihr Freundschaft zu schließen, aber erst, wenn sie wusste, wo Mark geblieben war. Karin setzte sich auf die Treppe und drückte das Gesicht an das eiskalte Geländer.

Fröstelnd kehrte sie zurück ins Haus. Wenigstens hier konnte sie alles für ihn in Ordnung bringen, den seit Wochen überfälligen Putz erledigen. In dem Raum, den ihr Bruder als »Familienzimmer« bezeichnete, ordnete sie die Magazine für Liebhaber von Lastwagen und nacktem Fleisch zu fein säuberlichen Stapeln. Sie sammelte umherliegende CDs ein und verstaute sie hinter der getäfelten Bar, die Mark – mit mäßigem Erfolg – selbst eingebaut hatte. Im Schlafzimmer hatte sich ein Poster mit einem Mädchen im schwarzen Lederbikini, das sich auf der Motorhaube eines Lastwagens räkelte, halb von der Wand gelöst. Angewidert riss sie es herunter. Erst als sie die Fetzen in Händen hielt, begriff sie, was sie getan hatte. Sie holte einen Hammer aus der Abstellkammer und versuchte, das Poster wieder aufzuhängen, aber es war zu stark beschädigt. Sie warf es in den Mülleimer und verfluchte sich dafür.

Das Badezimmer hatte etwas von einem Chemieexperiment in der Highschool. Mark besaß keinerlei Putzmittel außer Rohrreiniger und Seife mit Lederaroma. Sie suchte in der Küche nach Essig oder Ammoniak, aber das Aggressivste, was sie dort fand, war Old Style-Bier. Unter der Spüle entdeckte sie in einem Eimer mit Putzlappen eine Dose Scheuerpulver, in der es beim Anheben seltsam polterte. Sie drehte den Deckel, und er sprang auf. In der Dose war ein Röhrchen mit Pillen.

Sie hockte sich auf den Küchenfußboden und weinte. Vielleicht sollte sie doch lieber zurück nach Sioux City fahren, den Schaden so gering wie möglich halten und wieder ihr eigenes Leben leben. Sie nahm die Tabletten in die Hand und ließ sie durch die Finger gleiten. Puppenküchenutensilien und Miniatursportgeräte: weiße Tellerchen, rote Hanteln, winzige violette Untertassen mit unleserlichen Aufschriften. Vor wem versteckte er sie da unten, wenn nicht vor sich selbst? Die vorherrschende Form kannte sie wohl: Ecstasy. Sie hatte es auch einmal probiert, vor zwei Jahren in Boulder. Hatte sich einen Abend lang eins gefühlt mit ihren Freunden und wildfremde Menschen umarmt. Benommen hielt sie eine Pille zwischen den Fingern und leckte daran. Dann zog sie die Zunge hastig zurück und beförderte den ganzen Vorrat in den Ausguss. Sie ließ die kläffende Blackie zurück ins Haus. Der Hund beschnüffelte ihre Waden, er wollte Aufmerksamkeit. »Ist schon in Ordnung«, versprach sie. »Bald ist alles wieder so wie früher.«

Dann nahm sie sich das Schlafzimmer vor, ein Museum voll mit Kuhzähnen, bunten Mineralien und Hunderten von exotischen Kronkorken in selbst gebastelten Rahmen. Sie inspizierte den Wandschrank. Neben den überwiegend dunklen Jeans und Cordhosen hingen drei Paar fettverschmierte Latzhosen mit dem Logo IBP an einem Haken über den schmutzstarrenden Arbeitsstiefeln, die er Tag für Tag trug, wenn er zum Schlachthof fuhr. Der Gedanke ließ sie zusammenzucken: Es gab ein paar Dinge, die sie tags zuvor hätte erledigen müssen. Sie rief in der Fabrik an. Iowa Beef Processors: Weltgrößter Lieferant von la Rind- und Schweinefleischprodukten. Sie landete bei einer automatischen Ansage. Dann noch eine. Dann muntere Musik, dann eine muntere Zwitscherstimme, dann eine knurrige Person, die sie hartnäckig mit Ma’am anredete. Ma’am. Irgendwie hatte sie sich im Laufe des Telefonats offenbar in ihre eigene Mutter verwandelt. Ein Sachbearbeiter in der Personalabteilung half ihr beim Ausfüllen von Marks Krankmeldung. In der Stunde, die sie für all das benötigte, fühlte sie sich erleichtert, weil sie etwas Nützliches tun konnte. Die Freude darüber versetzte ihr einen Stich.

Sie telefonierte mit ihrem eigenen Betrieb in Sioux. Es war eine große Firma, der drittgrößte Computerversand des Landes. Damals in der Anfangszeit, als überall Computerfirmen wie Pilze aus dem Boden schossen, hatte diese Firma sich aus der Masse ihrer nahezu austauschbaren Konkurrenten herausgehoben, weil sie in ihrer Werbung Herden von schwarzbunten Rindern zeigte. Mark hatte sich köstlich amüsiert, als sie aus Colorado nach Nebraska zurückkehrte und eine Stelle bei dieser Firma annahm. Du arbeitest jetzt also in der Kundenbetreuung bei dieser Kuh-puter-Kompanie? Sie konnte es nicht erklären. Nach Jahren des, wenn man so sagen wollte, beruflichen Aufstiegs – erst Telefonistin in Chicago, dann Anzeigenverkäuferin für Trendmagazine in Los Angeles, schließlich Chefassistentin und zu guter Letzt Firmensprecherin für zwei Internetunternehmer in Boulder, die mit einer virtuellen Welt, in der Nutzer sich ein wohlhabendes Alter Ego aufbauen konnten, Millionen verdienen wollten und sich stattdessen am Ende gegenseitig verklagten – war sie ziemlich unsanft wieder auf dem Boden der Tatsachen gelandet. Mittlerweile über dreißig, hatte sie weder Zeit noch Stolz genug, um sie für ehrgeizige Projekte aufs Spiel zu setzen. Sie hatte nichts gegen ehrliche Knochenarbeit für eine sichere, grundsolide Firma. Wenn ihre Bestimmung im Bereich der Kundenbetreuung lag, würde sie das Menschenmögliche tun, um die Kunden professionell zu betreuen. Tatsächlich hatte sie ein verborgenes Talent für den Umgang mit Beschwerden bei sich entdeckt. Nach zwei E-Mails und einem fünfzehnminütigen Telefonat hatte sie einen Kunden, der die Firma am liebsten mit einem Molotowcocktail in die Luft gejagt hätte, davon überzeugt, dass sie und die vielen tausend Angestellten nichts sehnlicher wünschten als seine lebenslange Freundschaft und Wertschätzung.

