Das größere Glück - Richard Powers - E-Book

Das größere Glück E-Book

Richard Powers

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Beschreibung

Eine junge Frau in Chicago, die vor Glück nur so strahlt. Sie lebt völlig ohne Zorn, alle Freunde und Bekannte kreisen nur um sie. Doch sie stammt aus Algerien, einem Hexenkessel aus Gewalt und Gegengewalt, dem sie nur knapp entging. Kennt sie das Geheimnis des Glücks, besitzt sie gar das »Glücks-Gen«? Laboratorien und Fernsehshows reißen sich um sie, ein Karussell, das sich immer schneller dreht, bis sie alles zu verlieren droht. Meisterhaft ist Richard Powers ein großer Roman gelungen über die Frage, was unser Leben bestimmt – die Sterne, die Eltern, oder liegt alles in den Genen? Mit einer zärtlichen Liebesgeschichte sucht er die Antwort: Greift die Zukunft nach uns oder wir nach der Zukunft?

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Seitenzahl: 558

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Richard Powers

Das größere Glück

Roman

Aus dem Amerikanischen von Henning Ahrens

FISCHER E-Books

Inhalt

[Widmung]Teil Eins – Von seltsamen Ländern und MenschenTeil Zwei – Wie auf WolkenWenn wir für jedesDrei Tage später ruft [...]Haben Sie wirklich keinEr besticht die Kamera – [...]Seltsamerweise ist es vielSchnitt. Tonia Schiff mit [...]Gut, dann lassen SieKurton lacht schallend. Er [...]Nun, da würden die künstlichenEs folgt eine flotte [...]Wenn ich richtig informiertKurtons technisch hochgerüstetes Haus [...]Teil Drei – Mehr als nur ZufallTeil Vier – Die nächste erste SeiteTeil Fünf – Genauso wenig wie Gott

Für JTK

La vraie générosité envers l’avenir consiste à tout donner au présent. – Camus

Teil EinsVon seltsamen Ländern und Menschen

Der Überschwang befördert uns an Orte, an die wir sonst nie gelangt wären – durch die Savanne, auf den Mond, in die Phantasie –, und wenn wir selbst nicht überschwänglich genug sind, werden wir vom Überschwang anderer angesteckt und mitgerissen und machen uns gemeinsam mit ihnen auf die Reise.

 

Kay Redfield Jamison, Exuberance

 

Ein Mann sitzt in einer übervollen U-Bahn, den Rücken in Fahrtrichtung. Der Herbst, die Jahreszeit der inneren Einkehr, dürfte nicht mehr fern sein. Ich stelle mir vor, dass er, mit seinem Erbe beladen, durch die Tunnel unter der I-Will-City braust, die auf der Liste der bevölkerungsreichsten Städte an fünfundzwanzigster Stelle zwischen Tianjin und Lima steht. Er summt ein beruhigendes Mantra vor sich hin, einen Song, in dem der Name Chicago auftaucht, aber die Bahn übertönt die Melodie.

Ich weiß, dass er gerade zweiunddreißig geworden ist, doch er wirkt viel älter. Anfangs erkenne ich ihn nur undeutlich. Aber das liegt an mir, nicht an ihm. Ich bin Jahre entfernt und befinde mich in einem anderen Land, und an diesem Abend ist die U-Bahn so voll, dass jeder fast unsichtbar ist.

Also noch ein Blick: Das ist der einzige gute Grund dafür, an diesem Abend unterwegs zu sein. Die leere Seite ist geduldig, und Inhalt und Bedeutung können warten. Ich beobachte ihn so lange, bis er Gestalt annimmt. Er kauert auf dem Sitz, die Knie zusammengedrückt, die Ellbogen an den Körper gepresst. Seine Kleidung ist wie dafür geschaffen, dass man ihn übersieht: rostfarbene Jeans, braunes Freizeithemd und blaue Windjacke mit kaputtem Reißverschluss – die Tarnung der Neutralen, wie sie im letzten Jahr in Mode war. Er ist so weiß, wie man es in dieser U-Bahn nur sein kann. Seine Körpergröße erstaunt ihn selbst. Sein ungescheiteltes Haar wartet auf einen Verweis, und seine Augenfarbe changiert zwischen Grünbraun und Braun. Sein Gesicht hinkt der Zeit um ungefähr sechs Jahrhunderte hinterher. Er wäre die ideale Besetzung für die Rolle eines Franziskaner-Novizen in einem der Mystery-Filme, die in mittelalterlichen Klöstern spielen.

Er umklammert einen auf seinem Schoß liegenden Beutel mit zerlesenen Büchern. Nein; sieh genauer hin: Es ist eine zerknitterte Plastiktüte mit herbstlich bunten Füllhörnern und dem Werbeslogan: Hundertprozentige Zufriedenheit … und noch viel mehr!

Er sitzt gekrümmt und reumütig da, typische U-Bahn-Haltung. Seine Schultern entschuldigen sich dafür, dass er überhaupt Platz im öffentlichen Raum einnimmt. Sein Kinn reckt sich in der Erwartung des unvermeidlichen Angriffs, der aus jeder beliebigen Richtung kommen kann. Ich würde sagen, dass er unterwegs ist, weil er schon wieder eine letzte Chance bekommen hat. Er bietet seinen Platz einer jungen Latina in Krankenschwesterntracht an. Sie grinst nur und gibt ihm mit einem Wink zu verstehen, er solle sitzen bleiben.

Früher Abend, dreizehn Meter unter der boomenden Stadt: Die Bahn schlängelt sich minütlich unter mehr Menschen durch, als im Himmel eines Fundamentalisten Platz hätten. Über der Erde dürfte es regnerisch und längst dunkel sein. Die Bahn hält, noch mehr Berufstätige auf dem Heimweg drängen hinein, der schwache Nieselregen des Septembers. Wir zählen das fünfte Jahr, seit mehr Menschen in der Stadt als auf dem Land leben.

Ich beobachte, wie er einen gelben Notizblock auf die fast umkippende Büchertüte legt. Er blättert ihn durch, schlägt jedes Blatt um und lässt es über die Bindung hängen. Die Blätter füllen sich mit Absätzen, die Handschrift ist wie gestochen. Rote und grüne Pfeile schwärmen im Text aus, nervöse Manöver und Gegenmanöver.

Seine Bewegungsfreiheit ist durch einen dichten Wald von Pendlern eingeschränkt. Verkabelte Leute mit Musik im Ohr. Neben ihm sitzt ein regennasser Mann, Wasser tropft auf seine Schuhe. Ringsumher bedrängt ihn die Menschheit: Beißer von der Handelskammer, ausgebrannt mit achtundzwanzig. Rezeptionistinnen der vier Top-Wirtschaftsprüfungsfirmen. Marktforscher, die tagelang Zielgruppen für die kommende Generation tragbarer Entionisierer analysiert haben. Lieferanten und Unternehmer, Drogendealer, Zahlenklitterer, Hilfskellner, Fundraiser. Schon die leise Erinnerung an diese Leute versetzt mich in Panik.

Die Abteilwände sind von Werbung bekrönt: Besiegen Sie Ihren inneren Schweinehund. Wissen, wie die Welt tickt. Vervollkommnen Sie Ihr Leben. Alle paar Minuten ertönt eine Stimme aus den Lautsprechern: »Falls Sie verdächtiges Verhalten oder herrenloses Gepäck bemerken …«

Ich zwinge mich dazu, dem kritzelnden Mann über die linke Schulter zu schauen und seine Notizen auszuspähen. Das Geheimnis aller Phantasie: Diebstahl. Ich starre die gelben Notizblockseiten an, bis sie verschwimmen. Sie sind über und über mit Unterrichtsplänen bedeckt.

Ich kenne diesen Mann. Man hat ihn aus dem Heer der Aushilfslehrer dieser Stadt gefischt. Man hat ihn in allerletzter Minute eingestellt, und obwohl er sich rasant seinem Ziel nähert, der South-Loop-Station, brütet er immer noch über der allerersten Unterrichtsstunde, die er heute Abend geben soll. Die Beweislage ist so klar wie ein Text in Großbuchstaben: Ethik und Moral haben sein Leben ruiniert, und dieser zufällig ergatterte Abendkurs ist als Teilzeitjob seine letzte Hoffnung auf Rehabilitation. Er hätte nie damit gerechnet, noch einmal eine solche Chance zu bekommen. Tod und Wiederauferstehung: Diese Geschichte kenne ich, als hätte ich sie selbst geschrieben.

Er wird in der rumpelnden Bahn hin und her geworfen, kauert sich auf seinen Sitz, und ich bin mit meinem Latein am Ende. Ich höre auf zu spekulieren und beobachte nur noch. Eine Überschrift auf dem ersten Blatt seines Blocks lautet: Fiktiv/Nonfiktiv 14, Abschnitt RS : Reise und Reisetagebuch.

Ein massiger Teenager mit Bomberjacke rempelt ihn an. Er ringt sich ein unterwürfiges Lächeln ab. Dann zeichnet er weiter rote Pfeile, selbst jetzt noch, zwei Stationen von seiner ersten Unterrichtsstunde entfernt. Wie ich immer sage: Es ist nie zu spät, sich zu gut vorzubereiten. Seine Hand mit dem Stift erstarrt in der Luft; er hebt den Kopf. Ich schaue weg, weil ich glaube, beim Spionieren ertappt worden zu sein. Doch er zögert nur. Als ich wieder hinschaue, stelle ich fest, dass er jemanden beobachtet.

Er beobachtet einen dunkelhaarigen Jungen, der ihm gegenübersitzt und in dessen Händen ein Geheimnis zum Leben erwacht. Etwas Gelbes flattert auf die Faust des Jungen, der einen Distelfink mit zwei Fingern vorsichtig an den Beinen packt. Der Junge beruhigt den Fink, flüstert ihm Koseworte in einer fremden Sprache zu.

Die Hand meines Aushilfslehrers hängt immer noch in der Luft, als könnte er die Szene durch die leiseste Bewegung stören. Als der Junge den Blick bemerkt, steckt er den Vogel schnell in einen zylinderförmigen Bambuskäfig. Mein Spion wird tiefrot und widmet sich wieder seinen Notizen.

