Das große Spiel - Richard Powers - E-Book

Das große Spiel E-Book

Richard Powers

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Beschreibung

Longlist Booker Preis 2024.

Eine Insel. Vier Suchende. Verbunden durch das vielleicht letzte große Abenteuer der Menschheit. – Das bewegende Meisterwerk von Pulitzer-Preisträger und Autor des Weltbestsellers »Die Wurzeln des Lebens«


Auf Makatea, einst ein vergessener Fleck im endlos blauen Pazifik, soll die Gesellschaft der Zukunft entstehen. Über Umwege und Gezeiten finden auf der Insel vier Menschen zusammen, deren Schicksale nachhaltig mit dem des Planeten verknüpft sind: Evelyne Beaulieu, die in den Tiefen des Ozeans taucht, um das geheimnisvolle Spiel der Riesenmanta zu entziffern. Ina Aroita, die die paradiesischen Strände nach Materialien für ihre Skulpturen abwandert – doch schon lange schwemmt das Meer nur noch Plastikmüll an. Und der verträumte Büchernarr Rafi Young und der visionäre Computernerd Todd Keane, deren Freundschaft an dem kühnen Versuch zu zerbrechen droht, eine neue Welt zu erschaffen, um sich vor dem Untergang der jetzigen zu retten. Virtuos komponiert der große Erzähler Richard Powers die dringenden Fragen unserer Zeit – über die Auswirkungen der Klimakrise und die Hoffnung Künstlicher Intelligenz – zu einem fesselnden und zutiefst bewegenden Epos.

»Einfach nur: Wow! Der neue Roman des preisgekrönten US-Autors Richard Powers (hervorragend übersetzt von Eva Bonné) ist eine Güteklasse à la ›Wenn du dieses Jahr nur noch einen Roman liest, nimm diesen!‹« emotion, Timothy Sondershüsken

»Wohl kein ein anderer Autor ist in der Lage, naturwissenschaftliche und philosophische Themen literarisch so packend und stimmig zu verknüpfen der amerikanische Autor Richard Powers. (…) Aus Wissenschaft wird bei ihm Literatur, aus spröden Worten werden Sprachmelodien, (…) Algorithmen werden zu Poesie.« Radio 3/RBB, Frank Dietschreit

»Atemberaubend schön, ungeheuer spannend und natürlich zugleich bedrückend.« DLF Kultur, Studio 9, Joachim Scholl

»Wer erzählt hier eigentlich? Die Antwort wird am Ende gegeben. Und ist einer der überraschendsten Twists in der jüngeren Literaturgeschichte.« STERN, Oliver Creutz

»›Das große Spiel‹ ist brillant, fesselnd und wichtig – und das beste Buch, das ich dieses Jahr gelesen habe!« Andrea Wulf

»Gibt es etwas, das Richard Powers nicht schreiben kann? Sein neuer Roman ist wie der Ozean. Groß und geheimnisvoll, voller Tiefe und Leben.« Percival Everett

»Eine außergewöhnliche Reise durch vier Leben, die auf geheimnisvolle Weise miteinander verbunden sind – absolut mitreißend, beunruhigend und doch voller Hoffnung.« Emma Donoghue

»Dieser faszinierende Roman ist eine sprachmächtige Botschaft für diesen zerbrechlichen Planeten.« Kirkus Review

»Wäre Powers ein amerikanischer Autor des 19. Jahrhunderts, welcher wäre er? Wahrscheinlich Herman Melville mit ›Moby Dick‹. Seine Leinwand ist so groß.« Margaret Atwood

»Powers komponiert einige der schönsten Sätze, die ich je gelesen habe. Ich habe Ehrfurcht vor seinem Talent« Oprah Winfrey

»Es ist unmöglich, die Bedeutung von Powers' Botschaft zu leugnen.« The Sunday Times

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Seitenzahl: 614

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Eine Insel. Vier Suchende. Verbunden durch die unendliche Kraft des Ozeans.

Das bewegende Meisterwerk von Pulitzer-Preisträger und Autor des Weltbestsellers Die Wurzeln des Lebens.

Auf Makatea, einst ein vergessener Fleck im endlos blauen Pazifik, soll die ­Gesellschaft der Zukunft entstehen. Es ist das vielleicht letzte große Abenteuer der Menschheit. Über Umwege und Gezeiten finden auf der Koralleninsel vier Menschen zusammen, deren Schicksale nachhaltig mit dem des Planeten ­verknüpft sind: Evie Beaulieu, die in den Tiefen des Ozeans taucht, um das ­geheimnisvolle Spiel der Riesenmantas zu entziffern. Ina Aroita, die die paradiesischen Strände nach Materialien für ihre Skulpturen abwandert, doch schon lange schwemmt das Meer nur noch Plastikmüll an. Und der verträumte Büchernarr Rafi Young und der visionäre Computernerd Todd Keane, deren Freundschaft mit einem dreitausend Jahre alten Brettspiel beginnt, doch bald an dem kühnen Versuch zu zerbrechen droht, eine neue Welt zu erschaffen, um sich vor dem Untergang der jetzigen zu retten.

Virtuos komponiert der große Erzähler Richard Powers die dringenden Fragen unserer Zeit – über die Auswirkungen der Klimakrise und die Hoffnung künstlicher Intelligenz – zu einem fesselnden und zutiefst bewegenden Epos.

Richard Powers, Jahrgang 1957, ist Autor mehrerer preisgekrönter ­Bestseller, darunter sein hochgelobter Roman Der Klang der Zeit und Das Echo der Erinnerung, für den er 2006 den National Book Award erhielt. Für seinen Roman Die Wurzeln des Lebens wurde er 2019 mit dem Pulitzer-Preis ausgezeichnet. 2021 erschien sein Roman Erstaunen, für den er auf der Shortlist für den Booker Prize und der Longlist für den National Book Award stand. Heute lebt Richard Powers in den Great Smoky Mountains.

»Richard Powers hat mein Denken über die Erde und unseren Platz auf ihr nachdrücklich verändert.« Barack Obama

»Wäre Powers ein amerikanischer Autor des 19. Jahrhunderts, welcher wäre er? Wahrscheinlich Herman Melville mit ›Moby Dick‹. Seine Leinwand ist so groß.« Margaret Atwood

»Powers hat außergewöhnliche schriftstellerische Fähigkeiten.« The Guardian

»Powers komponiert einige der schönsten Sätze, die ich je gelesen habe. Ich habe Ehrfurcht vor seinem Talent.« Oprah Winfrey

»Es ist unmöglich, die Bedeutung von Powers’ Botschaft zu leugnen.« The Sunday Times

www.penguin-verlag.de

Richard Powers

Das große Spiel

Roman

Aus dem Amerikanischen von Eva Bonné

Dieser Roman ist ein Werk der Fiktion. Alle Namen, Figuren, Schauplätze und Ereignisse wurden vom Autor erfunden oder verfremdet. Ähnlichkeiten mit wahren ­Begebenheiten, Orten und lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig.

Das Gedichtzitat stammt aus Arthur Rimbauds »Le Bateau ivre. Das trunkene Schiff.« Übersetzt von Paul Celan in 1957. Insel, 2008. Die Textstelle auf dieser Seite stammt aus Johan Huizingas »Homo Ludens. Vom Ursprung der Kultur im Spiel.« Rowohlt Taschenbuch Verlag, 23. Aufl. 2013.

Die Originalausgabe erschien 2024 unter dem Titel Playground bei W. W. Norton & Company, New York.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Copyright © 2024 by Richard Powers

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2024

Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Covergestaltung: Sabine Kwauka

Covermotiv: © getty images / iStock / Getty Images Plus

Satz und E-Book-Konvertierung: GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN 978-3-641-32199-4V002

www.penguin-verlag.de

Für Peggy Powers Petermann

(1954 – 2022),

die mir, als ich zehn war,

ein Buch über Korallenriffe schenkte.

Und für RayRay, den alten Freund.

Siebenhundertfünfzigtausend … nein,

eine Million Mal danke.

Hauptteil

Vor der Erde,

vor dem Mond,

vor den Sternen,

vor der Sonne,

vor dem Himmel,

selbst vor dem Meer

gab es nur die Zeit und Ta’aroa.

–––

Ta’aroa erschuf Ta’aroa, und dann erschuf er ein Ei, um darin zu wohnen. Er stupste das Ei an, und es rotierte im Nichts. In dem Ei, das sich im endlosen Vakuum drehte, kauerte der wartende Ta’aroa. Aber weil die Zeit endlos war und die Warterei ewig, wurde es Ta’aroa in dem Ei langweilig. Er schüttelte sich, knackte die Schale und schob sich aus dem selbst erschaffenen Gefängnis. Draußen war alles reglos und still. Und Ta’aroa sah, dass er allein war.

Ta’aroa war ein Künstler, also spielte er mit dem, was er hatte. Sein erster Stoff war Eierschale. Er zerbrach sie in unzählige Stückchen und ließ sie fallen. Die Stückchen schwebten nieder und bildeten das Fundament der Erde.

Sein zweiter Stoff waren Tränen. Er weinte vor Langeweile und Einsamkeit, und seine Tränen füllten die Ozeane, die Seen und alle Flüsse der Erde.

Sein dritter Stoff war Knochen. Aus seinen Wirbeln machte er Inseln. Wo immer sein Rückgrat sich aus dem Tränenmeer erhob, entstand eine Bergkette.

Die Schöpfung war sein Spiel. Aus den Nägeln seiner Finger und Zehen machte er Schuppen für die Fische und Panzer für die Schildkröten. Er rupfte sich die Federn aus und machte daraus Bäume und Büsche, in die er Vögel setzte. Mit seinem Blut malte er einen Regenbogen an den Himmel.

Ta’aroa rief die Künstler zu sich. Sie traten vor und zeigten ihm ihre Körbe: Sand und Kiesel, Korallen und Muscheln, Grashalme, Palmwedel und aus Pflanzenfasern gesponnene Fäden. Gemeinsam mit Ta’aroa formten und frästen sie Tāne, den Gott der Wälder, des Friedens, der Schönheit und der gefertigten Dinge.

