Erstaunen - Richard Powers - E-Book
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Erstaunen E-Book

Richard Powers

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Beschreibung

Auf der Shortlist für den Booker Prize 2021 und nominiert für den National Book Award - der neue Roman von Richard Powers über die Frage, die alle berührt: Wie kann eine Familie in einer unberechenbaren Welt überleben, ohne zu zerbrechen? Vater und Sohn allein: Der hochbegabte Robbie mit Asperger-Zügen kann den Tod der Mutter nicht verwinden. In der Schule unverstanden, will er die Mission seiner Mutter vollenden: Er malt Plakate, demonstriert auf den Stufen des Kapitols, um die Natur zu retten. Der verzweifelte junge Vater will ihm mit ungestümer Liebe alles geben. Als Astrobiologe sind ihm die Sterne nah, und auf Wanderungen entdecken sie, dass die Wunder vor ihren Füßen liegen und sie einander brauchen. Doch was geschieht, wenn die Welt schneller endet, als unsere Zukunft beginnt? Mit unvergesslichen Bildern taucht der Roman tief in das Innenleben von Vater und Sohn. Richard Powers erzählt in seinem Roman »Erstaunen« von den Rätseln, die jede Familie bewegen.  »Ein erschütterndes Meisterwerk« Beth Coates, Vintage

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Seitenzahl: 407

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Richard Powers

Erstaunen

Roman

Roman

Aus dem amerikanischen Englisch von Manfred Allié und Gabriele Kempf-Allié

FISCHER E-Books

Inhalt

[Motto]BeginnFortsetzung 2Fortsetzung 3Fortsetzung 4

Alle, die die Schönheit der Erde betrachten, finden einen Quell der Kraft darin, der Bestand haben wird, solange es Leben gibt.

RACHEL CARSON

Folglich und aus ähnlichem Grunde müssen wir also eingestehen, dass die Erde, die Sonne, der Mond, der Ozean und alle anderen Dinge nichts Einmaliges sind, sondern es sie in großer Zahl gibt, in Zahl über Zahl.

LUKREZ, De rerum natura

Womöglich finden wir sie nie? Wir hatten das Teleskop auf der Veranda aufgestellt, in einer klaren Herbstnacht ganz am Rand eines der letzten Fleckchen Dunkelheit, die es im Osten der Vereinigten Staaten noch gab. Eine so tiefe Dunkelheit fand man kaum noch, und so viel Dunkelheit gebündelt an einem Ort erhellte den Himmel. Wir schauten mit unserem Rohr durch eine Lücke zwischen den Kronen der Bäume, hoch über dem Dach unserer Ferienhütte. Robin, der durchs Okular geblickt hatte, zog den Kopf zurück – mein trauriger, einzigartiger, demnächst neunjähriger Sohn, immer im Clinch mit dieser Welt.

»Ganz recht«, antwortete ich. »Womöglich finden wir sie nie.«

Ich versuchte immer, ihm die Wahrheit zu sagen, wenn ich sie wusste und es nichts geradewegs Tödliches war. Er merkte es ohnehin sofort, wenn ich log.

Aber die sind überall, stimmt’s? Das habt ihr bewiesen.

»Na ja, nicht gerade bewiesen.«

Vielleicht sind sie zu weit weg. Zu viel leerer Raum oder so was.

Er fuchtelte mit den Armen, wie immer, wenn er mit Worten nicht weiterkam. Außerdem war bald Schlafengehenszeit, auch nicht gerade hilfreich. Ich legte ihm die Hand auf den kastanienbraunen Strubbelschopf. Seine Farbe – die von Aly.

»Und wenn wir nie einen Ton von dort draußen hörten? Was hätte das zu bedeuten?«

Er hielt eine Hand in die Höhe. Alyssa hatte immer gesagt, wenn er angestrengt nachdenke, höre man die Rädchen surren. Er kniff die Augen zusammen, starrte in die schwarze baumbestandene Schlucht unter uns. Mit der anderen Hand rieb er sich die Kerbe in seinem Kinn, Zeichen der Konzentration. Er rieb dermaßen heftig, dass ich ihm die Hand fortziehen musste.

»Robbie. Hey! Komm runter.«

Er streckte die Hand aus, um mich zu beschwichtigen. Alles gut. Er wollte nur noch einen Augenblick mit dieser Frage durchs Dunkel laufen, solange er noch durfte.

Du meinst, wenn wir überhaupt nie etwas von ihnen hören würden?

Ich nickte meinem Wissenschaftler ermutigend zu – nur keine Aufregung. Ende der Sternguckerstunde. Es war ein wunderbar klarer Abend gewesen, dabei galt diese Gegend als regenreich. Dick und rot kam der herbstliche Vollmond über den Horizont. Oberhalb der Baumspitzen, so klar, dass man glaubte, man könne danach greifen, ergoss sich die Milchstraße – unzählige glitzernde Goldkörnchen in der Schwärze eines Bachbetts. Wenn man ganz stillhielt, konnte man beinahe sehen, wie die Sterne über den Himmel zogen.

Das würde überhaupt nichts bedeuten.

Ich lachte. Mindestens einmal am Tag brachte er mich zum Lachen, auch öfter, wenn er in guter Verfassung war. So trotzig. So radikal skeptisch. Genau wie ich. Genau wie sie.

»Stimmt«, pflichtete ich ihm bei. »Überhaupt nichts.«

Aber wenn wir tatsächlich einen Ton hören würden. Dann wären wir ein Riesenstück weiter!

»Allerdings.« An den folgenden Abenden würde noch Gelegenheit genug sein zu überlegen, was das im Einzelnen für ein Stück war. Jetzt war es Zeit fürs Bett. Noch ein letztes Mal schaute er ins Okular, blickte hinauf zum strahlenden Mittelpunkt des Andromedanebels.

Können wir heute Nacht draußen schlafen, Dad?

Ich hatte ihn für eine Woche aus der Schule genommen und war mit ihm in die Wälder gefahren. Es hatte wieder einmal Ärger mit seinen Klassenkameraden gegeben, wir brauchten ein wenig Abstand. Ich konnte ihn ja schlecht den ganzen Weg bis in die Smokies mitnehmen und ihm dann eine Nacht im Freien verweigern.

Wir gingen nach drinnen und holten die Ausrüstung für unsere Expedition. Der untere Stock war ein einziger großer Raum und duftete wie Kiefernholz mit Speck. Die Küche roch nach feuchten Geschirrtüchern und Mörtel – das Aroma des gemäßigten Regenwalds. An den Schranktüren hingen Zettel mit Hinweisen: Kaffeefilter über dem Kühlschrank. Bitte dieses Geschirr nicht benutzen! Ein grünes Spiralheft mit Anweisungen lag aufgeschlagen auf dem schartigen Eichentisch: Eigenheiten des Abflusses, Standort des Sicherungskastens, Notfalltelefonnummern. Jeder Lichtschalter im Haus war beschriftet: Deckenlicht, Treppe, Flur, Küche.

Hohe Fenster gingen hinaus auf das, was morgen früh ein großartiges Panorama sein würde, Berge über Berge. Zwei abgewetzte klobige Sofas rahmten einen Kamin aus großen Steinplatten, die Kissen eine Parade aus Elchen, Kanus und Bären. Wir schnappten uns die Polster, schleppten sie nach draußen und breiteten sie auf der Veranda aus.

Gibt es auch was zu knabbern?

»Schlechte Idee, Junior. Ursus americanus. Zwei auf jede Quadratmeile, und die riechen Erdnüsse von hier bis North Carolina.«

Dann auf keinen Fall! Er hielt einen Finger in die Höhe. Aber da fällt mir ein!

Er lief nach drinnen und kam mit einem kleinen Taschenbuch zurück: Tierwelt der Smokies.