Ich schaue zu, wie er den Block durchblättert und bei einer Seite innehält, auf der die Worte Erste Aufgabe mit grünem Textmarker hervorgehoben sind. Der Absatz darunter ist mehrmals überarbeitet worden. Er streicht noch einmal alles durch und schreibt: Hast du gestern etwas erlebt, das es wert wäre, einem wildfremden Menschen erzählt zu werden?

 

Die Möglichkeit, dass es kein solches Erlebnis gibt, versetzt ihn offensichtlich in Angst und Schrecken. Das sehe ich seinem Rücken an: Er wird niemanden mit dem spannendsten Erlebnis des Tages belästigen, schon gar keinen wildfremden Menschen.

Also muss ich die Frage an seiner Stelle beantworten. Ich muss schildern, was dieser Tag für ihn bereithält, welches Ereignis dazu führt, dass ihm das Leben nicht nur fremd, sondern wildfremd erscheint.

 

Er steigt an der Roosevelt aus, geht in Richtung Wabash. Er kämpft sich gegen den abendlichen Menschenstrom die Treppe hinauf. Immer noch strömen Reste der Tagesschicht unter die Erde, alle wollen halbwegs pünktlich nach Hause. Sie wollen zu Hause sein, bevor der frühherbstliche Regen ihre Parzellen wegschwemmt. Sie wollen zu Hause sein, bevor an den Nikkei gekoppelte Derivate beim DAX in Frankfurt eine Panik auslösen. Bevor irgendein Schurkenstaat eine alles verheerende Biowaffe durch den Sankt-Lorenz-Strom in den Michigan-See befördert.

Oben auf der Straße wird mein Aushilfslehrer von der Dramaturgie des Stadtzentrums überwältigt. Die Granitschluchten, die Lichtsignale der Glastürme, die er nicht deuten kann, weil er ihnen zu nahe ist. Im Nordosten steigt die Skyline zu atemberaubenden Zikkuraten an. Dieses Panorama lässt sein Herz so schnell schlagen wie früher die Weltausstellung, die ihm als Jungen die nahe Zukunft zeigte. Irgendjemand in der Menge stößt ihn in den Rücken, und er geht weiter.

Am Ende einer Schlucht kann er im Osten einen Abschnitt des Seeufers sehen: eine zubetonierte Küstenlinie, die man für Chicago hält. Einmal stand er auf den Stufen des sagenumwobenen, im neunzehnten Jahrhundert erbauten Palastes der Präparate und betrachtete das steil aufragende Gesicht der Stadt im Norden – die Boote im Yachthafen, den smaragdgrünen Park, die epischen Klippen der Wolkenkratzer, die in zwei Arten von Blau ragten –, und trotz allem hatte er das Gefühl, dass sich dieser Ort mit Macht auf etwas Erhabenes und Großes zubewegte.

Links von ihm bevölkern Müllcontainer, groß wie Pottwale, einen blocklangen Schlund. Der Bauschutt des letzten Jahrhunderts quillt aus den Containern. Noch ein Riesenengel erhebt sich aus den Tiefen, seine Träger haben saphirblaue Haut. Luxuriöses Wohnen in einer Himmelsloge: Topaktuelle South-Loop-Renaissance. Die Obdachlosen des vergangenen Jahres hat man in Heime am Stadtrand verfrachtet. Seit dem großen Brand hat Chicago nie besser ausgesehen. Die Stadt will ein Ziel erreichen, sie strebt auf etwas zu, das außer Sichtweite der Bewohner liegt und das sich sowieso niemand leisten kann.

Er würde am liebsten etwas in seinem Block notieren. Regel Nummer 1: Alles aufschreiben, bevor es sich auflöst. Ja, er würde gern etwas aufschreiben – über den Schmelztiegel der Erneuerung, über Fall und Aufstieg eines jeden Wohnblocks auf dem Weg zum vagen Ziel der Stadt. Doch er schwimmt im Strom der Fußgänger mit, die nach Feierabend unterwegs sind, er fürchtet, wegen verdächtigen Verhaltens verhaftet zu werden. Er bleibt vor dem Mesquakie College of Art stehen, ein Tempel aus Kalkstein zwischen Stahlbauten, errichtet in einer Zeit, als die höchsten Wolkenkratzer bestenfalls ein Dutzend Stockwerke hatten.

 

Ja, du hast recht: Die Straßen verlaufen ein bisschen anders. Dieses Viertel ist leicht versetzt. Das College befindet sich nicht wirklich hier; es ist nicht das College.

Dieser Ort ist irgendeine Parallelstadt. Dieses Chicago ist Chicagos Retortenbaby, genetisch verändert, um flexibler zu sein. Und diese Worte sind kein Reisebericht. Sondern Reise.

 

Er heißt Russell Stone. Jedenfalls nennt er diesen Namen dem Wachmann in der Lobby des Mesquakie. Der Mann verlangt einen College-Ausweis; Russell Stone muss passen. Er versucht, seine Einstellung in letzter Sekunde zu erklären. Der Wachmann kämmt einen Ausdruck nach Russells Namen durch, vergeblich. Er telefoniert hin und her und wiederholt den Namen dabei so misstrauisch, dass Russell Stone sich am liebsten für den anmaßenden Irrglauben entschuldigt hätte, hier je einen Job bekommen zu haben.

Schließlich legt der Mann auf. Er erklärt mit verhaltenem Zorn, dass Stone den Stichtag versäumt habe, und gibt ihm trotz seiner Bedenken eine Sicherheitsmarke. Dabei schüttelt er die ganze Zeit den Kopf.

Als Russell den Raum endlich findet, sind seine acht, am ovalen Tisch sitzenden Studenten schon in zig Gespräche vertieft. Er begreift auf Anhieb, dass seine Vorbereitung grundfalsch war. Er betastet das sorgfältig ausgewählte Textbuch durch das dicke Plastik der Tüte – Frederick P. Harmons Wie Ihr Schreiben zum Leben erwacht. Doch es ist zu spät; das Buch ist ein absurder Irrtum. Dieser Kurs wird sich noch lange darüber amüsieren.

Eigentlich müsste ich Mitleid mit dem Mann haben. Aber was, im Namen aller zweiten Chancen, hat er sich nur dabei gedacht?

Er steht in der Tür, probiert ein schüchternes Lächeln; niemand beachtet ihn. Er strebt kopfnickend auf die Lücke im Oval der Studenten zu. Um sie zur Ruhe zu mahnen und zu verbergen, dass seine Hände zittern, lässt er die Tüte auf den Tisch plumpsen. Er nimmt den Harmon zur Hand, betrachtet die Gruppe mit hochgezogener Augenbraue. Das Buch öffnet sich wie von selbst auf einer Seite mit vielen Anstreichungen:

Überzeugende Figuren verhalten sich je nach Publikum und Art einer Krisensituation anders. Anhand ihrer wechselnden Strategien durchschauen wir sie bald besser, als sie sich selbst durchschauen.

»Hat jeder eine Ausgabe des Buches?«

Niemand antwortet.

»Gut. Tjaaa …« Er blättert in seinem Notizblock. »Mal … schauen. Bitte nichts verraten!« Ein oder zwei Studenten kichern mehrdeutig. »Ach ja. Vorstellung. Wie wäre es mit einem Namen, ein paar biographischen Angaben und einer Lebensphilosophie? Ich fange an. Russell Stone. Tagsüber engelsgeduldiger Redakteur bei einer lokalen Zeitschrift. Lebensphilosophie …«

Aus Bequemlichkeit lege ich ihm meine in den Mund.

»Wenn man zu wissen glaubt, was man sieht, sollte man noch einmal genauer hinschauen.«

Er blickt zur links von ihm sitzenden Frau, ganz Lila und Stahl. »Also: Wer sind Sie, wenn Sie nicht zu Hause sind?«

Ich wünschte, ich hätte Stones Studenten besser vor Augen. Ich merke, wie sehr sie ihn aus dem Konzept bringen. Aber ich kann sie nicht genau erkennen. Sie verbergen sich hinter der trotzig-selbstbewussten Rolle der Jugend.

Zuerst ist Sue Weston an der Reihe, eine kleine, drahtige Frau, die sich unter Wölfen und im Auge der Gefahr am wohlsten fühlt. Sie hat einen schrägen Blick auf die Welt, unter dem schiefen Pony ihres selbstgestutzten Pagenschnitts. Kürzlich hat sie ihre wenigen weichen Stellen piercen lassen. Sie regt sich so sehr über die Meinung der Öffentlichkeit auf, dass man es mit der Angst zu tun bekommen könnte. Sie beschreibt ihre Lebensphilosophie: »Der lausigste, fünf Sekunden lange Werbejingle ist besser als jede Symphonie, wenn ihn mehr Leute summen.«

Eine dicke, blondierte, alles vertilgende Frau rechts von Sue bereitet sich schnaufend auf das Vorstellungsritual vor. Charlotte Hullinger ist in den letzten zweiundzwanzig Jahren zwölfmal umgezogen. Aus ihrem überfüllten Rucksack quellen Schmierzettel mit Skizzen. Ihr linker Mundwinkel ist in ständiger Skepsis verkniffen. Sie jagt mir Angst ein, verkündet schulterzuckend ihr Credo: »Ich probiere alles einmal aus. Wenn es gut ist, zweimal.«

Über Adam Tovars T-Shirt krabbeln Cowboys, über seine weite Hose trabt eine Parade von Zootieren. Diese Kluft trägt er immer und überall, ob beim Croquet auf der Dachterrasse oder bei der Beerdigung seiner Vorfahren. Er sagt: »Mein Urgroßvater wurde Bergmann, damit mein Großvater Ingenieur werden, damit mein Vater Dichter werden, damit ich Kiffer werden konnte.« Die anderen schenken ihm ein Lachen, und das ist schon alles, was er vom Leben will. Er erzählt, dass er im letzten Jahr an Bord eines Kreuzfahrtschiffs war, das von somalischen Piraten gekapert wurde. Mit einem stehe er noch in E-Mail-Kontakt. »Ich weiß nur eines ganz genau: Man kann nicht unbedarft genug sein.«