Dann erschufen die Künstler andere Götter, eine große Zahl davon. Gütige und grausame, Liebende, Schaffende und Schwindler. Und die Götter erfüllten die sich entfaltende Welt mit Farben, Formen und Lebewesen aller Art – an Land, zu Wasser und in der Luft.

Tāne beschloss, den Himmel zu schmücken. Er spielte mit den Möglichkeiten und setzte in die Dunkelheit Tupfen aus Licht, die wie große Feuerräder um das Zentrum kreisten. Er schuf Sonne und Mond, damit sie die Zeit in Tag und Nacht unterteilten.

Nun, da es Tage und Monate gab, da sich in der Welt das Leben entwickelte und ausbreitete und der Himmel selbst ein Kunstwerk war, wurde es für Ta’aroa Zeit, das große Spiel zu beenden. Er spaltete die Welt in sieben Schichten, und in die unterste setzte er Menschen – endlich spielte er nicht mehr ­allein.

Er schaute zu, wie die Menschen sich zurechtfanden, und er war entzückt. Die Menschen vermehrten und tummelten sich auf der unteren Ebene wie Fische in einem Korallenriff. Sie entdeckten Pflanzen und Bäume, Tiere und Muscheln und Felsen, und aus den Entdeckungen erschufen sie Neues, wie Ta’aroa die Welt erschaffen hatte.

Ihre Zahl wuchs, und bald fühlten die Menschen sich beengt. Als sie das Portal zur nächsten Welt fanden, das Tor, das Ta’aroa eigens für sie dort versteckt hatte, brachen sie es auf, gingen hindurch und vermehrten sich abermals.

Und so ging es für die Menschen immer weiter,

ausbreiten und aufsteigen, ausbreiten und

aufsteigen, aber jede neue Ebene

gehörte weiterhin Ta’aroa, der

alle Dinge in Bewegung

setzte aus seinem

kreiselnden

Ei.

Um mich zu erinnern, brauchte es eine Krankheit, die mein Hirn zersetzt.

An einem Dezemberabend vor fast vierzig Jahren liefen wir zu dritt vom Campus nach Hause. Ina hatte zum ersten Mal im Leben Festland betreten. Wir kamen von einer Uniaufführung von Der Sturm. Sie hatte während des gesamten letzten Akts geweint. Warum, konnte ich beim besten Willen nicht verstehen.

Rafi und ich begleiteten sie zu ihrer Unterkunft, die ein Dutzend Blocks vom Campus entfernt lag. Rechteckige Häuser­blocks war Ina nicht gewohnt. Sie verlor die Orientierung und lief im Kreis. Alles lenkte sie ab und sie blieb immer wieder abrupt stehen. Eine Krähe. Ein graues Eichhörnchen. Der ­Dezembermond.

Rafi und ich, fast doppelt so groß wie sie, nahmen sie in die Mitte, um sie zu wärmen. Es war ihr erster Winter überhaupt. Die Kälte war mörderisch. Ina sagte immer wieder: »Wie können die Leute so leben? Wie überleben die Tiere? Das ist doch verrückt! Reiner Wahnsinn!«

Dann hielt sie plötzlich inne und zerrte an unseren Ellenbogen. Ihr rundes, gerötetes Gesicht war voller Ehrfurcht. »O Gott. Seht mal! Seht euch das an!« Wir wussten beide nicht, was in aller Welt sie meinte.

Aus dem Himmel fielen kleine Klümpchen und landeten leise klickend auf dem Rasen. Sie blieben an den gefrorenen Halmen kleben wie weiße, nasse Blütenblätter. Weder ich noch Rafi schenkten ihnen Beachtung. Wir waren beide in Chicago aufgewachsen, in winterlichen Schneemassen.

Aber Ina hatte so etwas noch nie gesehen. Sie schaute zu, wie Eierschalenstückchen vom Himmel rieselten und sich zur Erde zusammenschlossen.

Halb erfroren stand sie auf dem Eisengitter des Gehwegs und verfluchte uns fröhlich. »Würdet ihr euch das bitte mal ansehen? Seht doch! Ihr Vollidioten! Warum habt ihr mir nie von Schnee erzählt?«

An einem Samstagmorgen lief Ina Aroita über den Strand und hielt nach geeigneten Materialien Ausschau. Sie hatte die siebenjährige Hariti dabei. Afa und Rafi waren zu Hause geblieben, saßen zusammen auf dem Boden und spielten mit Robotern, die ihre Gestalt verändern konnten. Vom Bungalow in der Nähe des Dorfes Moumu bis zum Strand war es nur ein kurzer Fußmarsch. Das Dorf lag auf einer flachen Ebene zwischen Klippen und Meer an der Ostküste der Insel Makatea im französisch-polynesischen Tuamotu-Archipel. Kein bewohntes Stück Erde war weiter von den Kontinenten entfernt – grünes Konfetti, so nannten die Franzosen die auf grenzenlosem Blau verstreuten Atolle.

Ina Aroita war als Tochter eines hawaiianischen Bootsmanns und einer tahitischen Flugbegleiterin in Honolulu zur Welt gekommen und auf Militärstützpunkten in Guam und Samoa aufgewachsen. Sie hatte an einer riesigen Universität im Mittleren Westen der USA studiert und dann jahrelang als Zimmermädchen in einem Luxushotel in Papeete gearbeitet. Später war sie auf die hundertfünfzig Meilen entfernte Insel Makatea gezogen, um dort zu gärtnern, zu fischen, ein bisschen zu weben und zu stricken, zwei Kinder großzuziehen und sich zu fragen, warum sie eigentlich auf der Welt war.

Dort, auf Makatea, hatte sie auch Rafi Young wiedergetroffen. Die beiden heirateten, blieben auf der Insel und ernährten ihre Familie, so gut sie konnten, fernab der wachsenden Sorgen der echten Welt.

Nach vier Jahren auf Makatea beschlich Ina Aroita eine Ahnung, ihr einziger Lebenssinn könnte darin bestehen, ihren launischen Ehemann und ihre beiden Kinder zu lieben, den kapriziösen Afa und die schüchterne Hariti. Sie baute Gemüse an: Süßkartoffeln, Taro, Brotfrüchte, Esskastanien, ­Auberginen, Avocados. Sie bastelte Muschelskulpturen, flocht Körbe aus Palmwedeln und malte Mandalas auf Steine. Manchmal kaufte ihr einer der Touristen, die auf die Insel ­kamen, um die berühmten Ruinen zu besichtigen oder auf den spektakulären Klippen herumzuklettern, das eine oder andere Stück ab.

Ina Aroita sammelte das Strandgut im Garten. Das Dschungelstück hinter ihrem sanierten Haus glich einem Freilichtmuseum. Ranken von Homalium und Myrsine überwucherten ihre Werke und ließen sie unter einer grünen Decke verschwinden, wie der Dschungel überall auf der Insel rostige Maschinenteile und die Eisenbahnwracks der Phosphatminen­ära unter sich begrub.

An diesem Samstag wateten Mutter und Tochter durch das seichte Wasser der ablaufenden Flut und hielten nach Schätzen Ausschau. Sie machten reiche Beute: Schalen von Muscheln und Krebsen, Schneckenhäuser, hübsche Korallen und von der gnadenlosen Brandung polierte Obsidiane. In der spritzenden Gischt kletterten sie zwischen den nassen Felsen durch und liefen bis an den Punkt, an dem die Wellen brachen. Der Strand war eine riesige, offene Fundgrube.

Hariti entdeckte einen flachen, blauen Stein, der funkelte, sobald sie ihn mit Wasser benetzte.

»Mama, ist das ein Juwel?«

»Ja, natürlich. Wie du!«

Die Kleine fühlte sich sicher und wagte ein Lachen. Sie warf den Stein in ihr Netz, um ihn nach Hause mitzunehmen. Später würden sie und ihre Mutter gemeinsam entscheiden, was sich aus den glatten, gesprenkelten, schimmernden Objek­ten herstellen ließe.

Während sie weitersuchten, erzählte Ina Aroita ihrer Tochter von Ta’aroa.

»Kannst du das glauben? Er hat die ganze Welt erschaffen, aus der Schale seines eigenen Eis!«

Ina hatte die Geschichte von ihrer Mutter gehört, damals an der Eisbude am Waikiki Beach, keine zwei Meilen vom Diamond Head entfernt. Sie war sieben Jahre alt gewesen, und nun gab sie die Geschichte an eine siebenjährige Künstlerin weiter, denn sie wollte ihr ein Vorbild in Sachen Mut und Eigeninitiative sein. Die Welt mitsamt ihren strahlenden Wundern war aus Leere und Langeweile heraus entstanden. Alles begann damit, dass man stillhielt und abwartete. Es war die perfekte Geschichte für ein so nachdenkliches und schreckhaftes Kind.

Ina war gerade bei der Stelle, an der Ta’aroa die Künstler zu sich ruft und sie um Unterstützung bittet, als Hariti plötzlich einen Schrei ausstieß. Ina gefror das Blut in den Adern. Sie eilte zu ihrem Kind und suchte die Umgebung nach ­Gefahren ab. Für Hariti lauerten die Gefahren überall. Ihre leiblichen Eltern waren ums Leben gekommen, kurz nachdem sie das Alter der Erinnerung erreicht hatte; sie konnte nicht vergessen, dass die Welt es anscheinend darauf anlegte, ihr alles zu nehmen.

Aber was immer die Bedrohung diesmal auch war, Ina konnte sie nicht sehen. An diesem Strand gab es nichts, was ihnen gefährlich werden konnte. Die Sicht war absolut klar und reichte bis ans Ende der gekrümmten Bucht, bis zu der Landzunge mit der Geisterstadt Teopoto am nördlichen ­Zipfel der Insel. Trotzdem war Inas Tochter wie erstarrt und heulte vor Entsetzen.