»Was willst du denn damit, Robbie? Es ist stockdunkel hier draußen.«

Er hielt eine Notfalltaschenlampe in die Höhe, eine von denen, die man mit einer Kurbel auflädt. Die hatte es ihm schon bei unserer Ankunft am Morgen angetan, und er hatte sich erklären lassen, wie dieses Wunder funktionierte. Jetzt wollte er mit der Elektronenproduktion gar nicht wieder aufhören. Wir machten es uns in unserem improvisierten Lager bequem. Er schien glücklich, und das war ja der Sinn und Zweck dieses Ausflugs. Wir legten uns nieder, in unseren selbstgebauten Betten auf den krummen Verandabohlen, gemeinsam sprachen wir laut das alte, weltliche Gebet seiner Mutter, und dann schlief er ein, unter den vierhundert Milliarden Sternen unseres Sonnensystems.

An die Diagnosen, mit denen die Ärzte meinen Sohn abfertigten, habe ich nie geglaubt. Wenn eine Krankheit binnen dreier Jahrzehnte mit drei verschiedenen Namen bezeichnet wird, wenn man zwei Unterkategorien braucht, um einander vollkommen widersprechende Symptome zu erklären, wenn sie sich im Laufe einer einzigen Generation von nonexistent zur am häufigsten diagnostizierten Störung bei Kindern im Land entwickelt, wenn zwei verschiedene Ärzte drei verschiedene Medikamente verschreiben wollen, dann stimmt etwas nicht.

Mein Robin schlief nicht immer gut. Manchmal kam es vor, dass er ins Bett machte, und dann verging er fast vor Scham. Lärm bereitete ihm Angst; den Fernsehton stellte er immer ganz leise, so leise, dass ich nichts mehr verstehen konnte. Es machte ihn verrückt, wenn der Stoffaffe nicht an seinem Platz auf dem Regalbrett über der Waschmaschine saß. Jeden Dollar Taschengeld gab er für Sammelkärtchen aus – Sammle sie alle! –, aber die Karten rührte er nie an, sondern bewahrte sie nach Zahlen sortiert in Plastiktäschchen in einer eigenen Mappe auf.

Selbst in einem vollbesetzten Kino roch er, wenn am anderen Ende jemand furzte. Stundenlang konnte er sich mit den Mineralien Nevadas oder den Königshäusern von England beschäftigen – alles, was sich in Listen fassen ließ. Er zeichnete ständig und gut, gab sich unendliche Mühe mit Einzelheiten, die ich überhaupt nicht sah. Ein Jahr lang die kompliziertesten Bauwerke und Maschinen. Dann Tiere und Pflanzen.

Seine Äußerungen waren abstrus und unverständlich für alle außer mir. Er konnte ganze Szenen aus Filmen zitieren, schon nach dem ersten Sehen. Immer wieder ließ er Erinnerungen Revue passieren, und mit jedem wiederholten Detail wurde er glücklicher. Hatte er ein Buch, das ihm gefallen hatte, zu Ende gelesen, fing er sofort wieder von vorn an, auf der ersten Seite. Wegen der kleinsten Kleinigkeit konnte er in rasende Wut geraten. Aber ebenso sehr überwältigte ihn oft die Freude.

Wenn er bei einem nächtlichen Unwetter zu mir ins Bett kroch, wollte Robin immer auf die Seite, die am weitesten von den Schrecken der Welt draußen entfernt war. (Seine Mutter hatte auch immer auf die sichere Seite gewollt.) Er war ein Tagträumer, tat sich schwer mit Terminen, und ja, er konnte sich auf nichts konzentrieren, was ihn nicht interessierte. Allerdings war er kein Kind, das ständig zappelte oder hin und her lief oder ununterbrochen redete. Bei einer Sache, die er mochte, konnte er stundenlang stillhalten. Gab es denn wirklich eine Störung, die all das erklärte? Was für eine Krankheit sollte das sein?

Ideen dazu bekam ich viele zu hören, manch einer vermutete Syndrome, die mit den Milliarden Kilo Giftstoffen zusammenhingen, die Jahr für Jahr über die Nahrungsmittel der Nation gesprüht werden. Sein zweiter Kinderarzt wollte für Robin seinen »Platz im Spektrum« finden. Ich hätte dem Mann gern erklärt, dass alles, was auf diesem glückseligen kleinen Planeten kreucht, seinen Platz im Spektrum hat. Das ist es ja, was das Wort Spektrum bedeutet. Hätte ihm gesagt, dass diese Störung das Leben selbst ist, dass jeder von uns seine ganz persönliche Farbe in der Palette dieses Regenbogens hat. Aber noch lieber hätte ich ihm in die Fresse geschlagen. Ich nehme an, auch das ist eine Störung, die einen Namen hat.

Seltsamerweise gibt es im DSM keinen Eintrag für den Zwang, andere zu diagnostizieren.

Als Robin zwei Tage lang vom Unterricht suspendiert wurde, damit die Schulärzte ihn sich ansehen konnten, kam ich mir vor wie der letzte Hinterwäldler. Was gab es denn da zu erklären? Von Kunstfaserkleidung bekam er einen hässlichen Hautausschlag. Seine Mitschüler hänselten ihn, weil er ihr fieses Geschwätz nicht verstand. Als er acht war, war seine Mutter umgekommen, zu Tode gequetscht. Sein geliebter Hund war an Verwirrung gestorben, ein paar Monate später. Wie viel mehr Gründe für gestörtes Verhalten brauchte ein Arzt denn noch?

Als ich sah, wie wenig die Ärzteschaft für mein Kind tun konnte, entwickelte ich eine verrückte Theorie: dass wir damit aufhören müssen, dem Leben Vorschriften zu machen. Mein Junge war ein Universum im Miniaturformat, eines, das ich niemals ergründen würde. Jeder von uns ist ein Experiment, und wir wissen nicht einmal, was mit diesem Experiment erforscht werden soll.

Meine Frau hätte gewusst, wie sie mit den Ärzten reden muss. Niemand ist vollkommen, sagte sie immer gern. Aber Mann, was ist diese Unvollkommenheit schön.

Er war ein Junge, da wollte er natürlich das Vegas der Hinterwäldler sehen. Drei Städte in einem, zweihundert Buden, an denen es Pfannkuchen gab: Was wollte man mehr?

Wir fuhren von unserer Hütte aus hin, siebzehn Meilen Kurvenstrecke am Ufer eines atemberaubenden Flusses. Wir brauchten fast eine Stunde. Robin beobachtete vom Rücksitz aus das Wasser, musterte die Stromschnellen. Tier-Bingo. Sein neuestes Lieblingsspiel.

Großer Vogel!, rief er.

»Was für einer?«

Er schnippte durch die Seiten in seinem Naturführer. Ich überlegte, ob ihm vom Fahren schlecht würde. Reiher? Jetzt blickte er wieder auf den Fluss. Ein halbes Dutzend Windungen, dann rief er wieder.

Fuchs! Fuchs! Ich habe ihn gesehen, Dad!

»Grau oder rot?«

Grau. O Mann!

»Der Graufuchs klettert auf Kakibäume und frisst die Früchte.«

Unsinn. Jetzt war wieder die Tierwelt der Smokies dran. Das Buch gab mir recht. Er stöhnte, versetzte mir einen Schlag auf den Arm. Woher weißt du denn das ganze Zeug?

Ich überflog seine Bücher, wenn er schlief, und so war ich ihm immer einen Schritt voraus. »Na immerhin bin ich doch Biologe, oder?«

Arschologe. Du bist Astrobiologe.

Das Grinsen bewies, dass er überlegte, ob er zu weit gegangen war. Ich staunte, halb verblüfft, halb amüsiert. Er geriet schnell in Wut, aber so gut wie nie wurde er gemein. Wenn man sich das überlegte – ein wenig Gemeinheit wäre für ihn ein Schutz gewesen.

»Oho, junger Mann. Ein Schritt weiter, und du hättest den Rest deines neunten Erdenjahres auf der Strafbank verbracht.«

Das Grinsen wurde verbissener, und er widmete sich wieder dem Studium des Flusses. Aber nach einer weiteren Meile auf dieser sich schlängelnden Bergstraße legte er mir die Hand auf die Schulter. Ich habe nur einen Witz gemacht, Dad.