Roberto Muñoz – groß, hager, kahlköpfig und gehetzt – sieht sich ständig nach dem Ausgang um. Seine Haut lässt auf eine Stoffwechselstörung schließen, und er sollte besser zum Arzt gehen. Ich stelle mir vor, dass seine Eltern nachts die Wüste von Chihuahua durchquert haben, um in dieses Land zu gelangen, aber das ist vielleicht nur ein Klischee. Während der letzten vier Jahre hat ihm das Malen geholfen, vom Crystal wegzukommen. »Man muss mit den Karten spielen, die man auf der Hand hat«, sagt er mit Nachdruck. »Jeder muss das Beste aus seinem Blatt machen.«

Die geduckte Gestalt neben Roberto flüstert: »Kiyoshi Sims.« Er verbirgt sich hinter seinem schwarzen Brillengestell, als würde ihn die Gruppe vergessen, wenn er nur lange genug stillhält. Seine Menschen sind die Maschinen; von ihnen wird er heiß geliebt und anerkannt. Er könnte wie aus Versehen hundert Millionen Dollar mit einem digitalen Patent verdienen, das die Welt auf den Kopf stellt, und wäre trotzdem unfähig, sich davon eine Eigentumswohnung zu kaufen. »Ich weiß nicht genau, welche Lebensphilosophie ich habe«, stammelt er. »Darüber habe ich nie wirklich nachgedacht.«

»Mason Mason«, verkündet Mason Mason. Verlud für kurze Zeit Gepäck in O’Hare, bis man herausfand, dass er bei der Bewerbung gelogen hatte. Arbeitete für kurze Zeit als Berater für Jugendliche, bis man merkte, welche Ratschläge er gab. Er kratzt sich am Ohr und behauptet dann vollmundig: »Die meisten Leute hätten einen vermutlich gern tot, die wenigsten lebendig.«

Als Vorletzter ist John Thornell an der Reihe, ein schwerer, träger Hüne. Die Leute kümmern ihn weniger, als der Schnee einen Berg kümmert. Er erzählt von seinem neuesten Projekt, einer Serie von 365 Skriptolzeichnungen, die jeweils fein säuberlich das Logo eines täglich von ihm benutzten Produkts wiedergeben. Er verkündet seine Lebensphilosophie wie ein Roboter: »Das höchste aller menschlichen Gefühle muss wohl die Langeweile sein.«

Stones Studenten spielen sich selbst, jeder ist ein unvollendetes Kunstwerk. Ihre Augen füllen sich mit den Designs, die sie entwerfen, den Videoclips, die sie drehen, den Hypermedien, die sie heraufbeschwören werden. Russell Stone kennt sie alle aus der zehn Jahre zurückliegenden Zeit, als er noch einer von ihnen war. Er bedauert schon jetzt ihren Abstieg in die öden Weiten des Nonfiktionalen.

Die Runde der Vorstellungen schließt mit der links neben ihm sitzenden, schmalen, kleinen und ethnisch ambivalenten Frau. Sie trägt eine Jeans mit Bleichflecken und eine knallgelbe Tunika. An den rotbraunen Unterarmen trägt sie silberne Armreifen, über ihre Schultern schlängelt sich ein Tuch in bunten, mediterranen Farben. Sie hat ihr dunkles, lockiges Haar zum üppigen Pferdeschwanz gebunden. Sie wartet schamhaft, still und aufmerksam, bis sie an der Reihe ist.

Sie ist die Einzige, die ich ganz genau erkennen kann.

»Lassen Sie mich raten«, sagt Russell Stone. »Amzwar?« Das ist der letzte Name auf seiner Liste.

Sie lächelt über seinen lahmen Scherz. »Ja! Amzwar. Thassadit Amzwar.« Ihr Akzent passt in keine Schublade. Sie stellt sich als algerischstämmige Berberin aus der Kabylei vor und sagt, sie sei über Algier, Paris und Montreal gekommen. Ihre Augen sind bordeauxrot. Sie plaudert ganz entspannt, eingehüllt in den Nimbus ihrer Haare. Er meint zu hören, dass sie vor dem algerischen Bürgerkrieg geflohen ist. Er würde sie gern um eine Wiederholung dieser Worte bitten. Stattdessen packt ihn die Panik, und er fragt sie nach ihrer Lebensphilosophie.

»Das Leben ist zu schade für Philosophien«, erwidert sie. »Ich versuche, möglichst genauso wenig zu entscheiden wie Gott.«

 

Meine Augen gewöhnen sich ein: Dunkles, rissiges Linoleum, Fenster mit kaputten Rahmen. Neonröhren, brummend wie Propellerflugzeuge und tief über einer Runde von Studenten hängend, die noch von der Anspannung und Begeisterung des Anfangs erfüllt sind, als wäre immer noch alles möglich, sogar an diesem späten Punkt der Geschichte, sogar in Chicago.

Die erste Stunde geht so glatt, dass es Russell Stone mit der Angst zu tun bekommt. Die Studenten reißen den Lehrplan regelrecht an sich. Jeder von ihnen ist hungrig auf Frisches. Selbst die Älteren unter ihnen glauben noch, dass sich ihre Bestimmung in einem der nächsten Semester zeigen wird. Drei gestehen, dass sie dabei sind, weil Reise und Reisetagebuch für Leute, die im Hauptfach Medienkunst studieren, die einfachste Möglichkeit ist, um die Pflichtkurse im Schreiben abzuhaken. Wörter sind nicht das Gewand, in das sie ihre Verzweiflung kleiden; Sätze können nicht darauf hoffen, die Bilderflut zu überleben. Aber wer weiß? Auch ein Eintrag im Reisetagebuch könnte in ein kurzes Video verwandelt werden.

Mason Mason stellt die auf der Hand liegende Frage: »Warum schreiben wir nicht online? Tagebücher sind doch nur tote Blogs, oder?«

Russell hat sich drei Tage lang auf diese Frage vorbereitet. Er verteidigt das private Schreiben gegen alle, die ihre Texte für Leute mit einer Suchmaschine ins Netz stellen. »Ich möchte, dass Sie denken und fühlen, nicht, dass Sie sich verkaufen. Ihr Schreiben sollte eine intime Mahlzeit sein, keine Dinnershow.«

Seine Nostalgie wird mit einem Schulterzucken quittiert. Sie werden in der Zeitmaschine eine Runde rückwärts drehen; immerhin etwas Neues.

Sue Weston beschreibt ihr aktuelles Kunstprojekt. »Es heißt ›Elster‹. Ich stehe auf der Daley Plaza und notiere mir, was die Leute alles so in ihr Handy quasseln. Dann stelle ich es in einen Tumblelog. Schon verrückt, was die Leute auf der Straße einem Haufen Fremden preisgeben.«

Roberto Muñoz flüstert: »Erstaunt mich, dass du das ethisch korrekt findest.« Ein Aufschrei in der Gruppe, und schon fliegen unter den Kunststudenten die Fetzen. Russell Stone wird klar, dass er seinen Plan für die Stunde vergessen kann.

Adam Tovar beschreibt sein automatisches Geisterschreiben: »Ich lasse es einfach kommen.« Die Klasse beschließt durch namentliche Abstimmung, dass es tatsächlich Geister gibt, Uploads der Seele im virtuellen Vorrat.

»Das Schreiben kommt sowieso aus dem Jenseits«, behauptet John Thornell. »Einer ist doch immer tot, der Autor oder das Publikum, oder wird es jedenfalls bald sein.«

Die Algerierin sieht so fasziniert zu wie ein frisch von einer Krankheit genesenes Kind, das bei herrlichem Wetter einem Tennisspiel beiwohnt. Die anderen täuschen Gleichmut vor und ignorieren sie. Doch als sich Thassadit meldet, erstarren alle. »In meinem Land? Während der Schreckenszeit …?«

Russell kann ihr bald nicht mehr folgen. Sie erzählt etwas von ihrem Vater, der erschossen wurde, weil er einen Brief geschrieben hatte, spricht aber so gemessen, als wäre all das eine Metapher. Über Algerien weiß Stone nur, dass es früher eine französische Kolonie war und eine Nationalflagge hat, die astronomisch falsch ist. Die Sache mit dem Bürgerkrieg ist ihm neu. Die ganze Welt ist ihm neu.

Das offene Grinsen der Berberin irritiert die Amerikaner, die wieder über die Frage diskutieren, ob das Lauschen ethisch korrekt ist. Thassadit beobachtet sie still, die Hände friedlich auf den Tisch gelegt, in sich selbst ruhend. Sie lächelt während der ganzen Diskussion, als wäre dies eine höchst unterhaltsame Filmvorführung.

Sie überziehen die erste abendliche Unterrichtsstunde, noch bevor Russell auch nur ein Viertel seiner Notizen abgehakt hat. Er gibt den Studenten zwanzig Seiten aus Wie Ihr Schreiben zum Leben erwacht auf, entschuldigt sich fast für den Text, als hätte ihn jemand anderer ausgewählt. Er stellt ihnen die erste Aufgabe für das Tagebuch; jene über das Ereignis vom Vortag, das es wert wäre, einem wildfremden Menschen erzählt zu werden. Am übernächsten Abend werden sie den Eintrag laut vorlesen. »Viel Spaß«, sagt er und weicht dabei dem Blick der Algerierin aus. »Überrascht mich.«

Dann stolpert er am Wachmann des Colleges vorbei in die Septembernacht. Im Loop-Viertel herrscht Stille. Das dreidimensionale Gitterwerk aus Licht erinnert ihn an das Tetris-Spiel, nach dem sein Bruder süchtig ist. Neun Millionen Leben von hier bis zum Horizont, und Gott allein weiß, wie viele Kunsthochschulen für diesen Abend gerade Schluss machen. In einer Stunde werden die Abendkurse in Lima enden. In Tianjin hat der morgendliche Unterricht schon begonnen.