Das Grauen lag keine zwei Schritte entfernt vor Haritis kleinen nackten Füßen. Aus einer Mulde im Sand ragte ein Vogelkadaver. Die schlaffen Flügel waren ausgebreitet und die Beine gestreckt, der Kopf mit dem großen Schnabel war hilflos verdreht. Der Albatros schien schon länger tot zu sein. Er war noch nicht ganz ausgewachsen, denn in dem Fall wären seine Flügel doppelt so lang gewesen wie Ina Aroita hoch. Trotzdem war der tote Vogel dort am Strand fast so groß wie Hariti.

Seine Innereien hatten sich zu einer goldschimmernden ­Lache auf dem grauen Sand verflüssigt. Die zottelig gefiederten, halb verwesten Flügel erinnerten an getrocknete Palm­wedel, die Oberarmknochen ragten aus den hohlen Schulter­gelenken wie zwei Äste. Es sah aus, als versuchte der Vogel immer noch, sich aufzurichten und davonzufliegen.

Das Sternum und die dünnen braunen, bröckelnden Rippen umschlossen, was von seinem Leib noch übrig war. Im Brustkorb steckten zwei Handvoll Plastik, immun gegen jeden ­Verfall.

Hariti schrie abermals auf und versuchte, mit ihren Füßen Sand über den Kadaver zu schieben. Dann näherte sie sich ihm angewidert, als wollte sie sich daraufstellen und die Knochen in den Strand treten. Ihre Mutter hielt sie ein bisschen zu energisch zurück. Immerhin erschrak ihr fester Griff ­Hariti so sehr, dass sie zu schreien aufhörte.

»Was ist mit ihm? Was steckt da drin?«

Das Kind fragte nicht mehr auf Französisch, eine neue ­Angewohnheit, die Ina Aroita beharrlich ignorierte.

»Il a mangé un truc qu’il n’aurait pas dû.« Er hat etwas ­gefressen, was er nicht hätte fressen dürfen.

»Wie Junkfood?«

»Ja.«

»Warum? Warum hat er Junkfood gefressen, Maman? Er ist ein Vogel. Vögel fressen nur gesunde Sachen.«

»Er hat sich vertan.«

Aber Inas Antworten machten alles noch schlimmer. Das Mädchen drückte das nasse Gesicht an ihren nackten Oberschenkel.

»Er ist gruselig, Maman. Mach, dass er weggeht.«

»Er war ein Lebewesen, Hariti. Wir sollten ihn anständig begraben.«

Dieser Gedanke gefiel dem Mädchen. Sie liebte Rituale, und im Sand zu graben, liebte sie auch. Aber als sie anfing, zermahlene Muscheln und Korallen auf den Kadaver zu ­werfen, ging Ina Aroita erneut dazwischen. Sie schob die Hände in den Brustkorb des verwesenden Vogels und holte zwei Schraubverschlüsse, eine Plastikflasche, eine leere, mindestens fünfzehn Jahre alte Filmdose, ein Einwegfeuerzeug, ­mehrere Meter Nylonschnur und einen Knopf in Form eines Gänse­blümchens heraus.

Sie stopfte den bunten Müll zu den anderen Funden in ihrer Netztasche.

»Nous pouvons faire quelque chose avec ceux-ci.« Wir können daraus etwas machen.

Ina hatte allerdings keine Ahnung, was.

Sie schoben einen runden, glatten Grabhügel zusammen. Hariti wollte das Kopfende mit einem Kreuz markieren, wie die Gräber auf den beiden Friedhöfen der Insel, also bastelten sie eins aus Hibiskuszweigen und steckten es in den Sand. Anschließend schmückten sie den Hügel mit grünen Schneckenhäusern und winzigen gelben Steinen.

»Maman, du musst ein Gebet sprechen.«

Ina überlegte, in welcher Sprache sie beten sollte. Der verwirrte Vogel war womöglich aus der Antarktis hergeflogen, über Australien oder Chile. Sicher hatte er einen Großteil seines Lebens auf dem Wasser verbracht. Ina sprach ein paar Worte auf Tahitisch, weil Französisch ihr unpassend erschien und ihr Englisch und Tuamotuisch für einen Anlass wie diesen nicht reichten.

Keine Viertelstunde nach der Eilbestattung sprang Inas Tochter schon wieder durch die Brandung und las neue Schätze auf, als wäre der Tod durch Plastik nur einer von vielen undurchschaubaren Mythen, so rätselhaft wie der Gott, der sich in einem Ei zusammengekauert hatte, damals, vor dem Anbeginn der Zeit.

Das, woran ich leide, nennen wir Computermenschen Latenz. Ich ziehe mich in die Vergangenheit zurück, ähnlich wie meine Mutter in ihren letzten Jahren. Der Fluch wird nicht in allen Familien weitergegeben, aber in manchen schon. Wer weiß, vielleicht war meine Mutter ebenfalls betroffen. Vielleicht verbarg sich hinter dem tödlichen Unfall eine unentdeckte Krankheit.

Während die letzten Monate und Jahre verschwimmen, gewinnen die prägenden Ereignisse meiner Kindheit an Kontur. Wenn ich die Augen schließe, sehe ich mein erstes eigenes Zimmer unter dem Dach unseres Schlosses in Evanston. Die Details treten deutlicher hervor, als die Erinnerung es eigentlich hergäbe. Ein kleiner Schreibtisch, darauf Haie und Rochen aus Kunststoff. Ein Regal mit Literatur über die Tiefsee. Ein rundes Fischglas voller Guppys und Schwertträger. In der Abstellkammer türmen sich Tauchermasken, Schnorchel, getrocknete Nesseltiere und im Souvenirladen des Shedd Aquarium gekaufte Fossilien von Korallen und Fischen aus dem Devon.

An der Wand über meinem Bett hing ein gerahmter Artikel aus der Chicago Tribune vom 1. Januar 1970: »Die Nummer eins des neuen Jahrzehnts«. Als Kind hatte ich ihn wahrscheinlich Tausende Male gelesen. Das dazugehörige Schwarz-Weiß-Foto zeigte mich, den neugeborenen Todd Keane, der eine Sekunde nach Mitternacht im Saint-Francis-Krankenhaus von Evanston entbunden wurde und nun in kindlichem Staunen in die Kamera blickt. Vielleicht versucht er, das rätselhafte Ding vor seinem Gesicht zu erkennen.

Nummer eins: So nannten meine Eltern mich jahrelang. Weil ich klein war, setzte der Name mich ein wenig unter Druck, doch als Einzelkind nahm ich meinen Titel und mein Geburtsrecht sehr ernst. Ich trug die schwere Last, der erste Mensch zu sein, der die Zukunft erreichen würde.

Aber hier bin ich nun, und ich habe es endlich geschafft.

Meine Mutter wollte ihren makellosen Körper nicht durch eine Schwangerschaft ruinieren, aber mein Vater brauchte jemanden, der ihm zu jeder Tages- und Nachtzeit als Schachgegner zur Verfügung stand. Wie sie die Sache am Ende klärten, ist mir unbekannt. Vielleicht durch Schere, Stein, Papier. Mittels Geschick und Überredung. Mit der Hilfe eines Scheingerichts oder durch eine Pro-und-Kontra-Debatte. Möglicherweise habe ich meine Geburt einem Spielwürfel zu verdanken.

Der Dauerkrieg zwischen den beiden prägte meine gesamte Kindheit. Ihre Auseinandersetzungen wurden ebenso von Lust befeuert wie von Hass. Während der Schlacht setzten sie auf ihre jeweilige Superkraft: mein Vater auf seine Manie, meine Mutter auf die Hinterlist der Unterdrückten. Ich war ein altkluges Kind und hatte spätestens im Alter von vier Jahren begriffen, dass es meinen Eltern bei ihrem Wettstreit darauf ankam, einander möglichst großen Schaden zuzufügen, ohne dass es Tote gab, und dabei empfanden sie einen reinen Schmerz und eine Erregung, wie sie nur der Hass erzeugen kann. So gesehen handelte es sich um eine beidseitige autoerotische Seelenstrangulierung, bei der beide Parteien ebenso großzügig austeilten wie einsteckten.

Mein Vater dachte schnell, so schnell, dass ihn der Rest der Welt zu langweilen schien. Er arbeitete auf dem Parkett der Terminbörse von Chicago, zu einer Zeit, als der Handel noch nicht elektronisch abgewickelt wurde. Er, ein Krieger des Ausrufverfahrens, stand aufrecht in der Mitte des Oktagons, während die Wellen des Kapitalismus aus allen Richtungen auf ihn einbrachen. Er verstand es, die Ängste der anderen im Blick zu behalten und Profit daraus zu schlagen, außerdem unterschied sein Gehirn kaum zwischen Stress und Nervenkitzel. Er behielt stets den Kopf über Wasser, während seine Kollegen dahindümpelten oder absoffen. Allein mit einer Drehung des Handgelenks und einem von wahnwitzigem Gebrüll begleiteten Fingerschnipsen verdiente und verlor er absurde Summen. Seine Großhirnrinde wurde so lange von Neurotransmittern geflutet, dass mein Vater nur noch funktionierte, wenn sein Wohlergehen latent bedroht war – wofür meine Mutter als gute Hausfrau zuverlässig sorgte.

Einen Kick verschafften ihm auch sein getunter Mercedes Cabrio 450 SL, eine Cessna Skyhawk, die auf dem Chicago Midway Airport stand und vorzugsweise bei stürmischem Wetter geflogen wurde, und eine Geliebte mit einer unregis­trierten Smith-&-Wesson-Halbautomatikpistole in einer kleinen Lederhandtasche von Louis Vuitton.

Meine Mutter war eine verkappte Romantikerin. Als sie hinter das Doppelleben meines Vaters kam, engagierte sie einen Privatdetektiv und brachte in Erfahrung, was eigentlich aus dem Jungen geworden war, der sie damals in der New Trier High School so verehrt hatte und der später als Nachwuchsfeldspieler für die Chicago Cubs im Einsatz war. Wie sich ­herausstellte, betrieb er inzwischen ein AMC-Autohaus in Elk Grove. Meine Mutter lieferte sich mit diesem Mann unzählige, quasi öffentliche Szenen, in denen sie Schluss machten oder sich wieder versöhnten; aber im Grunde bettelte sie meinen Vater damit nur an, das Ganze zu unterbinden. Mein lieber Vater schluckte den Köder jedes Mal, wieder und wieder.

