Drei Bauern auf dem Weg zum Tanz - Richard Powers - E-Book

Drei Bauern auf dem Weg zum Tanz E-Book

Richard Powers

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Beschreibung

Richard Powers arbeitete als Programmierer in den Docks von Boston. Während der Nachtschicht las er Thomas Manns »Zauberberg«. Als er im Museum die berühmte Fotografie des Kölner August Sanders von drei jungen Männer aus dem Jahr 1914 entdeckt, denkt er, dem Jahrhundert in die Augen zu schauen. Der Erzähler Richard Powers war geboren. Der Held in Powers Geschichte ist ebenso von Sanders Fotografie in Bann gezogen. Fieberhaft recherchiert er die Hintergründe der Bildes, bis die drei Bauern aus dem Westerwald ihre Lebensgeschichten erzählen: vom Verschwinden und vom Überleben im Ersten Weltkrieg, und von der fast unmöglichen Wende zum Glück, als sich der Weg des einen mit der Biographie von Henry Ford, dem großen Erfinder und Autobauer, kreuzt.

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Richard Powers

Drei Bauern auf dem Weg zum Tanz

Aus dem Amerikanischen von Henning Ahrens

Fischer e-books

Man errät vieles beim Lesen oder erfindet schöpferisch etwas hinzu; alles übrige ergibt sich aus einem Eingangsirrtum … Ein Gutteil von dem, was wir … mit ebenso viel Eigensinn wie Treuherzigkeit glauben, rührt von einer ersten Täuschung über die Voraussetzungen her.

Marcel Proust, Auf der Suche nach der verlorenen Zeit

»Jeder«, antwortete Knudsen auf die Frage nach dem Erfolg des Automobils, »will sitzend von A nach B gelangen.«

Anne Jardim, The First Henry Ford: A Study in Personality and Business Leadership

EINSICH RÜSTE MICH FÜR EINE REISE NACH SAINT IVES

Cats, kits, sacks, wives: how many were going to St. Ives?

Ein gutes Dritteljahrhundert bin ich wunderbar ohne Detroit ausgekommen. Ich fühle mich in Autos unwohl und habe nie eins besessen. Wenn ich etwas rieche, das auch nur entfernt an Autositze erinnert, wird mir übel. Schon deshalb rangiert Detroit tief im unteren Drittel der Rangfolge amerikanischer Städte, die ich gern besuchen würde. Ich hoffe immer, dass lästige Reisen durch reizvolle Aussichten versüßt werden, aber die Formulierung »reizvolles Detroit« klingt in meinen Ohren genauso widersprüchlich wie »künstlerischer Film«, »gutartiger Tumor«, »ehrenwerte Journalisten« oder »amerikanische Diplomatie«. Ich hatte Detroit mein ganzes Leben lang erfolgreich ignoriert. Doch vor zwei Jahren wurde ich eines schönen Tages von der Stadt gepackt, bevor ich ihr entwischen konnte.

Der aus Chicago kommende Frühzug setzte mich in der prächtigen Grand Trunk Station ab, deren Marmorgewand mit Sperrholz verschalt worden war. Ich schleppte meine Siebensachen durch ein nach Urin und Vergangenheit stinkendes Halbdunkel. Aus den Lautsprechern schallten populäre, beruhigende Melodien, und Menschen, die wie zwangsverpflichtet wirkten, holten ihre Angehörigen vom Bahnsteig ab.

Hundert Jahre zuvor hatte die Grand Trunk Station bestimmt für Herzklopfen gesorgt. Auf korinthischen Kapitellen trugen die Säulen amerikanischer Städteherrlichkeit ein gut zwanzig Meter hohes Gewölbe: Griechenland, kopiert von Rom, kopiert von Frankreich, kopiert von England, kopiert von Amerika. Eine von floralen Stuckaturen umrankte Kupferkuppel bot die obligatorischen Inschriften dar, Zitate von Cicero und Bill Taft. Der prunkvolle Bahnhof, leer bis auf die mit dem Early Riser eingetroffenen Führungskräfte, die im Gänsemarsch durch die Rundhalle defilierten, wirkte wie ein Mausoleum.

Ich schloss mich automatisch an und versuchte, ein Gefühl für die Räumlichkeiten zu entwickeln. Die gewaltige Kuppel schien im Missverhältnis zur Größe der Halle zu stehen, und als sich meine Augen an das Industrielicht Detroits gewöhnt hatten, empfand ich denselben Schock, den ich als Kind beim Anblick eines Kriegsveteranen verspürte, der im Schwimmbad die Beinprothese abschnallte, bevor er ins Wasser stieg – denn auch die Grand Trunk Station war amputiert worden: Bretter sperrten palastartige Flügel und unzählige Ausgänge ab und ließen nur diesen winzigen Gang frei, der die Ankunftsbahnsteige mit dem Haupteingang verband und nicht die Länge, sondern die Breite des Gebäudes bemaß.

Wenn man Anfang der achtziger Jahre des 20. Jahrhunderts mit dem Zug von Chicago nach Boston wollte, war es zwar nicht am schnellsten, aber am günstigsten, wenn man in Detroit umstieg. Als Werbung für die neue Verbindung mit dem Technoliner hatte man die Fahrpreise im ersten Monat drastisch gesenkt. Doch die neue Linie wurde bald eingestellt, die Pendler, die vom Zug aufs Flugzeug umsattelten, zogen von Detroit nach Nordkalifornien und Houston. Noch ein Beweis dafür, dass unsere Eisenbahnen ihre Verspätung nicht aufholen konnten. Ich nahm allerdings sogar einen Umweg über Toledo in Kauf, um in den Genuss eines möglichst günstigen Fahrpreises zu kommen.

Wenn ich flüssig bin, kann ich in den besten Restaurants durchaus die Hälfte des Essens stehenlassen. Ich habe hart darum gekämpft, einen angeborenen Geiz zu überwinden. Doch wenn ich knapp bei Kasse bin – ein zyklisches Phänomen, dass die Boom- und Bankrottwirtschaft Amerikas der letzten hundert Jahre widerspiegelt –, knüpfe ich nahtlos an alte Gewohnheiten an. Auf dieser Reise war ich wieder einmal ziemlich blank, denn ich hatte ein ganzes Jahr lang in der Provinz von Illinois in eine kleine Geschäftsidee investiert, die sich am Ende nicht rentierte. Nichts glänzte im Sieb, wie die Goldsucher einst sagten. Meine frühen Dreißiger verbrachte ich mit der einsamen Jagd nach diesem Glänzen.

Da ich eine technische Ausbildung habe, wusste ich, dass ich in Boston einen Job finden würde, vorausgesetzt, ich konnte die Kaution für eine kleine Wohnung bezahlen und hatte noch genug Geld für die Reinigung des einen Anzugs übrig, mit dem ich meine Vorstellungsgespräche bestritt. Mein beschränktes Budget war aber nicht das größte Problem; mich plagte vor allem die drängende Frage, wie ich die sechs Stunden zwischen der Ankunft des Early Risers und der Abfahrt des Technoliners totschlagen sollte, noch dazu in einer Stadt, die ich bis dahin nur gewürdigt hatte, indem ich ihr fernblieb. Und nun hieß es: ich gegen den Reiseschwindel, und das in einer Stadt, die ihre Existenz dem Kraftfahrzeug verdankte.

Doch wie beim Zeittotschlagen üblich, stolperte ich während meines kurzen Aufenthalts in Detroit über etwas, das mich, bis ich damit im Reinen war, nicht nur sechs Stunden, sondern mehr als das ganze nächste Jahr kosten sollte. Als ich mich in der Innenstadt umsah, ahnte ich nicht, dass ich mich in den nächsten zwölf Monaten wie besessen auf alles stürzen würde, was ich über die Motor City und den Farmerssohn mit Grundschulbildung erfahren konnte, dem der Ort seine Existenz verdankte.

Zum Zeitpunkt meines Zwischenstopps hatte Detroit schon eine längere, gezielt betriebene und breitpropagierte Wiedergeburt hinter sich. Das Symbol dieser neuen Ära, das Renaissance Center, war vermutlich eines der ehrgeizigsten Bauvorhaben seiner Zeit. Die fünf hohen, schwarzen Türme lassen die umliegenden Viertel so winzig wirken wie die Kathedrale die Stadt Chartres. Vier Zylinder gruppieren sich um einen massigen Zentralbau, alle mit dunklem Glas abgetönt, alle im gesichtslosen internationalen Stil.

Aber warum hatte die Stadt eine Wiedergeburt nötig, wenn sie noch gar nicht tot war? Der Name »Renaissance Center« erinnerte mich an Putzmittelwerbung mit dem Slogan »Reiner kann’s keiner« oder an ein Restaurant mit dem Motto »Futtern wie bei Muttern«. Wie man einem alten Witwer mit dem Kompliment, er habe sich gut gehalten, durch die Blume sagen möchte, er solle es bitte schön nicht übertreiben, hatten die Detroiter Honoratioren den Namen »Renaissance Center« wahrscheinlich in der Hoffnung gewählt, dass ihre Stadt bald wieder schwarze Zahlen schreiben möge.

Größe und Pracht des Centers sollten Kongressteilnehmer und Touristen in eine erstklassige, in sich geschlossene Welt des Luxus locken. Und der Palast erfüllte diesen Zweck hervorragend. Er zog Menschen (sprich: Geld) aus den umliegend angesiedelten Unternehmen ab, und weil die Türme ein selbständiges Dorf bildeten, kamen die Leute nie wieder heraus. Das Viertel, in dem das Renaissance Center erbaut worden war, zeigte Anzeichen von überstürzter Evakuierung und wilder Flucht. Als ich um die Türme schlenderte, kam ich an zahllosen Reihen verlassener, dreistöckiger Backsteinhäuser mit eingeschlagenen Türen und Fenstern vorbei, in denen die Leere gähnte.