Mir geht auf, dass mein Aushilfslehrer noch nie von Tianjin gehört hat. Er steigt in der Roosevelt in die Red Line, fährt nach Norden, meidet die spärlich besetzten Abteile. Die Bahn taucht aus ihrer Grotte auf, braust durch eine Backsteinschlucht – die Rückseiten von Mietshäusern, eingerüstet in hölzerne Feuertreppen. Die abendlichen Lichter verwandeln sie in teure Eigentumswohnungen. Er ist hocherfreut, weil seine erste Stunde so gut gelaufen ist. Während der Fahrt kritzelt er einen Bericht über die letzten zwei Stunden in sein eigenes Tagebuch. Er schildert die gewollte Naivität und die mutige Selbsterfindung seiner Studenten. Wie würde das Leben wohl aussehen, schreibt er, wenn Kunststudenten am Ende ihre Revolution bekommen würden?

Russell Stone beantwortet seine Frage nicht. Ich beobachte ihn bei dem Versuch, möglichst genauso wenig zu entscheiden wie Gott.

In seiner Einzimmerwohnung am Logan Square macht er sich ein kleines Sandwich mit schlaffem Salat und Käse, von dem er erst eine Schimmelschicht abschabt. Dann versucht er, die Kabylei zu finden. Er will sie schwarz auf weiß auf einer Buchseite haben, nicht online. Er entdeckt sie im Atlas. Im Atlasgebirge. Ein Versteck in zerklüftetem Gelände, eine Separatisten-Hochburg mit Ziegen und Olivenbäumen in einem Land, das mit dem wunderbarsten und wohlriechendsten Frühling auf Erden gesegnet ist.

Als er im Dunkeln im Bett liegt, spielt er die Diskussion des Abends noch einmal durch. Er denkt die ganze Zeit an Fiktiv/ Nonfiktiv. In vier Stunden muss er aufstehen und sich auf die lange Fahrt zum täglichen Redaktionsjob machen. Nachdem er vierzig Minuten lang so getan hat, als würde er schlafen, wälzt er sich herum und knipst das Licht an. Sein Tagebuch liegt griffbereit auf dem Nachttisch. Er notiert unter seinem euphorischen U-Bahn-Eintrag: Sie muss der glücklichste Flüchtling auf der ganzen Welt sein.

 

Ich stelle mir eine erste Aufgabe: Russell Stone in maximal hundertfünfzig Wörtern.

Fangen wir so an: Seine früheste Untat hatte mit einem Buch über einen Jungen zu tun, dessen wundersame Kritzeleien zum Leben erwachen. Bei dem Versuch, diesen Trick nachzuahmen, verunstaltete er jede Seite mit Buntstiften. Das hat ihm seine Mutter nie wirklich verziehen.

Er verabscheut Bücher, in denen Lehrer eine Rolle spielen. Er meidet Geschichten, die in einer Schule angesiedelt sind. Ihm fällt kein Bildungsroman ein, der heutzutage noch brauchbar, schön oder einfach nur wahr wäre.

In der Schublade des Schreibtisches, den ihm sein Großvater vererbt hat, klebt immer noch das Zitat Schillers, das man postum in Melvilles Schreibtisch fand: »Sagen Sie ihm, dass er für die Träume seiner Jugend soll Achtung tragen.« Man wird Russells Zettel erst entdecken, wenn nach seinem Tod eine Haushaltsauflösung stattfindet.

Er fürchtet die Frage: Welche Musik hören Sie?

Er würde sich freuen, wenn er wüsste, dass er für mich noch ein weitgehend unbeschriebenes Blatt ist.

Einmal ließ er sich zu etwas sehr Untypischem hinreißen und kritzelte in einem der Klos der Zeitschrift, für die er arbeitet, an die Wand: »Manuskripte brennen nicht.«

 

Stone hat seit sechs Jahren kein Tagebuch mehr geführt. Er verzichtete ungefähr zu dem Zeitpunkt auf die Niederschrift privater Erinnerungen, als das MyBits-Zeitalter anbrach. Die Innenschau macht ihn seekrank.

Früher führte er ausführlich Tagebuch. Zwischen sechzehn und vierundzwanzig konnte er nichts sehen, hören, riechen oder schmecken, ohne es in perfekte Sätze zu fassen. Er hortete diese makellosen Schilderungen für späteren Bedarf. Vor seiner Selbstauslöschung füllten die Notizbücher mit Spiralbindung ein ganzes Regal. Er nahm sich vor, sie zu zerstören, war aber zu feige, dies in die Tat umzusetzen. Sie liegen auf dem Kriechboden seiner Mutter und warten darauf, irgendwann in ferner Zukunft von einem Fremden entdeckt zu werden.

Er hat es aufgegeben, doch der Rest der Welt redet inzwischen ohne jede Scham in der ersten Person von sich selbst. Blogs, Mashups, Reality-Fernsehen, Gerichts-Fernsehen, Chat Shows, Chatrooms, Chatcafés, Spendenkampagnen, Werbetexte, ja sogar Kriegsberichterstattung – alles wird zur egomanischen Beichte. Gefühle sind die neuen Tatsachen. Memoiren sind die neue Geschichtsschreibung. Selbstentblößungen sind die neuen Nachrichten.

Er versucht, seine Studenten im Internet zu finden. Bis auf zwei haben alle ausufernde Homepages. Stone traut sich gar nicht, die zahllosen intimen Details zu lesen: Lieblingsmusik, Lieblingsdrogen, Lieblingsstellungen, Filme, die sie verabscheuen, Verbrechen, die sie begangen, Gelüste, die sie bedient haben, Berühmtheiten, die sie gern töten oder ficken oder sein würden, wenn sie nicht sie selbst wären …

Russell Stone weiß beim besten Willen nicht, was das Ganze soll. Er hat das Tagebuchschreiben eingestellt, als er merkte, dass seine Lebensgeschichte nicht einmal für ihn selbst von Interesse war. Nein: Ich lege schon wieder zu viel fest. Er hörte über Nacht auf zu schreiben, kurz nach seinem ersten öffentlichen Erfolg, der sich in seinem vierten Jahr in Tucson einstellte.

Er hatte gerade seinen Master of Fine Arts gemacht. Und im Verlauf von zwölf schwindelerregenden Wochen wurden seine Texte in drei führenden Zeitschriften veröffentlicht, Texte von einer Art, die einen Widerspruch in sich selbst bildete: Fiktiv non-fiktional. Damals bezeichnete man so etwas noch als persönliche Essays. Russell Stone schrieb sie, um Grace Cozma zu amüsieren, den aufsteigenden Stern des Graduiertenprogramms Kreatives Schreiben der Universität von Arizona. Sie hatte das begehrte Avignon-Stipendium erhalten und war – was ihn immer noch verblüfft – zehnmal mit ihm ins Bett gegangen. Als Grace nach Frankreich abreiste, sagte sie Russell Stone bei einer elektrisierend festen Umarmung, dass ihr Post während ihres Auslandsjahres nicht unwillkommen sei, vorausgesetzt, sie sei unterhaltsam. Also schrieb er ihr ausschweifende, improvisierte Berichte, als wären diese das wahre Leben.

Er schilderte Zufallsbegegnungen mit den Entwurzelten und Lebenskünstlern des Südwestens, zum Beispiel mit einer alten Wüstenratte, die in der Nähe von Saguaro West einen fast bankrotten Laden für Edelsteine und Mineralien betrieb. Der Mann behauptete, früher »bahnbrechende Arbeit in der Geologie« geleistet zu haben, und schwor, dass ihm nur schlappe zehn Millionen Dollar fehlten, um den funktionstüchtigen Prototyp einer Maschine herzustellen, die aus Blitzen Energie erzeuge und den Wahhabiten im Weißen Haus für immer und ewig das Wasser abgraben würde.

Russell überarbeitete den bissigen Brief an Grace und mailte ihn aus Jux an eine berühmte Hochglanzzeitschrift. Als die Zeitschrift – unvorstellbar, aber wahr – den Text zur Veröffentlichung annahm, überarbeitete Stone einen zweiten an Grace adressierten Brief.

In diesem Text schilderte er ein Gespräch, das er in einem Fast-food-Restaurant mit einem Angehörigen der Nation der Tohono O’odham geführt hatte, ein ehemaliger Rettungssanitäter, der kürzlich zu einer Bewährungsstrafe von zwei Jahren verurteilt worden war, weil er mit vier Freunden, mehreren Defibrillator-Elektroden und einem Karton 200-g-Tuben Elektroden-Gel auf dem Dach einer Klinik gehockt hatte. »Eigentlich haben wir gar nichts gemacht.« Die zweite namhafte Zeitschrift, an die er den Text schickte, biss sofort an.

Der dritte Essay beschrieb Stones Begegnung mit einem scheeläugigen Vagabunden, der ihn vor der El-Con-Mall fragte, was er von Nervenregeneration, wasserstoffgetriebenen Autos und dem Pseudo-Baldwin halte. Der Mann sagte, Russell solle ihm ja nicht dumm kommen: »Ich kann ein auf dem ganzen Kontinent agierendes Netzwerk von Obdachlosen informieren, die Ihnen das Leben von Miami bis Vancouver zur Hölle machen … Wir haben sogar Kontakte zu den europäischen Kollegen.« Auf Drängen von Grace bot Russell seinen Text dem Walhalla der wöchentlich erscheinenden New Yorker Literaturzeitschriften an. Am Tag, als der Brief mit der vollkommen unerwarteten Zusage eintraf, rief er Grace in Frankreich an. Sie kicherten eine halbe Stunde am Telefon.

Das Geheimnis dieser Texte bestand im hilflosen Erzähler: Ein überfordertes Opfer der durchgeknallten Welt. »Ich bin offenbar genau der langweilige und neutrale Typ, in dem die richtig hartgesottenen Außenseiter einen der ihren erkennen.« Der Erzähler war genau der glubschäugige, für eine Bekehrung reife Bauerntrottel aus dem Mittleren Westen, den Grace immer so unfreiwillig komisch fand.