Den Blick auf die Straße geheftet, antwortete ich ihm: »Ich auch.«

Wir stellten uns für Ripleys Odditorium an. Der Laden machte ihn nervös. Kinder seines Alters jagten durch die Gegend, spontaner Chaosausbruch. Bei ihrem Geschrei zuckte Robbie zusammen. Dreißig Minuten in diesem Kuriositätenkabinett, dann flehte er mich an, ihn hinauszulassen. Besser ging es im Aquarium, obwohl der Stachelrochen, dessen Porträt er zeichnen wollte, nie lang genug stillhielt.

Zum Mittagessen gab es Pommes mit Zwiebelringen, dann nahmen wir den Aufzug zur Aussichtsplattform. Er hätte beinahe auf den Glasboden gekotzt. Mit weißen Fingerknöcheln, verbissenem Mund verkündete er, es sei phantastisch. Als wir wieder im Auto saßen, schien er froh, dass er Gatlinburg abhaken konnte.

Er war nachdenklich auf der Rückfahrt zur Blockhütte. Das wäre nicht gerade Mums Lieblingsort auf Erden gewesen.

»Nein. Wahrscheinlich käme es nicht mal unter die ersten drei.«

Er lachte. Ich konnte ihn zum Lachen bringen, wenn ich den richtigen Moment erwischte.

Am Abend war es zu wolkig zum Sternebeobachten, aber wir schliefen wieder draußen, auf unseren rustikalen Polstern mit der Elch- und Bärenparade. Zwei Minuten nachdem Robin seine Taschenlampe ausgeschaltet hatte, flüsterte ich: »Morgen ist dein Geburtstag.« Aber er schlief schon. Leise sprach ich das Gebet seiner Mutter für uns beide, damit ich ihn beschwichtigen konnte, wenn er aufwachte, entsetzt, dass er es vergessen hatte.

In der Nacht weckte er mich.Was hast du gesagt, wie viele Sterne gibt es?

Ich konnte ihm nicht böse sein. Sogar aus dem Schlaf gerissen freute ich mich, dass er zu den Sternen schaute.

»Nimm jedes Sandkorn auf Erden mit der Anzahl der Bäume mal. Hundert Quadrilliarden.«

Ich ließ ihn neunundzwanzig Nullen hintereinander sagen. Nach der fünfzehnten wandelte sein Lachen sich in Stöhnen.

»Wenn du Astronom in der Antike gewesen wärst und in römischen Zahlen geschrieben hättest, hättest du die Zahl niemals aufschreiben können. Dein ganzes Leben hätte nicht gereicht.«

Wie viele haben Planeten?

Dazu gab es immer neue Zahlen. »Die meisten haben wahrscheinlich mindestens einen. Viele mehrere. Die Milchstraße allein könnte neun Milliarden erdähnlicher Planeten in den bewohnbaren Zonen ihrer Sterne haben. Nimm die Dutzenden von anderen Galaxien unserer lokalen Gruppe hinzu …«

Und dann, Dad?

Er war ein Junge, der sich mit Verlust auskannte. Natürlich tat das große Schweigen ihm weh. Das empörende Ausmaß dieser Leere ließ ihn die gleiche Frage stellen, die Enrico Fermi bei jenem berühmten Abendessen in Los Alamos aufgebracht hatte, ein Dreivierteljahrhundert vor ihm. Wenn das Universum größer und älter war, als ein Mensch sich überhaupt vorstellen konnte, dann stimmte da doch ganz offensichtlich etwas nicht.

Dad? Wenn an so vielen Orten Leben sein könnte, wieso ist dann nirgendwo jemand?

Am Morgen tat ich, als hätte ich vergessen, was für ein Tag es war. Mein neuerdings Neunjähriger durchschaute mich. Während ich Super-Deluxe-Haferflocken mit einem halben Dutzend Zutaten anrührte, hüpfte Robin vor Aufregung auf der Stelle, stieß sich von der Tischkante ab und hopste, als stecke er auf einer Sprungfeder. Wir stellten einen neuen Rekord im Schnellessen auf.

Jetzt packen wir die Geschenke aus.

»Die was? Das ist aber eine gewagte Vermutung, oder?«

Keine Vermutung. Hypothese.

Er wusste, was er bekam. Drei Monate lang hatte er mit mir gefeilscht: ein Digitalmikroskop, das sich an mein Tablet anschließen ließ, so dass er die Vergrößerungen auf dem Schirm betrachten konnte. Den ganzen Vormittag machte er Probeläufe mit schmutzigem Wasser aus dem Teich, Zellen, die er sich im Wangeninneren abstrich, der Unterseite eines Ahornblatts. Selig hätte er den ganzen Rest dieser Ferien damit zugebracht, dass er sich Proben unter dem Mikroskop ansah und dann Notizen und Zeichnungen in seinem Büchlein machte.

Auch wenn ich Angst hatte, dass es zu viel für ihn würde, fuhr ich nun den Kuchen auf, den ich heimlich in dem Lädchen aus den Fünfzigern am Fuße des Berges besorgt hatte. Er strahlte, aber dann hatte er sich wieder unter Kontrolle.

Kuchen, Dad?

Er griff sofort nach der Schachtel – ich hatte nicht daran gedacht, sie beiseitezuschaffen. Er studierte die Zutatenliste, schüttelte den Kopf.

Nicht vegan, Dad.

»Robbie. Du hast Geburtstag. Das kommt, warte … nur knapp einmal im Jahr vor?«

Er schenkte mir kein Lächeln. Butter. Milchprodukte. Ei. So was hätte Mom nicht gegessen.

»Ach, mehr als einmal habe ich gesehen, wie deine Mutter Kuchen gegessen hat!«

Kaum dass ich diese Worte gesprochen hatte, bereute ich sie auch schon. Er wirkte wie ein furchtsames Eichhörnchen, unschlüssig, ob es den Leckerbissen, den man ihm hinhält und den es furchtbar gern hätte, nehmen soll oder doch lieber die Flucht ergreifen, zurück in den Wald.

Wann?

»Ab und zu hat sie eine Ausnahme gemacht.«

Robin starrte den Kuchen an, ein harmloses, karottenhaltiges Ding, vor dessen Tugendhaftigkeit jedes andere Kind die Miene verzogen hätte. Kurz hatte er seinen Geburtstag im Garten Eden genossen, jetzt kamen die Schlangen gekrochen.

»Schon in Ordnung, Kumpel. Wir können ihn den Vögeln geben.«

Na, ein kleines Stück könnten wir ja probieren, oder?

Das taten wir. Bei jedem Bissen Kuchen, der ihn glücklich machte, hielt er inne und wurde wieder ernst.

Wie groß war sie?

Er wusste genau, wie groß sie gewesen war. Aber heute brauchte er eine Zahl. »Eins siebenundfünfzig. Nicht mehr lange, dann bist du größer als sie. Weißt du noch, was für eine tolle Läuferin sie war?«

Er nickte, mehr an sich selbst gewandt als an mich. Klein, doch gewaltig.

Das hatte sie immer von sich gesagt, wenn sie sich für eine Schlacht im Kapitol rüstete. Ich nannte sie stattdessen gern »kompakt, doch planetarisch«. Gestohlen aus einem Sonett von Neruda, das ich ihr einmal an einem Herbstabend rezitiert hatte, der bis zum Winter andauerte. Ich hatte bei meinem Heiratsantrag zu den Worten eines anderen greifen müssen.

Wie hast du sie genannt?

Es jagte mir immer einen Schrecken ein, wenn er meine Gedanken las. »Ach, alles Mögliche. Das weißt du doch noch.«

Aber wie zum Beispiel?

»Zum Beispiel Aly statt Alyssa. Oder Ally, weil sie doch meine Alliierte war.«

Miss Lissy.

»Obwohl sie das nicht mochte.«

Mom. Du hast sie Mom genannt!

»Manchmal. Stimmt.«

Das ist doch bescheuert. Ich wollte ihm das Haar zerwuscheln. Er zuckte zurück, aber dann ließ er mich gewähren. Wie bin ich noch mal zu meinem Namen gekommen?