Ich nahm an, dass ich mir im Renaissance Center (von jenen, die ihr Geld damit verdienen, alle Wörter auf eine Silbe zu reduzieren, RenCen genannt) eine halbe Stunde vertreiben konnte. Das Innere war eine moderne Version der Grand Trunk Station und zeichnete sich durch eine verspielte, mit vielen Ebenen arbeitende Architektur aus, wie sie mich als sechsjährigen Jungen fasziniert hatte; aber damals hatte ich auch noch an Stadterneuerung und die Abenteuer Tom Swifts geglaubt. Im runden Restaurant des Mittelturms, das langsam über der Tiefe kreiste, las ich die Speisekarte von vorne bis hinten und bestellte dann etwas zu essen. Das Restaurant wurde wahrscheinlich von tausend asiatischen Kulis gedreht, die man auf einer verborgenen unteren Ebene an ein Mühlrad gekettet hatte.

Diese kreisende Platte kam mir vor wie eine Hommage an das letzte große empirische Experiment des 19. Jahrhunderts. 1887 wollten die Physiker Michelson und Morley die Relativgeschwindigkeit der Erde auf ihrem Weg durch den Lichtäther messen. Die beiden Wissenschaftler setzten eine riesige Versuchsplattform von der gleichen Art und im gleichen Maßstab wie die, auf der ich gerade saß, auf ein Quecksilberbad. Sie projizierten einen Lichtstrahl durch eine in der Mitte angebrachte Linse und von dort auf Spiegel am Rand. Sie gingen davon aus, dass das Licht, das sich mit dem Ätherstrom bewegte, schneller war als das Licht, das sich in Gegenrichtung bewegte. Doch sie maßen keinen Unterschied. 1905 sorgte dann Einstein, ein Angestellter des Berner Patentamts, der keinen Ruf zu verlieren hatte, mit seinem Vorschlag weltweit für Furore, die Relativgeschwindigkeit durch das Konzept der Lichtgeschwindigkeit zu ersetzen. Das Jahrhundert stand vor einem Quantensprung.

Viel später, nach meinen Recherchen über einen bösen Scherz, den sich Henry Ford zu Beginn des 20. Jahrhunderts erlaubte, stieß ich noch einmal auf einen Bericht über dieses Experiment. Doch in Detroit fiel mir dieser Vergleich nur durch Zufall ein. Ich wartete eine volle Drehung der Scheibe ab, bevor ich das Restaurant verließ. Da ich weder rauche noch trinke oder fluche, ist die Symmetrie mein einziges Laster. Sobald ich dem RenCen entkommen war, bekämpfte ich mein Schwindelgefühl, indem ich gegen den Uhrzeigersinn um ein paar Wohnblöcke ging. Ich setzte mich auf eine Treppe. Ein Schnorrer kam über die Piazza auf mich zu und bat um einen Vierteldollar für Sonnenöl. Als ich erwiderte, dass ich das Geld brauche, um meinen Anzug für Bewerbungsgespräche reinigen zu lassen, ließ er mich in Ruhe.

In der Nähe stand eine korrodierte Kupferplastik aus den Fünfzigern, ein Titan, der mit der einen Hand ein modernes Paar aus der protestantischen, weißen Oberschicht und mit der anderen einen Globus oder ein Automobil stemmte – ich kann mich nicht genau erinnern. Die Plastik hieß »Spirit of Detroit«. Zwei Anwälte stritten sich handgreiflich um einen Parkplatz. Eine Frau verkaufte Erdklumpen aus einem Schuhkarton. Ein Mann mit einer Bauchrednerpuppe verkündete der gleichgültigen Menge, dass es sich beim gegenwärtigen Außenminister um den Antichrist handele. Eine große Uhr wies mich hartnäckig darauf hin, dass ich meine Zeit sinnlos vergeudete. Wenn ich einigermaßen unbeschadet in den Technoliner steigen wollte, brauchte ich andere Ablenkung.

Mit dem Bus fuhr ich zum Detroit Institute of Arts. Inzwischen können sogar die besten Gemälde dieses Jahrhunderts den Müll nicht mehr aufwiegen, der uns auf allen Seiten umgibt. Die Kunst kann nur hoffen, ein Betäubungsmittel oder ein Placebo zu sein. Die besten Künstler wissen, dass Patienten ihre Symptome meist simulieren und vor der Behandlung durch Tricks zu einer Untersuchung gebracht werden müssen. Das Letzte, was ich in diesem Museum zu finden glaubte, war ein geheimnisvolles Kunstwerk, das nach Aufklärung verlangte, eine Spur, so endlos lang und vage wie die Suche nach einem Wort: Man kramt im Gedächtnis, stößt auf »wiedersehen« oder »wiederholen« und kommt der Sache mit »wiederbringen« recht nahe, ohne je mit »wiederfinden« ins Schwarze zu treffen.

Das Foyer des Detroiter Museums mündet in einen riesigen Saal, ein steinernes Rechteck, mit hohem Gewölbe, voller Sehnsucht nach Europa und vollkommen ungeeignet für die Ausstellung von Kunst. In einer wirren architektonischen Hinterlassenschaft reihen sich Rokoko-Satyrn, Schnörkel und vergitterte Heizungsschächte aneinander. 1931, auf dem Höhepunkt der Depression, bat die von Edsel Ford unterstützte Kunstkommission des Instituts den mexikanischen Muralisten Diego Rivera, diesen Raum mit einem Fresko zum Ruhme Detroits auszumalen.

Ein seltsames Paar: Edsel Ford, dessen Vater der allererste Kapitalist gewesen war, im Bunde mit dem notorischen Revolutionär Rivera, der Trotzki in Mexiko politisches Asyl verschafft hatte. Rivera, Held der Dritten Welt, sollte eine Stadt preisen, deren wichtigstes Wahrzeichen in einer riesigen Leuchtanzeige besteht, die jedes vom Band rollende Auto zählt. Diego, der einmal einen Sicherungskasten in ein Wandgemälde integriert hatte, sollte in einem Raum arbeiten, der ein billiger Abklatsch bourbonischer Pracht war. Doch Detroit und Diego hatten etwas Entscheidendes gemeinsam: Beide liebten Maschinen.

Für diesen Auftrag erhielt das Institut zehntausend Dollar von Edsel und zeigte sich beschämt, »dem einzigen lebenden Mann, der unsere Welt – Kriege, Aufruhr, um das Überleben ringende Völker – auf angemessene Art verkörpert«, eine so magere Summe anzubieten. Sie schlugen ihm vor, er solle sein Werk auf die beiden größeren, je fünfzig Quadratmeter messenden Wände beschränken. Laut einer rätselhaften Formel sah man hundert Dollar pro Quadratmeter offenbar als faires Honorar für einen Künstler von Diegos Rang an. Die Fords, sozusagen in der Rolle von Michelangelos päpstlichen Mäzenen, hätten Rivera ebenso gut bitten können, nicht die ganze Decke zu bemalen, sondern nur eine kleine Stelle über dem Altar. Doch Rivera, den Gewissensbisse wegen der unerhörten Großzügigkeit der Gringos zu plagen schienen, nahm sich viel mehr vor. Als Edsel zu Ohren kam, dass Diego alle vier Wände bemalen wollte, erhöhte er das Honorar auf fünfundzwanzigtausend Dollar.

Das Institut teilte Diego mit, es wäre schön, wenn er Motive aus der Geschichte Detroits oder solche aufgreifen würde, die die industrielle Entwicklung der Stadt zeigten. Niemand konnte ahnen, dass der Mann seinen massigen Körper durch sämtliche Fabriken Detroits wuchten, sich drei Monate lang in den Werken Fords, Chryslers und Edisons einnisten und Tausende von vorbereitenden Skizzen anfertigen würde. Statt die Rokoko-Anachronismen des Raums zu bedienen, stellte er sie mit einer Vision in den Schatten, die er vom Fußboden der Fabriken aufgefegt hatte. Im fertigen Werk verlieren sich die Schnörkel und Satyrn in Diegos technischer Vision, so dass man sie nicht mehr wahrnimmt.

Rivera, ein Malocher, der mit seinen Gehilfen manchmal sechzehn Stunden pro Tag malte, arbeitete zwei Jahre lang hinter einem Wandschirm in einem Raum, der durch das Glasdach auf Temperaturen von über vierzig Grad Celsius aufgeheizt wurde. Journalisten, die sich das in Arbeit befindliche Werk anschauen durften, berichteten, dass es die Stadt nicht rühme, sondern ganz im Gegenteil »auf Detroit spucke«. Die Einweihung war ein gefundenes Fressen für alle, die einen handfesten Skandal zu schätzen wussten. Bei der Enthüllung verschlug es dem Publikum die Sprache, denn die Fresken enthielten weder historische Anspielungen noch Allegorien des Bürgertums oder ein Defilee der mächtigsten Börsenmakler Detroits. Stattdessen sah das von weit her ins Museum geströmte Publikum, was es jeden Tag zwangsläufig sah: gesichtslose Menschen, an riesige, sinnliche Maschinen gekettet.

Diego hatte das denkbar Subversivste getan: Er hatte den Geist Detroits in allen ungeschminkten Einzelheiten gemalt. Das Fließband – eine sehnige, fast organische Maschine, die stampfte, schweißte und schließlich das fertige Produkt, einen Automotor, hervorbrachte – war von Reihen austauschbarer menschlicher Gestalten gesäumt. Männer in Asbestanzügen mit glupschäugigen Gasmasken verwandelten sich in grüne Insekten. Allegorische weibliche Akte in lasziven Posen verhöhnten das Förderband. Diese Wandmalereien brachten den Geist Detroits viel besser zum Ausdruck als der gefällige, firmenfinanzierte Kupfertitan, den ich draußen gesehen hatte. Bei der Enthüllung fand sich das Publikum, ähnlich wie die Gehilfen des Malers, die monatelang um und über ihre Schöpfung gekrochen waren, im Inneren Detroits wieder und verband sich parasitär, ja symbiotisch mit dem Metall. Diego hatte eine Kapelle für die höchste soziale Errungenschaft geschaffen, das Fließband, ein sich selbst reproduzierendes Kunstwerk, präzise, brillant und hart wie Stahl.