Die drei Texte veränderten Russell Stones Leben über Nacht. Die Honorare der Zeitschriften verführten ihn dazu, seinen miesen Job bei einer Lokalzeitung an den Nagel zu hängen und nur noch Essays zu schreiben. Agenten, die ihn vertreten wollten, meldeten sich bei ihm. Der Lektor eines großen New Yorker Verlagshauses fragte an, ob er genug Texte für ein Buch habe.

Der öffentliche Rundfunk bat ihn um einen Beitrag für eine Sendung, die gleichzeitig von 350 Lokalsendern ausgestrahlt werden sollte. Russell schrieb eine kurze Burleske über den Versuch, die Grübeleien seines hinduistischen Hautarztes zu verstehen. Dessen Sätze begannen im Arzneimittelverzeichnis und endeten im Ramayana. Er las den Text selbst ein. Der Produzent fand, dass er ebenso komisch las, wie er schrieb, und sagte ihm, er könne jederzeit wieder zehn Minuten Sendezeit bekommen.

»Bravo«, schrieb Grace. »Wie viel haben sie bezahlt? Reicht es für ein Flugticket über den Atlantik und eine Woche Bed & Breakfast?«

Dann kam ein Brief, versteckt in einem ganzen Stapel Leserpost:

Sehr geehrter Mr Russell Stone,

die Nation der Tohono O’odham hat zahlreiche Herausforderungen zu bewältigen. Sie haben für eine weitere gesorgt. Charlie Melendez ist ein anständiger junger Mann, der in Schwierigkeiten geraten ist. Sie haben davon profitiert, indem Sie sich sowohl über ihn als auch über unser Volk lustig gemacht haben.

Ich hoffe, dass Sie in Zukunft weniger destruktive Texte schreiben.

 

Mit freundlichen Grüßen,

Phyllis Manuel, San Xavier District

Stone plagte sich mehrere Tage mit einer Entschuldigung herum, die er abschickte, kurz bevor ihm die Fanpost eine neue Tretmine ins Haus brachte:

Mr Stone,

ich weiß nicht recht, wie man über einen psychisch kranken Mann lachen kann. Aber ich bin bereit, Ihnen zu verzeihen, wenn Sie mir helfen, meinen Vater, Stan Newstetter, zu finden, den Sie in Ihrer Geschichte »Das Ohr am Netzwerk« Stan Newton nennen …«

Stone musste Mr Newstetters Tochter gestehen, dass er dem Mann gar nicht draußen vor der El-Con-Mall begegnet war, sondern in einer Einkaufszeile irgendwo in den Steppen des Einzelhandels am Speedway. Die Koordinaten hatte er leider nicht notiert. Als Julie Newstetter in einem zweiten Brief wissen wollte, warum er von El Con gesprochen habe, konnte er nur antworten, dass er den Klang des Namens lustig gefunden habe.

Einen Monat später unternahm Charlie Melendez einen erfolglosen Selbstmordversuch.

 

Nun kennen Sie die Geschichte: Lord Jim oder jedenfalls ein Plot mit ähnlichem Aufbau. Nicht, dass Stone Knall auf Fall implodiert wäre. Nein, er fiel im Laufe von sechs Jahren allmählich in sich zusammen. Er erzählte niemandem etwas von den Briefen – weder seiner Mutter noch seinem Bruder, noch Grace. Er schrieb einen weiteren Beitrag für das Radio, dieses Mal über die Misserfolge seines Jack-Russell-Terriers in der Hundeschule. Der Produzent fand ihn nicht so bissig wie den ersten Text. Dann begann Stone, eine Groteske über seine Adamsapfel-Phobie zu schreiben – über seine ständige Angst, es könnte sich um subkutane Kreaturen handeln, die aus dem Körper auszubrechen versuchten. Grace fand den Text großartig; typisch Stone, meinte sie. Doch er konnte sich nicht zu einer Veröffentlichung durchringen. Er fand den Text auf eine merkwürdig bedeutungslose Art persönlich.

Also begann er mit einer trockenen, detaillierten Schilderung des Nahrungsergänzungsmittel-Fimmels seiner Mutter. Er ließ sich lang und breit über ihre Begeisterung für DHEA aus, mit dem sie ihren Schlaf auf vier Stunden pro Nacht reduzierte. Er beschrieb, wie sie nach der Einnahme von Kavalaktonen in die Schulverwaltung gewählt wurde. Doch nach viertausend Wörtern wurde ihm klar, dass er dieses Porträt unmöglich veröffentlichen und schon gar nicht an Grace mailen konnte. Er wusste nicht mehr, was er sich dabei gedacht hatte, seine eigene Mutter für irgendwelche Leser durch den Kakao zu ziehen.

Er schrieb einen Bericht über Immobilienversteigerungen in Pima County. Jede Zeitschrift lehnte ihn als zu brav und hölzern ab. Er verfasste kurze Naturschilderungen, in denen keine Menschen auftauchten. Als ihn sogar die Naturzeitschriften baten, seine Berichte durch verschrobene Protagonisten aufzupeppen, verlor er den Mut.

Grace, aus Frankreich zurück, rief ihn aus New York an. Sie steckte in ihrem Roman fest. Sie bat ihn, sie zu besuchen. Nur für eine Eskapade. Und wenn nicht, sollte er ihr wenigstens etwas Neues schicken. »Irgendetwas, das mich wieder inspiriert. Du weißt schon: Deine Art von Text. Die bitterbösen Geschichten. Die Grotesken. Alle Autoren, die ich hier lese, sind arrogante Langweiler.«

Er schloss die Augen, umklammerte den Hörer und beichtete ihr seine Sünden, als wären es Literaturpreise. Er erzählte ihr von Stan Newstetter. Sie lachte ihn aus, sie lachte lauter über ihn als über seine Geschichten. Buchclub-Moms würden die ersten sexuellen Abenteuer ihrer Töchter podcasten, und er geißele sich für die Falschdarstellung eines Obdachlosen? Er sei verrückt. Schlimmer noch: Er laufe Gefahr, langweilig zu werden.

Er erzählte ihr von Charlie Melendez. Das leuchtete ihr nicht ein. »Du hast keine Schuld daran, dass sich der Mann etwas antun wollte. Er hat alles aus eigenem Antrieb getan.«

Er gestand ihr, Charlie den Text vor der Veröffentlichung nicht vorgelegt zu haben.

Sie stritten sich. Sie legte auf. Er schwor, bei ihren nächsten paar Anrufen nicht abzunehmen. Aber diese Chance gewährte sie ihm nie. Achtzehn Monate später erschien ihr Roman. Er enthielt unter anderem das zum Brüllen komische Porträt eines Kleinstadtreporters, den die Angst beherrscht, seine Storys über menschliche Schicksale könnten sich eines Tages rächen.

Er kehrte zu seinem Job bei der Lokalzeitung zurück. Doch seine Interviewpartner vertrauten sich ihm nicht mehr an. Nach einem Jahr bekam er nicht einmal mehr eine schlichte Lifestyle-Reportage hin. Er erwog, einen weiteren Abschluss zu machen, vielleicht als politischer Korrespondent oder als Wirtschaftsjournalist.

Er konnte nichts mehr lesen, was auch nur ansatzweise einer Beichte ähnelte. Intime Geständnisse oder häusliche Enthüllungen widerten ihn an. Er kurierte sich mit populärer Wissenschaft und Handelsgeschichte – wie Gewürzhandel oder Bienenzucht den Lauf der Menschheitsgeschichte auf unvorhergesehene Art beeinflusst hatten.

Am liebsten war ihm die weiße Fläche, der jungfräuliche Seitenrand. Lange Zeit hatte er diesen Raum bekritzelt und mit leidenschaftlichen Kommentaren versehen: Hätte ich selbst nicht besser formulieren können. Oder: Schluss mit der Debatte, bevor sie wieder Tote fordert! Nun schrieb er nichts mehr auf die Ränder. Stattdessen klapperte er die Buchläden ab und kaufte die besten Sachbücher so schnell auf, dass er mit dem Lesen kaum nachkam; er wollte verhindern, dass andere etwas hineinkritzelten.

 

Er verließ Tucson, kehrte nach Aurora ins Fox Valley zurück und wohnte bei seiner Mutter im Haus seiner Kindheit. Sein Bruder, der bei einer Satellitenschüsselfirma arbeitete, war nach wie vor dort. Russell fand einen Job im Baugewerbe. Die einfachen, sich stets wiederholenden Aufgaben waren die besten. Er stapelte gern Isoliermaterial und genoss es, Dämmplatten in große, quadratische Stücke zu zersägen und auf frisch eingesetzte Pfosten zu nageln. Wenn er in Fahrt war, störte ihn sogar das Hassgerede des Radiosenders nicht, den sein Chef hörte.

Er brachte ein paar Dinge im Haus seiner Mutter an: neue Küchenschränke, die sie großartig fand. Bücherregale aus Eiche, die sie nicht zu füllen vermochte. Manchmal hatte er ein Rendezvous – mit gutmütigen Frauen, die keinen Funken Ehrgeiz besaßen. Abends spielte er mit seinem Bruder im Keller oft lange und ritterlich Tischtennis auf der alten, schiefen Platte aus ihrer Kindheit. Er las sich mit Büchern wie Seidenraupen und die Zivilisation oder Kleiner Leitfaden des Urknalls in den Schlaf.

Als sich der Highschool-Abschluss zum zehnten Mal jährte, besuchte er das Jahrgangstreffen. Es weckte im Vorfeld nicht mehr Befürchtungen in ihm als irgendein Arbeitstag, und dass seine ehemaligen Schulkameraden mit ihren Erfolgen prahlten, war ihm egal. Im Grunde genoss er es fast, seine Geschichte von Aufstieg und Fall zu erzählen. Die Beichte war seine einzige Buße.

Ein Kumpel aus dem zweiten Highschool-Jahr, der bei der 4-mal-100-Meter-Staffel mitgelaufen war, horchte auf. »Deine Texte werden veröffentlicht?«

»Wurden veröffentlicht«, berichtigte Russell ihn.