Sie konnte es weder ihrem Bruder noch sonst jemandem begreiflich machen: Status und Anerkennung waren nicht von Belang. Was für sie zählte, war einzig und allein Professionalität. Jetzt endlich gaukelte das Leben ihr nichts mehr vor. Sie hatte einen Job und leistete gute Arbeit, sie besaß eine Einzimmer-Neubauwohnung in South Sioux, nicht weit vom Fluss, und es gab sogar so etwas wie eine wechselseitige Anziehung zwischen ihr und einem befreundeten Warmblüter in der Technikabteilung, die binnen ein oder zwei Monaten zu einer festen Beziehung zu mutieren drohte. Und jetzt das. Ein Anruf, und die Wirklichkeit hatte sie wieder eingeholt.

Egal. In Sioux wurde sie nicht gebraucht. Der eine Mensch, der sie wirklich brauchte, lag hier im Krankenhaus, auf einer düsteren Insel, und hatte außer ihr niemanden, der sich um ihn kümmerte.

Sie sprach mit ihrem Abteilungsleiter, strich sich die Haare glatt, als er den Hörer abnahm. Er sah nach, wie viele Urlaubstage ihr zur Verfügung standen, und sagte, sie könne vom kommenden Montag an noch eine weitere Woche bleiben. Sie deutete vorsichtig an, dass sie nicht wisse, ob das ausreichen würde. Das müsse es, erwiderte er. Sie bedankte sich, bat nochmals um Verzeihung, legte auf und stürzte sich wieder auf den Hausputz.

Mit nichts als Geschirrspülmittel und Papierhandtüchern gelang es ihr, Marks Haus wieder bewohnbar zu machen. Sie betrachtete sich im Badezimmerspiegel, als sie die Zahnpastaspritzer wegpolierte: eine einunddreißigjährige berufsmäßige Beschwichtigerin mit dreieinhalb Pfund zu viel und roten Haaren, vierzig Zentimeter zu lang für ihr Alter, eine Frau, die verzweifelt nach etwas suchte, das sie in Ordnung bringen konnte. Sie konnte es schaffen. Bald würde Mark wiederkommen und den Spiegel ungeniert aufs Neue mit Zahnpasta bespritzen. Sie würde ins Land der Kuhcomputer zurückkehren, wo man ihre Arbeit zu schätzen wusste und wo nur Fremde sie um Hilfe baten. Sie strich die trockene Wangenhaut zu den Ohren zurück und atmete langsamer. Dann polierte sie Wanne und Waschbecken und ging zum Auto, um nachzusehen, was sie im Rucksack hatte: zwei Pullover, ein Paar Twillhosen und drei Garnituren Unterwäsche. Sie fuhr zu den Fabrikläden in Kearney und kaufte einen Pullover, zwei Paar Jeans und etwas Feuchtigkeitscreme. Selbst das kam ihr vor, als fordere sie das Schicksal heraus.

 

Ich bin Niemand aber Heute Nacht auf der North Line Road … Sie fragte alle auf der Unfallstation nach dem Zettel. Offensichtlich war er einfach auf dem Nachttisch aufgetaucht, kurz nach Marks Einlieferung. Eine mittelamerikanische Nonne mit einem kunstvollen, türkis-besetzten Kruzifix um den Hals beteuerte, außer Karin und dem Pflegepersonal sei in den ersten sechsunddreißig Stunden niemand bei ihm gewesen. Sie zeigte Papiere, die dies bewiesen. Die Krankenschwester versuchte, den lästigen Zettel zu konfiszieren, aber Karin gab ihn nicht aus der Hand. Sie wollte ihn Mark zeigen, wenn er wieder zu sich kam.

Er wurde aus der Unfallstation in ein Zimmer verlegt, wo sie neben seinem Bett sitzen konnte. Er lag flach ausgestreckt auf dem Rücken, eine leblose Gliederpuppe. Zwei Tage später öffnete er die Augen für eine halbe Minute, nur um sie gleich wieder zu schließen. Aber am Abend, als die Dämmerung kam, öffnete er sie erneut. Im Verlauf des nächsten Tages zählte sie sechs weitere Male, die er die Augen aufschlug. Und jedes Mal sah er aus, als erwache er mitten in einem Horrorfilm.

Sein Gesicht zeigte Bewegung, wie eine Karnevalsmaske aus Gummi. Sein matter Blick blieb an ihr hängen. Sie saß neben dem Bett, unsicher auf dem Geröll am Rand eines abgrundtiefen Steinbruchs. »Was ist, Mark? Sag es mir. Ich bin hier.«

Sie flehte die Krankenschwestern an, ihr etwas zu tun zu geben, egal was, Hauptsache, es half. Sie zeigten ihr spezielle Nylonsocken und Basketballstiefel, die sie Mark alle paar Stunden an- und wieder ausziehen sollte. Sie tat es alle vierzig Minuten und massierte zudem seine Füße. Es rege den Blutkreislauf an und verhindere die Entstehung von Blutgerinnseln. Sie saß am Bett und drückte und knetete. Einmal ertappte sie sich dabei, wie sie ihr altes 4H-Gelöbnis aus der Highschool flüsterte:

mein Hirn für klareres Denken,

mein Herz für mehr Charakterstärke,

meine Hände für die Unterstützung der Armen,

und meine Hilfe für ein besseres Leben …

Als sei sie wieder in der Schule, mit Mark als ihrem Vorzeigeprojekt.