Versteh mich bitte nicht falsch. Falls reich zu sein bedeutete, sich mit inkompetenten Eltern abfinden zu müssen, konnte ich das voll und ganz akzeptieren. Ich liebte unseren Reichtum. Meine Trostpreise waren zahlreich und spektakulär. Trotzdem hasste ich meinen Vater dafür, dass er meine Mutter betrog, und ich hasste meine Mutter für den Verrat an mir. Ich war aber noch nicht alt genug, um zu wissen, wie man gute Miene zum bösen Spiel macht. Für mich bestand die Lösung anscheinend darin, einfach an einem anderen Ort zu sein.

Ich fand diesen Ort im Michigansee. Wenn meine Gedanken sich überschlugen und die Zukunft auf mich zugerast kam wie ein Wurfmesser, half nur noch eins: aus meinem Turmfenster zu schauen und mir vorzustellen, ich ginge am Grund des Sees spazieren.

Sobald ich unter Wasser war, klangen die Streitereien plötzlich gedämpft. Ich wusste das aus Erfahrung, von den Sommerferien am Lee Street und Lighthouse Beach. Freund und Feind wurden ebenso flüssig wie stumm und stemmten sich gegen den Widerstand des trägen, blaugrün schimmernden Wassers. Am Grund des Sees gab es keine Menschen. Einen besseren Ort zum leben konnte ich mir nicht vorstellen.

In Big Sky verletzte mein Vater sich beim Skifahren mit seiner Geliebten den Rücken. Er entkam nur knapp einer Querschnittslähmung. Der Schmerz war unerträglich, er musste sofort operiert werden. Meine Mutter nahm mich mit nach Montana, und dort bekam ich ihn zu sehen, wie ich ihn nie gesehen hatte, niedergestreckt und beinahe nachgiebig. Sie sahen einander verträumt an und hielten Händchen, zusammengeschweißt von der Katastrophe, der sie nur knapp entronnen waren. Doch sobald die Intensivschwester den Raum verließ, gingen sie einander an die Gurgel.

»Du hast mir erzählt, du wärst auf einem Kongress in New York.«

»Wie leichtgläubig du bist! Was will ein Börsenmakler aus Chicago auf einem New Yorker Kongress?«

Als könnte ich sie nicht hören, flüsterte sie: »Du bist das letzte Stück Scheiße und ich werde die Scheidung einreichen.«

»Zu spät!« Das Oxycodon ließ seine Augen leuchten und tanzen. »Meine Anwälte haben das schon erledigt.«

Meine Mutter schnappte nach Luft und krümmte sich vornüber. Gegen einen Börsenmakler kann man beim Pokern nicht gewinnen, insbesondere dann nicht, wenn ihm Sieg und Niederlage egal sind. Meinem Vater kam es allein darauf an, einen weiteren Punkt zu erspielen.

Er legte ihr seinen unversehrten Arm um die Taille. »Ich liebe dich«, sagte er. »Du würdest mir einfach alles glauben.«

Sie hörten niemals auf, einander mit Scheidung zu drohen. An einem Abend im Juni saß die fünfjährige Nummer eins mit eingezogenem Kopf am Kinderschreibtisch im Turmzimmer, während das Geschrei aus der Küche durch alle Etagen drang. Die Stimme meines Vaters war so volltönend wie die eines Nachrichtensprechers. »Du Schlampe! Ich kann es gar nicht erwarten, endlich frei zu sein!« Meine Mutter schnaubte. »Frei? Du blöder Idiot. Du kriegst Toddy, er war deine Idee.« Noch mehr Gebrüll, dann Stille, zuletzt ein leises Winseln wie von einem Tier, das um Futter bettelt.

Ich sah auf den See hinaus und ging, wie ich es inzwischen gelernt hatte, ins Wasser. Am Grund des grünen, gedämpften Zauberreichs lief ich bis nach Michigan, das ich mir als Land der Dünen und des Strandhafers vorstellte.

Im selben Sommer verendeten die Flussheringe. An den Stränden der Stadt lagen Hunderttausende verwesende Fische. Mit leichter Verzögerung wurde mir etwas bewusst: Wenn ich unter Wasser zum Nachbarstaat hinüberlief, würde ich den See, auch wenn seine Oberfläche diesen Eindruck vermittelte, nicht unbewohnt vorfinden. Dort unten wimmelte es von Leben. Zuerst erschrak ich, aber nach einer Weile war ich begeistert. Als ich das nächste Mal über den Boden des Sees nach Michigan ging, durchquerte ich Schwärme von Fischen, und alle kamen auf mich zugeschwommen und bestaunten mich wie ein Weltwunder.

Vergiss also eins nicht: Trotz der vielen Hundert Stunden Videomaterial, trotz zahlloser Interviews, zweier Biografien (nur eine davon autorisiert), Hunderttausender Internetseiten und Texte über mich und meine Firma, trotz der Millionen von E-Mails, Textnachrichten und Gesprächsprotokollen, der endlosen digitalen Krumen eines im Goldfischglas der Öffentlichkeit geführten Lebens und trotz allem, was die Daten dir weismachen wollen, ergibt das Puzzle meines Lebens ohne dieses letzte Teilchen keinen Sinn.

Es ist nur eine schlichte, kleine Tatsache, über die ich aber bis heute mit niemandem je gesprochen habe.

Als ich jung war, konnte ich unter Wasser atmen.

Später packten Ina und Hariti ihre Schätze aus. In der Mittagssonne sortierten sie die Fundstücke nach Farben, und dann legten sie sie vor dem Haus in einer langen Reihe am Rand des Ziegelpfads aus. Ina sammelte die Filmdose, das Feuerzeug und den restlichen menschengemachten Plunder ein und warf ihn in einen Eimer, der etwas abseits auf der ­Veranda stand.

Der menschengemachte Plunder war hässlich. Er hatte einen Vogel getötet. Allein von seinem Anblick wurde Ina schlecht. Aber wegwerfen konnte sie ihn auch nicht. Denn wo hätte sie ihn entsorgen können, wo die Flut ihn nicht mit sich reißen und er weiter töten würde?

Afa kam heraus und begutachtete ihr Werk, aber die bunten Plastikteile faszinierten ihn am meisten. Sie zogen Inas Sohn stärker an als die Muscheln und die Steine. Immer wieder berührte er den Giftmüll und fragte: »Das habt ihr gefunden? In einem Vogel? Innendrin?«

Er wollte das alles haben. Zusammen mit seinem Vater könnte er Figuren für alle möglichen Spiele basteln. Immer wieder platzte er heraus: Darf ich, darf ich, darf ich …?

»Nein, mon ange. Ich brauche das noch.«

»Wofür?«

Ina hatte keine Ahnung. Der Plastikmüll lag in der Sonne und wartete darauf, dass sie über sein Schicksal entschied. Die Ungeduld, die er verströmte, machte sie wütend. Sie wollte ihn bestrafen. Vor ihrem geistigen Auge sah sie, wie eine Albatrosmutter die Plastikstücke auswürgte und ihren Küken in den Schnabel stopfte.

___

In der Nacht besuchte Māui sie im Traum. Welcher Māui es war – der hawaiianische, der aus Tahiti, der māorische, der samoanische, der tongaische, der Feuerdieb, der Sonnen­zähmer, der Schöpfer des magischen Angelhakens oder der wurmgleiche Göttinnenvergewaltiger –, wusste sie nicht genau. Es war peinlich. Sie wollte dem Gott nicht erklären, dass sie nicht an ihn glaubte und dass er hier eigentlich nichts zu suchen hatte.

Wie in jedem Traum nahmen die Ereignisse einen selt­samen Verlauf. Die Ordnung des Existierenden verschwand in den schaukelnden Wedeln hoher Kokospalmen. Was geschah, hatte möglicherweise mit Sex zu tun. Körper wurden wie Kopra in ihre älteste, ursprüngliche Form zurückgepresst.

Ina wachte keuchend auf.

Sie hörte ihren Mann sagen: »Alles okay. Du bist wach.« Sie verstand nicht, wieso das eine sich aus dem anderen ergeben sollte. Während sie da im Dunkeln lagen und einander an den Schultern hielten, spürten sie die Ironie, sprachen sie aber nicht aus: Seit Langem war es ihre Aufgabe, ihn aus seinen Albträumen zu wecken.

Rafi hätte zu gern erfahren, wovor Ina sich nachts fürchtete, aber er fragte nicht. Sie liebte ihn dafür; er konnte sie lieben, gegen seine eigenen Ängste ankämpfen und sie in Ruhe dasselbe tun lassen.

Seine Hände zeichneten langsame Spiralen auf ihren Rücken, als wollte er sie tätowieren. »Alles in Ordnung?«

Nichts war in Ordnung. Sie hatte keine Lust, abermals in Bewusstlosigkeit zu versinken, doch von dem Albtraum erzählen, wollte sie genauso wenig. Was würde ihr Mann über den Trickster denken, der sie nachts in ihren Träumen überfiel?

»Die Götter belästigen mich, aus unerfindlichem Grund.«

»Hey, so sind sie manchmal.«

Sie stieß ihm einen Ellenbogen in die Seite, aber seine spitzen, viel zu tastbaren Rippen erinnerten sie an den Vogel, und auf einmal war die Vorstellung, ihr dünner schwarzer Mann könnte buntes Plastik verschluckt haben, noch schlimmer als der Albtraum.

Er kehrte ihr den Rücken zu, zog die Knie an und war nach wenigen Minuten wieder eingeschlafen. Sie klammerte sich an seine Schultern, als wäre er eine Lederschildkröte – die Tiere waren länger, als ihr Mann groß war –, die sie übers Wasser trägt, Tausende Meilen durch den Archipel und weit hinaus auf das offene Meer.

Einmal hatte sie gelesen, eine Lederschildkröte müsse ständig weinen, acht Liter pro Stunde, nur damit ihr Blut nicht salziger wird als der Ozean.