Der Kumpel – in seiner Jugend geradezu das Paradebeispiel eines Faulenzers – hatte die Idee für ein Publikationsprojekt gehabt, das ihn in einen Philantropen zu verwandeln drohte. Er hatte eine Selbstverwirklichungs-Zeitschrift namens Das wahre Selbst gegründet. Ernährung, Workouts, Lifestyle, Geld. Natürlich war sie nur eine von Tausenden. Doch Das wahre Selbst hatte eine Besonderheit: Die Abonnenten waren zugleich die Autoren. Und alle Abonnenten-Autoren wurden mit den Produkten bezahlt, für die in der Zeitschrift geworben wurde. Man schrieb einen Beitrag über die gedächtnisauffrischende Wirkung bestimmter Mikronährstoffe und bekam ein ganzes Jahr lang antioxidantische Granatapfelcocktails zur Erhaltung der Jugendfrische. Die Kombination von aggressiver Werbung, garantierter Kostendeckung, inniger Leser-Blatt-Bindung und der Weisheit der Masse war Zeitgeist pur.

Er solle nach Chicago kommen, forderte der Kumpel Russell Stone auf. Er solle sein Selbst in Das wahre Selbst einbringen.

Russell zögerte: Er schreibe nicht mehr für die Öffentlichkeit. Doch der Kumpel hatte keinen Bedarf an Russells Texten. Er brauchte Stone, um die Flut von glühenden, nahezu analphabetischen Bekenntnissen in lesbare Artikel zu verwandeln.

Dieses Angebot besaß einen eigentümlichen Reiz. Natürlich wären diese Texte auf peinlichste Art persönlich. Doch die dahinterstehende Persönlichkeit wäre nicht Russell Stone. Die Ergüsse von Amateuren zu lektorieren wäre die perfekte Buße.

Russell ging den Job an, als hätte er sich freiwillig für eine humanitäre Nichtregierungsorganisation gemeldet. Von seinem neuen Gehalt leistete er sich eine Einzimmerwohnung am Logan Square und dekorierte sie mit den Pastellen, die er malte, seit er sich die Abende nicht mehr mit Tischtennis vertrieb. Die dreißig mal dreißig Zentimeter großen Bilder zeigten helle, zerfließende menschliche Gestalten, die sich in Seen, Wolken oder Bäume verwandelten.

Schließlich bändelte er mit Marie White an, einer großmütigen Seele, die gern zu ihm kam und im Bett las, während er lektorierte. Sie stritten sich über nichts, außer über seine Bilder. Marie hielt ihn für begabt, und begabte Menschen hatten die moralische Verpflichtung, ihre Begabung zu pflegen. Russell lachte nur darüber, und die verletzte Marie zog sich ins Schweigen zurück.

Nach vierzehn Monaten bekam er einen einseitigen Brief auf Matisse-Briefpapier. Sie befürchte, schrieb Marie, dass er ein Melancholiker sei. Dafür liebe sie ihn zwar irgendwie, könne es sich aber nicht leisten, ihr Leben seiner Krankheit zu opfern. Sie müsse an ihre eigene Zukunft denken und hoffe, er werde das Gleiche tun. Sie überlege, sich auf einen anderen Mann einzulassen – einen freundlichen Galeristen, um genau zu sein. Und falls Russell eines Tages doch noch einsehe, wie wunderbar seine Bilder seien, könne sie ja den Kontakt herstellen …

Das wahre Selbst fing Russell auf. Das Lektorieren war ebenso befriedigend wie das Anbringen von Dämmplatten. Er stutzte Behauptungen zusammen, merzte Wiederholungen aus, entwirrte Partizipien, glättete krause Metaphern und zog die Zügel an, wenn die Verfasser zu weit vorpreschten. Er brachte die ungeschliffene Prosa fast auf Hochglanz. Dreimal in der Woche fuhr er in das Büro in River North, an zwei weiteren Tagen arbeitete er daheim. Er wurde ein Meister in der Kunst der vollendeten Langeweile, und er übte sein verbales Handwerk zwei Jahre lang in der Hoffnung aus, ohne jeden Mucks unter der Erdkruste zu versinken. Er hätte sein ganzes Leben bei Das wahre Selbst arbeiten können, vorausgesetzt, er segnete mit Anfang vierzig das Zeitliche.

Er lektorierte den Beitrag einer Verwaltungssekretärin des Mesquakie College, der beschrieb, wie sich Depressionen mit dem Füttern von Eichhörnchen bekämpfen ließen. Die dankbare Frau machte ihn darauf aufmerksam, dass man im Institut für Kreatives Schreiben dringend und kurzfristig einen Dozenten suche. Der für den Kurs Reise und Reisetagebuch zuständige Memoirenschreiber hatte nach einer schlechten Erfahrung mit Stimmungsaufhellern urplötzlich unbezahlten Urlaub genommen und war nach San Francisco gereist, um sich einen Blogger vorzuknöpfen, der einen Text durch den Dreck gezogen hatte, in dem er seines Vaters gedachte.

Wie Russell erstaunt feststellte, war er bestens für diesen Job qualifiziert. Er hatte einen Universitätsabschluss und konnte mit prestigeträchtigen Veröffentlichungen aufwarten. Dass er in den letzten acht Jahren nichts publiziert hatte, war egal. Das College, das nur noch einen Monat Zeit hatte, um einen Dozenten zu finden, ergriff ihn sozusagen beim Schopf. Das Vorstellungsgespräch war Russell fast unheimlich; er hatte das Gefühl, einen Kreditgeber zu betrügen.

Er bekam den Job und bereitete sich drei Wochen lang wie besessen vor, eine Vorbereitung, die der Kurs gleich am ersten Abend über den Haufen wirft. Aber da die Sitzung trotzdem wunderbar verläuft, keimt zum ersten Mal seit Jahren die schockierende Hoffnung in ihm auf, dass er im nächsten Semester ein neuer Mensch sein könnte.

 

Meiner Meinung nach hat die gesamte Menschheit in ihrer Jugend irgendeinen dummen Fehler begangen – irgendein unbedachter Streich, der schlimme Folgen hatte. Das Geheimnis des Überlebens besteht im Vergessen. Wenn es bei der Evolution tatsächlich auf das Gewissen ankäme, hätte sich jede Person mit Rückgrat schon vor Äonen am Deckenventilator erhängt, und die wirbellosen Tiere wären wieder die Herren der Welt.

»Genie und Genom« – die fertige Fassung – beginnt mit erbarmungslosem digitalem Technogehämmer, das so viel heißt wie: Bald auch hier. Im pulsierenden Dunkel taucht ein Gesicht auf, das von Donatello stammen könnte und das in der Blüte des Lebens zu stehen scheint. Die Augenbrauen heben sich. Der Mund zuckt schüchtern, dann offenbart die Person:

Verbesserung. Warum sollten wir uns nicht bemühen, besser zu werden? Wir sind längst nicht vollkommen. Warum sollten wir etwas so Wunderbares wie das Leben dem Zufall überlassen?

Das spitzbübische Gesicht färbt sich golden und explodiert. Die winzigen Scherben verschwinden im Dunkel, das weiter pulsiert.

Ein anderes Gesicht taucht aus dem Nichts auf, ein großer, mürrischer, empirischer Bruder Tuck.

Verrückt? Nein, ich glaube nicht, dass Thomas Kurton verrückt ist. Vielleicht ein produktiver Spinner, das ja. Aber war Darwin nicht auch ein Spinner?

Tuck zuckt mit den Schultern, und diese Bewegung löst einen Strudel aus, der ihn mitreißt. Aus den Fluten erhebt sich der lächelnde Donatello.

Viele Leute halten dies für Science-Fiction. Aber wir leben ja auch in einem Land, in dem achtundsechzig Prozent der Bevölkerung nicht an die Evolution glauben …

Sein Gesicht zerreißt in zwei Hälften und verschlingt sich zu einer Doppelhelix. Aus dieser Spirale taucht eine Frau auf. Sie hat glatte, braune Haare und Augen, traurig wie die eines Bluthunds. Sie verkündet mit hartem Midlands-Akzent:

Ein Fünftel der menschlichen Gene sind bereits patentiert. Man muss eine Lizenzgebühr entrichten, nur um sie anschauen zu dürfen. Leute wie Thomas Kurton kaufen und verkaufen genetisches Material, als ginge es um Filmrechte …

Sie verwandelt sich in eine Sandskulptur, die der Wind zerstreut. Dann folgen sich rasch überblendend mehrere Köpfe:

Er spielt mit dem Leben, als wäre es ein Brettspiel …

 

Der Mann hat mit fünfunddreißig schon zweimal ein Vermögen gemacht …

 

Thomas geht es im Grunde nicht um finanziellen Gewinn. Sondern um Originalität und Erfindungsgabe …

 

Wir arbeiten nicht mehr mit den wissenschaftlichen Methoden unserer Großväter …

Die britische Bluthündin kehrt zurück und erklärt:

Er wird von einem äußerst gefährlichen Altruismus angetrieben.

Kurton materialisiert sich wieder aus dem Dunkeln, sein Gesicht spaltet sich in unzählige Ebenbilder auf:

Bahnbrechende Medikamente, intelligente Arzneimittel. Gesündere Menschen. Kräftigere Menschen. Klügere Menschen …

Er verwandelt sich in ein Wasserfarbenbild, dessen Pinselstriche sich umordnen, bis sie Bruder Tuck zeigen:

Ihr wisst, dass Thomas ewig leben wird?

Thomas Kurton taucht wieder aus dem Abgrund auf:

Der erste Mensch, der hundertfünfzig Jahre alt werden wird, ist bereits geboren.

Die britische Bluthündin streicht sich eine Haarsträhne aus dem müden Gesicht.

Eine solche Welt wäre nicht lebenswert. Ich möchte nicht miterleben, dass die Leute Lizenzgebühren bezahlen müssen, wenn sie ein Kind bekommen wollen.

Ihr bleiches Gesicht weicht wieder dem morgenhellen Antlitz Donatellos.