Unterstützung der Armen: ihr Leben lang hatte sie sich darum bemüht, bewaffnet mit nichts als einem Bachelorgrad in Soziologie von der University of Nebraska in Kearney. Hilfslehrerin im Winnebago-Reservat, freiwillige Helferin in den Suppenküchen für Obdachlose in Los Angeles, Bürohilfe in einer Kanzlei für kostenlose Rechtsberatung in Chicago. Wegen eines jungen Mannes, der es ihr angetan hatte, war sie in Boulder sogar eine Zeit lang zu Demonstrationen gegen die Globalisierung gegangen und hatte lautstark mitprotestiert, auch wenn ihr Eifer das tief sitzende Gefühl der Lächerlichkeit nicht übertönen konnte. Sie wäre für immer zu Hause geblieben und hätte sich für das Wohl der Familie eingesetzt, wenn ihre Familie es denn zugelassen hätte. Jetzt lag das letzte Familienmitglied reglos vor ihr, unfähig, sich gegen ihre Unterstützung zu wehren.

Der Arzt zapfte die Flüssigkeit im Gehirn ihres Bruders ab. Ungeheuerlich, aber es funktionierte. Der Druck in seinem Schädel sank. Die Zysten und Flüssigkeitsansammlungen bildeten sich zurück. Sein Gehirn hatte jetzt wieder den Platz, den es brauchte. Sie sagte es ihm. »Jetzt musst du nur noch gesund werden.«

Stunden vergingen wie im Flug. Doch die Tage zogen sich endlos. Sie saß an seinem Bett, kühlte seinen Körper mit speziellen Kühldecken, zog ihm die Schuhe an und aus. Und dabei redete sie unablässig auf ihn ein. Nie gab es ein Anzeichen, dass er sie hörte, aber sie sprach trotzdem weiter. Seine Trommelfelle mussten doch vibrieren, die Nerven dahinter kribbeln. »Ich habe dir ein paar Rosen aus dem Bio-Supermarkt mitgebracht. Sind sie nicht wunderschön? Sie duften sogar. Die Schwester wechselt gerade wieder die Beutel am Tropf, Markie. Keine Sorge, ich bin noch da. Du musst unbedingt aufstehen und die Kraniche sehen, bevor sie weiterziehen. Es ist einfach unbeschreiblich. So viele wie in diesem Jahr habe ich noch nie gesehen. Sie fallen in Schwärmen in die Stadt ein. Ein paar sind auf dem Dach von McDonald’s gelandet. Sie führen etwas im Schilde. Mann, Mark. Deine Füße stinken vielleicht. Wie uralter Roquefort.«

Riech an meinen Füßen. Ihre Standardstrafe für jede Art von Vergehen, seit er kräftiger war als sie. Zum ersten Mal seit ihrer Kindheit roch sie seine Körperausdünstungen. Roquefort und Erbrochenes. Wie das wilde Katzenbaby, das sie unter der Veranda gefunden hatten, als sie neun war. Süßsauer, wie der Schimmelpilz auf der feuchten Brotscheibe, die Mark für ein Biologieexperiment in der fünften Klasse in einem verschlossenen Gefäß über der Lüftung des Heizkessels vergessen hatte. »Sobald du nach Hause kommst, lassen wir dir ein schönes Schaumbad ein.«

Sie erzählte ihm von dem Strom von Besuchern am Bett des Komapatienten nebenan: Frauen in weiten Kleidern, Männer in weißen Hemden und schwarzen Hosen, wie die Mormonen in den sechziger Jahren. Er lauschte all ihren Geschichten, versteinert, reglos selbst die winzigen Muskeln in seinem Gesicht.

In der zweiten Woche betrat ein älterer Mann das Krankenzimmer; er trug einen Steppmantel, in dem er aussah wie ein blauglänzendes Michelin-Männchen. Er trat an das Bett von Marks bewusstlosem Zimmergenossen und brüllte. »Gilbert. Junge? Hörst du mich. Wach sofort auf. Wir haben keine Zeit für solchen Unsinn. Es reicht jetzt, verstehst du. Wir müssen wieder nach Hause.« Eine Krankenschwester kam nachsehen, was los war, und schaffte den aufgebrachten Mann nach draußen. Danach redete Karin nicht mehr mit Mark. Er schien es nicht zu bemerken.

 

Dr. Hayes sagte, am fünfzehnten Tag falle die Entscheidung. Bei neun Zehnteln aller Patienten mit Schädel-Hirn-Trauma, die wieder aus dem Koma erwachten, geschehe es bis zu diesem Zeitpunkt. »Die Augenaktivität gibt Anlass zur Hoffnung«, sagte er. »Sein Reptiliengehirn ist durchaus aktiv.«

»Er hat ein Reptiliengehirn?«

Dr. Hayes lächelte; er erinnerte sie an die Ärzte in alten Gesundheits-Lehrfilmen. »Wir alle habe das. Ein Indiz für den weiten Weg, den wir zurückgelegt haben.«

Er stammte eindeutig nicht aus der Gegend. Die meisten Einheimischen hatten keinen weiten Weg zurückgelegt. Karins Eltern hielten die Lehre von der Evolution für kommunistische Propaganda. Sogar Mark hegte Zweifel. Wenn Millionen von Arten sich ständig weiterentwickeln, wieso sind wir dann die einzig intelligente?

Der Arzt erklärte, was er meinte: »Das Gehirn ist eine faszinierende Konstruktion. Aber es kann seine Vergangenheit nicht leugnen. Es kann nur das bereits Vorhandene erweitern.«

Sie dachte an die verunstalteten alten Häuser in Kearney, prachtvolle Holzgebäude aus dem neunzehnten Jahrhundert, in den dreißiger Jahren entstellt durch Backsteinanbauten und später in den Siebzigern nochmals erweitert, diesmal mit Spanplatten und Aluminium. »Was … was macht sein Reptiliengehirn? Was sind das für Aktivitäten?«

Dr. Hayes bombardierte sie mit Begriffen: Medulla, Pons, Mittelhirn, Cerebellum. Sie notierte die Wörter in ihrem winzigen Notizbuch, um sie später nachzuschlagen. Aus dem Munde des Neurologen klang es, als sei das Hirn eine klapprigere Konstruktion als die Spielzeugautos, die Mark seinerzeit aus alten Brettern und abgesägten Spülmittelflaschen zusammengezimmert hatte.