Robin, das Rotkehlchen. Er wusste, wie er zu seinem Namen gekommen war. Er hatte die Geschichte öfter gehört, als gut für ihn war. Aber jetzt hatte er schon seit Monaten nicht mehr gefragt, und da erzählte ich sie ihm gern.

»Bei unserer ersten Verabredung sind deine Mutter und ich Vögel beobachten gegangen.«

Vor Madison. Vor allem anderen.

»Vor allem anderen. Deine Mutter war großartig! Überall hat sie sie entdeckt, links und rechts. Waldsänger und Drosseln, Schnäpper – jeder Vogel dort draußen war ein alter Freund. Sie musste sie nicht einmal sehen. Sie erkannte sie an ihrem Ruf. Und ich starrte in die Gegend, sah kleine braune Dinger, die für mich alle gleich aussahen …«

Und hast dir gewünscht, du wärst mit ihr ins Kino gegangen?

»Ah. Du hast die Geschichte also doch schon gehört.«

Kann sein.

»Aber schließlich entdeckte ich etwas ganz Tolles, ein unglaublich leuchtendes Orangerot. Die Rettung. ›Oooh, schau, da drüben!‹, habe ich gerufen.«

Und Mom sagte: »Was ist da? Was siehst du?«

»Sie hat sich so sehr für mich gefreut.«

Dann hast du geflucht.

»Ja, vielleicht habe ich geflucht. Wie peinlich. ›Ach je. Tut mir leid. Das ist ja nur ein Rotkehlchen.‹ Die siehst du nie wieder, dachte ich.«

Er wartete auf die Pointe, die er, aus irgendeinem Grunde, jetzt noch mal neu hören musste.

»Aber deine Mutter richtete ihr Fernglas auf meine Entdeckung, als sei es das exotischste Wesen, das ihr je untergekommen war. Sie hielt den Blick fest darauf gerichtet und sagte: ›Das Rotkehlchen ist mein Lieblingsvogel.‹«

Und da hast du dich in sie verliebt.

»Von da an wollte ich in ihrer Nähe sein, so oft es nur ging. Später, als ich sie besser kannte, habe ich ihr das erzählt. Danach haben wir immer wieder diesen Satz zitiert. Wenn wir irgendwas zusammen machten – die Zeitung lesen, die Zähne putzen, die Steuererklärung ausfüllen oder den Müll rausbringen. Was immer gerade Langweiliges oder Hässliches zum Leben gehörte. Wir sahen uns an, jeder las die Gedanken des anderen, und dann platzte es aus einem von uns heraus: ›Das Rotkehlchen ist mein Lieblingsvogel!‹«

Er stand auf, stellte seinen Teller auf meinen, ging zur Spüle und drehte den Wasserhahn auf.

»Hey! Du hast Geburtstag. Heute bin ich mit dem Spülen dran.«

Er kam an den Tisch zurück, setzte sich mir gegenüber und sah mich an, mit seinem Schau-mir-in-die-Augen-Blick.

Kann ich dich was fragen? Aber du darfst nicht lügen. Ehrlichkeit ist mir wichtig, Dad. War das Rotkehlchen wirklich ihr Lieblingsvogel?

Ich hatte keine Ahnung, wie man mit Kindern umgeht. Ich machte alles so, wie ich es von ihr in Erinnerung hatte. An jedem einzelnen Tag beging ich so viele Fehler, dass er die Narben davon sein Leben lang tragen würde. Meine einzige Hoffnung war, dass all meine Dummheiten sich irgendwie gegenseitig aufhoben.

»Ach, in Wirklichkeit hat deine Mutter immer den am liebsten gehabt, der gerade vor ihr saß.«

Die Antwort beunruhigte ihn. Unseren seltsamen Jungen, so sonderbar, wie man ihn sich nur vorstellen konnte. Niedergedrückt von der Welt als solcher, bevor er auch nur sprechen konnte. Von sechs direkt auf sechzig, hatte Aly gesagt, ein paar Monate vor ihrem Tod.

»Aber das Rotkehlchen war unser Wappenvogel, ihrer und meiner. Er war immer etwas ganz Besonderes. Wir mussten nur das Wort sagen, schon ging es uns besser. Dass du so heißen würdest, stand für uns fest.«

Er bleckte die Zähne. Hattet ihr eine Ahnung, wie das ist, wenn man Rotkehlchen heißt?

»Wie meinst du das?«

Ich meine in der Schule. Im Park. Überall. Jeden Tag habe ich damit zu tun.

»Sag es mir, Robbie. Hast du wieder Ärger mit den anderen Kindern?«

Er kniff ein Auge zu und lehnte sich zurück. Wenn die gesamte dritte Klasse nur aus Arschlöchern besteht, zählt das?

Ich hielt ihm die offenen Handflächen hin, eine Bitte um Vergebung. Alyssa sagte immer: Die Welt wird dieses Kind in Stücke reißen.

»Es ist ein würdiger Name. Für Männer und Frauen gleichermaßen. Mit dem kannst du etwas werden.«

Auf einem anderen Planeten vielleicht. Vor tausend Jahren. Herzlichen Dank, Leute.

Er schaute ins Okular seines Mikroskops, wich meinem Blick aus. Eifriger denn je machte er sich seine Notizen. Jemand, der von draußen hereingeschaut hätte, hätte denken können, hier sei ein echter Forscher bei der Arbeit. In einem nur für die Eltern bestimmten Bericht hatte seine Lehrerin in der zweiten Klasse ihn als langsam, doch nicht immer sorgfältig beschrieben. In puncto Langsamkeit hatte sie recht, aber nicht, was die Sorgfalt anging. Wenn man ihm nur die Zeit ließ, würde er mehr Sorgfalt aufbringen, als diese Lehrerin sich überhaupt vorstellen konnte.

Ich ging hinaus auf die Veranda, sog die Waldluft tief in mich ein. Das Haus war ganz von Wald umgeben. Fünf Minuten später – ihm muss es wie eine Ewigkeit vorgekommen sein – trat Robin heraus und schlüpfte unter meinen Arm.

Tut mir leid, Dad. Es ist ein guter Name. Und ich komme zurecht damit, dass ich … du weißt schon. Verwirrend bin.

»Jeder ist verwirrend. Und jeder ist verwirrt.«

Er reichte mir ein Blatt Papier. Schau mal. Wie findest du das?

Von oben links blickte ein Buntstiftvogel im Profil in die Mitte des Blattes. Er hatte ihn gut gezeichnet, sogar die Streifen am Hals und die weißen Flecken ums Auge waren da.

»Ja, was haben wir denn da. Der Lieblingsvogel deiner Mutter.«

Und der hier?

Ein zweiter Vogel erwiderte von oben rechts den Blick. Auch dieser war unverkennbar: ein Rabe mit angelegten Flügeln, wie ein Mann im Frack, der mit hinter dem Rücken verschränkten Armen einherschreitet. Mein Nachname leitete sich von dem Wort Bran ab, das auf Irisch Rabe bedeutet. »Hübsch. Aus der Feder von Robin Byrne?«

Er nahm das Blatt zurück und sah es an, plante bereits kleine Verbesserungen. Können wir davon Briefpapier drucken, wenn wir wieder zu Hause sind? Ich brauche wirklich, wirklich dringend Briefpapier.

»Das lässt sich machen, Geburtstagskind.«

Ich nahm ihn mit auf den Planeten Dvau, etwa so groß und warm wie unserer. Es gab Berge, Flachland und Gewässer dort, eine dichte Atmosphäre mit Wolken, Wind und Regen. Flüsse schnitten sich in Gebirge ein, trugen die Sedimente ins wogende Meer.

Mein Sohn war in heller Aufregung. Sieht das nicht aus wie hier, Dad? Wie die Erde?

»Ein wenig.«

Was ist anders?

Die Antwort war nicht leicht zu erkennen, von der roten Felsküste, an der wir standen. Wir drehten uns um, schauten in die andere Richtung. Nichts wuchs in dieser Landschaft, so weit das Auge reichte.

Er ist tot?