Wir streben auf etwas Herrliches zu. Es wird so gut sein, dass es jede Vorstellungskraft übersteigt.

Die Gesichter weichen aus der Nahaufnahme in die mittlere Entfernung zurück. Eine große, blonde Frau in Chirurgenkluft schlendert durch einen blitzblanken Raum in einer biotechnologischen Forschungseinrichtung. Sie dreht sich um, nimmt die Haube ab und schüttelt ihr üppiges, flachsfarbenes Haar aus.

Ist Thomas Kurton der Schurke in einer moralischen Fabel, die eine schreckliche Wendung genommen hat? Oder ist er der Held eines edelmütigen Experiments, das sich sehr bald auszahlen wird? Egal, wie die Zukunft ihn bewertet – er hilft der Gegenwart schon jetzt beim Abheben … Neue Horizonte.

Noch während die Frau die letzten Wörter mit ihrem Mid-Atlantic-Akzent spricht, werden diese lebendig, erstrahlen in Dutzenden von Sprachen, erzeugen mathematische Beweise, chemische Symbole und physikalische Gleichungen, bis das gesamte Labor von autoreplikativen Informationen erfüllt ist.

 

Erstes Bild: ein waghalsig auskragendes Glasgebäude in der Nähe des Kendall Square, Cambridge; einer dieser Designer-Paläste, die aussehen wie die Lösung eines logischen Rätsels.

Das Innere: ein Büro mit großen Fensterflächen in Ecklage, Wissenschaftlern vorbehalten, die mit großzügigen Drittmitteln ausgestattet sind. Im Raum erklingen Ambient-Sounds, Wasser und Wind. Ein LCD-Bildschirm von anderthalb Metern Durchmesser zeigt Überblendungen urtümlicher Landschaften.

Close-up: Thomas Kurton sitzt hinter einem V-förmigen Schreibtisch, der wirkt, als könnte er nicht vom Radar erfasst werden. Sein Rücken wird von einem ausgetüftelten pneumatischen Stuhl gestützt. Seine Hände sind so abwesend am Werk, als würde er das I Ging befragen. Auf der gläsernen Schreibtischplatte stehen mehrere Bildschirme. Er spricht zu einem, fährt mit zwei Fingern über einen anderen, zieht Daten in wechselnden Formationen über den Paradeplatz.

Dann eine Stimme aus dem Off, die coole Stimme Tonia Schiffs, die diese Welt als Fernsehjournalistin präsentiert:

Thomas Kurton gelang mit achtundzwanzig der erste Durchbruch. Im Rahmen der Forschungsarbeit zu seiner Promotion half er bei der Erzeugung transgener Kühe, deren Milch biomedizinisch relevante Proteine enthielt. Kurz nach dem Antritt seiner ersten akademischen Stellung gründete er eine Biotech-Firma. In Harvard steckte er die Gewinne aus dem pharmazeutischen Farming in die Suche nach einem bakteriellen Katalysator zur Fermentierung des in Zuckerrüben enthaltenen Biobutanols. Auch aus diesen Forschungen entsprang ein erfolgreiches Unternehmen …

Der Mann mit dem rötlichen Haar verkündet kurze Kommuniqués. Zwischen den Befehlen beugt er sich zu einem Flügel des Glastisches, wählt zwischen Hunderten von Kapseln und Tabletten zwei Dutzend rostrote Nahrungsergänzungsmittel aus und spült sie mit einem Schluck aus einer großen Flasche Schweizer Quellwasser hinunter.

Im Wyde Institute half Kurton bei der Entwicklung einer Methode zur schnelleren Entschlüsselung von Gensignaturen. Mit ihrer Hilfe hat er inzwischen drei bahnbrechende Assoziationsstudien durchgeführt und Genkomplexe isoliert, die mit der Neigung zu Angst, kindlicher Hyperaktivität und Depressionen korrelieren …

Der Mann mit dem rötlichen Haar wedelt mit einem Gerät von der Größe eines Notizbuchs. Der Raum versinkt in stillem Zwielicht. Er dreht den Sessel herum und blickt durch das hinter seinem Rücken befindliche Panoramafenster auf eine Ansammlung gläserner Gebäude, die stark nach Risikokapital aussehen. Er drückt den Rücken durch, schließt die Augen und beginnt zu meditieren.

Er hat sieben Firmen gegründet und berät fünfzehn weitere. Er ist Mitherausgeber von sieben wissenschaftlichen Zeitschriften und bekleidet Ämter an drei Universitäten. Er ist aktiver Triathlet und züchtet wettbewerbsreife Zebrafinken. In seiner Freizeit verfasst er mitreißende Texte über das nahe transhumane Zeitalter, die Tausende von Lesern begeistern …

Die Kamera holt sein rechtes Handgelenk heran: Ein rotes Armband für den medizinischen Notfall, das diejenigen, die seinen Leichnam finden, zu raschem Handeln drängt – man soll ihm sofort Kalziumblocker und Blutverdünner spritzen, seinen Körper in Eiswasser legen, den pH-Wert stabilisieren und unter einer 800er-Nummer eine Firma anrufen, die mit dem Hubschrauber Sanitäter einfliegt. Diese werden umgehend mit dem Einfrieren des Leichnams beginnen.

Die Sicht aus dem Fenster verdunkelt sich; wieder erklingt elektronisch erzeugtes Wellenrauschen. Der Mann dreht sich zum Halbkreis der Bildschirme herum und fährt fort, eine Symphonie des Wissenschaftsmanagements zu dirigieren. Seine fröhliche Stimme spricht währenddessen aus dem Off:

Ich sehe nicht ein, weshalb sich der Mensch nicht in alles verwandeln sollte, was er will, vorausgesetzt, er hat genug Zeit und Kreativität.

Ein harter Schnitt: Tonia Schiff, die amüsierte Moderatorin, sitzt auf einem Schaukelstuhl in einer Zedernholzhütte mit steinernem Boden. Ihre Kleidung ist etwas zu jugendlich – Zigeunerhemd, Strickweste und weiter Faltenrock. Mit Ende dreißig wirkt sie wie eine Parodie genetischer Fitness. Sie kräuselt die Lippen, während der Wissenschaftler seinen Gedanken zu Ende führt.

Und mit ›alles‹ meinen Sie …

Ein Gegenschuss enthüllt Kurton – in mottenzerfressenem Flanell –, der grinsend nickt.

Nun, die Sache ist doch so: Wir sind seit zehntausend Jahren damit beschäftigt, uns zu erschaffen. In jedem Augenblick unseres Lebens tun wir etwas, das eine frühere Inkarnation der Menschheit gottgleich nennen würde. Die Obergrenzen unserer Möglichkeiten sind uns unbekannt. Wir können nur fortfahren, sie zu erkunden.

Er zieht ein Moleskine-Notizbuch aus der Innentasche seiner zerschlissenen Jacke. Er öffnet es und reicht es der Moderatorin.

Das habe ich immer dabei. Mein Mantra.

Die Wechsel zwischen Schuss und Gegenschuss sind sauber und scharf. Tonia Schiff nimmt das Notizbuch und liest:

›Als Männer und Frauen haben wir die Pflicht, uns so zu verhalten, als hätten unsere Möglichkeiten keine Grenzen. Wir haben Anteil an der Schöpfung. Teilhard de Chardin.‹ Das war doch ein christlicher Mystiker.

Kurton grinst.

Das tiefere Verständnis des Genoms hat nichts Mystisches! Es ist nur gute Wissenschaft.

Vor der zweiten Unterrichtsstunde scheint mir Stone selbstsicherer. Auf dem Weg von der Roosevelt-Station zum Mesquakie bremst ihn ein vom See kommender Wind. Er wartet an einem Stand auf einen vegetarischen Wrap und einen grünen Tee. Irgendjemand drückt ihm ein Flugblatt in die Hand: Sind wir schuld an Darfur? Er murmelt ein Dankeschön und tut so, als würde er lesen. Er nippt beim Gehen am Tee, kommt an einer Boutique vorbei – Frauen mit paramilitärischen Overalls und Turban. Das übernächste Geschäft bietet Prothesen an: Über 1000 mobile, schicke, handliche und sportliche elektronische Hilfsmittel! Er hebt den Kopf: So geht es noch drei Meilen weiter bis zum Gold-Coast-Viertel. Die Stadt will ihn als Treibstoff verheizen, aber das stört ihn nicht. Irgendwie muss man sich ja nützlich machen.

In der Lobby des Colleges stehen mürrische Kunststudenten in Gruppen beisammen und planen das nächste große Ding, den nächsten Trend interaktiver, vernetzter Kunst, der den Blick der Menschheit auf sich selbst radikal verändern wird. Sie rufen ihm in Erinnerung, wie es ist, wenn man das Recht zu haben glaubt, andere Menschen in Aufregung zu versetzen. Heute Abend umkurvt er sie und meidet sogar den Blickkontakt.

Im sechsten Stock, im schäbigen Nest mit den brummenden Neonröhren, stößt er auf Mason, Charlotte und Adam, die über Garagenbands diskutieren, deren Namen er noch nie gehört hat. Früher war er ein begeisterter Fan solcher Bands, aber diese Namen klingen wie komplexe synthetische Chemikalien oder einsame Dörfer in Kirgisien. »Gehen den Leuten langsam die passenden Namen für ihre Bands aus?«, fragt er. Immerhin lachen die Studenten. »Eher gehen ihnen die Garagen aus.«

Die Frau aus der Kabylei ist nicht da. Russell Stone sinkt das Herz; bestimmt hat er beim letzten Mal etwas gesagt, das sie veranlasst hat, den Kurs zu schmeißen. Sie ist verschwunden wie eine nächtliche, das Leben von Grund auf verändernde Erkenntnis, die er sich dummerweise nicht notiert hat. Stone, dessen Selbstvertrauen dahin ist, fragt, wer als Erster seinen Eintrag vorlesen möchte. Eine Sache, die es wert wäre, einem wildfremden Menschen erzählt zu werden. Adam Tovar lehnt ab. »Mein Eintrag ist noch nicht fertig. Die Geschichte steht zwar, aber die Symbole müssen noch rein.« John Thornell setzt zu einem nüchternen Bericht über zwei Polizisten an, die einen kreischenden Teenager in den Innenhof seines Wohnblocks jagen. Gerade werden die Elektroschockpistolen gezückt, da erscheint Thassa Amzwar in der Tür.