Ich hatte gerade erst Zähne bekommen, als mein Vater mir das erste Brettspiel zeigte. Er würfelte und zog für mich, und unsere Figuren bewegten sich gen Himmel oder fielen willkürlich in die Hölle hinunter. Mir das Spiel beizubringen, lange bevor ich das entsprechende Alter erreicht hatte, war ein kleines Manöver einer umfassenden, auf lange Sicht angelegten Strategie. Er bereitete mich auf die wahren Herausforderungen vor. Eines Tages würde ich ihm ein ernst zu nehmender Gegner sein, später, in den langen und trostlosen Stunden, wenn die Börse geschlossen hatte.

Auf das Leiterspiel folgtenMensch ärgere Dich nichtund Pachisi, und danach erreichten wir den ersten Meilenstein:Backgammon. Nimm die zwei Würfel, führe deine Steine einmal im Kreis herum und bring sie schnell nach Hause – das schaffte selbst ein stiller, kleiner Junge wie ich.

Das Spiel war fünftausend Jahre alt, mein Vater siebenunddreißig. Er hielt sich für einen starken Spieler und in den ersten fünfzig Partien machte er mich fertig. Er half mir nur selten mit einem Fingerzeig aus, denn sein großer Plan sah vor, dass ich selbstständig lernte und eines Tages so clever wäre wie er, der in kürzester Zeit ganze Vermögen verdiente und verlor. Mich zappeln zu lassen, war in seinen Augen die perfekte Ausbildung.

Nach einer besonders schmerzhaften Niederlage stieg ich schluchzend die Treppe zu meinem Turmzimmer hoch. Als meine Mutter sich einmischte und mich verteidigen wollte, stellte er ihre Charakterstärke ebenso auf die Probe wie kurz zuvor meine. Dass meine Mutter und ich uns immer wieder gegen ihn zusammentaten, fand ich erstaunlich. Aber in Wahrheit hatte ich längst begonnen, die Dinge zu durchschauen.

Ich hatte keine Halluzinationen – noch nicht. Die würden erst Jahre später kommen. Trotzdem standen mir lebendige, veränderliche Muster vor Augen. Auf einmal ähnelten die Backgammonwürfel einem Wesen aus Zeit. Sie waren an beiden Enden verjüngt und in der Mitte dicker, fast wie die Zeichnung des Kleinen Prinzen von der Schlange, die einen Elefanten verschluckt hat. Es gab jeweils eine Möglichkeit, eine Zwei oder eine Zwölf zu würfeln, aber sechs für die Sieben. Der Schöpfer der Welt flüsterte mir das Geheimnis zu, und ab da veränderte sich alles.

Ab dem Moment war das Brett ein wimmelnder Bienenkorb, und die Lage der Fallgruben und Auswege wechselte mit jedem Zug. Die vierundzwanzig Stationen der Route begannen vor Plänen zu vibrieren, wie Kinder, die auf einem Spielplatz um die Macht wetteifern. Auf einmal offenbarten sich mir völlig neue Wege, meine Steine in Sicherheit zu bringen. Ich verzichtete auf einen schnellen Gewinn und entschied mich stattdessen für Züge, die womöglich zu noch besseren Zügen führten. Und die allerbesten Züge waren jene, die die Gewinnchancen meines Vaters verschlechterten.

An einem Samstag im Juli gewann ich zum ersten Mal. Wir spielten auf seinem Boot, einer Flicka 20, die mit gerafftem Segel eine halbe Meile nordöstlich vor dem Hafen von Wilmette dahindümpelte. Damals gab es noch keine Mobiltelefone, und Backgammon mit seinem Sohn zu spielen und dabei zu segeln, zu lesen und ein Spiel der Cubs im Radio zu verfolgen, bedeutete für meinen Vater ein Maximum an Freizeit und Erholung. Als ich meine Steine einsammelte, lange bevor er seine auch nur in die eigene Hälfte gebracht hatte, ließ er das Buch sinken und schaltete das Radio aus. Aber es war zu spät. Er konnte die Würfel verfluchen, soviel er wollte, er würde mich nicht mehr einholen.

»Noch mal«, sagte er. »Los geht’s.«

Und dann, durch anhaltendes Glück und durch meine neu erworbene Fähigkeit, die veränderlichen Muster auf dem Spielbrett zu erkennen, schlug ich meinen Vater, obwohl er sich anstrengte.

Ich dachte, er würde mit mir schimpfen. Weit gefehlt. »Fünf Runden«, sagte er, »und wenn du gewinnst, gehen wir zu Kroch’s and Brentano’s und du darfst dir ein Buch aus­suchen.«

Mein Vater konzentrierte sich. Er gewann zwei Partien. Ich hatte nicht den Hauch einer Chance.

In der fünften Runde beförderte er mich vom Himmel in die Hölle, wie damals beim Leiterspiel. Ich wünschte mir das versprochene Buch so sehr, dass meine Hände zitterten und ich fast schon fühlen konnte, wie mir der Hauptpreis entglitt. Plötzlich schienen die Muster auf dem Brett dem Zufall zu gehorchen und meine Züge wurden so unberechenbar wie die Würfel.

Ich sprang über Bord und ließ mich auf den Grund des Sees sinken. Dort unten, im trüben Bauch des dunklen Wassers, fanden mich meine Freunde, die Fische. Sie trugen mich zu einem verlangsamten Ort viele Meilen unter dem Bootsrumpf, weit unterhalb von Hoffnung und Angst, wo es nach Sand und Algen roch. Sie zeigten mir Züge, und jeder einzelne war perfekt.

Ich spielte weiter, führte einen vorgegebenen Zug nach dem anderen aus, und als die Würfel zum letzten Mal rollten, zuckte mein Vater zurück wie nach einem Schlag. Doch noch während er seine Verluste abschätzte, begann er zu strahlen.

»Wir fahren gleich morgen früh in die Buchhandlung. Und morgen Nachmittag verlierst du in Dame.«

Während er das Boot zurück in den Jachthafen steuerte, sang er Seemannslieder. Meine Fische schwiegen.

Ein Viertel der Welt leidet an Schlaflosigkeit. Was bedeutet, dass in der Nacht, als Ina nicht schlafen konnte, ungefähr zwanzig Menschen auf Makatea wach lagen. Vielleicht noch weniger, schließlich ist die Insel klein. Sie liegt viertausend Meilen von dem nächsten bewohnbaren Kontinent entfernt. Eigentlich sollte das ruhig genug sein, und ein Gerät, das weißes Rauschen erzeugt, braucht man hier auch nicht; die Brandung ist von fast überall zu hören.

Gehen wir also von einem Dutzend rastloser Seelen aus, die vergeblich auf Schlaf warteten. Zweiundachtzig Menschen auf einer Insel von der halben Fläche Manhattans, und zwölf davon waren wach.

Ina Aroita wälzte sich stundenlang und kämpfte mit dem verschlagenen Māui.

Puoro und Patrice, die beiden unzertrennlichen Fischer, die gemeinsam ein sechs Meter langes Boot besaßen, hofften draußen vor der Westküste der Insel auf einen reichen Fang.

Wen Lai, der Inhaber des einzigen Ladens auf Makatea, las unvernünftigerweise und bis in den frühen Morgen einen ziegel­steindicken Scifi-Wälzer. Er war versessen darauf, zu erfahren, was passiert, wenn die Aliens Halluzinationen in die Köpfe der Erdlinge projizieren.

Wie in den meisten Nächten setzten ein paar Krebsjäger mit zu schwachen Taschenlampen ihr Leben aufs Spiel, um oben auf dem Plateau ein paar kaveu – Palmendiebe – zu fangen. Im Zickzack kletterten sie über die tückischen Zinnen und Spalten des Kalksteins, der sich der Länge nach über die Insel zog wie eine Narbe. Einige der Trampelpfade waren nicht einmal halb so breit wie die Flip-Flops der Krebsjäger; jeder Fehltritt würde den Tod bedeuten.

Tamatoa, der Einsiedler in der Geisterstadt Tahiva am Südzipfel der Insel, wehrte sich gegen den Schlaf. Sein Motto hatte er mit roter Pflanzenfarbe an die Wand seiner Hütte gekritzelt: wach oder tot! Er schlief nie, und falls doch, bemerkte er es nicht. Schon gar nicht schlief er nachts, wusste er doch, dass die Nacht dem Tag überlegen und sehr viel ­interessanter war. Nachts folgte auf jede Regung des Ozeans eine Explosion aus blauem Licht.

Der Bürgermeister und tāvana von Makatea, Didier Turi, lag im Bett und wurde von Sorgen wach gehalten. Le Maire hatte kürzlich etwas über die Zukunft der Insel erfahren, von dem die übrigen einundachtzig Bewohner noch nichts ahnten. Dies war der Preis seines Amtes und er steigerte die Unruhe in Didiers Beinen zu einem Ganzkörper-Workout.

Seine Frau Roti war vor seinen Zuckungen in das Bett auf dem Sonnendeck geflüchtet. Nun hatte Didier die breite Kapok­matratze für sich allein und konnte sie als Ein-Mann-Fußballfeld für Rückpässe und zum Betonanrühren nutzen. Draußen auf dem Deck schlief Roti tief und fest. Im Ausweichbett kam sie besser zur Ruhe als neben ihrem zappelnden Mann.

Vor einigen Jahrzehnten hatten dreitausend Menschen auf der Insel gelebt. Im Laufe eines Menschenalters waren aus den dreitausend zweiundachtzig geworden. Es war, als hätte sich die Weltbevölkerung über Nacht auf den Stand reduziert, auf dem sie war, als die Europäer das Joch einführten und die Araber von den Chinesen die Papierherstellung lernten. Zweiundachtzig unnachgiebige Überlebende, und zwölf davon konnten nicht schlafen.