»Tot nicht. Schau mal durchs Mikroskop.«

Er kniete sich hin, benetzte einen Objektträger mit Wasser aus einem Gezeitentümpel. Lebewesen überall: Spiralen und Stäbchen, Objekte wie Fußbälle und feine Fäden, mit Rippen, Poren oder Geißeln besetzt. Er hätte eine Ewigkeit gebraucht, alle Arten zu zeichnen, so viele gab es.

Du meinst, er ist einfach nur jung? Alles fängt gerade erst an?

»Er ist dreimal so alt wie die Erde.«

Er blickte sich in der kahlen Landschaft um. Und was stimmt dann hier nicht? Für meinen Jungen gehörten große, umherstreifende Geschöpfe zu einer Natur einfach dazu.

Dvau sei beinahe vollkommen, erklärte ich ihm – der richtige Ort in der richtigen Art von Sternensystem, Metallgehalt genau passend, das Risiko, durch Strahlen oder andere Gefahren vernichtet zu werden, gering. Er drehte sich in passender Entfernung um einen passenden Stern. Wie auf der Erde gab es tektonische Platten und Vulkanismus und ein starkes Magnetfeld, was alles zusammen für einen stabilen Kohlenstoffkreislauf und gleichmäßige Temperaturen sorgte. Wie der Erde brachten Kometenschauer auch diesem Planeten Wasser.

Heiliges Kanonenrohr. Was hat die Erde denn alles gebraucht?

»Mehr als ein Planet verdient.«

Er schnippte mit den Fingern, aber sie waren zu klein und zu elastisch, um ein Geräusch hervorzubringen. Jetzt hab ich’s! Meteore!

Aber wie bei der Erde gab es auch bei Dvau große Planeten in ferneren Umlaufbahnen, die ihn vor stärkerem Bombardement bewahrten.

Was stimmt denn dann nicht? Er schien den Tränen nahe.

»Kein großer Mond. Nichts in der Nähe, was seine Rotation stabilisiert.«

Wir begaben uns in eine nahe Umlaufbahn und sahen, wie unrund diese Welt lief. Wir beobachteten die chaotische Abfolge der Tage, sahen, wie der April in den Dezember überging, dann in August, dann Mai.

Wir ließen Jahrmillionen vorüberziehen. Mikroben stießen an ihre Grenzen, wie ein Boot, das mit der Kaimauer kollidiert. Jedes Mal wenn das Leben einen Schritt machen wollte, wirbelte der Planet wieder alles durcheinander, so dass es mit Extremophilen wieder von vorn anfangen musste.

Für immer?

»Bis eine Sonneneruption seine Atmosphäre verpuffen lässt.«

Ich hätte mich ohrfeigen können, als ich sein Gesicht sah. Das hatte ich ihm viel zu früh gesagt. Cool, sagte er, spielte den Tapferen. Irgendwie.

Das unfruchtbare Land von Dvau reichte bis an den Horizont. Er schüttelte den Kopf, konnte sich nicht entscheiden, ob das nun ein tragischer Ort war oder ein grandioser. Er sah mich an. Als er sprach, war es die erste Frage, die das Leben stellt, überall im Universum.

Was sonst noch, Dad? Wo sonst noch? Zeig mir noch einen.

Am nächsten Tag machten wir einen Ausflug in den Wald. Robin war aufgekratzt. Neun, Dad. Da darf ich vorn sitzen! Auf den Ausblick wartete er schon sein ganzes Leben lang. Mann. So viel schöner hier oben. Überhaupt kein Vergleich.

Nebel hing in den Bergtälern. Wir kamen durch die kleine Stadt, die sich, zwei Häuserzeilen tief, rechts und links am Weg erstreckte: Eisenwarenladen, Kaufmann, drei Grillplätze, Schlauchbootverleih, Sportgeschäft. Dann eine halbe Million Morgen wiedererstehender Wald.

Vor uns blieb von einem Bergzug, der einmal um vieles höher gewesen war als der Himalaja, nun noch ein Vorgebirge mit sanft gerundeten Hügeln. Zitrone, Bernstein, Zimt – das Farbspektrum dieser Gegend – bestimmten die Flanken der Berge. Sauerbaum und Süßholz krönten karminrot den Kamm. Hinter der nächsten Kurve begann der Park. Robin stieß einen überraschten Ton aus.

Wir parkten den Wagen am Startpunkt des Wanderpfads. Ich lud mir Zelt, Schlafsäcke und Campingkocher auf den Rücken. Der schmächtige Robin trug einen Tagesrucksack mit Brot, Bohnensuppe, Küchenutensilien und Marshmallows. Er ging ganz gebückt unter dem Gewicht. Wir überquerten einen Kamm und gelangten auf der anderen Seite an einen entlegenen Campingplatz, den wir in dieser Nacht ganz für uns allein haben würden, ein Fleckchen am Ufer eines Baches, das einmal alles gewesen war, was ich an Planet brauchte.

Die südlichen Appalachen standen im Farbenrausch des Herbstes. Rhododendren reichten bis tief in die Felsklüfte hinein und wucherten so dicht auf den Hängen, dass Robin Platzangst davon bekam. Oberhalb dieses manischen Buschwerks spannte sich ein Kronendach aus Hickory, Schierlingstannen und Tulpenbäumen, allesamt genauso üppig.

Alle hundert Schritt blieb Robin stehen und skizzierte ein Moos oder das Gewimmel auf einem Ameisenhaufen. Ich ließ ihn gewähren. Er fand eine Carolina-Dosenschildkröte, die einen ockerfarbenen Brei schleckte. Sie richtete sich trotzig auf, Hals gereckt, als wir uns über sie beugten. Flucht kam für sie nicht in Frage. Erst als Robin sich neben sie kniete, zog sie den Kopf ein. Robin zeichnete die Keilschriftbuchstaben nach, unverständliche Botschaften von Marsmenschen auf ihrem kuppelförmigen Panzer.

Wir stiegen nun zwischen verschiedenerlei Bäumen einen Weg hinauf, der während der großen Wirtschaftskrise als Arbeitsbeschaffungsmaßnahme angelegt worden war, von Jungs kaum älter als Robin, zu einer Zeit, als kommunale Arbeit noch nicht als Teufelswerk galt. Ich zerdrückte ein sternförmiges Blatt von einem Amberbaum, halb augustjadegrün, halb oktoberziegelrot, und gab es ihm zu riechen. Ein überraschter Ruf. Die angekratzte Schale einer Hickorynuss beeindruckte ihn noch mehr. Ich ließ ihn in die Spitze eines burgunderroten Blattes beißen, und danach wusste er, woher der Sauerbaum seinen Namen hatte.

Die Luft roch nach Humus. Mehr als eine Meile weit stieg der Pfad so steil an wie eine Treppe. Gespenstische Schatten folgten uns auf unserem Weg zwischen den Laubbäumen, die bereits ihre Blätter abwarfen. Wir umrundeten eine moosbedeckte Felsformation, und die Landschaft wandelte sich vom feuchten Mischwald zu einem trockeneren Gehölz aus Kiefern und Eichen. Es war ein Mastjahr. In einer dicken Schicht lagen die Eicheln auf dem Weg. Mit jedem Schritt verstreuten wir sie.

In einer Mulde abseits vom Pfad stand im lockeren Laubhumus der unglaublichste Pilz, den ich je gesehen hatte. Der Schirm, gewölbt zu einer cremefarbenen Halbkugel, größer als meine zwei Hände. Ein gekräuseltes Band aus Pilzgewebe, nicht minder kunstvoll als ein elisabethanischer Rüschenkragen.

Booh! Was ist denn …

Ich wusste es nicht.

Ein Stück weiter wäre er beinahe auf einen schwarzgelben Tausendfüßler getreten. Als ich das Tier in meine Handfläche legte, rollte es sich zu einer Kugel zusammen. Mit der anderen Hand wedelte ich die Luft in Richtung Robin.

Heiliges Kanonenrohr!

»Wie riecht das?«

Wie Mom!

Ich lachte. »Nun ja. Bittermandel. Wonach Mom manchmal beim Backen roch.«

Er zog meine Handfläche dicht unter seine Nase, ging auf eine Reise. Das ist das Leben.