Sie ist kleiner, als Stone sie in Erinnerung hatte. Sie trägt ein besticktes, korallenfarbenes, kurzärmeliges Hemdkleid. Sie könnte auch aus Süditalien stammen. Doch ihr rundes Gesicht strahlt wie neulich, und ihr freudiger Blick scheint zu besagen, dass sie gerade unten im Flur, draußen vor dem College, in den Straßen dieser unsäglichen Stadt etwas Großartiges erlebt hat. Etwas, das alle auf Jahre erlöst. Ihre Augen zeigen keine Reue wegen ihrer Verspätung; sie schenkt ihren versammelten, lange entbehrten Freunden nur ein flüchtiges Lächeln. Als sie sich setzt, streift sie mit ihren Armreifen Sues Schulter, und ihre Finger mit den lila Nägeln legen sich wie zur Begrüßung auf Charlottes Ellbogen.

Alle acht Anwesenden sind plötzlich eine Spur wacher. John kämpft sich durch einen weiteren Halbsatz, dann macht er mit der Begründung einen Rückzieher, der Rest des Eintrags sei noch zu ungeschliffen. »Nur die Ungeschliffenheit ist einen Vortrag wert«, behauptet Russell. Die anderen, denen der kunststudentische Elan abhandengekommen ist, blättern mit gesenktem Kopf in ihren Kladden.

Keiner möchte freiwillig vorlesen. Vielleicht handelt es sich um die Zurückhaltung der Vororte; die Inseln der Seligen lassen der sengenden Sahara den Vortritt. Oder sie aalen sich nur in der warmen Aura dieser Frau, in ihrer fast unheimlichen Zufriedenheit. Sie fummeln an ihren Notizheften herum, überprüfen immer wieder aus den Augenwinkeln, ob sie eine Fata Morgana ist oder nicht.

»Wird laut vorgelesen?«, fragt Thassa. Ihre Freude scheint die Zustimmung der anderen einzufordern. »Darf ich als Nächste?«

Noch bevor Stone sich fragen kann, wie es kommt, dass sie die Modalverben besser beherrscht als die Muttersprachler, beginnt sie, ihren Eintrag vorzulesen. Ihre Stimme gleicht einer jener Gebirgsflöten, die ein Lied auf geheimnisvolle Art mit einer zweiten Melodie begleiten können. Russell ist so von der Kadenz der Sätze gebannt, dass er die Worte nicht wahrnimmt. Der Text scheint aus der Mythendämmerung zu stammen und in einem fast animistischen Chicago zu spielen. Eine Sache, die es wert wäre, einem wildfremden Menschen erzählt zu werden, und die Sache sieht folgendermaßen aus: Eine uralte Frau, die ihren Aluminiumgehwagen mit einem Schritt pro Minute auf der großen Treppe vor dem Cultural Center nach oben hievt.

Der Aufstieg erfolgt mit der Geschwindigkeit eines Gletschers, die Treppe ist unendlich hoch und die Kletternde ein Mittwochnachmittags-Sisyphus auf dem Weg zur größten Tiffany-Kuppel der Welt. Die ausgetretenen Marmorstufen ergießen sich wie Stoff unter den Füßen eines ganzen Jahrhunderts von Geistern. Doch jedes Wort von Thassas Schilderung hebt die Kletternde zum Licht empor. Beim dritten Schritt wird Russell klar, dass er noch nie jemanden genau betrachtet hat. Und ganz oben auf der Treppe erwacht wie ein stechend blauer Funke der Wunsch in ihm, in ferner Zukunft und lange nach seinem Tod zu erfahren, was mit der Menschheit geschieht.

»Scheiße«, sagt Sue Weston, als Thassa fertig ist. »Glaubt ihr wirklich, ich würde meinen Text jetzt noch vorlesen?«

Alle lachen, und beim Lachen fällt Russell ein, dass er wieder atmen muss. Roberto Muñoz erbebt unter seiner übergroßen Bomberjacke und streicht mit der Hand über seinen rasierten, pflaumenfarbenen Kopf. »Vielen Dank«, murmelt er. »Ganz im Ernst: Vielen Dank. Jetzt freue ich mich richtig darauf, alt und klapperig zu sein.« Sein Blick fliegt zu Thassa. »Wie alt bist du überhaupt?«

Wie sich herausstellt, ist sie dreiundzwanzig, plus oder minus eine ganze Ära.

Während die anderen vorlesen, schillert die Luft noch in den Farben der Kletterpartie. Sie buhlen um Zustimmung, jeder fühlt sich durch Thassas freundliches Nicken ermutigt. Alle anderen Texte drohen, in Zuneigung unterzugehen. Algerien ist nirgendwo und Chicago eine Stadt, die gerade erst sichtbar wird.

Der Abend endet, bevor sie einen Blick auf den Abschnitt aus Wie Ihr Schreiben zum Leben erwacht werfen können, den sie zu Hause lesen sollten. Russell bemüht sich, Frederick P. Harmons Thesen zusammenzufassen:

Wenn dem Autor die Figuren nicht ebenso am Herzen liegen, wie sie dem Leser am Herzen liegen sollen, sind alle Beschreibungen umsonst.

Niemand hört zu. Alle sind damit beschäftigt, einander zu necken und zu schmeicheln. Während die Sachen gepackt werden, gibt Mason jedem einen Spitznamen. Kiyoshi wird Invisiboy. Außerdem gibt es Artgrrl Weston und Princess Heavy Hullinger. John Thornell ist der geborene Spock. Adam wird der Joker und Roberto der Dieb. Mason tauft sich selbst auf den Namen Counterstrike und verkündet, dass Russell Stone ab jetzt und für immerdar Teacherman heiße. Er zögert nur bei Thassadit. Er betrachtet sie, eingeschüchtert von ihrem belustigten Blick. »Hallo, Dalai!« Dann berichtigt er sich: »Nein, nein. Ich weiß, wie du heißt: Miss Generosity.«

Teacherman muss die Kursliste schwenken, um sie zur Aufmerksamkeit zu ermahnen. »Denkt daran, eure neuen Texte bis morgen Mitternacht zu mailen.« Joker und Artgrrl stöhnen wie in einen Hinterhalt geratene Zeichentrickfiguren. Russell stellt ihnen die neue Aufgabe, als hätte er nicht während der letzten vierundzwanzig Stunden pausenlos daran gedacht und die Wörter arrangiert wie Laub auf einer Fallgrube im Wald. Überzeugen Sie jemanden davon, dass man in Ihrer Heimatstadt nicht aufwachsen will.

 

Des Plaines, Terre Haute, Buffalo Grove: Die Gefahren der Heimat sind vielfältig, der Lohn gering. Stone liest von den größten Risiken, die Nummer eins ist Langeweile. »Wenn Wheaton eine Reality-Show wäre«, schreibt Mason, »wäre sie spätestens nach der Hälfte der Pilotsendung von den Sponsoren abgesägt worden.« Dichtauf folgen Isolation, Bigotterie, Ziellosigkeit, zermürbende Gleichförmigkeit, verwaiste Innenstädte, Verbrechen an der Ästhetik und die tödliche Krankheit der Überfülle. Charlotte Hullinger schreibt: »Während meiner gesamten Kindheit habe ich in einer Satellitenschüssel geschmort.« Man kennt solche Orte. Ganz in der Nähe wird gerade wieder einer aus dem Boden gestampft.

Aber man kann auch als Fünfjährige mit einem Zug im von Menschen wimmelnden Agha-Bahnhof in Algier eintreffen. In einer chaotisch wuchernden Vorstadt aufwachsen, die sich vom Hafen ausgehend den Hügel hinaufzieht, in billigen, sonnenmürben Wohntürmen, die man nach dem Krieg in der wiederholt missbrauchten, trägen Odaliske namens Alger la blanche erbaut hat. Nach dem Krieg? Vor dem Krieg. Mitten im Krieg, jetzt und für immer. Heiliger Krieg. La sale guerre. Ein halbes Jahrhundert Krieg, in dem das Land ein Drittel seiner Bevölkerung verlor. Der Eifer der frisch gewonnenen Unabhängigkeit hat sich gegen sich selbst gekehrt, und der Staat erzeugt überall neue Feinde. Der islamische Widerstand gegen kleptomanische Tyrannen wächst sich zu einer Massenbewegung aus. Der separatistische Frühling der Berber kommt und geht, doch er wird nicht niedergeschlagen, sondern nur bis zum Sommer der Berber unterdrückt. Reculer pour mieux sauter …

Der vielversprechendste neue Staat auf der Welt erweist sich als Totgeburt. Das Mädchen kennt das Problem. Ihre Eltern breiten es jeden Abend beim Essen im Flüsterton aus. Der Geist, anderthalb Jahrhunderte kolonisiert, hat wie als Rache ein neues Stammesdenken hervorgebracht, in diesem Fall jedoch ohne edle Beweggründe. Ob Kleidung, Sprache oder Bart: Jedes Detail signalisiert eine bestimmte Zugehörigkeit, ob mit Absicht oder nicht. Es ist die dritte Lingoektomie des Landes, und nach einer Generation sind Wörter wieder ein Schwerverbrechen. Als ihr Vater an der Universität während einer Vorlesung vor seinen Ingenieursstudenten aus Versehen ins Französische verfällt – et donc, voilà –, wird er öffentlich gerügt. Ihre Mutter, die für die nationale Ölfördergesellschaft Sonatrach Unterlagen übersetzt, wird eines Nachmittags auf einer Busfahrt nach Bab el-Oued angezischt, weil Hals und Haar unbedeckt sind. Als sie sich bei einem Streifenpolizisten darüber beschwert, wird ihr eine Geldbuße wegen aufrührerischer Umtriebe aufgebrummt.