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Während er neben Ina unter dem Moskitonetz lag, träumte Rafi Young seinen vierthäufigsten Albtraum. Wieder einmal stand ihm der erste Tag in der Grundschule bevor, wie schon Tausende Male im Leben. Sein Vater, ein Feuerwehrmann aus Chicago, wollte ihn zu Fuß hinschicken. Seine Mutter war der Meinung, der Bus sei sicherer. Rafi stand am Kopf der Treppe und sah, wie sein Vater auf seine Mutter losging. Verdammt noch mal, Frau. Wir sind hier nicht in K-Town. Mein Sohn soll lernen, durch sein Viertel zu laufen.

Sondra Young kaufte Rafi eine Mütze in einem knalligen Orange und eine farblich passende Jacke, damit sie ihren Jungen vom Fenster ihres niedrigen Reihenhauses – ihr Vermieter war die Chicago Housing Authority – an der Ecke Fifteenth und Ashland aus erkennen und verfolgen konnte, wie er die vier Blocks zur Joseph Medill Elementary School zurücklegte. Knallorange: Sie hatte ihn immer im Blick, so wie die Schläger seiner Schule.

Sie hatte ihn nur beschützen wollen. Aber als Rafi in der Schule ankam – selbst noch im fortgeschrittenen Erwachsenenalter empfand er die Strecke, die er mehrmals im Jahr ­gehen musste, als Spießrutenlauf –, machten sich die Kinder von der Medill gnadenlos über seine Jacke lustig. Sie übergossen ihn mit Hass und Verachtung, bis er in Tränen ausbrach und sein Ruf für immer zerstört war.

In dem Albtraum wirft er Jacke und Mütze nach dem Unterricht in einen Müllcontainer hinter der Schule, genau wie damals vor Jahrzehnten im echten Leben. Mit den Scherben einer zerbrochenen Bourbonflasche fügte er sich fünf Schnittwunden an den Unterarmen zu, und dann ging er nach Hause und erzählte seiner Mutter, irgendwelche Kinder hätten ihm die Jacke gestohlen und ihn schlimm verprügelt.

Der Traum wich nicht groß von dem ab, was damals passiert war. Rafi und seine Schwester saßen oben im Kinderzimmer, während das Geschrei ihrer Eltern durch die Dielen drang. Mutter und Vater gaben sich gegenseitig die Schuld an der Katastrophe, und seine kleine Schwester bettelte: Mach, dass sie aufhören, Rahrah. Sie sollen aufhören.

Doch er hatte den Versuch schon vor langer Zeit aufgegeben. Der Traum war seit Jahrzehnten eine Übung im stillen Erdulden dessen, was niemals aufhört. Im Albtraum wie im richtigen Leben schlug der Vater die Mutter, weil er es gut mit ihr meinte. Der Traum endete damit, dass die Schläge den verschreckten Erstklässler aufweckten und in die eigene Vater­rolle zurückkatapultierten.

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Doch zurück in den Traum und noch weiter: Als Rafis Vater am darauffolgenden Morgen die nächste Vierundzwanzigstundenschicht im Löschzug 44, Truck 36 der Feuerwache von East Garfield Park antrat, packte Sondra Young ihren Sohn Rafi und die kleine Sondy ins Auto und fuhr zu einer Freundin in der South Morgan Street, bei der sie bis zur Scheidung wohnen würden. Dort wurde Rafi Young zunehmend bewusst, dass er seine Familie zerstört und seine und ihre Zukunft ruiniert hatte. Die Lektion war simpel und wurde durch lebenslanges Lernen noch bestätigt: Alles, was den Youngs später widerfuhr, ein halbes Jahrhundert aus Schmerz und Leid, hatte seinen Ursprung in einer einzigen, kleinen Lüge.

Doch mit den Jahren träumte Rafi den Traum immer seltener. Inzwischen war er promovierter Erziehungswissenschaftler und half an der Schule auf Makatea aus, wo er in seinem rudimentären Französisch die neun schulpflichtigen Kinder der Insel unterrichtete. Wie so viele Leute in Französisch-Polynesien war er glücklich, aber unterbeschäftigt. Streit mit seinem Sohn hatte er nur, wenn er ihm wieder einmal verbot, nachts auf den Felsen der alten Phosphatmine Krebse zu fangen. Auf der Leiter der psychischen Traumata erschien das wie ein Schritt in die richtige Richtung. Trotz der Lektionen, die das Leben ihn gelehrt hatte, glaubte Rafi Young hin und wieder immer noch, dass Inseln Menschen heilen können.

Aber in dieser Nacht hatte Inas Albtraum sein persönliches Trauma reaktiviert. Während seine Frau sich in der Dunkelheit von hinten an ihn klammerte, träumte Rafi den gewohnten Ablauf seines ersten Schultags. Die knallorange Mütze, die Jacke. Die Selbstorganisation von Erstklässlergewalt. Die Schnitte an den Armen, die dumme Lüge. Das Flehen seiner Schwester. Die brutale Reaktion seines Vaters. Und zu seinen Füßen: die zerstörte Familie.

Aber diesmal konnte ein Teil seines schlafenden Hirns nicht anders, als über das Bilderbuchdrama zu schmunzeln.

Bei der Auswahl meines Hauptgewinns lief ich so lange durch die gesamte Buchhandlung, bis mein Vater schließlich die Geduld verlor. »Gut, das reicht. Such dir eins aus. Entscheide dich.«

Aber das war ja gerade das Problem. Wie sollte ich das richtige Buch auswählen, wenn jedes in dem Geschäft das richtige sein konnte? Es gab Tausende. Zehntausende. Ich drehte eine weitere Runde durch beide Etagen von Chicagos bester Filialbuchhandlung.

»Fünf Minuten«, sagte mein Vater. »Dann suche ich eins aus.«

Vor dem naturwissenschaftlichen Regal in der Jugendbuchabteilung fiel mein Blick auf einen türkisblauen Buch­rücken mit schimmernden Lettern:ganz klar der ozean. Ich schlug das Buch auf und war bestürzt. Die Buchstaben waren kleiner und standen enger, als mir lieb war. Aber die Fotos des surrealen Meereslebens fand ich unglaublich, und ich verspürte sofort den Impuls, sie zu besitzen.

Die Rückseite des Buches zeigte das Bild einer dünnen Frau mit langen roten Haaren und einer Tauchermaske im strahlenden Gesicht. Noch nie hatte ich einen erwachsenen Menschen gesehen, der so erfüllt wirkte. Nach diesem flüchtigen Blick auf die Autorin war ich so verliebt, wie es nur ein Zehnjähriger sein kann.

Mein Vater runzelte die Stirn. »Bist du dir sicher?«

Ich war mir sicher.

»Sicher, dass du dir sicher bist?« Er machte eine ausladende Geste und deutete auf die kostbaren Schätze, die mir entgehen würden.

Ich war mir sicher. Die Autorin auf dem Foto war sich sicher. Alle Fische in allen Seen und Meeren waren sich sicher. Dieses Buch war ganz eindeutig für mich bestimmt.

Ich las jeden Tag, zwei Wochen lang. Wenn ich bei der letzten Seite angelangt war, fing ich das Buch wieder von vorn an. In meinem Kopf setzten sich endlose Experimente in Gang. Auf jeder neuen Seite wurde ein unfassbar großes und unbeschreiblich bizarres Unterwasseruniversum zum Leben erweckt. ­Jeder neue Satz war ein schwarzblaues Rätsel, bevölkert von Wesen, die mir fantastischer erschienen als jedes Monster aus einem Dungeon-Rollenspiel.

Dreißigtausend Fischarten. Tiere, deren Gesicht während ihres Wachstums über den Körper wandert. Gespensterfische mit transparentem Kopf, deren Gehirn zu sehen ist. Fische, die sich vom Männchen zum Weibchen verwandeln können. Denen Angelruten aus dem Kopf wachsen. Die im Körper eines anderen Tieres wohnen.

Das Buch beharrte jedoch darauf, dass selbst der merkwürdigste Fisch, verglichen mit den anderen Wesen dort unten, eng mit mir verwandt sei. Im Ozean wimmelte es nur von ursprüng­lichem Leben, von Monstern, die in der ältesten Hintergasse der Evolution zurückgeblieben waren, von ringförmigen, schlauchförmigen, unförmigen, unmöglichen Hy­briden aus Tier und Pflanze ohne Existenzrecht, Tiere so unglaubwürdig, dass ich mich fragen musste, ob meine geliebte Autorin sie vielleicht erfunden hatte.

Evanston war nichts. Chicago war nichts. Illinois und sogar die USA waren ein Witz. Es gab eine vollkommen andere Art, am Leben zu sein, und Verhaltensweisen aus einer fremden, von einem außerirdischen Gott zusammenfantasierten Galaxie. Die Welt war größer, seltsamer, reicher und wilder als alles, was ich erwarten durfte. Das Trauma von Keane Castle verblasste. Das Leben an Land konnte mir nichts mehr anhaben.

Im Buch war immer wieder die große, rothaarige Autorin abgebildet, wie sie im Taucheranzug ein Schiffsdeck zierte oder mit Delfinen und riesigen Rochen herumtollte. Sie hatte mehr Abenteuer erlebt als jeder Superheld; sie hatte mit Haien Zwiesprache gehalten und am Grund des Pazifiks die Wracks von Panzerkreuzern kartiert. Sie war frei und furchtlos, und ihre Tauchgänge lösten in meinem zehnjährigen Körper seltsame, kribbelnde Schauder aus. Sie auf ihren Expeditionen zu sehen, erfüllte mich mit einer glücklichen Beklemmung, Vorbotin eines Gefühls, von dessen Existenz ich nichts gewusst hatte. Wenn ich ihre Worte las, hatte ich den Eindruck, dass uns allen demnächst etwas unaussprechlich Schönes passieren würde. Ich liebte diese schlaksige Entdeckerin mehr als meine eigene Mutter, auf eine rudimentäre, unverständliche Weise. Sie war meine erste wahre, tiefe, allumfassende Liebe.

Ich sparte Zehncentmünzen, bis ich eine zweite Ausgabe desselben Buches kaufen konnte. Ich schnitt die Fotos aus und hängte sie überall in meinem Zimmer auf, wobei die Wand über dem Schreibtisch den Porträts der Autorin vorbehalten war. Ich wollte alles von ihr lesen, jedes einzelne Wort, und es brach mir das Herz zu erfahren, dass sie nur dieses eine Buch geschrieben hatte. Doch immerhin hatte ich es nun, und ich hatte den Ozean. Fortan gab es für mich nichts anderes mehr als diese endlos erfinderische, unermessliche Tiefe.