»Und was ist mit den höheren …? Was kommt nach dem Reptil – so eine Art Vogel?«

»Das Nächsthöhere ist das Säugetiergehirn.«

Ihre Lippen bewegten sich, während er sprach, wie um ihm zu helfen. Sie konnte nichts dagegen tun. »Und bei meinem Bruder?«

Dr. Hayes zögerte. »Das ist schwerer zu sagen. Wir konnten keine Schädigung feststellen. Es ist aktiv. Reguliert Prozesse im Körper. Hippocampus und Amygdala sind anscheinend intakt; allerdings gibt es auffällige Aktivitäten in der Amygdala, wo manche negativen Empfindungen ihren Ursprung haben, Angst beispielsweise.«

»Wollen Sie damit sagen, dass mein Bruder Angst hat?« Ungeduldig winkte sie ab, als der Arzt sie beruhigen wollte. Mark hatte Gefühle. Angst oder was auch immer: es spielte keine Rolle. »Was ist mit seinem … menschlichen Gehirn? Dem Teil, der über dem Säugetiergehirn steht?«

»Er ist dabei, das Puzzle wieder zusammenzusetzen. Sein präfrontaler Kortex versucht, die verschiedenen Aktivitäten so zu synchronisieren, dass er wieder das Bewusstsein erlangt.«

Sie bat Dr. Hayes um alles, was er ihr an Informationsmaterial geben konnte. Sie markierte sämtliche Stellen, die irgendwie Erfolg versprechend klangen, mit grünem Filzstift. Das Gehirn ist unsere größte Herausforderung. Je mehr wir darüber erfahren, desto mehr erkennen wir, wie viel es darüber zu erfahren gibt. Bei ihrer nächsten Begegnung mit Dr. Hayes war sie gerüstet.

»Haben Sie die neueren Behandlungsmethoden für Kopfverletzungen in Erwägung gezogen?« Sie wühlte in ihrer Schultertasche nach dem kleinen Notizbuch. »Neuroprotektive Substanzen? Cerestat? Polyethylenglykol-gekoppelte Superoxid-Dismutase?«

»Alle Achtung. Ich bin beeindruckt. Sie haben Ihre Hausaufgaben gemacht.«

Sie versuchte, so kompetent auszusehen, wie sie sich ihn wünschte.

Dr. Hayes legte die Hände aneinander und berührte mit den Fingerspitzen seine Lippen. »Die Entwicklung auf diesem Gebiet geht rasend schnell voran. Die Versuche mit PEG-SOD wurden eingestellt, nachdem eine zweite Versuchsreihe in Phase III zu schlechten Ergebnissen geführt hat. Und ich glaube, Cerestat ist nicht das Richtige für Sie.«

»Doktor Hayes.« Ihre Kundenbetreuerstimme. »Mein Bruder hat Mühe, die Augen aufzumachen. Sie sagen, er hat womöglich Angst. Wir versuchen alles, was Sie ihm geben können.«

»Die Untersuchungen zu Cerestat – Abtiganel – wurden eingestellt. Ein Fünftel aller Patienten, die damit behandelt wurden, sind gestorben.«

»Aber Sie haben doch sicher noch andere Medikamente?« Sie blickte wieder in ihr Notizbuch, zitternd vor Erregung. Jeden Augenblick würden sich ihre Hände in Tauben verwandeln und davonflattern.

»Die meisten sind noch im Frühstadium der Erprobung. Sie müssten an einem klinischen Versuch teilnehmen.«

»Tun wir das nicht längst? Ich meine …« Sie machte eine Handbewegung in Richtung auf das Zimmer ihres Bruders. Im Hinterkopf hörte sie die Radiowerbung: Das Samariter-Hospital … die größte medizinische Einrichtung zwischen Lincoln und Denver.

»Sie müssten ihn in eine andere Klinik verlegen lassen. Eine Klinik, in der diese Studien durchgeführt werden.«

Sie sah den Mann an. Mit der richtigen Kleidung und der richtigen Frisur hätte er als Experte für medizinische Fragen im Frühstücksfernsehen auftreten können. Wenn er sie überhaupt wahrnahm, dann nur als unnötige Komplikation. Wahrscheinlich fand er sie einfach nur erbärmlich, in jeder erdenklichen Hinsicht. Etwas in ihrem Reptiliengehirn hasste ihn.

 

Steigt auf aus überfluteten Feldern. Eine Welle, eine Bewegung im Schilf. Neuer Schmerz, dann nichts.

Wenn das Empfinden wiederkehrt, droht er zu ertrinken. Vater lehrt ihn schwimmen. Strömung in den Gliedern. Vier Jahre alt, und sein Vater hält ihn über Wasser. Er fliegt, flattert, fällt. Sein Vater packt ihn am Bein, zieht ihn hinunter. Hält ihn unter der Oberfläche, eine starre Hand drückt seinen Kopf unter Wasser, bis keine Luftblasen mehr kommen. Der Fluss will dich schnappen, Junge. Sei gewappnet.

Aber es gibt kein Schnappen, kein Gewappnetsein. Es gibt nur Ertrinken.

Dann eine Pyramide aus Licht, glühende Diamanten, rotierende Sternenfelder. Sein Körper zwängt sich durch neonhelle Dreiecke, ein Tunnel, der aufwärts führt. Das Wasser über ihm, seine Lungen brennen, dann schießt er hinauf, an die Luft.

Wo Mund war, nur noch glatte Haut. Undurchdringliches verschließt diese Öffnung. Haus umgebaut; Fenster übertapeziert. Tür nicht mehr Tür. Muskeln zerren an den Lippen, aber nichts, was sich öffnen ließe. Nur noch Drähte, wo einst Wörter waren. Das Gesicht ein Zerrbild, in die eigenen Augen gestürzt. An ein Metallbett gefesselt, die Hölle, der er nicht entrinnen kann. Die kleinste Bewegung ein Schmerz, schlimmer als der Tod. Vielleicht ist der Tod schon vorüber. Gänzlich vorüber, nach einem Ab und Auf seines Lebens. Wer will schon leben nach so einem Fall?