Bischöfe und Unternehmer riefen sofort zur Zerstörung der Fresken auf. In einem mittelmäßigen Werk Subversion und Ketzerei erkennen zu wollen ist nicht schwierig. Noch einfacher ist es bei einem Werk, das ehrgeizig, fröhlich und revolutionär ist. Riveras Malerei war also ein leichtes Ziel. Sogar Menschen, die noch nicht im Museum gewesen waren, entdeckten in den Fresken eine bunte Vielfalt von Blasphemien. Die Leute sahen einen lächerlichen St. Antonius, den die Beine eines allegorischen Akts von den Plänen des Vorarbeiters ablenkten. Kapitalisten mit einem geschärften Gespür für wirtschaftlichen Niedergang sahen in den Gestalten kommunistisch inspirierte Proto-Menschen. Ein Paneel, das die Impfung eines Kindes zeigte, verspottete Christi Geburt.

Diegos Kompliment – dass Detroit in der Vitalität des Maschinenzeitalters schwelgte – wurde als Beleidigung aufgefasst. Edsel, verkündete man, sei einem gefährlichen, populistischen Propagandastück auf den Leim gegangen. Ein organisierter Aufschrei in Radiosendungen und schriftlichen Petitionen gipfelte in einem Beitrag in den Detroit News, in dem es hieß: »Das Beste wäre, das ganze Werk weiß zu übertünchen.«

Doch das Werk war da. Besonnenere Gegner wussten, dass ein ambivalentes Kunstwerk endgültig subversiv werden würde, wenn man es übertünchte; einem ehrgeizigen und überbemühten Fresko war das Verfallsdatum dagegen schon eingeschrieben. Wenn man nichts tat, würde seine Brisanz mit jedem Jahr automatisch abnehmen, und es würde immer weniger Menschen interessieren, bis es eines Tages – die Wurzeln der Zivilisation wären noch intakt – als magischer Meilenstein gelten und zu dem harmlosen, ja gesellschaftlich akzeptierten Ding werden würde, das man als historisches Artefakt bezeichnete.

Von alledem wusste ich nichts, als ich im Raum mit den Wandgemälden stand, und ich ahnte auch nicht, dass ich einmal darauf versessen sein könnte, es herauszufinden. Vom Inneren der Fabrik aus gesehen, verlangte die selbstreproduzierende Maschine Ablehnung oder Treue, nur Gleichgültigkeit schloss sie aus. Die Technik konnte Fortschrittsträume nähren oder nostalgische Sehnsucht zerstören. In Riveras Werk wurde diese alte Debatte auf eine neue und befremdliche Art wieder wach. Die Maschine war unser Kind, fehlerhaft, aber mit einer bemerkenswerten Überlebensfähigkeit. Rivera hatte das Taufporträt einer mutierten Nachkommenschaft gemalt, die Liebe verlangte, Strenge, Mitleid, ja sogar Hoffnung, aber auf keinen Fall verleugnet werden wollte.

Dann fiel mir auf einer der kleineren Wände neben den Fließband-Fresken ein eher unwichtiges Paneel ins Auge. Vor einem skulpturalen Dynamo, erotischer konturiert als jeder Akt, saß ein weißhaariger Mann an einem Monolith von Schreibtisch, das Gesicht zu einer Mischung aus Gier und Wohlwollen verzogen – Ford, Edison, De Forest oder ein beliebiger anderer aus einem Dutzend sauertöpfischer Industrieller und Erneuerer.

Dieses Antlitz, das Antlitz unserer Zeit, enthielt alle Beweise, die ich brauchte, um hinter den Schwindel zu kommen und das Rätsel zu lösen. Hätte ich sofort erkannt, was sich hinter diesem collagierten Gesicht verbarg, dann hätte ich mir die zwölf Monate ersparen können, in denen ich den anderen Hinweisen nachging: Detroit, Rivera, Ford, das Auto, mechanische Reproduktion, Porträtkunst, Äther und Relativität. Wenn wir nicht wissen, was wir suchen, laufen wir Gefahr, es dem Dunkel zu überlassen. Die Chinesen spielten Hunderte von Jahren mit dem Feuerwerk, ohne das Gewehr zu erfinden. Edison hielt seine beweglichen Bilder nur für Spielzeug. Der erste Arzt, der Dosierungen für die Anästhesie zu bestimmen versuchte, entdeckte stattdessen die Sucht. Und im Glauben, mein Unbehagen hätte andere Gründe, kehrte ich dem mürrischen Gesicht den Rücken und verließ den Saal.

Als ich das Ende des angrenzenden Flurs erreichte, war ich aufgewühlt wie selten zuvor. Meinen Anschlusszug hatte ich komplett vergessen. Um mich zu beruhigen, murmelte ich immer wieder einen alten Kinderreim vor mich hin: While I was going to Saint Ives, I met a man with seven wives. Riveras Fresken hatten mich tief erschüttert, und ich dachte nur noch daran, ihnen zu entkommen. Ich hatte gerade eine weitere Ecke zwischen mich und die Fabrik gebracht, als ich mich im Umdrehen unvermittelt mit einem Foto konfrontiert sah: drei junge Männer aus der Zeit um die Jahrhundertwende, die auf einer matschigen Straße standen und alle über die rechte Schulter schauten. Ich erkannte es sofort, obwohl ich es nie zuvor gesehen hatte. How many were going to Saint Ives? Wie viele reisten nach Saint Ives?

Die Bildunterschrift weckte eine Erinnerung: Bauern aus dem Westerwald auf dem Weg zum Tanz, 1914. Schon das Datum verriet mir, dass sie nicht wie erwartet zu einem Tanz gingen. Ich ging nicht wie erwartet zu einem Tanz. Wir alle würden mit verbundenen Augen auf ein Feld irgendwo in diesem geschundenen Jahrhundert geführt werden und tanzen müssen, bis uns die Luft ausgeht. Tanzen, bis wir zusammenbrechen.

ZWEIBAUERN AUS DEM WESTERWALD AUF DEM WEG ZUM TANZ, 1914

Und irgendwo in weiten Fernen der Geschichte senkte sich auf Europa die Wahrheit herab, daß das Morgen die Pläne der Gegenwart zunichte machen werde.

Jaroslav Hašek, Der brave Soldat Schwejk

Eines späten Nachmittags folgen drei Männer einer matschigen Straße, zwei jung, einer von unbestimmbarem Alter. Sie haben es nicht eilig. Einer singt:

»Erdäpfel und Äpfel der Erd, hätt’ Muttern mehr Fleisch auf’m Herd, ich hätt’ nie verlassen mein Heim.«

Er singt auf Deutsch, aber mit rheinischem, vielleicht sogar mit ausländischem Akzent. Er ist der größere der beiden jung wirkenden Männer. Beide tragen schwarze Anzüge aus schwerem Stoff, der auch bei ausgestreckten Armen Falten an den Ellbogen wirft. Der Hut des Sängers ist pompöser und höher als die Hüte der anderen, und er trägt ihn kecker. Was aber nichts daran ändert, dass er seinem Nebenmann sehr ähnlich sieht. Die Stirn der beiden geht auf die gleiche Art in die Nase über. Vielleicht sind sie Brüder. Alle drei haben einen Stock; der Sänger schwenkt seinen so schlicht und monoton, als wäre er sein eigener Dirigent. Erdäpfel und Äpfel der Erd. Äpfel der Erd und Erdäpfel. Wir schreiben den Ersten Mai 1914, und wir befinden uns in den preußischen Rheinlanden.

Sie gehen durch ödes Ackerland, das sich einige hundert Meter weiter sanft zu wellen beginnt, und ihr Weg ist ein Kuh- und Karrenpfad aus festgetrampelter Erde. Kurz zuvor hat ein Frühlingsregen die Mischung aus zertretenem Kies und Dreck in glitschigen Matsch verwandelt, der das Gehen erschwert. In der Mitte, wo Pferdehufe den Weg aufgewühlt haben, sind Pfützen entstanden. Die drei Männer gehen auf dem Wegrand, wo ihre Schuhe vor dem Schmutz der Furchen einigermaßen geschützt sind. Der Sänger trägt lange, flache, spitze Schuhe, die ihn als Dandy kennzeichnen. Diese pseudogroßstädtische Mode – in jenem Mai der letzte Schrei – wird bald passé sein, und man wird seine Schuhe als »Kindersärge« verspotten. Die Schuhe seines Ebenbilds sind handfester. Der dritte Bursche, der hinterhertrottet und häufiger als seine beiden hübscheren Gefährten in den Matsch tritt, trägt Schuhe, die man als gut gepflegt bezeichnen könnte, vorausgesetzt, man wollte die Schmeichelei bis an die Grenze zur Lüge treiben.

Er schlendert verträumt hinter den anderen her und probiert aus, wie locker er sich die Zigarette zwischen die Lippen stecken kann. Bis er den richtigen Winkel gefunden hat, fällt sie mehrmals zu Boden. Unter dem braunen Anzug, aus leichterem Stoff, aber für feierliche Anlässe durchaus geeignet, hat er die Schultern hochgezogen. Beim Gehen drückt er die Arme steif an die Seiten. Er bleibt stehen, prüft seine Haltung, probiert eine neue und schwenkt beim Weitergehen die Arme. Er bleibt immer wieder stehen und sieht an sich hinab, um seine Wirkung zu begutachten. Sein Stock dient ihm manchmal als Waffe, manchmal als Krücke, und manchmal ist er nur eine nutzlose Last. Als er den Freunden vor ihm einen Blick zuwirft, weil Zank und Gesang plötzlich verstummt sind, merkt er, dass ihn der Sänger nachäfft, indem er mit langen Schritten rückwärts tänzelt. Der Nachzügler rächt sich mit einer ruppigen Geste, und dann grinsen sich die beiden Männer versöhnlich an. Jetzt wirken sie eindeutig jung.