»Genau das ist es, genau das.«

Er wollte noch länger daran riechen, aber ich setzte das Tier wieder auf den Boden, zwischen ein paar Seggenhalme, und wir gingen weiter. Ich sagte meinem Sohn nicht, dass dieser betörende Duft Zyanid war, in größeren Dosen giftig. Ich hätte es ihm sagen sollen. Ehrlichkeit war ihm wichtig.

Eine Meile Abstieg brachte uns zu einer Lichtung an einem Gebirgsbach. Weiße Wasserfallstrecken lösten sich mit tieferen, offenen Tümpeln ab. Lorbeerrosen und lichte Platanen säumten beide Ufer. Dieser Ort war noch schöner, als ich ihn in Erinnerung hatte.

Unser Zelt war ein Meisterwerk der Ingenieurskunst, leichter als ein Liter Wasser und nicht viel größer als eine Rolle Küchenpapier. Robin stellte es ganz allein auf. Er steckte die dünnen Stäbe hinein, bog sie, so dass sie durch die Ösen gingen, fixierte die Plane mit Klettverschlüssen an dem Außengestänge, und schon stand es: unser Zuhause für die Nacht.

Brauchen wir das Überzelt?

»Was meinst du, haben wir Glück?«

Er fand, es sah gut aus. Ich ebenso. Sechs verschiedene Arten von Wald rings um uns her. Siebzehnhundert Blühpflanzen. Mehr Baumarten, als es in ganz Europa gab. Gott, es waren dreißig Salamanderarten hier! So vieles, was für Sol 3, diesen kleinen blauen Flecken, sprach, wenn man einmal lang genug Abstand von der vorherrschenden Spezies nehmen konnte, lang genug, dass man einen klaren Kopf bekam.

Über uns erhob sich ein Rabe, groß wie die geflügelten Affen von Oz, und ließ sich auf dem Ast einer Weymouthkiefer nieder. »Er kommt zur Eröffnung von Camp Byrne.«

Wir winkten dem Vogel zu, und er flog davon. Dann beschlossen wir, dass es nach diesem anstrengenden Gepäckmarsch an einem Tag, der wieder einmal sämtliche Hitzerekorde gebrochen hatte, Zeit für ein Bad war.

Der dicke Stamm eines Tulpenbaums diente als Brücke über den Wildbach. Die Felsen beiderseits sahen mit ihren Flechten, Moos und Algen aus wie nach einer Runde Action-Painting. Das Wasser im Bach war vollkommen klar, man blickte bis auf den steinigen Grund. Wir kämpften uns durch das Gesträuch bachaufwärts, bis wir an ein Steinplateau kamen. Ich nahm meinen sämtlichen Mut zusammen und stieg in das dahinschießende Wasser. Mein Sohn beobachtete mich skeptisch, aber hoffnungsvoll.

Es war ein Schock, wie das Wasser gegen meine Brust anstürmte, es drängte mich zu einer Gruppe von Felsbrocken hin. Was vom Ufer so eben ausgesehen hatte, war ein veritables Mikrogebirge unter Wasser. Ich stürzte mich in den wilden Strudel. Auf einem glatten Stein, rundgeschliffen von dem jahrhundertelangen Wirken des Wassers, rutschte mein Fuß ab. Dann fiel mir wieder ein, wie man das machen musste. Ich ging in der Strömung in die Hocke, und der eiskalte Bergbach schoss über mich hinweg.

Beim ersten Kontakt mit dem eisigen Wasser schrie Robin auf. Aber der Schock war nach einer halben Minute vorüber, und nun juchzte er vor Vergnügen. »Drück dich tief nach unten«, rief ich. »Du musst kriechen. Finde die Amphibie in dir.« Robin überließ sich der furiosen Flut.

Noch nie hatte ich ihm etwas so Gefährliches erlaubt. Auf allen vieren kämpfte er gegen die Strömung an. Als er erst einmal gelernt hatte, wie er sich diesem Ansturm entgegenstemmen konnte, arbeiteten wir uns vor zu einer Stelle mitten im Schwall. Dort kauerten wir uns in eine leichte Vertiefung und gaben uns dem Wirbeln dieses Jacuzzis hin. Es war so eine Art umgekehrtes Surfen: Man lehnte sich zurück, hielt die Balance durch die unablässige Abstimmung von hundert Muskeln. Der Wasserfilm über den Steinen, das Licht, das der Strömung Struktur verlieh, die seltsame Beständigkeit der stehenden Wellen, die über uns hertosten, an unserem Platz in den schäumenden Schnellen, all das faszinierte Robin so sehr, dass er starr dort hockte, wie gebannt.

Mittlerweile fühlte der Bach sich beinahe lauwarm an, gewärmt durch die Kraft der Strömung und von unserem eigenen Adrenalin. Aber das Wasser wand sich wie ein wildes Wesen. Weiter abwärts ließen die Stromschnellen nach, hier beugten sich von beiden Seiten Bäume mit orangerotem Laub über den Bach. Hinter uns, bachaufwärts, entsprang der Strom der Zukunft, floss über unsere Rücken hinweg in die Vergangenheit, in den schillernden Schein der Sonne.

Robin betrachtete seine Arme und Beine im Wasser. Er kämpfte gegen die Strömung, die um ihn und über ihn dahinschoss. Als wäre man auf einem Planeten, auf dem die Schwerkraft sich dauernd ändert.

Schwarz gestreifte Fische, so lang wie mein kleiner Finger, kamen geschwommen und stupsten uns an, etwas wie ein Kuss. Ich brauchte einen Moment, bis ich darauf kam, dass sie unsere abgeschuppte Haut knabberten. Robin konnte gar nicht genug davon bekommen. Er war das größte Ausstellungsstück in seinem eigenen Aquarium.

Wie Krebse wanderten wir stromaufwärts, breitbeinig, Arme ausgestreckt, die Hände tasteten nach Stellen, an denen wir uns unter Wasser festhalten konnten. Robin krabbelte seitwärts von einem Wasserfall zum nächsten, spielte Krustentier. Ich hatte eine neue Felswanne gefunden, tief atmete ich die Gischt ein – sämtliche negativen Ionen neutralisiert durch die Verwirbelung von Luft und Wasser. Die Summe all dieser Empfindungen begeisterte mich: die Gischt in der Luft, der Ansturm des Wassers, die stürzenden Kaskaden, ein letzter gemeinsamer Schwimmausflug im nun zu Ende gehenden Jahr. Und wie eine Strömung in diesem Felsbach drückte ich mich für einen Augenblick in die Höhe, dann kam der Absturz.

Hundert Meter stromaufwärts kam Alyssa mit den Füßen voran das Bachbett hinuntergeschossen, in einem Neoprenanzug, der ihr so eng saß wie eine zweite Haut. Ich suchte mir einen festen Stand weiter unten, um sie aufzufangen – sie juchzte laut, als das Wasser sie mir über die Stromschnellen entgegenschleuderte. Ihr Körper kam herangehüpft, klein, doch gewaltig, wurde immer größer, je mehr er sich näherte, und gerade als ich meine Muskeln anspannte, um sie zu packen, ging sie geradewegs durch mich hindurch.

Robbie ließ seinen Halt los und kletterte zu mir herunter. Ich streckte einen Arm aus, und er nahm ihn. Er packte mich und sah mir in die Augen. Hey. Was hast du?

Ich wich seinem Blick nicht aus. »Dir geht es besser. Mir schlechter. Aber nur ein wenig.«

Dad! Mit seiner freien Hand zeigte er in die Runde, all das Beweismaterial. Wie kann es dir denn hier schlecht gehen? Schau doch nur, wo wir hier sind! Wer kann das hier überhaupt begreifen?

Niemand. Kein Mensch auf der Welt.

Er suchte sich, immer noch an mich geklammert, einen Platz in der stürzenden Flut, zum Nachdenken. Er brauchte gerade mal eine halbe Minute. Moment. Du warst mit Mom hier? Eure Hochzeitsreise?