Ein Raum voller Maschinen, der unerreichbare Ort. Etwas löst sich von ihm. Leute kommen und verschwinden, zu schnell. Gesichter nähern sich seinem mundlosen Gesicht, bedrängen ihn mit Wörtern. Er kaut sie und antworten mit Keuchen und Zischen. Jemand sagt, sei geduldig, aber nicht zu ihm. Sei geduldig, ein geduldiger Patient muss seine Krankheit erdulden.

Kann sein, dass Tage vergehen. Wer weiß. Die Zeit schlägt mit gebrochenen Flügeln. Stimmen kommen und gehen, aber eine ist fast immer da. Ein Gesicht, fast das seine. So nah, es will etwas von ihm, zumindest will es Wörter. Das Gesicht einer Sie, nass von Tränen. Nichts, was sie ist, wird sagen, was geschehen ist.

Ein Wunsch versucht sich aus ihm zu befreien. Der Wunsch zu sagen, stärker als der Wunsch zu sein. Wenn er einen Mund hätte, käme alles heraus. Dann wüsste diese Sie, was geschehen ist, wüsste, dass sein Tod nicht das war, was er scheint.

Druck füllt ihn aus, wie zusammengepresste Flüssigkeit. Sein Kopf: unsäglicher Druck, längst begraben. Lebenssaft strömt aus seinem Innenohr. Blut aus seinen durchbohrten Augen. Tödlicher Druck, obwohl schon so viel aus ihm herausgeflossen ist. Ein Schwarm von Gedanken, Millionen, mehr als sein Gehirn zu fassen vermag.

Ein Gesicht schwebt über ihm, spricht glühende Wörter. Sagt Mark, geh nicht, und er gäbe sein Leben, könnte er sie daran hindern, ihn am Leben zu erhalten. Er stemmt sich gegen das Ding, das ihn erdrückt. Muskeln zerren, aber die Haut bewegt sich nicht. Etwas Schlaffes. Er versucht unablässig, die Sehnen in seinem Nacken zu spannen. Schließlich bewegt sich sein Kopf. Später, mehrere Leben später, hebt sich der Rand seiner Oberlippe.

Drei Wörter würden ihn retten. Aber all die Muskeln befreien keinen Laut.

Gedanken pochen in einer Ader. Wieder das rote Pulsieren in seinen Augen, dann schießt die weiße Säule empor aus dem Dunkel, durch das er gestürzt ist. Etwas auf der Straße, das er jetzt nie erreichen wird. Ein Schrei in der Nähe, als sein Leben ins Schleudern geriet. Jemand hier in diesem Zimmer, der mit ihm sterben wird.

Das erste Wort kommt. Es bricht aus einer Wunde, die weiter ist als seine Kehle. Die Haut über seinem Mund zerreißt, und das Wort quält sich durch die blutige Öffnung. Ich. Das Wort zischt, es braucht so lang, dass sie es niemals hören wird. Ich wollte nicht.

Aber Wörter beginnen zu fliegen, kaum dass sie die Luft erreichen.

 

Nach zwei Wochen setzte sich Mark im Bett auf und stöhnte. Karin war an seiner Seite, anderthalb Schritt von seinem Gesicht. Er beugte sich vor, und Karin schrie auf. Wirre Augen blickten suchend um sich und fanden sie. Aus ihrem Schrei wurde Lachen, dann ein Schluchzen, als sein Blick über sie huschte. Sie rief seinen Namen, und das Gesicht unter den Schläuchen und Schürfwunden verzog sich. Dann drängten sich Ärzte und Pflegepersonal im Zimmer.

Viel war geschehen, unter der Oberfläche, in den Tagen, als er froststarr lag. Jetzt drängte er ans Licht, wie Weizenhalme durch den Schnee. Er wandte den Kopf, reckte den Hals. Seine Hände zuckten unbeholfen. Seine Finger zerrten an den Drähten und Schläuchen. Am furchtbarsten war die Magensonde. Als seine Hände zielsicherer griffen, hielten die Pfleger ihn mit sanfter Gewalt zurück.

Hin und wieder erschreckte ihn etwas, und er schlug um sich, wollte der Bedrohung entkommen. Das Schlimmste waren die Nächte. Einmal, als Karin sich morgens verabschiedete, jagte eine Welle von Chemikalien durch seinen Körper, und er schoss in die Höhe, arbeitete sich hoch, bis er auf dem Bett kniete. Sie musste ihn niederringen, damit er nicht die Schläuche herausriss.

Sie wachte über seine Rückkehr, Stunde um Stunde, wie in einem düsteren skandinavischen Film. Manchmal starrte er sie an, als überlege er, ob sie etwas Essbares war oder eine Bedrohung. Einmal ein Aufwallen von animalischer Lust, im nächsten Augenblick vergessen. Manchmal war sie wie ein Fremdkörper im Auge, den er beiseite wischen wollte. Er sah sie an, mit klarem, ironischem Blick, wie damals in der Nacht, als sie, beide Teenager und beide betrunken, von getrennten abendlichen Streifzügen nach Hause schwankten. Du auch? Ich wusste ja gar nicht, dass du das auch kannst.

Er begann Laute zu formen – ein Stöhnen, behindert durch den Schlauch in der Luftröhre, eine geheime, vokallose Sprache. Jedes Rasseln versetzte Karin einen Stich. Sie bedrängte die Ärzte, etwas zu unternehmen. Sie prüften Narbengewebe und Hirnflüssigkeit, hörten auf alles, nur nicht auf sein verzweifeltes Gurgeln. Sie ersetzten den Schlauch in seiner Luftröhre durch eine Kanüle mit winzigen Löchern, ein Fenster in Marks Kehle, groß genug für Laute. Und jeder Schrei ihres Bruders flehte um etwas, das sie nicht verstand.