Über den frisch bestellten Feldern hängt ein Hauch der Jauche und des Mists, die man in den letzten fünf Jahren ausgebracht hat, und aus der Ferne kommt leise Blasmusik. Nur einzelne Töne und Melodiefetzen sind zu hören, so wie der seit vielen Jahren zusammengefaltete Brief eines geliebten Menschen dem Auge nur geisterhafte, unleserliche Zeichen und ein aus dem Zusammenhang gerissenes »Ich hoffe, es geht Dir …« darbietet.

Der kleinere der zwei verwandt wirkenden Männer spricht:

»Peter, Hubert, spitzt die Ohren. Hört ihr das? Eine Blaskapelle. Ich wusste, dass die Blaskapelle in diesem Jahr wiederkommen würde. Diese Leute haben zwar ein gutes Herz, aber sie haben nie über den Tellerrand ihrer Dörfer geschaut. Sie haben den Westerwald nie verlassen, versteht ihr? Tut mir leid, dass ich euch wegen einer Blaskapelle so weit gescheucht habe.«

Er benutzt verblüffend viele Worte für jemanden, der durch Gang und Anzug eher introvertiert wirkt. Bis dahin hat er nur den Mund aufgemacht, um die Sticheleien seines Ebenbilds zu parieren. Sein plötzlicher Redefluss gleicht seine langen Schweigephasen aus.

Sein Gefährte, der Sänger Peter, horcht vergeblich auf die Musik. Der Nachzügler, Hubert, die Zigarette immer noch geziert zwischen den Lippen, schaut ungeduldig drein. Doch Peter wirkt neugierig, amüsiert.

»Oh, Adolphe …«

Er wendet sich an seinen scheuen Nebenmann, dessen Namen er mit verspieltem, kameradschaftlichem Singsang intoniert und auf dem »e« betont.

»… das ist keine Blaskapelle, du Schuft. Sondern ein komplettes Orchester samt Geigen. Ah, jetzt weiß ich’s, Adolphe. Du führst uns nicht zur Mai-Kirmes im reizenden Luden, obwohl die Sache sicher sehr lustig wäre. Nein, du Hundesohn. Du führst deine neuen Brüder den ganzen Weg bis … Wien!«

Bei diesem Namen gerät Peter außer sich, springt auf Adolphe zu, küsst ihn mehrmals und wirbelt ihn dann im Walzertakt herum. Der kleinere Mann stößt den Witzbold mit teutonischer Strenge von sich fort und murmelt eine kurze Wörterbuchdefinition von »verrückt«. Er strafft seinen in Unordnung geratenen Anzug, richtet Krawatte und gestärkten Kragen. Er versucht, sich den beim Tanz verrutschten Hut ebenso schräg und keck aufzusetzen wie der Witzbold, der sich gerade vor Lachen krümmt.

Hubert, der immer noch hinterherhinkt, lacht sich angesichts der unbeherrschten, kindischen Rauferei ins Fäustchen. Dann spricht er mit der aufgesetzt tiefen Stimme eines schlechten Tragöden.

»Wir gehen zu keinem Tanz, und wir gehen auch nicht nach Wien. Wir sind auf dem Weg zum sozialistischen Maifeiertag.«

Das sagt er so, wie ein amerikanisches Kind aus der gleichen Epoche gesagt hätte: »Wir müssen jetzt los und Jesse James umlegen.« Die anderen reagieren abfällig auf seine Worte.

»Nicht so-zialistisch, Hubert. Sondern so-zialistisch. Und sag um Himmels willen der So-zi und nicht So-si, sonst glauben die Leute noch, du versuchst, Französisch zu sprechen.«

Hubert grinst nur schwach und lässt die Zigarette in einem noch schieferen Winkel von den Lippen hängen. Adolphe, immer noch von der Wiener-Walzer-Attacke erschüttert, streicht den Anzug wieder glatt und tastet in der Innentasche seiner Jacke nach der Brieftasche. Unterwegs hat er alle zehn Minuten danach getastet. In ganz Deutschland gibt es zwar niemanden, der gerissen genug wäre, um über dieses mehrere tausend Hektar große Ödland zu pirschen und ihn zu bestehlen, doch er überprüft alle paar Minuten instinktiv die Stelle, um sich davon zu überzeugen, dass das kostbare Gut noch da ist.

Peter setzt sich mit flotten Schritten wieder an die Spitze der Karawane. Er erblickt einen verirrten westfälischen Spatz, der in der Nähe über ein Feld hoppelt und die Aprilsaat aus den Furchen pickt. Der Dandy parodiert das Picken durch ein groteskes Nicken; dabei ähnelt er einem ängstlichen Kind, das glaubt, den Schrecken von Doppelkinn und Kropf mit Nackengymnastik vorbeugen zu können. Aus Langeweile stimmt er wieder sein Lied an.

»Muss i denn, muss i denn zum Städtele hinaus – Städtele hinaus? Und du mein Schatz bleibst hiiiier?«

Das bringt ihn auf eine neue Weise.

»Ich möcht’ als Spielmann reisen, weit in die Welt hinaus. Und singen meine Weisen, und gehen von Haus zu Haus …«

Das zweite Lied ist schneller, und Peter beschleunigt automatisch seine Schritte. Bald ist er seinen Kameraden einige hundert Schritte voraus. Sobald ihm dies bewusst wird, bleibt er stehen und dreht sich zu ihnen um, die Arme vor der Brust verschränkt. Als sie näher kommen, ruft er:

»Orchester, Adolphe.«

»Blaskapelle, Peter.«

Sie sind noch fast zwei Kilometer von ihrem Ziel entfernt, der Quelle der Musik. Man kann sie schon aus weiter Ferne hören, weil die Frühlingsluft des Jahres 1914 totenstill ist. Die Schallgeschwindigkeit beträgt bei null Grad Celsius dreihunderteinunddreißig Meter pro Sekunde, und mit jedem Grad plus nimmt sie zu. An diesem Tag im Mai herrschen zwanzig Grad Celsius, und die Schallgeschwindigkeit beträgt dreihundertdreiundvierzig Meter pro Sekunde. Innerhalb von fünf Sekunden legt die Musik – ob bayerische Bierhalle oder Wienerwald – rund eintausendsiebenhundertzwanzig Meter zurück, also ungefähr die zwei Kilometer, die die drei jungen Männer von der Maikirmes entfernt sind. Fünf Sekunden zu je fünfundachtzig Vierteltönen pro Minute bedeutet, dass der Walzer, den sie hören, schon zwei Takte in der Vergangenheit liegt.

Die wenigen Töne, die es so weit schaffen, sind also längst verklungen, wenn sie ans Ohr dringen. Modulation folgt auf Modulation; innerhalb von zwei Takten ist die Melodie, die die jungen Männer hören, nicht mehr die Melodie, die gerade gespielt wird. Deshalb müssen sie ihre Gegenwart verspätet mit einer bereits veralteten Musik erschaffen. Die Sterne in einer klaren Winternacht sind vielleicht vor tausend Jahren zu Supernovae geworden; trotzdem sind sie ein unbestreitbar gegenwärtiges Phänomen. Die Vergangenheit wird nur zu einer Wirklichkeit, wenn sie sich mit der Gegenwart überschneidet. Dann, und nur dann, rückt sie als gegenwärtig ins Bewusstsein, egal, welchen Wandlungen sie unterworfen war. Erst wenn man trauert – und wie der Schall hängt auch die Trauer von der Lufttemperatur ab –, stirbt die Vergangenheit endgültig.

Peter wird vom bodenständigeren Adolphe überholt. In einen Tagtraum versunken, fällt er zurück und spricht den Namen »Franz Joseph« vor sich hin. Er wiederholt ihn ständig in allen denkbaren Variationen. Eine dehnt das »z« auf absurde Weise und lässt es ins »Jo« übergehen, mit dem der zweite Name beginnt. Eine andere Variation imitiert die abgehackte preußische Sprechweise, die bei Peter allerdings künstlich klingt. Er spricht, psalmodiert und singt die Wörter, bis sie verzerrt und fremdländisch klingen. Als Franz Joseph nicht auf sein Flehen reagiert, verliert er die Lust. Kurz darauf beginnt er wieder lebhaft zu nicken und spricht in dem Singsang, mit dem man Versteckspiele einleitet.

»Adolphe. A-dol-phee. Vielleicht, Adolphe, wird Alicia … A-lie-zia wird auf der Kirmes sein, Adolphe. Und vielleicht hat sie Lust auf … du weißt schon, Adolphe.«

Adolphe erstarrt, errötet, greift prüfend in die Innentasche seiner Jacke.

»Sei still, du Möchtegern-Bruder, oder du bekommst meinen Stock zu spüren. Im Ernst!«

Er klingt unabsichtlich wie eine Parodie Helmuth von Moltkes, des preußischen Generalfeldmarschalls im Deutsch-Französischen Krieg. Peter schenkt ihm keine Beachtung.

»Oh, Hubert. Huu-bett. Huu-uu.«

Er spricht den Namen aus wie das niederländische Wort für »wie«. Nun stellt sich heraus, dass Peter selbst Niederländer ist.

»Vielleicht wird irgendein Mädel, das nichts Besseres zu tun hat, auf der Kirmes für dein erstes kleines Techtelmechtel sorgen, Hubert.«

Huberts Gesicht ist kein Alter abzulesen. Es ist eine Maske aus weichem Ton, die sich jedem seiner Gedanken und jeder vorgefassten Meinung eines Gegenübers anpasst. Er nimmt den schäbigen Filzhut ab und fährt mit der Hand über seine Stirnfalten, Falten, die so tief sind, als wären sie von über sechzig Jahren Schufterei eingegraben worden.

»Die Frauen sind am heißesten auf So-zis. So-zis haben die längsten Stängel.«

»Sag nicht Stängel, Hubert. Sonst halten dich die Leute für ein Kind. Sag Pfosten. Dann wissen die Leute sofort, dass deiner riesig ist.«

Die jungen Männer lachen und rangeln. Sie erzählen in aller Ausführlichkeit, was sie mit den Mädchen anstellen werden, die sich auf den Tanz wagen.