Übernatürliche Kräfte. Ich konnte nur staunend den Kopf schütteln. »Wie machst du das, Sherlock?«

Er runzelte die Stirn und erhob sich im Wasser. Schwankend sah er sich um, betrachtete diese ganze Berggegend mit neuen Augen. Das erklärt alles.

Ins Lager zurückgekehrt spürte ich, wie groß mein Verlangen nach den neuesten Nachrichten war. Ich wusste nichts über all die dringenden Dinge, die in der Welt vorgingen. Mitteilungen meiner Kollegen sammelten sich im Maileingang. Astrobiologen auf fünf Kontinenten, alle über die jüngsten Veröffentlichungen gebeugt. In der Antarktis brachen Eisschelfe ab. Staatsoberhäupter loteten aus, wie weit die Leichtgläubigkeit der Öffentlichkeit ging. Überall flammten kleine Kriege auf.

Ich kämpfte die Informationsentzugserscheinungen nieder, und Robin und ich streiften von Kiefernzweigen die Nadeln ab, für ein Feuer. Wir hatten unsere Rucksäcke über einen zwischen zwei Platanen gespannten Draht gehängt, so dass selbst die hungrigsten Bären nicht herankamen. Als das Feuer erst einmal prasselte, hatten wir keine andere Verpflichtung auf der Welt mehr, als unsere Bohnen aufzuwärmen und unsere Marshmallows zu grillen.

Robin starrte in die Flammen. In einem roboterhaften Ton, der seinen Kinderarzt erschreckt hätte, befand er: Das ist das gute Leben. Und kurz darauf: Hier gehöre ich hin.

Unsere einzige Beschäftigung war das Funkenbeobachten, und darin waren wir Meister. Ein letzter Streifen purpurfarbenes Sonnenlicht überzog noch die Bergkämme im Westen. Die Wälder an den Hängen machten sich, nachdem sie den ganzen Tag lang eingeatmet hatten, nun ans Ausatmen. Schatten tanzten um das Feuer. Bei jedem Geräusch blickte Robin sich um. In seinen großen Augen stand etwas auf halbem Wege zwischen Spannung und Furcht.

Zu dunkel zum Zeichnen, flüsterte er.

»Stimmt«, bestätigte ich ihm, obwohl er es vermutlich auch im Dunkeln gekonnt hätte.

So hat es in Gatlinburg auch mal ausgesehen?

Eine Frage, die mich aus meinen Gedanken riss. »Die Bäume größer. Viel älter. Die meisten hier sind noch nicht mal hundert Jahre alt.«

In hundert Jahren kann ein Wald eine Menge erreichen.

»Allerdings.«

Mit zusammengekniffenen Augen schickte er alle erdenklichen Orte – Gatlinburg, Pigeon Forge, Chicago, Madison – zurück in die Wildnis. Ich hatte es selbst so gemacht, in meinen schlimmsten Nächten nach Alyssas Tod. Aber im Verstand dieses Jungen, des Kindes, das mich am Leben hielt, wirkte so ein Wunsch ungesund. Vernünftige Eltern, egal wo auf der Welt, hätten ihm so etwas ausgeredet.

Robin ersparte mir diese Mühe. Er sprach immer noch mit leiser Roboterstimme. Aber ich sah das Leuchten, mit dem seine Augen das Feuer studierten. Mom hat am Abend immer Gedichte vorgelesen? Für Chester?

Wer hätte sagen können, wie er von einem Gedanken auf den nächsten kam? Ich hatte den Versuch dahinterzukommen schon lange aufgegeben.

»Das hat sie.« Es war Alyssas Lieblingsritual gewesen, schon lange bevor ich auf der Bildfläche erschienen war. Zwei Gläser Rotwein, und sie hatte dem unglaublichsten Beagle-Bordercollie-Mischling, den je einer aus dem Tierheim gerettet hatte, ihre Lieblingsverse vorgelesen.

Gedichte. Für Chester!

»Ich habe auch zugehört.«

Ich weiß, sagte er. Aber offenbar zählte ich nicht.

Die Glut sprühte Funken, dann verglomm sie zu rotgrauen Barren. Einen Moment lang fürchtete ich, er würde mich auffordern, ihre Lieblingsgedichte aufzuzählen. Stattdessen sagte er: Wir sollten uns einen neuen Chester zulegen.

Der Tod von Chester hatte ihn beinahe umgebracht. All die Trauer um Alyssa, die er unterdrückt hatte, um mich zu schützen, war aus ihm herausgebrochen, als dieser lahme alte Köter seinen Kampf aufgab. Jetzt übernahm Wut das Regiment, und eine Zeitlang ließ ich zu, dass die Ärzte ihm Medikamente gaben. Nichts anderes hatte er mehr im Sinn, als einen neuen Hund zu bekommen. Lange Zeit hatte ich mich dagegen gewehrt. Die schiere Vorstellung tat mir weh.

»Ich weiß nicht, Robin.« Mit einem Stock schürte ich die Glut auf. »Ich glaube nicht, dass wir noch einmal einen Chester finden.«

Es gibt gute Hunde, Dad. Überall.

»Das ist eine Menge Verantwortung. Füttern, spazieren gehen, sauber halten. Ihm Abend für Abend Gedichte vorlesen. Und die meisten Hunde mögen Lyrik nicht einmal.«

Ich kann viel Verantwortung übernehmen, Dad. Mehr Verantwortung als je zuvor.

»Wir schlafen drüber. Einverstanden?«

Er löschte das Feuer, bis es vor Wasser triefte, um mir zu zeigen, wie verantwortungsvoll er sein konnte. Wir krochen in das Zweimannzelt und lagen Seite an Seite auf dem Rücken, kein Überzelt, nur das hauchfeine Netzgewebe zwischen uns und dem Universum. Die Baumwipfel wiegten sich im herbstlichen Vollmond. Er beobachtete die Bewegungen, und ein Gedanke nahm in seinen Zügen Gestalt an.

Wir könnten ein riesiges Ouijabrett über ihnen aufhängen, mit der Oberseite nach unten. Dann könnten sie uns Botschaften schicken, und wir könnten sie lesen!

Im Wald hinter unseren Köpfen flog ein Vogel auf, noch eine kryptische Botschaft, die kein Menschenwesen je entziffern würde. Whip-poor-will. Whip-poor-will. Ich wollte ihm sagen, dass diese Nachtschwalbe ihren Namen nach ihrem Ruf erhalten hatte, aber das brauchte ich nicht. Der Vogel erzählte es selbst. Whip-poor-will. Whip-poor-will. Whip-poor-will. Whip-poor-will.

Robin packte mich am Arm. Der dreht durch!

Immer wieder rief der Vogel seinen Namen, eine Endlosschleife im kühlen Dunkel. Beide zählten wir lautlos, gaben aber auf, als wir bei hundert angekommen waren und der Vogel keinerlei Ermüdungszeichen erkennen ließ. Dieser Vogel war immer noch zugange, als Robin die Augen zufielen. Ich stupste ihn an.

»He, junger Mann! Das haben wir vergessen. ›Möge jedes fühlsame Wesen …‹«

›… frei sein von grundlosem Leiden.‹ Woher kommt das eigentlich? Ich meine, wo hatte Mom es her?

Ich erklärte ihm, dass es aus dem Buddhismus stamme, die vier Unermesslichen. »Es gibt vier Tugenden, die das Üben wert sind. Sei gütig zu allem, was lebt. Bleibe gleichmütig und beständig. Freue dich für jedes Geschöpf, das glücklich ist, wo immer es sei. Und vergiss nicht, dass jedes Leiden zugleich dein Leiden ist.«

War Mom Buddhistin?

Ich lachte, und er versetzte mir durch zwei Schlafsäcke hindurch einen Knuff gegen den Arm. »Deine Mutter war eine Religion für sich. Wenn sie etwas sagte, dann war es das Sagen wert. Wenn sie sprach, dann hörten alle zu. Sogar ich.«

Einen halben Laut gab er noch von sich, dann schlang er die Arme um sich. Ein größeres Tier stöberte in dem Abhang oberhalb des Zelts, man hörte Zweige knacken. Kleinere Geschöpfe waren in der Laubschicht unterwegs. Fledermäuse vermaßen die Landschaft mit Tönen außerhalb unseres Hörbereichs. Aber nichts davon machte meinem Sohn Sorgen. Wenn Robin glücklich war, war er mit allen vier Tugenden im Reinen.