Er war wieder so wie an dem Tag, als sie ihn zum ersten Mal gesehen hatte, als sie mit vier vom Treppenabsatz im ersten Stock zusah, wie ihre Eltern ein Fleischbündel in einer blauen Babydecke ins Haus trugen. Ihre früheste Erinnerung: sie stand oben an der Treppe und fragte sich, warum ihre Eltern so viel Aufhebens machten um etwas weit Dümmeres als eine Straßenkatze. Aber sie lernte dieses Baby bald lieben, das beste Spielzeug, das sich ein Mädchen wünschen konnte. Ein Jahr lang schleppte sie ihn mit sich herum wie eine Puppe, bis er schließlich die ersten unbeholfenen Schritte ohne sie machte. Sie plapperte auf ihn ein, lockte und erpresste ihn, hielt Buntstifte und kleine Leckerbissen so lange außer Reichweite, bis er die richtigen Wörter sagte. Sie hatte ihren Bruder aufgezogen, als ihre Mutter nur an das Himmelreich dachte. Karin hatte ihn schon einmal laufen und sprechen gelehrt. Mit Hilfe des Samariter-Hospitals konnte sie es ein zweites Mal schaffen. Etwas in ihr frohlockte beinahe über diese zweite Chance – die Chance, es diesmal richtig zu machen.

Zwischen den Besuchen der Krankenschwestern, allein an seinem Bett, sprach sie nun wieder mit ihm. Vielleicht halfen ihre Worte, dass sein Hirn ein neues Gleichgewicht fand. Keins von den neurologischen Büchern, die sie studierte, bestritt diese Möglichkeit. Niemand wusste genug über das Gehirn, um zu sagen, was ihr Bruder hörte und was nicht. Sie fühlte sich wie in ihrer Kindheit, wenn sie ihn ins Bett brachte, ihre Eltern zu frommen Liedern um die Hammondorgel im Nachbarhaus versammelt, damals vor ihrem ersten Bankrott und dem Ende alles geselligen Lebens. Von früh an hatte Karin den Babysitter gespielt, hatte sich ihre zwei Dollar damit verdient, dass sie ihren kleinen Bruder eine weitere Nacht lang am Leben hielt. Überdreht nach einer großen Dosis Milk Duds und Cherry Cola verlangte Markie dann, dass sie unendlich lange Zahlenreihen aufsagte, telepathische Experimente machte oder lange Geschichten aus Animalia erzählte, dem Land, zu dem Menschen keinen Zutritt hatten und das bevölkert war von Helden, Schurken, Gaunern und Opfern, allesamt Tiere auf ihrer Farm.

Immer wieder Tiere. Gute und böse, solche, die man beschützen musste, und andere, die es zu vernichten galt. »Erinnerst du dich noch an die Schlange in der Scheune?«, fragte sie. Seine Augen flackerten. »Du musst damals neun gewesen sein. Du hast einen Stock genommen und sie ganz allein getötet. Hast uns alle beschützt. Dann bist du stolz zu Cappy gelaufen und hast eine Tracht Prügel bezogen. ›Du hast uns gerade um Weizen im Wert von achthundert Dollar gebracht. Weißt du denn nicht, was die fressen? Hast du denn kein Hirn im Kopf, Junge?‹ Danach hast du nie wieder eine Schlange getötet.«

Er betrachtete sie, beobachtete, wie ihre Mundwinkel zuckten. Anscheinend hörte er zu.

»Erinnerst du dich an Horace?« Den verletzten Kranich, den sie adoptiert hatten, als Mark zehn war und Karin vierzehn. Der Vogel war im Frühjahrszug an die Stromleitung gekommen und bei ihnen in den Garten gestürzt. Er war in einen panischen Tanz ausgebrochen, als sie sich näherten. Einen ganzen Nachmittag lang näherten sie sich behutsam, bis er sich schließlich an sie gewöhnt hatte und sich einfangen ließ.

»Weißt du noch, wir haben ihn gewaschen, und da nahm er dir mit dem Schnabel das Handtuch aus der Hand und trocknete sich selbst ab. Instinkt, genau wie sie sich mit Schlamm einreiben, damit die Federn dunkler wirken. Aber meine Güte, wir haben damals gedacht, der Vogel sei klüger als jeder Mensch auf der Welt. Weißt du noch, wie wir ihm beibringen wollten, sich zu schütteln?«

Plötzlich wimmerte Mark. Der eine Arm zuckte, der andere holte weit aus. Sein Torso schnellte empor, er reckte den Kopf. Schläuche rissen ab, und das Alarmsignal am Monitor ertönte. Karin rief Hilfe, und Mark zuckte immer weiter auf seinem Bett. Es sah aus, als wolle er sich auf sie stürzen. Als endlich ein Pfleger kam, liefen ihr schon die Tränen. »Ich weiß nicht, was ich gemacht habe. Was ist los mit ihm?«

»Sieh sich das einer an«, sagte der Pfleger. »Er will Sie umarmen!«

 

Sie fuhr nach Sioux, um die Wogen zu glätten. Sie war nicht zum verabredeten Zeitpunkt zurückgekehrt, und am Telefon ließ sich das nicht mehr in Ordnung bringen. Sie ging zu ihrem Abteilungsleiter und sprach mit ihm. Er hörte sich die Einzelheiten an und schüttelte betroffen den Kopf. Er erzählte von einem Vetter, der einen Golfschläger an den Kopf bekommen hatte. Schaden an etwas, das wie Varieté klang. Sei nie wieder ganz der alte geworden. Er hoffe nur, dass es mit Karins Bruder besser ausgehe.

Sie dankte ihm und fragte, ob sie noch ein wenig länger wegbleiben könne.

Wie viel länger?

Das könne sie nicht sagen.

Sei ihr Bruder denn nicht im Krankenhaus? Da werde er doch gut versorgt.

Sie könne unbezahlten Urlaub nehmen, bot sie an. Nur einen Monat.

Ihr Vorgesetzter erklärte ihr, dass der gesetzliche Arbeitsplatzschutz bei Erkrankung eines Familienmitglieds sich nicht auf Geschwister erstrecke. Im Sinne des Gesetzes zähle ein Bruder nicht zur Familie.