Beim Kabbeln reden sich die jungen Männer mit »Bruder« an, allerdings auf eine Art, wie es echte, gemeinsam aufgewachsene Brüder nie tun würden. Ein Karren kommt angerumpelt, er hält auf das kleine Waldstück zu, aus dem die Musik der Kirmes dringt. Die jungen Männer hören auf herumzualbern und bringen ihre Kleider in Ordnung. Wohlhabende Bauern grüßen Adolphe im Vorbeifahren vertraut, aber ohne anzuhalten. Peter zieht ein Gesicht und tut so, als hätten die Pferdehufe Dreck auf seinen Anzug geschleudert.

»Verdomme! Was bilden sich diese verrückten Bauern ein, Adolphe? He? Rücksichtslose Fahrer.«

Adolphe und Peter lachen, als Peter eine Faust reckt und dem fernen Karren pantomimisch mit Rache droht.

»Die Leute in diesem Tal leben noch im letzten Jahrhundert, Adolphe. Sie kriechen so langsam, dass sie schlafen werden, wenn sie die Kirmes erreichen. Alle schlafen; wie im Kyffhäuser Friedrich Barbarossa mit dem langen, roten Bart, der seit Jahrhunderten wächst. Aber er wird erwachen und die Deutschen zu neuer Größe führen. Oder, Adolphe?«

Adolphe schweigt und setzt sich wieder in Bewegung. Er bringt seinen Hut in die alte, schlichte Position.

»Adolphe? Pennst du, Adolphe? Weißt du, was dieses verschlafene Tal braucht? Es braucht ein paar holländische Automobile. Tempo, was, Adolphe? Kaufst du mir ein Auto, A-dolph-chen? In Holland hatten wir ein Auto.«

»Du lügst doch, Bruder.«

»Nein, ehrlich, Bruder. Wir hatten eines. Sag’s ihm, Huub. Hu-ub, klär ihn darüber auf, dass in Holland jeder ein Auto besitzt.«

»Tja, als Flame und So-zi weiß ich das nicht so genau.«

»Quatsch. Du bist ungefähr so flämisch wie die Kuh dort drüben. Ja, du, du großes Rindvieh.«

Adolphe kehrt mit besserer Laune zu den anderen zurück. Er fragt:

»Sag mal, was bist du überhaupt, Hubert? Welcher Nationalität, meine ich?«

»Ich habe dir doch gesagt, dass ich …«

»Hör nicht auf ihn, Adolphe. Der Mann erzählt den ganzen Tag Märchen. Er lügt noch schlimmer als ein Preuße. In Wahrheit hat sich eine Freundin von Mama – gar nicht so übel, die Frau, aber inzwischen kommt sie ins reifere Alter – ein Kind machen lassen, und wahrscheinlich hat ihr die Gebärmutter ein Telegramm geschickt, um sie auf den Ärger hinzuweisen, den sie sich mit dem Balg einhandelt. Sie hatte keine Zeit für das Kind, und deshalb war mein Vater – das heißt: unser Vater, Adolphe – so großherzig, es bei uns zu Hause aufzunehmen.«

»Halt den Mund. Dein Hosenstall steht offen und zeigt deine Intelligenz.«

»Heul doch ins Taschentuch, du Waisenkind.«

»Sei still, Peter. Du liegst doch genauso schief wie Hubert. Immerhin lebt ihr beide von der Großzügigkeit meiner Mutter.«

Adolphes Augen glänzen plötzlich triumphierend. Die jungen Männer, wieder ins Schweigen versunken, setzen ihren Weg zur Kirmes fort. Der Westerwald besteht aus täuschend weiten Flächen, die die kleinen Weiler sowohl verschlucken als auch voneinander trennen. Obwohl die Gegend, in der die drei jungen Männer unterwegs sind, keinen halben Tag mit dem Karren von Köln entfernt ist, verbergen sich hinter dem nächsten, hübschen Bach oft Wege, die in tiefste Einsamkeit zu führen scheinen. In der Landschaft wechseln sich düster bewaldete Talengen mit öden, unbarmherzigen, offenen Flächen ab. Jenseits der Wärme und der hell erleuchteten Fröhlichkeit abendlicher Dörfer liegen Moore voller Einsamkeit. Während sich die drei Burschen der Maikirmes nähern, wird die Stille auf der Erde und in der Luft immer tiefer.

Dann wird ihr Bann gebrochen. Ein Fahrradfahrer nähert sich auf der Dreckpiste. Er kommt aus der Richtung des Hofs von Adolphes Mutter, ein Hof, der auf einem sanft geschwungenen Rand des Westerwalds liegt. Der Mann balanciert einen vollgepackten Rucksack auf dem Gepäckträger. Die drei jungen Männer wenden sich neugierig um, als ihnen der Mann einen Gruß zuruft und in der Nähe anhält. Er ist ungefähr vierzig Jahre alt und bärtig, trägt Knickerbockers, Gamaschen und einen breitkrempigen Hut. Mit der Selbstverständlichkeit eines Passanten, der nach dem Weg fragt, ruft er:

»Tragt ihr eure Sonntagssachen?«

Zur ländlichen Zurückhaltung der jungen Männer gesellt sich die Vorsicht, die sie allen Sonderlingen entgegenbringen.

»Ja … denn wir … es wird getanzt.«

»Aber natürlich wird getanzt, junger Mann. In Deutschland feiert man den Mai seit Jahrtausenden. Geht auf die Römer zurück – Weingelage, die Frühlingsgöttin Flora. Diese Art von Fest. Ihr Milchbärte habt bestimmt nicht gewusst, dass ihr zu einem heidnischen Ritual unterwegs seid, wie?«

Die jungen Männer sind fasziniert. Sie wissen nicht, wie sie auf die seltsame Rede dieses Mannes mit den Gamaschen und dem Hut eines Bohemiens reagieren sollen. Hubert, nicht unbedingt das Sprachrohr der drei, nutzt die Gelegenheit und ergreift das Wort.

»Sind Sie ein So-zi?«

Der Radfahrer, der seinen Rucksack auszupacken beginnt, verzieht halb amüsiert und halb angewidert die Oberlippe.

»Sozialdemokrat.«

Hubert wirft seinem Stiefbruder Peter einen fragenden Blick zu, und dieser murmelt untypisch leise, dass beides miteinander verwandt oder jedenfalls halbwegs identisch sei. Hubert ist begeistert.

»Seht ihr? Ich habe euch doch gesagt, dass auch die Reichen So-zis werden können.«

Der Mann holt Fotos und Platten heraus und reiht alles am Wegrand auf. Adolphe weist ihn auf den Matsch hin, doch der Mann achtet nicht auf ihn. An Hubert gewandt, sagt er:

»Dann sind wir also politisch? Sie wollen mich darauf hinweisen, dass die Linke den Ersten Mai zu einem Tag der Arbeiterdemonstrationen gemacht hat, hm? Tja, verglichen mit den Römern und ihrer Flora sind die Linken natürlich noch grün hinter den Ohren. Aber was soll’s. Auf dieser Welt muss man wohl die Trommel rühren. Hauptsache, man gerät nicht mit dem Gesetz aneinander. Hier. Kommt mal her und schaut euch das an.«

Die jungen Männer betrachten zögernd die Fotos, die der Mann am Wegrand ausgebreitet hat. Bei einem der Bilder – es zeigt zwei Herrenbauern, die in der Nähe seiner Mutter mehrere hundert Morgen große Höfe bewirtschaften – kann Adolphe einen erstaunten Ruf nicht unterdrücken.

»Ha! Seht euch Herrn Jakob im piekfeinen Feierabendaufzug an. Auf diesem Foto ist er die Wichtigkeit in Person, findet ihr nicht auch?«

Wie aus Scham über diesen Wortschwall, vielleicht auch, weil er glaubt, den Fremden in seinem Stolz gekränkt zu haben, verfällt er wieder in die übliche Zurückhaltung. Doch der Mann klatscht in die Hände, hocherfreut über Adolphes Reaktion.

»Ganz genau! Wie ihr seht, ist er nicht mehr der Herr Jakob, mit dem man über Ackerbau plaudert. Nein, vor der Linse ist er eine andere, wichtigere Person geworden. Er ist nicht nur ein Individuum mit einem bestimmten Geburtsjahr und einem bestimmten Todesjahr – versteht mich bitte nicht falsch: Lang möge er leben –, sondern hat sich zum Wohl der unsichtbaren Betrachter als Vertreter der begüterten, arbeitenden Menschen dem universalen Strom angeschlossen. Er ist zur Idee des Herrn Jakob geworden, wenn man so will.«

Nun ist es der Fahrradfahrer, der sich seiner Euphorie schämt. Er zuckt mit den Schultern und packt weiter aus. Er holt ein Stativ, einige verpackte Platten und einen hölzernen Kamerakasten aus dem Rucksack. Peter, bis dahin unsicher, findet allmählich sein Selbstvertrauen wieder.

»Ah, jetzt begreife ich, Herr Philosoph. Sie möchten uns ein paar der Bilder andrehen, die hier liegen und die … das Ideal zeigen. Oder was immer Sie gemeint haben.«

»Peter! Was redest du da.«

»Nein, nicht ganz, junger Mann, aber mir war klar, dass Sie klug sind. Das kann man schon an Ihrem Unterkiefer sehen.«

Peter legt sich misstrauisch die Hände aufs Kinn. Huberts Gesicht, das durch die schiefe Zigarette und den bemüht revolutionären Ausdruck als das eines Sechzigjährigen durchgehen könnte, verjüngt sich durch seine Freude über die Fotos um mehrere Jahrzehnte und wird wieder zu dem Jüngling, der er in Wahrheit ist.