»Sie hat mir einmal gesagt, egal mit wie viel Schlimmem sie sich im Laufe eines Tages habe abgeben müssen – wenn sie vor dem Einschlafen diese Worte spreche, dann sei sie am nächsten Morgen gegen alles gefeit.«

Eine Frage noch, sagte er. Was machst du genau, bei deiner Arbeit?

»Ach Robbie. Es ist spät.«

Im Ernst. Wenn jemand in der Schule mich fragt, was soll ich dann sagen?

Das war der Anlass für seine Suspendierung vor einem Monat gewesen. Der Sohn eines Bankers hatte von Robin wissen wollen, was ich arbeite. Robin hatte geantwortet: Er forscht nach Leben im Weltall. Woraufhin der Sohn eines Wirtschaftsbosses gesagt hatte: Rotkehlchens Vater ist ein Stück Klopapier. Er fliegt in einer Umlaufbahn um den Ur-Anus und hält Ausschau nach Kacke. Das war für Robin zu viel; angeblich hatte er beiden gedroht, sie umzubringen. Heutzutage reichte das für einen Schulverweis und die sofortige Einweisung in die Psychiatrie. Wir hatten noch Glück gehabt.

»Das ist kompliziert.«

Er machte eine Handbewegung in Richtung der Wälder über uns. Wir haben ja heute Abend nichts anderes mehr vor.

»Ich schreibe Programme, die versuchen, alles zu erfassen, was wir über sämtliche Systeme jeder erdenklichen Art von Planeten wissen – Gestein, Vulkanismus, die Meere, alles Physikalische und Chemische –, und anhand der Gesamtheit der Daten vorauszusagen, aus welchen Gasen ihre Atmosphäre vermutlich zusammengesetzt ist.«

Wozu?

»Weil die Atmosphäre Bestandteil der Lebensprozesse ist. Das Mischungsverhältnis von Gasen verrät uns, ob es auf einem Planeten Leben gibt.«

So wie hier?

»Genau das. Meine Programme haben sogar die Zusammensetzung der Erdatmosphäre in bestimmten Epochen vorausgesagt.«

Die Vergangenheit kann man nicht voraussagen, Dad.

»Doch. Das kann man, wenn man bisher noch nichts darüber gewusst hat.«

Und wie erkennst du, was für Gase ein Planet in hundert Lichtjahren Entfernung in seiner Atmosphäre hat, wo du ihn nicht einmal siehst?

Ich stieß einen Seufzer aus und veränderte damit die Atmosphäre in unserem Zelt. Es war ein langer Tag gewesen, und um das Wissen zu erwerben, das er wollte, waren zehn Jahre Studium nötig. Andererseits stand eine Kinderfrage am Anfang aller Dinge. »Na gut. Du erinnerst dich an die Atome?«

Ja. Sehr klein.

»Und Elektronen?«

Noch viel kleiner.

»Elektronen können in Atomen nur in bestimmten Energiezuständen existieren. Stell sie dir auf den Stufen einer Treppe vor. Wenn sie eine Stufe rauf- oder runtergehen, absorbieren sie Energie – oder geben sie ab – innerhalb gewisser Frequenzen. Diese Frequenzen hängen davon ab, in was für einer Art Atom sie sich gerade befinden.«

Irre. Er grinste die Sterne oberhalb des Zeltes an.

»Das findest du schon irre? Dann pass mal auf. Wenn du dir das Lichtspektrum eines Sterns anschaust, siehst du kleine schwarze Linien – Frequenzen dieser Treppenstufen. Man nennt es Spektroskopie, und damit lässt sich feststellen, was für eine Art von Atomen es auf diesem Stern gibt.«

Kleine schwarze Linien. Von Elektronen Abermillionen von Meilen entfernt. Wer ist denn auf so was gekommen?

»Wir sind eine sehr clevere Spezies, wir Menschen.«

Er antwortete nicht darauf. Ich stellte mir vor, dass er wieder eingeschlafen war – ein gutes Ende für einen schönen Tag. Selbst die Nachtschwalbe hatte ein Einsehen und machte Feierabend. Die Ruhe, die damit eintrat, füllten das Bandsägensirren der Insekten und das Gurgeln des Flusses.

Ich musste wohl auch eingenickt sein, denn Chester saß da, hatte mir die Schnauze aufs Bein gelegt, winselte, und Alyssa las dazu etwas von der Seele, die die radikale Unschuld neu entdeckt.

Dad! Dad! Jetzt weiß ich es.

Ich fuhr hoch, aus dem Gewebe des Schlafes. »Was weißt du, Schatz?«

In seiner Aufregung ließ er mir das Kosewort durchgehen. Warum wir sie nicht hören können.

Ich schlief halb, verstand ihn nicht.

Wie heißen diese Felsenfresser noch mal?

Er versuchte immer noch, das Fermi-Paradoxon zu lösen – die Frage, wie es sein konnte, dass es trotz all der Weite des Weltalls in Raum und Zeit anscheinend niemanden dort draußen gab. Mit der Frage war er schon seit unserem ersten Abend in der Blockhütte beschäftigt, als er durchs Teleskop hinauf zur Milchstraße geschaut hatte: Wo sind die denn alle?

»Lithotrophe.«

Er schlug sich vor die Stirn. Lithotrophe! Na klar. Stell dir vor, es gibt einen Felsplaneten voll mit Lithotrophen, die in dem massiven Gestein leben. Verstehst du?

»Bisher nicht.«

Ach, jetzt komm, Dad. Vielleicht leben sie auch in flüssigem Methan oder was weiß ich. Sie sind unglaublich langsam, praktisch steif gefroren. Ihre Tage sind für uns Jahrhunderte. Was ist, wenn ihre Botschaften für unsere Verhältnisse dermaßen langsam sind, dass wir gar nicht merken, dass es Botschaften sind? Weil fünfzig von unseren Jahren für sie gerade mal reichen, um zwei Silben zu schicken.

Unsere Nachtschwalbe legte wieder los, in weiter Ferne. Ich war in Gedanken immer noch bei Chester, wie er, leidgeprüft, sich weiter mit Yeats abmühte.

»Eine sehr gute Idee, Robbie.«

Und vielleicht gibt’s eine Wasserwelt, wo unglaublich kluge, unglaublich schnelle Vogelfische umherzischen und versuchen, unsere Aufmerksamkeit zu erregen.

»Aber sie senden zu schnell, und wir verstehen ihre Botschaften nicht.«

Genau! Wir sollten versuchen, in verschiedenen Geschwindigkeiten zu horchen.

»Deine Mutter liebt dich, Robbie. Weißt du das?« Unser kleiner Zauberspruch, und er ließ ihn zu. Doch von Beschwichtigung war er weit entfernt.

Aber du sagst das wenigstens den Leuten, die da horchen, ja? Denen vom SETI-Institut.

»Mache ich.«

Seine nächsten Worte weckten mich wieder neu. Eine Minute, drei Sekunden, eine halbe Stunde später: Wer hätte das sagen können?

Weißt du noch, wie sie immer gesagt hat: »Wie reich du doch bist, kleiner Mann?«

»Das weiß ich noch.«

Zur Antwort reckte er beide Hände zu den mondbeglänzten Bergen empor. Den windgebeugten Bäumen. Dem Tosen des Flusses ganz in der Nähe. Den Elektronen, wie sie in dieser ganz speziellen Atmosphäre die Treppe hinunterpurzelten. Sein Gesicht, im Dunkel, strengte sich an, es ganz genau zu sagen. So reich. So reich bin ich.

Als er mich schließlich zur Ruhe kommen ließ, konnte ich nicht einschlafen. Uns zweien ging es prima bei unserem Camping im Wald mit ein paar aufgewärmten Bohnen und einem