Aus der Schulbücherei und dem Bücherbus unseres Viertels lieh ich mir jedes verfügbare Buch über die Weltmeere aus. In der öffentlichen Bibliothek von Evanston las ich alle Bücher ab Katalognummer 551.46. Bücher, die ich noch nicht verstehen konnte, lieh ich aus, nur um mit dem Finger über die rätselhaften Wörter zu fahren. Ich studierte Diagramme und Querschnitte. Ich fragte mich selbst zu den verschiedenen Korallenarten ab und lernte auswendig, welche Lebewesen in welcher Tiefe vorkamen. Ich prägte mir die Namen von einem Dutzend Schwämmen ein und machte mir, obwohl ich ihre Namen kaum aussprechen konnte, den Unterschied zwischen Nesseltieren und Echinodermen bewusst.

Ich schwor, mein restliches Leben so zu verbringen wie meine große Liebe. Ich würde mich dem Meer hingeben, jener Wildnis, die das Festland auf eine Fußnote reduzierte. Ich würde auf allen Längengraden tauchen und in alle Tiefen absteigen, und überall würde ich neue, unvorstellbare Lebensformen entdecken.

In der vierten Klasse sollten wir für Mrs. Haga in drei Absätzen zusammenfassen, was wir später einmal werden wollten. Ich schrieb über alles, was ich tun würde, wenn die Welt erst einen Ozeanografen aus mir gemacht hatte. Ich buchstabierte die Berufsbezeichnung falsch, bekam aber trotzdem eine Eins. Meine Lehrerin kreiste die Note ein und schrieb da­runter: Von dir kann ich noch etwas lernen! Es war der stolzeste Moment meiner gesamten Schulzeit.

Mein Vater nannte mich Wasserjunge, als hätte ich mich willentlich zum armseligsten Kind entwickelt, das er hätte zeugen können. Wenn ich ihm wieder einmal von irgend­einem neuen haarsträubenden Wesen erzählte, schüttelte er nur den Kopf: »Wessen Sohn bist du eigentlich?«

Das hätte ich auch gern gewusst.

Ich bin jetzt siebenundfünfzig Jahre alt. Mit meinem Ver­mögen gehöre ich ins obere Fünfhundertstel des oberen Prozents. Ich habe bei null angefangen und eine Plattform gegründet, die am Ende eine Milliarde aktive Nutzer hatte. Eins meiner früheren Unternehmen wird demnächst einen Durchbruch öffentlich machen, der für eine ahnungslose Menschheit den vierten und möglicherweise letzten Akt einläuten wird. Was fehlt mir noch im Leben?

Die Antwort ist ganz einfach: eine Seebestattung.

Makateas Felsen ragten steil aus den Wellen auf. Das Inselplateau schwebte siebzig Meter über einem schmalen Streifen Strand, umgeben von einem Ring aus seichtem, azurblauem Wasser. Keine einzige der achtzig flachen Inseln der Tuamotus ähnelte dieser. Im ganzen Pazifik gab es nur zehn dieser erhöhten Sockel, und Makatea war von allen der höchste.

Angefangen hatte er als äonenlang unter der Wasseroberfläche versteckter Tafelberg. Für fünfzig Millionen Jahre war er von winzigen, sackartigen Tieren bewohnt gewesen, die partnerschaftlich mit Dinoflagellaten zusammenlebten und kilometerbreite Unterwasserstädte bauten. Die Kalkstein­behausungen der Korallen wuchsen über dem Berg in die Höhe, bis sie schließlich als Atoll die Meeresoberfläche durchbrachen.

Für weitere fünfzig Millionen Jahre ernährte das Sonnenlicht Matten aus Cyanobakterien, die in den flachen Becken der tiergemachten Insel lagen. Die von ihnen gesammelte Energie floss in alle Unternehmungen des Lebens ein. Bei einem dieser Vorgänge zogen die Bakterien das Phosphat aus dem Salzwasser und lagerten es in ihre Zellen ein, und wenn die Zellen starben, blieb das Phosphat in den Becken zurück.

Hundertfünfzig Meilen weiter südwestlich brachen die Vulkane aus und würgten die Inseln Moorea und Tahiti he­rauf. Das unvermittelte Gewicht der neuen Landmasse krachte auf den Meeresboden wie ein Hammer beim Hau den Lukas auf einem Jahrmarkt; der Boden wölbte sich und drückte das zackige Atoll von Makatea in die Höhe.

Während eines zwei Millionen Jahre währenden Tropen­regens löste sich eine viele Meter dicke Schicht aus Kalkstein und Korallenskeletten auf, anders als das Phosphat, das sich zu dichten Krusten zusammenschloss und den schwindenden Sockel der Insel aderngleich mit einer Substanz durchzog, die der Mensch irgendwann brauchen würde.

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Makateas Schicksal wurde 1896 in Stein gemeißelt, wenige Jahre nachdem Frankreich die Insel annektiert und in sein wachsendes pazifisches Imperium eingegliedert hatte. Im selben Jahr komponierte Sousa für eine Nation, die sich gerade dem Prinzip der sogenannten Rassentrennung verschrieben hatte, den Marsch »The Stars and Stripes Forever«. Daimler baute den ersten Laster, Röntgen fertigte die erste Aufnahme an, Puccinis La Bohème feierte Uraufführung und der zukünftige Nobelpreisträger Svante Arrhenius legte in einem wissenschaftlichen Aufsatz dar, wie die steigenden Kohlen­dioxidemissionen die Atmosphäre des Planeten zum Kochen bringen würden.

Und zweitausendfünfhundert Meilen nordöstlich von Sydney legte ein Schiff namens Lady M, das unter der Flagge der Pacific Islands Company segelte, einen kurzen Stopp am Nauru-Atoll ein. Auf Nauru entdeckte der Ladungsexperte des Schiffs, ein Mann namens Denson, sonderbare Felsen, die er irrtümlich für versteinertes Holz hielt. Er steckte einen Brocken davon ein und überlegte sich, später Murmeln für seine Kinder daraus zu schnitzen. Das Murmelspiel hatte zu jener Zeit an Popularität gewonnen und Denson und seine Kinder liebten es sehr.

Aber stattdessen endete Densons eigenartiger Stein in Sydney als Türstopper in der Niederlassung der Pacific Islands Company. Drei Jahre lag er dort herum, ein Klumpen Rheingold vor aller Augen. Eines Tages kam Albert Ellis nach Sydney, ein Goldsucher in Diensten der Company. Er bemerkte den Türstopper sofort und schickte ihn zur Analyse ein. Kurz zuvor war zweitausend Meilen südwestlich von Hawaii Phosphatgestein auf Baker Island entdeckt worden. Ellis vermutete, dass es da draußen noch mehr von dem magischen Stein geben könnte, willkürlich in den Felsformationen verteilt wie winzige Punkte auf der riesigen, leeren Seite namens Pazifik.

Die Ergebnisse der Analyse kamen zurück. Ellis hatte mit seiner Vermutung richtiggelegen. Der seltsame Türstopper enthielt jene Substanz, die inzwischen die Welt ernährte.

Phosphat wurde zur Herstellung von allem Möglichen gebraucht: Waschmittel, Baustoffe, Munition. Doch vor allem seine Wirkung auf den Äckern hatte die Welt verändert. Kein Dünger kam an diesen heran. Phosphat sorgte dafür, dass die Ernteerträge überall in die Höhe schossen. Ohne Phosphat drohte der Zivilisation eine malthusische Katastrophe.

Die Pacific Islands Company konnte die Herkunft des Türstoppers bis nach Nauru zurückverfolgen. Über Nacht verwandelte sich ein Haufen Fliegendreck in wertvollen Grundbesitz. Nauru wurde zu einer Gelddruckerei, obwohl die Einwohner wenig vom Profit sahen. Auch auf der nicht weit entfernten Insel Banaba gab es Phosphatvorkommen. Die Jagd nach dem Gestein, das die Welt ernähren sollte, wurde südlich des Äquators auf ein dreitausendzweihundert Meilen breites Gebiet ausgeweitet, bis man auf eine dritte große Ader stieß. Und genau dort, mitten im Pazifik, lag Makatea, weiter von Nauru entfernt als San Diego von Montreal.

Makatea hatte Riffe, hohe Klippen, spektakuläre Höhlen und unterirdische Quellen. Es wimmelte dort von Insekten, Schnecken, Fischen und Vögeln, darunter auch Arten, die nirgendwo sonst auf der Welt vorkamen. Es gab Trinkwasser im Überfluss, auch das war im Pazifik eine Seltenheit. In den unberührten Urwäldern lebten massenweise Palmendiebe, die größten wirbellosen Landtiere der Welt, eine Delikatesse, die dem Hummer in nichts nachstand. Doch der Phosphatgürtel, der sich einmal diagonal über die Insel erstreckte, stellte all diese Naturgaben in den Schatten und bedeutete ihr Verhängnis.

Als das fremde Firmenkonglomerat im Jahr 1911 anlandete, um sich das magische Gestein zu holen, lebten auf der Insel zweihundertfünfzig Menschen. Die Einheimischen nahmen die Popa’ā in Empfang und ahnten nicht, dass es sich um Invasoren handelte. Die Europäer versprachen ihnen einen Franc für jede zerstörte Kokospalme, zwei Francs für einen gefällten Brotbaum und einen Franc für tausend Kilogramm abtransportiertes Phosphatgestein.

Nur wenige Insulaner wollten für die Popa’ā arbeiten. Sie mochten ihr Leben und fanden die neue Schufterei barbarisch. Die Weißen würden sich anderswo nach Bergleuten umsehen müssen. So kamen unzählige japanische Tagelöhner auf die Insel, gefolgt von Hunderten weiteren aus China, Vietnam und von Inseln überall im Pazifik. Schon bald hatte die Compagnie Française des Phosphates de l’Océanie Tausende Minenarbeiter angeheuert und auf die vier Meilen breite Insel geholt.