»Schaut mal! Schaut euch das an, Leute. Maastricht. Dort bin ich gewesen. Dort lebe ich. Ich meine – Peter und ich haben dort gelebt. Oder, Peter? Die neue Werkzeugfabrik. Wann sind Sie dort gewesen, Alter?«

»Tut mir leid, Sie enttäuschen zu müssen, Herr Sozi, aber es handelt sich um eine Werkzeugfabrik an der Ruhr. Derzeit werden so viele errichtet, dass man sich leicht irren kann. Trotzdem freut es mich sehr, dass Sie diese hier mit einer anderen in Ihrer – wenn ich so sagen darf – Heimatstadt verwechseln.«

»Dieser Revolutionär hat alle möglichen Staatsbürgerschaften zugleich.«

»Damit will er sagen, dass er jetzt auch bei meiner Mutter lebt – hinter dem Höhenzug dort; wir sind inzwischen alle Bauern. Und demnächst wird er ein deutscher Staatsbürger, mein Herr.«

Peter, dabei ertappt, wie er mit einem Finger über die Kante des Kamerakastens fährt, überspielt keck sein Schuldbewusstsein.

»Tja, mitgefangen, mitgehangen. Verwandt über drei Ecken. Wozu dient dieser Apparat?«

»Dies, mein Freund, ist eine Kamera für Freiluftporträts.«

»Im Freien …? Das geht doch gar nicht. Ich kenne mich mit Maschinen aus, müssen Sie wissen. Ich bin kein Kind mehr. Die wissenschaftlichen Grundlagen dieser Dinge sind mir bekannt. Damit ein Porträt gelingt, muss es im Studio gemacht werden. Zu starkes Sonnenlicht kann den Film schwärzen oder trüben. Oder so etwas in der Art. Habe ich recht, Opa? Sie wollen uns doch irgendetwas andrehen. Sind Sie Franzose?«

»Ganz im Gegenteil, Herr Unterkiefer. Alle Fotos, die Sie hier sehen, habe ich mit dieser Kamera im Freien aufgenommen.«

»Sie fahren mit dem Fahrrad und nicht mit dem Auto, und Sie verdienen Ihren Lebensunterhalt mit Lügen. Ich kann mir keine schlimmere Kombination vorstellen.«

Adolphe, dem Peters Vorwürfe peinlich sind, entschuldigt sich stellvertretend. Der Fotograf fordert Peter auf, die Bilder genau zu betrachten und der Umgebung Beachtung zu schenken: den Reihenhäusern in Luden, dem bewaldeten Höhenzug jenseits der Felder von Ainsbach oder dem weiten Neandertal im Hintergrund eines Fotos zweier Schäferkinder mit koboldhaften Gesichtern. Peter akzeptiert diese Beweise nicht.

»Soll ich Ihnen etwas sagen, Sie Zauberer? Ich kenne Ihre Tricks. Natürlich wurden diese Fotos mit Kameras aufgenommen. Aber drinnen und vor Hintergründen, auf die man Szenen dieser Gegend gemalt hat. Und sehr geschickt gemalt, wirklich. Die Illusion der Natur ist ausgesprochen überzeugend.«

Viele zeitgenössische Porträtfotografen malen auch Landschaften in Öl. Ihre Hintergründe sind zwar selten überzeugend genug, um als Natur durchzugehen, aber gut genug, um die Natur als Hintergrund durchgehen zu lassen.

»Die Wirkung wäre sehr künstlerisch, sehr künstlich – fast vollkommen –, wenn Sie dafür sorgen würden, dass die porträtierten Personen nicht im letzten Moment ihre Pose ablegen. Oder haben Sie die guten Bilder schon verkauft und wollen den Rest an Leute verscherbeln, die keine Ahnung haben?«

Der Radfahrer lässt seinen Blick mit der Leidenschaftslosigkeit eines Botanikers, der Arten bestimmt und mit fachlich korrekten Namen versieht, weiter von einem jungen Gesicht zum anderen gleiten.

»Wenn ich die Sache richtig sehe, kann ich Sie nur von der Freiluftfotografie überzeugen, indem ich ein Foto von Ihnen dreien knipse. Also gut. Sie zu dritt auf dieser Straße, wie ich Sie beim Näherkommen gesehen habe.«

»Sehen Sie? Ich wusste, dass Sie uns etwas andrehen wollten.«

»Nein, das hier knipse ich nur für die Wissenschaft und für das Archiv. Als privates Dokument des Gesprächs, das wir heute geführt haben.«

Der Verzicht auf ein Honorar erstaunt Adolphe, der zudem geschmeichelt ist, weil man ihn für fotogen hält. Er findet es schade, dass Peter die Sache verdorben hat, und versucht, den Fotografen umzustimmen.

»Aber wenn … Nehmen wir mal an, wir wären …«

»Aber wenn jemand von Ihnen bereit wäre, mich am nächsten Sonntag an genau dieser Stelle wieder zu treffen, könnten wir uns das Foto gemeinsam anschauen und, wenn Sie wollen, zu einer Übereinkunft gelangen.«

Peter übernimmt das Kommando und versucht, die drei in eine Pose zu bringen, die den kraftstrotzenden Heroismus der Jugend zum Ausdruck bringt. Er diskutiert mit dem Fotografen, der eine möglichst natürliche Haltung wünscht: die gleiche Anordnung, in der sie gegangen sind, als er sie – auf dem Weg nach Luden – gestoppt hat. Peter will wissen, worin in dem Fall die Kunst besteht. Der Fotograf droht, er werde sich aufs Fahrrad setzen und verschwinden, wenn die jungen Männer seinem Wunsch nicht entsprechen. Adolphe weist warnend darauf hin, dass die Sonne sinke und dass es am besten sei, das Foto sofort zu machen. Sonst werde es nichts mehr damit, und außerdem müssten sie so bald wie möglich zur Kirmes, weil sie sonst zu viel verpassen würden. Peter neckt ihn damit, dass Alicia keine Chance auf den Titel der Maikönigin habe, weil Adolphe, der mit Abstand schönste Mann im Rheinland, ja im ganzen Reich, gewiss alle Stimmen erhalten und zum ersten Maikönig gewählt werde.

Die erste Aufnahme ist ein Fehlschlag, weil Hubert die Zigarette aus dem Mund fällt. Er bückt sich nach ihr, als der Auslöser betätigt wird. Die zweite Aufnahme muss reichen, denn es ist die letzte Platte; der Fotograf kann nicht wie sonst zur Sicherheit ein zweites Foto knipsen.

Als er Fotos und Ausrüstung einpackt, will Hubert wissen, ob er Gewerkschaftsmitglied sei. Der Fotograf antwortet, dass er Verbände geflissentlich meide, und rät den jungen Männern, das Gleiche zu tun. Das Gespräch wechselt wie von selbst vom Wetter zu den Anbaubedingungen und von dort zur Politik, und der Fotograf äußert sein Bedauern über die Zabern-Affäre, bei der die Elsässer von einem deutschen Heeresoffizier beleidigt wurden. Adolphe, der wenig überzeugend älter tut, als er ist, warnt den Fotografen davor, respektlos vom Kaiser zu sprechen. Der Fotograf fragt Adolphe:

»Was führte der Kaiser Ihrer Meinung nach im Schilde, als er die Truppenstärke der Armee auf achthunderttausend Mann erhöhte?«

Adolphe, der wieder so klingt, als würde er seinem Vater nach dem Mund reden, erwidert, dass er die Nase voll von dem Gewäsch über einen bevorstehenden Krieg habe. Dieses Gerede zeuge nur von Egoismus, Willensschwäche und Sensationsgier. Der Alltag reiche ja schon, da müsse man nicht auch noch ständig vom Krieg reden, um das Leben aufregender zu machen. Außerdem sei der Militärdienst eine Ehre.

 

Drei Männer, nur einer von ihnen ein Einheimischer, werden auf dem Weg zu einem Tanz fotografiert, der vielleicht nicht so lustig wird wie gedacht. Einer hinkt ein Stückchen hinterher, den Stock kleinganovenhaft angewinkelt. Unter dem schäbigen Hut ragen Locken hervor, und auf seiner Oberlippe zeichnet sich Flaum ab. Sein Unterkiefer scheint kurz über dem Kinn ein extra Scharnier zu besitzen. Trotz der widerspenstigen Ohren und einer Nase, die im Alter zu fleischig sein wird, bewahren ihn die anmutig geschwungenen Augenbrauen davor, hässlich zu sein. Zwischen den vollen, flämischen Lippen klemmt eine Zigarette. In seinen dunklen Augen liegt der gesammelte Schmerz von Jahrzehnten.

Vor ihm wendet sich ein besser gelaunter Mann zu drei Vierteln der Kamera zu. Er wirkt arrogant und erinnert durch die lange Nase und die gut sichtbaren Nasenlöcher an ein Pferd. Augen und Mund zeugen von einer gewissen Ironie, die aber durch Kinn und Wangen abgemildert wird. Die Finger der linken Hand sind in einer aristokratischen Geste halb geschlossen.

Die Führung hat das jüngste Gesicht, das paradoxerweise am ältesten wirkt, ein Eindruck, den der gestärkte, weiße Kragen ins Absurde steigert. Dieser Bursche ahmt die Pose seines Nebenmanns nach, aber seine Haltung ist so starr, als wollte er auf Teufel komm raus erwachsen wirken oder große Reife ausstrahlen. Ja, man könnte fast meinen, dass er die Tatsachen umkehren möchte, indem er seinem Vorbild unterstellt, ihn nachzuahmen. Der Bogen seiner Brauen ist 19. Jahrhundert in Reinform. Man hat das Gefühl, als versuche er, etwas ins neue Jahrhundert hinüberzuretten, das er nicht wirklich durchschaut hat.

Alle drei haben den linken Fuß vorgeschoben, und alle schauen über die rechte Schulter auf einen Betrachter, der anwesend, aber bemerkenswert unaufdringlich ist. Hinter ihnen dehnen sich leere Felder.