Vielleicht könne sie kündigen und neu eingestellt werden, wenn es ihrem Bruder besser gehe.

Das sei nicht unmöglich, sagte der Abteilungsleiter, aber versprechen könne er nichts.

Das tat weh. »Ich bin gut«, sagte sie. »Ich bin wirklich gut bei dieser Arbeit.«

»Sie sind besser als gut«, sagte er, und selbst jetzt spürte sie, wie wohl das Lob tat. »Aber gut reicht nicht. Ich brauche jemanden, der hier ist.«

Benommen räumte sie ihr Büro aus. Ein paar Leute sprachen verlegen ihr Mitgefühl aus und wünschten ihr alles Gute. Vorbei, bevor sie überhaupt richtig angefangen hatte. Vor einem Jahr hatte sie geglaubt, sie könne in der Hierarchie der Firma aufsteigen, Karriere machen, ein neues Leben beginnen, mit Leuten, die nur ihre Freundlichkeit und Hilfsbereitschaft kannten und nichts von ihrer hässlichen Vergangenheit ahnten. Sie hätte wissen müssen, dass Kearney – der Fluch der Schluters – sie irgendwann einholen würde. Sie überlegte, ob sie hinunter zur Technik-Hotline gehen und es Chris erzählen sollte, mit dem sie ein paarmal ausgegangen war. Stattdessen rief sie ihn vom Parkplatz aus auf dem Handy an. Als er ihre Stimme hörte, strafte er sie mit Schweigen, eine volle Breitseite davon. Zwei Wochen ohne Anruf oder E-Mail. Sie entschuldigte sich immer wieder, bis er schließlich redete. Nach dem Schmollen war Chris nun ganz Anteilnahme. Er fragte, was geschehen sei. Bei allem, was ihre Familie anging, spürte sie abgrundtiefe Scham, und sie konnte ihm nicht die ganze Wahrheit sagen. Sie hatte sich ihm gegenüber stets witzig gegeben, geistreich, großzügig, ja kultiviert nach lokalen Maßstäben. In Wirklichkeit war sie ein Landei, aufgezogen von Fanatikern, mit einem nichtsnutzigen Bruder, der es fertig gebracht hatte, sich wieder zum Kleinkind zu machen. Notfall in der Familie, sagte sie nur immer wieder.

»Wann bist du zurück?«

Sie sagte ihm, dass der Notfall sie gerade ihre Stelle gekostet habe. Chris sparte nicht mit Flüchen über die Firma. Er wollte es sogar auf einen Streit mit ihrem Abteilungsleiter ankommen lassen. Sie dankte ihm; aber er solle lieber an sich denken. Seine eigene Stellung. Sie kannte diesen Mann nicht und er kannte sie nicht. Doch als er nicht widersprach, fühlte sie sich verraten.

»Wo bist du?«, fragte er. Sie bekam es mit der Angst und sagte zu Hause. »Ich kann hinkommen«, schlug er vor. »Dieses Wochenende oder wann es passt. Helfen. Alles was du brauchst.«

Sie hielt das Telefon auf Abstand von ihrem zuckenden Gesicht. Das sei lieb von ihm, aber er solle sich nicht so viele Gedanken um sie machen. Sofort war seine mürrische Stimmung zurück. »Na, in Ordnung dann«, sagte er. »War schön, dich zu kennen. Pass auf dich auf. Alles Gute.«

Sie schaltete ab, mit einem Fluch. Aber das Leben in Sioux war nie wirklich ihr Leben gewesen. Bestenfalls war es der Traum vom Einfachen, und dieser Traum war nun ausgeträumt. Sie fuhr zu ihrer Wohnung zurück, um nach dem Rechten zu sehen und vernünftigere Kleider einzupacken. Sie hatte den Mülleimer nicht geleert, und die ganze Wohnung stank. Mäuse hatten ihre Plastik-Vorratsdosen aufgenagt, und Linsen lagen über die Arbeitsplatten und den schönen neuen Fußboden verstreut. Philodendren, Schefflerien und Anthurien waren nicht mehr zu retten.

Sie machte Ordnung, drehte das Wasser ab und bezahlte die fälligen Rechnungen. Nun hatte sie keinen Monatslohn mehr, der sie deckte. Als sie beim Aufbruch die Tür hinter sich schloss, fragte sie sich, wie viel sie wohl noch für Mark aufgeben müsste. Auf der Rückfahrt nach Süden rief sie sich sämtliche Wutbewältigungs-Strategien ins Gedächtnis, die sie im Laufe ihrer Ausbildung gelernt hatte. Sie erschienen auf ihrer Windschutzscheibe wie eine Powerpoint-Präsentation. Nummer eins: Es geht nicht um dich. Nummer zwei: Deine Absichten sind nicht die der Welt. Nummer drei: Der Verstand kann den Himmel zur Hölle und die Hölle zum Himmel machen.

 

Was sie konnte, hatte sie bei der Erziehung ihres Bruders gelernt. Er war ihr Experiment in Psychologie gewesen: Konnte ihr eigen Fleisch und Blut unter den gleichen Bedingungen, nur mit anderen Eltern, zu etwas Anständigem heranwachsen? Doch zum Ausgleich für all ihre Aufopferung und Fürsorge hatte sie im besten Falle eine Überdosis seines auffälligsten Charakterzuges bekommen: vollkommene Ziellosigkeit. Tiere mögen mich, hatte der Elfjährige gesagt. Und das taten sie, ohne Ausnahme. Alles auf der Farm vertraute ihm. Selbst Marienkäfer krabbelten ihm ohne jedes Anzeichen von Furcht über das Gesicht und ruhten sich in seinen Augenbrauen aus. Was willst du werden, wenn du groß bist? Einmal hatte sie den Fehler gemacht und ihn das gefragt. Er strahlte: Ich könnte Hühnerbeschwörer werden.