Aus Makatea wurde ein Ameisenhaufen. Die Bergleute schürften mit einfachem Werkzeug, mit Spitzhacken und Schaufeln. Die Männer wurden einzeln in Löcher abgeseilt, wo sie den ganzen Tag lang von Hand zerkleinertes Phosphat in Eimer luden und Staub atmeten. Oben an der Kante wartete ein Kollege, der die Eimer in die Höhe zog und den Inhalt in eine Schubkarre kippte. Sobald die Schubkarre voll war, schob er sie auf wippenden Planken über beständig wachsende Erdspalten bis an ein Förderband, das wiederum den Güterzug belud, dessen Schienen inzwischen die halbe Insel überzogen. Auf diese Weise verwandelte sich ein Drittel von Makatea in eine Mondlandschaft aus zerklüfteten, von breiten und bis zu dreißig Meter tiefen Hohlkammern durch­löcherten Felsen.

Jahrzehntelang herrschte auf der Insel ein Boom. Makatea war der einzige Goldesel in Französisch-Polynesien und einer der wenigen hoch entwickelten Orte der Kolonie. Es gab elektrischen Strom und fließendes Wasser, Geschäfte, Billardhallen, Tennisplätze, ein Bistro, einen Fußballplatz und sogar ein Kino. Außerdem gab es Minenarbeiter mit tödlichen Lungenkrankheiten und Kinder, die an vergiftetem Trinkwasser starben.

Der Lauf der Zivilisation ist von den Meeresströmungen geprägt. Wo sich die Wasserschichten vermischen, wohin der Regen zieht und wo Wüsten entstehen; wo kaltes, nährstoffreiches Wasser an die sonnenwarme Oberfläche steigt und die Fische vor Fruchtbarkeit irre werden, wo die Böden ertragreich sind und wo mager, wo die Temperatur milde ist und wo unwirtlich, wo Handelsrouten entstehen und wo sie aufgegeben werden – all das legt die Weltmaschine namens Ozean fest. Das Schicksal der Kontinente steht in Wasser geschrieben, und manche Großstadt verdankt ihre Existenz einer winzigen Insel im Meer. Eine Zeit lang ernährte Makatea Millionen.

Als die Minen 1966 von einem Tag auf den anderen schlossen, erlebte Makatea den Absturz. Die große, importierte Arbeiterschaft zog weiter. Viele Leute suchten sich Hunderte Meilen entfernt auf den Inseln um Moruroa neue Jobs, wo die Franzosen ihr nächstes ehrgeiziges Polynesienprojekt gestartet hatten: Atombomben in Atollen zünden. Die Bevölkerung Makateas schrumpfte, bis dort noch weniger Menschen lebten als vor der Ankunft der Compagnie. Zurückblieb nur ein rachedurstiger Dschungel.

Manche sagen über den Pazifik: Jede Insel ist ein Kanu und jedes Kanu eine Insel. Als die Phosphatminen schlossen, kenterte Makatea.

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Für viele auf Makatea ist die Erde – fenua – heilig, ein Haus der Seele. Aber die Erde von Makatea wurde über den gesamten pazifischen Raum verteilt und sorgte für reiche Ernten in fernen Ländern. Reichere Ernten bedeuteten Bevölkerungswachstum, und das Bevölkerungswachstum befeuerte die Durchbrüche, Erfindungen und wundersamen Entdeckungen der folgenden, sich stetig beschleunigenden zwölf Jahrzehnte. Die Menschheitsgraphen bogen sich in die Höhe wie Hockey­schläger, und dazu brauchten sie Phosphat. Makatea half dem Homo sapiens, die Erde zu unterwerfen, und wurde dabei selbst verschlungen.

Alle Menschen müssen essen, aber nur wenige machen sich bewusst, wer den Tisch gedeckt hat. Makatea l’Oublié, so heißt es in manchen Büchern: Makatea, die Vergessene. Aber der Name ist falsch; man kann nicht vergessen, was man nie gekannt hat.

Einige Seiten vonganz klar der Ozeanverfolgten mich Tag und Nacht. Ich konnte nicht anders, als sie immer wieder zu lesen.

Im letzten Kapitel berichtete die Frau, nach der mein zehnjähriges Herz sich sehnte, von einer Forschungsreise vor der Ostküste Australiens. Einmal hatte sie mitten in einem Tauchgang innegehalten, um eine Riesensepia vor ihrem Unterschlupf zu beobachten. Das tentakelige Weichtier, verwandt mit Krake und Oktopus, führte nur für sich einen langen, wilden Farbentanz auf.

Auf seiner Haut erschienen flüchtige, raffinierte Muster in allen erdenklichen Farben, und dann wiederholten sie sich wie ein verzweifelter, interplanetarer Funkspruch. Anscheinend wollte es etwas sagen – aber was? Die Anwesenheit der Taucherin schien die Riesensepia nicht zu stören, genauso wenig reagierte sie auf etwas in ihrer Umgebung. Sie blickte einfach ins offene Meer hinaus und sang in Farben. Ihre Si­gnale waren lang und strukturiert, abwechslungsreich und unvor­hersehbar, ein Nachrichtenschwall, den die tauchende Autorin nicht deuten konnte.

Ich fragte mich, ob das Tier möglicherweise gebetet hatte. Aber selbst mir, dem leicht überspannten Kind, erschien diese Hypothese wenig wissenschaftlich.

Ich las das rätselhafte Schlusskapitel immer wieder und suchte nach einer Theorie, die das Verhalten des Tintenfischs erklären und sein Geheimnis lüften würde. Mit jeder Faser meines Seins wollte ich meiner geliebten Autorin helfen, eine Antwort auf ihre Frage zu finden. Und als mein Vater mir zu Weihnachten das erstaunlichste aller Spielzeuge schenkte (und so tat, als käme es vom Weihnachtsmann), glaubte ich an eine schicksalhafte Fügung.

Im Laufe der Jahre hatte ich viele fantastische Geschenke erhalten: Teleskope, Mikroskope, Chemiebaukästen. Ein Stuntauto, das sich nach jedem Umkippen selbst wieder aufrichtete. Eine elektrische Lochtafel und winzige bunte Lichtzapfen, mit denen man malen konnte. Ein blaues Kunststoffuhrenblatt mit Figuren aus Kinderreimen; wenn der Zeiger darüberstrich, sagten sie ihren Spruch auf. Die besten und geheimnisvollsten Spielsachen sezierte ich irgendwann, um die Quelle ihrer Macht freizulegen.

In dem Jahr schenkten meine Eltern mir ein Gerät in der Form einer Untertasse, das konnte, was kein Spielzeug in der Geschichte je geschafft hatte. Auf der Oberseite befanden sich vier große Knöpfe in Blau, Grün, Gelb und Rot. Das Gerät erfand Sequenzen aus blinkendem Licht und melodiösen Tönen, die ich erkennen und wiederholen sollte, indem ich die bunten Knöpfe in der richtigen Reihenfolge drückte. Wenn es mir gelang, wurden die Sequenzen länger.

Es war das Wesen ausganz klar der ozean, nur eben in elektronischer Form. Es war der blinkende, flimmernde Tintenfisch mit seinem epischen Lied.

Der Zusammenhang faszinierte mich, gleichzeitig schürte er mein brennendes Verlangen nach einer Erklärung. Ich ging zu meiner Mutter und fragte sie, wie das Spielzeug funktionierte.

»Vielleicht sitzt ein kleiner Flaschengeist darin.«

Sie machte sich über mich lustig und hatte für meine Bedürfnisse nur Spott übrig. Ich wünschte sie auf den Grund des Ozeans.

Ich trug das Gerät zu meinem Vater, der in seinem Arbeitszimmer auf dem Teppich lag und auf den neuen High-End-Kopfhörern, die er sich selbst zu Weihnachten geschenkt hatte, psychedelischen Rock hörte. Sein Rücken quälte ihn immer noch, er nahm Tabletten gegen die Schmerzen. Ich stupste ihn an, bis er den hochpreisigen Kopfhörer abnahm. Empört drückte ich ihm das Spielzeug in die Hände.

»Wie erfindet es die Reihenfolgen? Wie kann es sich daran erinnern?«

Mein Vater betrachtete das Gerät in seliger Benommenheit. Er hatte eine Antwort auf jede Frage. In meiner ganzen Kindheit hatte ich ihn kein einziges Mal sagen hören: Das weiß ich nicht.

»Nun ja«, sagte er, um Zeit zu gewinnen. »Es ist ein ­Rechenvorgang. Sehr kompliziert.«

Wochenlang trainierte ich an dem Gerät mein Gedächtnis. Ich steigerte mich auf zweiunddreißig zusammenhängende Lichter und Töne, das war doppelt so viel, wie meine Eltern schafften. Es war genug, um das höchste Level zu erreichen und zu gewinnen. Doch zu gewinnen, war keine Antwort auf die Frage, was die Abfolgen bedeuteten oder wie das Gerät sie erzeugt hatte. Mir blieb keine andere Wahl, als eine Au­topsie durchzuführen.

Ich nahm dazu einen Hammer und einen Meißel in Form eines Buttermessers. Mein Vater lachte, meine Mutter weinte. Ich verstand keine der beiden Reaktionen. Die Leute und ihre Gefühle verwirrten mich. Sie waren blöderweise sehr komplex, ließen sich aber nie auseinanderbrechen und analysieren.

Das Spielzeug aufzuhebeln, brachte mich nicht weiter. In seinen Eingeweiden fand ich nur eine grüne Platine. Sie erinnerte an eine kleine Stadt mit metallischen Straßen. In der Stadt gab es zwei schwarze, rechteckige Gebäude mit acht silbrigen Beinpaaren. Die Gebäude ließen sich nicht öffnen und folglich auch nicht untersuchen. An dem Punkt gab es nichts weiter zu zerlegen, keine Möglichkeit, einen tieferen Blick hineinzuwerfen. Das Spielzeug war tot.