 

Alicia ist auf der Kirmes. Sie hat die Krone der Maikönigin an die mittlere Jakobs-Tochter verloren. Trotzdem wetteifern die jungen Männer darum, eine Runde mit ihr tanzen zu dürfen. Hubert fragt sie, wie sie die Sozis findet. Peter versucht, ihr die Zunge ins Ohr zu stecken. Adolphe will wissen, was sie davon hält, dass der Kaiser die Truppenstärke im vergangenen Jahr auf achthunderttausend Mann erhöht hat.

DREIDER WAFFENSTILLSTAND WIRD VERSCHOBEN

… Optikerläden wurden von Amateuren überrannt, die nach einem Daguerreotypie-Apparat lechzten, und überall wurden Kameras auf Häuser gerichtet. Jeder wollte den Blick aus seinem Fenster festhalten …

Marc Antoine Gaudin, Traité pratique de la fotografie, zitiert in: Beaumont Newhall, Geschichte der Photographie

Marschtritt: Was vor fünf Minuten noch als mittelgroßer Ford Sedan hätte durchgehen können, der dringend zur Inspektion musste, klang jetzt wie Marschtritte. Peter Mays lauschte dem monotonen Stampfen von Schuhsohlen auf Asphalt, das irgendwo in der Nähe der Clarendon ertönte. Die genaue Bestimmung der Richtung, aus der das Geräusch kam, wäre zu diesem Zeitpunkt und im achten Stockwerk reine Spekulation, vielleicht sogar eine Verfälschung der Tatsachen gewesen. Außerdem war der Lärm, bei dem es sich nun eindeutig um Marschtritte handelte, immer noch recht leise. Dass Mays ihm überhaupt Aufmerksamkeit schenkte, bewies nur, dass die Arbeit vor ihm auf dem Schreibtisch nicht gerade fesselnd war.

Moseley, Peters Kollege, der sich ihm gegenüber hinter einer undurchdringlichen Barrikade aus Topfpflanzen verschanzt hatte, hatte die niedrigste Stufe an seinem Bürostuhl eingestellt und arbeitete fröhlich weiter an seinem Manuskript, kürzte, ordnete um, fügte ein, als wäre das Getrampel nur ein klappernder Heizkörper. Nach dreißig Jahren im Powell Building – einem lauten, zwölfstöckigen Gebäude aus Gussbeton – war Moseley darauf konditioniert, alle Geräusche außer dem Feierabendsignal um siebzehn Uhr zu überhören.

Doch keiner der beiden Redakteure konnte die Sache lange ignorieren. Unten auf der Straße brüllte irgendein mürrischer Sergeant Befehle:

»Hopp, Hopp, eins-zwei-drei, di-hopp-di-hopp-di-hopp.«

Auf diesen abgehackten Ruf folgte rhythmisches Gescharre, das auf eine Umgruppierung der Formation hindeutete. Mit zackiger Präzision eröffneten Trommeln das Feuer. Mays fragte sich, warum man ihn nie darüber aufgeklärt hatte, dass sich marschierende Füße nicht regelmäßig, sondern in einem trapezförmigen, schiefen Eins-zwei, Eins-zwei bewegten, aber vielleicht wunderte ihn das auch nur, weil er zum ersten Mal eine Parade hörte, ohne sie zu sehen. Heere taumeln; das Ohr des Zuhörers ordnet die Geräusche.

Mays wurde immer neugieriger, doch um seine Kollegen nicht zu beunruhigen, hob er nur ab und zu vorsichtig den Kopf. Er hustete, kramte in seinen Papieren, drehte sich wie in Zeitlupe zum einzigen Fenster um. Da sich Moseley hinter der Pflanzenmauer verbarrikadiert hatte, war Peters Vorsicht allerdings überflüssig. Der ältere Kollege atmete schwerer, im heiseren Sforzando, und wühlte weiter in den Unterlagen. Die unten vorbeimarschierende Armee musste ihn in seiner gespielten Ahnungslosigkeit erst in einen Hinterhalt locken.

Als der Marschtritt lauter wurde, fing Peter die Blicke von Caroline Brink und Doug Delaney auf, die die andere Hälfte der Redaktion der Micro Monthly News bildeten. In der achten Etage des Powell Buildings war dieser Blickkontakt möglich, weil man das moderne Konzept des »modularen Büros« umgesetzt hatte, ein Euphemismus der Innenarchitektur, der verschleiern sollte, dass die Wände im Büro nur halb so hoch wie die Decke waren. Moseley hatte Abhilfe geschaffen – er empfand die Modularbauweise als eine Verletzung seines verfassungsmäßig verbrieften Rechts auf Privatsphäre –, indem er eine Topfpflanze nach der anderen im Pendlerzug hergeschafft hatte, um eine organische Wand zu errichten.

»Hört sich an, als hätten die Deutschen bei der Aufteilung des Landes die Ostküste bekommen, Hauptmann.«

Dougo Delaney hatte seinen ersten großen Lacher in Mrs Rapps 2 b abgesahnt. Als ihn die Lehrerin gefragt hatte, wie er Mathematik lernen wolle, wenn er ständig auf Klo müsse, hatte er geantwortet: »Im Stuhlgang.« Jetzt sprach er seine Vorgesetzte an und salutierte. Caroline Brink überhörte die Ironie.

»Wo kommt das her?«, fragte sie.

Mays verspürte den Drang, ihr zu sagen, sie solle bitte schön keinen Satz mit einer Präposition beenden, wusste aber nicht recht, ob »her« eine war. Für das obligatorische, sadistische Bürogeplauder fehlte ihm eine gewisse Schlagfertigkeit. Um die Quelle des Marschtritts zu ergründen, hätte er aufstehen und den Hals recken müssen, doch er wandte sich stattdessen an die Topfpflanzen-Barrikade.

»Wollen Sie nicht mal nachschauen, MrMoseley?«

»Nein. Die sind noch ein paar Blöcke entfernt. Kann die von hier aus nicht sehen. Ist eh unwichtig.«

Seine Weigerung rüttelte die anderen drei wach. Sie tauschten verschwörerische Blicke, verließen ihre Module und gingen zum Fenster. Wenn Moseley behauptete, die Parade sei noch einige Blöcke entfernt, dann war sie hier, direkt unterhalb des Fensters. Mays Verdacht – dass es draußen etwas gab, das einen Blick lohnte – wurde endgültig dadurch bestätigt, dass der heisere Kerl gegenüber hartnäckig an seinem Irrtum festhielt.

»Halt mal meine Beine, Brink.«

Der über der Fensterbank hängende Delaney ähnelte einem Halfback, der den Ball vor dem First-Down-Mark fangen wollte. Trommeln, Dudelsäcke und Exerziermeister wurden jetzt von der traditionellen Blaskapelle übertönt. Die neuen Töne – trunkene Fetzen von »Turkey in the Straw«, der Hymne der Marines, sowie einer obskuren Version von »Columbia, the Gem of the Ocean« – lösten sich wahllos in der Luft auf. Bestandteile diverser Americana kollidierten auf dem Weg zur achten Etage des Powell Buildings miteinander, eine Brown’sche Bewegung organisierter Anarchie.

Auch Mays hatte es ans Fenster gelockt, doch er konnte nur Delaneys plumpes, von Caro gestütztes Hinterteil sehen. Er dachte daran, seine Hilfe anzubieten, war sich aber bewusst, dass sie das bessere Stehvermögen und die kräftigere Statur für die Rolle als Stütze hatte. Der klaustrophobische Moseley schob sich die Drahtbrille höher auf die Pappmachénase und faselte etwas davon, dass die Musiker noch zwei Blöcke weit weg seien. Beim Zurückklettern fehlten Delaney nur ein paar Zentimeter, dann hätte er sich umgebracht.

»Liebe Pressedamen und -herren, verflucht sei der hurenbockende MrPowell. Natürlich nur inoffiziell.«

Delaney, der sich nicht allein damit begnügte, ein Substantiv in ein Verb umzumodeln, ließ sich aufgrund einer Angewohnheit Powells, ihres Chefs, sogar dazu hinreißen, eines in ein Partizip zu verwandeln. Am Veterans Day arbeiten zu müssen war schlimm, aber noch schlimmer war, dass man die Mitarbeiter der Micro Monthly News mit keinem Wort über die Streichung dieses Feiertags informiert hatte. Und da man sie nicht darauf aufmerksam gemacht hatte, dass es sich um einen stinknormalen Arbeitstag handelte, waren sie der Verbitterung beraubt worden, die oft befriedigender ist als der Feiertag selbst. Delaney versuchte, die verlorene Freizeit wettzumachen.

»Veterans Day, ihr elenden Proleten. Wahrscheinlich sind drei Viertel der Bevölkerung Bostons da draußen unterwegs. Partyhüte, Festwagen und blutjunge Busenwunder, die diese weißen Stöcke wirbeln lassen …«

Er schnappte sich Brink und begann, sie halb im Walzer- und halb im Polkatakt durchs Büro zu wirbeln. Dazu sang er »O Caroline, my Caroline« zur Melodie von O Maryland, My Maryland, ein Lied, das er offenbar für angemessen hielt, weil es auf vage Art patriotisch war. In Wahrheit war das Lied extrem separatistisch und forderte zu Gewalttaten genau gegen die Soldaten der Union auf, die unten durch die Straße marschierten. Brink setzte ihre Chefredakteurinnenmiene auf und versuchte, sich zu entwinden. Moseley verkündete sein Urteil, ohne die Kadenz seines Schnippelns und Klebens zu ändern, und sein Tonfall kam der unerlaubten Nachahmung eines Propheten des Alten Testaments gefährlich nahe:

»Das sind die Drusen.«

Mit dieser Diagnose lag er knapp daneben, denn er meinte »die Drüsen«. Doch er schien andeuten zu wollen, dass der trübe Einfluss gewisser Sexualhormone, unter dem Delaney stand, verfliegen würde, sobald der Mann die Unart ablegte, sechsundzwanzig Jahre alt zu sein.