Aber unter den menschlichen Zweibeinern wusste keiner so recht, was er mit dem Jungen anfangen sollte. Als Kind hatte er manche Dummheit gemacht – den Maisspeicher angezündet, als er auf folienumwickelte Streichhölzer schoss. Sich erwischen lassen, als er hinter dem heruntergekommenen Hühnerstall an sich herumspielte. Ein 500 Pfund schweres frisch entwöhntes Kalb umgebracht, weil er eine Schale Tylenol in sein Futter getan hatte, überzeugt, dass es Medizin brauche. Schlimmer war, dass er bis zum sechsten Jahr lispelte, was beide Eltern so gut wie überzeugte, dass er vom Teufel besessen war.

Wochenlang zwang seine Mutter ihn, unter einem gesalbten Kruzifix zu schlafen, dessen heiliges Öl ihm im Schlaf auf den Kopf tropfte.

Mit sieben verbrachte er ganze Nachmittage auf einer Wiese eine halbe Meile vom Haus. Wenn ihre Mutter fragte, was er da stundenlang treibe, sagte er »einfach spielen«. Als sie wissen wollte mit wem, antwortete er anfangs »mit niemandem«, später »mit einem Freund«. Sie sperrte ihn ein und wollte ihn erst wieder gehen lassen, wenn er ihr den Namen des Freundes verriet. Er antwortete mit einem verlegenen Lächeln: »Er heißt Mr Thurman.« Er erzählte der entsetzten Frau, wie wunderbar er und Mr Thurman sich verstünden. Joan Schluter trommelte die gesamte Polizeitruppe von Kearney zusammen. Nach einer Observation der Wiese und einem gründlichen Verhör des Knaben erklärte die Polizei den panischen Eltern, dass Mr Thurman nicht nur kein Strafregister habe, sondern in überhaupt keinem Register stehe, nur im Kopf ihres Sohnes.

Wenn Mark die Pubertät überleben wollte, war Karin seine einzige Hoffnung. Als er dreizehn wurde, versuchte sie ihm zu zeigen, wie er sich retten konnte. Es ist einfach, versicherte sie ihm. Sie hatte in der Highschool zu ihrem Entsetzen festgestellt, dass sie auch die größten Snobs dazu bringen konnte, sie zu mögen, wenn sie sich von ihnen zeigen ließ, wie sie sich anziehen und welche Musik sie hören solle. Leute mögen Leute, bei denen sie sich sicher fühlen. Er verstand nicht, was sie damit meinte. Du brauchst ein Markenzeichen, erklärte sie ihm. Etwas, woran man dich erkennt. Sie drängte ihn zum Schachclub, zum Crosscountry-Lauf, zu den Future Farmers, selbst in die Theaterwerkstatt. Alles vergebens, bis er schließlich auf die Gruppe stieß, die ihn aufnahm und für die er sich einfach dadurch qualifizierte, dass er nirgendwo anders hinpasste – die Gemeinschaft der Verlierer, die ihn von ihr befreite.

Nachdem er einmal seinen Stamm gefunden hatte, konnte sie nicht mehr viel für ihn tun. Sie konzentrierte sich darauf, sich selbst zu retten, machte ihren Abschluss in Soziologie, als Erste in einer Familie, wo ein College traditionell als eine Art Hexerei angesehen wurde. Sie drängte Mark, ebenfalls eine Ausbildung zu machen. Ein Jahr lang hielt er durch, und da er nie ein Hauptfach wählte, stieß er auch nie einen seiner vielen Lehrer vor den Kopf. Sie zog nach Chicago und saß in der Telefonzentrale bei einer der großen Wirtschaftsprüfungsfirmen, im 86. Stockwerk des Standard Oil Building. Ihre Mutter rief an, Ferngespräch, nur um ihre Stimme als Telefonistin zu hören. »Wo hast du diesen Tonfall gelernt? Das ist nicht richtig. Das kann nicht gut für die Stimmbänder sein.« Von Chicago ging sie nach Los Angeles, der großartigsten Stadt der Welt. Sie wollte Mark sagen: Hier draußen kannst du alles sein. Hier kannst du überall Arbeit finden. Die suchen hier nach Leuten, die das Leben nicht so schwer nehmen. Du kannst doch nichts für deine Eltern, sagte sie zu ihm. Du könntest nach hier kommen, und kein Mensch würde je von ihnen erfahren. Und auch als ihr Raumschiff schon den Sturzflug zur Erde angetreten hatte, glaubte sie immer noch daran: Leute mochten Leute, bei denen sie sich sicher fühlten.

Wenn es Mark wieder besser ging, würde sie einen Neuanfang machen, für sie beide. Sie würde ihn auf die Beine bringen, sie würde hören, was er zu sagen hatte, sie würde ihm helfen, der zu werden, der er sein musste. Und diesmal würde sie ihn mitnehmen, an einen vernünftigen Ort.

 

Sie hatte den Zettel aufgehoben und las ihn immer wieder. Heute Nacht auf der North Line Road führte GOTT mich zu dir. Sicher würde der Schreiber dieser Zeilen – der Heilige, der das Wrack gefunden hatte und am Abend des Unfalls ins Krankenhaus gekommen war – zurückkehren und persönlich Kontakt aufnehmen, jetzt wo Mark aufgewacht war. Karin wartete geduldig, auf eine Erklärung nach so langer Zeit. Aber es kam niemand, keiner gab sich zu erkennen, keiner erklärte etwas.

Ein Strauß Frühlingsblumen kam von IBP. Zwei Dutzend Arbeitskollegen hatten die Karte mit Genesungswünschen unterschrieben, und manche fügten zweideutige Scherze hinzu, die Karin nicht verstand. Die ganze Gegend wusste, was mit Mark geschehen war – im Big-Bend-Revier ging nie eine Polizeisirene los, ohne dass jeder zwischen Grand Island und North Platte in allen Einzelheiten sagen konnte, wen es erwischt hatte und wie.

Ein paar Tage nachdem Mark den neuen Schlauch für die Luftröhre bekommen hatte, kamen dann seine besten Freunde zu Besuch. Karin hörte sie schon vom Flur.

»’dammt kalt hier draußen.«

»Kannst du laut sagen. Meine Eier sind hochgekrochen bis in die Augenhöhlen.«