Mays beschloss, der Verlockung des Spektakels erlegen, selbst einen Blick auf die Parade zu werfen. Noch ahnte er nicht, dass nichts die Exotik von Tausendundeine Nacht mehr verdirbt als ein Besuch im heutigen Iran. Außerdem war ihm noch nicht bewusst, dass etwas so Simples wie das heimliche Lauschen oder Beobachten wider jede rationale Erwartung gravierende Folgen haben kann.

Die Fensterbank machte ihn nervös, und da er nicht von Caro gestützt wurde, suchte er mit den Füßen Halt auf einem Rohr. Obwohl er sich auf diese Weise nur halb so weit aus dem Fenster lehnen konnte wie Delaney, sah er, als er den Kopf reckte, dass es sich bei dem Menschenauflauf acht Etagen tiefer nicht um eine Parade, sondern um die Auflösung einer solchen handelte. Delaney hatte böswillig und vorsätzlich gelogen: Keine drei Viertel der Einwohner Bostons waren auf der Straße, keine drei Viertel der Leute aus der Back Bay oder dem Copley Square, ja nicht einmal drei Viertel der Angestellten, die in diesem Block arbeiteten. Zu dem Zeitpunkt, als die bemerkenswert klägliche Parade am Powell Building vorbeizog, waren nicht einmal mehr drei Viertel der ursprünglichen Marschierenden dabei.

Obwohl Brink zeterte, sang Delaney weiter im Viervierteltakt und tanzte im Dreivierteltakt, ein haarsträubendes Spektakel. Als er Mays aus dem Fenster hängen sah, erstarrte er.

»Peter, nein! Nicht springen. Powell hat gesagt, er bewilligt dir die Lohnerhöhung«.

Mays, der sich rückwärts ins Büro schob, schmeckte Abscheu unter dem Gaumen, gleich rechts hinter den Vorderzähnen. Er hatte in der Hoffnung auf ein Spektakel aus dem Fenster geschaut, doch erhascht hatte er das Bild einer Auflösung: umherirrende Bataillone, Batterien von Baritonhörnern und Tubas, die erleichtert Zuflucht auf dem Bürgersteig suchten, aus dem Tritt geratene Infanterie, müde Klarinettisten, denen mitten im Ton die Luft ausging, Trompeten, aus deren Mundstücken Speichel troff, Clowns, die ihre roten Knollennasen abrissen, Lokalpolitiker, die sich eilig aus dem Staub machten, ganze Regimenter, die in bereitstehende Busse strömten.

Delaney schwang sich mit einem selbstmörderischen Satz auf die freie Fensterbank. Mays, der zusah, wie sich sein Kollege aus dem Fenster hängte, wurde mitfühlend von einem Schwindelgefühl erfasst und ließ sich auf dem Fußboden nieder. Caroline setzte sich zu ihm. Die Walzurka hatte ihr Haar zerzaust und ihre Schläfenadern anschwellen lassen; sie sah nicht mehr aus wie die auf Teile integrierter Schaltkreise spezialisierte Redakteurin einer Technik-Zeitschrift oder ein möglicher Big Boss der Micro-Group.

»Super, oder? Veterans Day, und wir müssen schuften.«

Damit lag sie gleich dreimal daneben. Super war es auf keinen Fall; sie schufteten ganz bestimmt nicht; und es war nicht einmal Veterans Day. Will heißen, dass es nicht der 11. November war, an dem man des Waffenstillstands und der Vierzehn Punkte am Ende des Ersten Weltkriegs gedachte. Der Tag, an dem erst der eine und dann der andere der beiden Männer im wehrfähigen Alter aus einem Fenster auf das schaute, was der eine für eine Parade und der andere für eine Enttäuschung hielt, war der 29. Oktober 1984. Der Kongress hatte durch einen Erlass für diese Ungereimtheit gesorgt. Ein wohlmeinender Politiker, der der Ansicht gewesen war, dass der Tag, an dem die an der bis dahin schlimmsten Katastrophe der Menschheit beteiligten Kriegsmächte beschlossen hatten, die Feindseligkeiten einzustellen, zu dicht an Thanksgiving lag, hatte es tatsächlich geschafft, den Armistice Day – aufgrund späterer Ereignisse in Veterans Day umbenannt – als bewegliches Fest und gesetzlichen Feiertag auf den vierten Montag im Oktober zu verlegen. Powell hatte dieses Gesetz gebrochen; zum Ausgleich durften sich die Angestellten der Powell Trade Magazine Group »nach Bedarf« am Karfreitag freinehmen.

Der auf dem Fußboden sitzende Mays, der nichts von der Verschiebung des Feiertags wusste, verlor sich im Anblick von Brinks Überbiss und dachte über seine berufliche Beziehung zu ihr nach. Nach seiner Unterschrift bei Micro hatte er wochenlang versucht, die flache Hierarchie der Jobs und Titel im achten Stock des Powell Buildings zu entschlüsseln, obwohl er sich eigentlich seinem ersten Arbeitsauftrag hätte widmen müssen (einem ziemlich zähen Prosastück mit dem Titel »Neue Leiterplatte erhöht Verlässlichkeit von PCM-Transcodes«).

Ganz oben stand Powell selbst, ein Annapolis-Absolvent, der ab und zu auftauchte, um sich mit nautischen Metaphern auf Kosten der Fliegengewichtsangestellten Luft zu machen. Jede Spartenzeitschrift der Powell Group – mit Titeln wie Synthetics World und Modern Brick Journal – hatte ihre eigene Redaktion. Brink leitete die Elektronik-Redaktion, denn sie hatte als Einzige wirklich Ahnung von der Materie. Die meisten anderen Experten suchten sich die besser bezahlten Jobs in der Industrie, vor denen Mays Reißaus genommen hatte.

Moseley war eine Ausnahme, denn er hatte undankbare zehn Jahre als Ingenieur gearbeitet, bevor er als Anachronismus in die Wüste geschickt worden war. Moseleys Vater hatte behauptet, nur die Elektrotechniker würden das Jahrhundert überleben, aber dass sie rasend schnell überflüssig werden würden, hatte er nicht prophezeit. Moseley gehörte zu jener Spezies, die man in der Presse »analoge Typen« nannte – seine Elektronik-Kenntnisse stammten allesamt aus der Zeit vor 1965 und waren im Falle einer Zeitschrift, die sich moderner Digitaltechnik widmete, so gut wie nutzlos. Delaney, der immer seine alten Taschenlampenbatterien mit in den Laden nehmen musste, um auch ja keine falschen zu kaufen, quälte Moseley gern mit Vorträgen über das einfache digitale Prinzip – »nur eine Frage von An oder Aus« –, die er mit obszönen Gesten untermalte. Doug Delaney war nur mit Glück bei der Zeitschrift gelandet – »Habe mir damals einen Lebenslauf geborgt« –, und sein Bleiben verdankte sich der Magie der Trägheit. Mays hatte den Strudel der Stellen bei den Zeitschriften der Powell Group mit Hilfe von Delaneys schlichtem Rat überlebt: »Im Zweifel immer die Schnittstelle besetzen.«

Während Delaney aus dem Fenster hing, versuchte Brink zu Atem zu kommen und zur Micro-Normalität zurückzukehren, und Moseley ordnete weiter Absätze um. Mays durchforstete sein Grundschulwissen nach dem Ursprung des Veterans Day, hatte aber nur ein hybrides Bild Lord Kitcheners und Marschall Fochs im Kopf, die ihm, von den Schnurrbärten abgesehen, nicht viel bedeuteten.

»Komm mal her, Peter. Das musst du sehen. Mein Gott. Ein Zeitschriftencover. Eine Bacchantin.«

Der größte Tribut, den Delaney bis dahin vor anderen einer Frau gezollt hatte, war »Amazone« gewesen. Mays, wie zum Ausgleich die Gelassenheit in Person, trat zu ihm ans Fenster. Er sah die Gestalt sofort und ohne jeden Fingerzeig von Delaney: eine absolut unglaubliche Frau, die sich deutlich vom Strom der Jongleure, Scouts, Verkäufer und Soldaten abhob, deren Strömung sie mitzureißen drohte. Sie kämpfte sich gegen den Strom nach Westen durch, obwohl alle Welt auf einer anderen Richtung bestand. In diesem Gewimmel wäre sie auch ohne ihre lachsartige Beharrlichkeit sofort aufgefallen: Sie trug einen langärmeligen, gerafften, schräg gestreiften und bestickten Humpelrock aus dem 19. Jahrhundert. Sie hatte eine Klarinette dabei. Ihr Haar – ein leuchtendes Erdbeerrot – umgab sie in lockiger Fülle. Sogar im achten Stock hatte man den Eindruck, als würde sie auf etwas horchen, versteinert, schmerzerfüllt, von der Parade berauscht oder auch nur verloren und wie aus der Zeit gefallen.

Im späten Oktober, eine Woche nach dem Zusammenbruch der Berkshire-Bank, drängten die Veteranen langsam wieder in Richtung U-Bahn, um nach Hause zu kommen, bevor noch mehr Laub fiel. Als Chefredakteurin hatte Brink eigentlich die Pflicht, die Elektronik-Redaktion wieder an die Arbeit zu beordern. Doch sie hatte sich in einer Konkurrenzzeitschrift festgelesen, die über einen Chip berichtete, der ganze Räume voller Computer ersetzte und bequem auf zwei Fingerspitzen zu balancieren war. Moseley kollationierte und kürzte weiter; Delaney setzte sein Varietéprogramm fort. Nur Peter Mays’ Aufmerksamkeit war nach wie vor auf den vergänglichen und höchst bemerkenswerten Rahmen gerichtet, der sich vor ihm aufgetan hatte – der Blick aus einem Fenster auf einen roten Haarschopf.

VIERANTLITZ UNSERER ZEIT

Die Runzeln und Falten im Gesicht, sie sind die Eintragungen der großen Leidenschaften, der Laster, der Erkenntnisse, die bei uns vorsprachen – doch wir, die Herrschaft, waren nicht zu Hause.

Walter Benjamin, Zum Bilde Prousts