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Die zehnjährige Donna wurde von dem Menschen schikaniert und gequält, von dem sie nur Liebe wollte: ihrer eigenen Mutter. Traumatisiert findet sie ein neues Zuhause bei der Pflegemutter Cathy Glass, die dem verschüchterten Mädchen mit viel Geduld neuen Mut schenkt. Doch die Vergangenheit lässt Donna nicht los, und sie beginnt, Cathys kleine Tochter mit den gleichen Methoden zu drangsalieren, die sie selbst erleiden musste. Cathy steht vor der Frage: Kann sie Donna noch ein Zuhause zu bieten oder sitzen deren Wunden zu tief?
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Seitenzahl: 448
Die zehnjährige Donna wurde von dem Menschen schikaniert und gequält, von dem sie nur Liebe wollte: ihrer eigenen Mutter. Traumatisiert findet sie ein neues Zuhause bei der Pflegemutter Cathy Glass, die dem verschüchterten Mädchen mit viel Geduld neuen Mut schenkt. Doch die Vergangenheit lässt Donna nicht los, und sie beginnt, Cathys kleine Tochter mit den gleichen Methoden zu drangsalieren, die sie selbst erleiden musste. Cathy steht vor der Frage: Kann sie Donna noch ein Zuhause zu bieten oder sitzen deren Wunden zu tief?
Cathy Glass ist das Pseudonym einer britischen Autorin und Pflegemutter, die seit über 25 Jahren besonders herausfordernde Kinder beherbergt. Seit einigen Jahren schreibt Cathy über ihre Erfahrungen – mit großem Erfolg. Sie erfreut sich einer riesigen Fangemeinschaft, viele ihrer Bücher sind Bestseller.
Cathy Glass
Das einsamsteMädchen der Welt
Die Geschichte einesvernachlässigten Kindes,das so gern geliebtwerden wollte
Aus dem Englischen vonMaria Mill
Vollständige E-Book-Ausgabe
des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes
Dieses Buch basiert auf Cathy Glass’ Erinnerungen. Personen- und Ortsnamen, Daten sowie Details bestimmter Ereignisse wurden verändert, um die Persönlichkeitsrechte anderer zu schützen. Die Autorin versichert, dass der Inhalt des Werkes – abgesehen von kleinen, die wesentliche Richtigkeit des Werkes nicht berührenden Einzelheiten – der Wahrheit entspricht.
Deutsche Erstausgabe
Für die Originalausgabe:
Copyright © 2009 by Cathy Glass
Titel der englischen Originalausgabe: The Saddest Girl in the World
Originalverlag: HarperCollins Publishers Ltd.
Für die deutschsprachige Ausgabe:
Copyright © 2020 by Bastei Lübbe AG, Köln
Einband-/Umschlagmotiv: © Scott Stulberg/Alamy Stock Photo
Umschlaggestaltung: Cover layout design © HarperCollinsPublishers Ltd 2009
eBook-Produktion: hanseatenSatz-bremen, Bremen
ISBN 978-3-7325-9851-9
www.luebbe.de
www.lesejury.de
Dies ist die Geschichte von Donna, die als Zehnjährige zu mir kam. Damals hatte ich bereits elf Jahre lang Kinder betreut, es war noch, ehe Jodie (Was mit Jodie geschah) zu mir kam, beziehungsweise Lucy, die ich dann adoptierte. Bei Donnas Ankunft war mein Sohn Adrian zehn, meine Tochter Paula sechs Jahre alt; Donnas Einfluss auf unser Leben war enorm, und was sie erreichte, bleibt unvergessen.
Einige Details, darunter Namen, Orte und Daten, habe ich zum Schutz des Kindes verändert.
Es war die dritte Augustwoche. Adrian, Paula und ich genossen die langen Sommerferien, und das Schuljahresende war genauso fern wie der Beginn des neuen. Das Wetter war herrlich, wir nutzten die langen warmen Tage, den strahlend blauen Himmel und die Chance, endlich mal Zeit miteinander zu verbringen. Unser letztes Pflegekind Tina war eine Woche zuvor zu ihrer Mutter zurückgekehrt, und obwohl wir sie nach sechs Monaten nur ungern hatten ziehen lassen, freuten wir uns auch für sie. Die Mutter hatte ihr Leben wieder besser im Griff und sich von einem äußerst gewalttätigen Lebensgefährten getrennt. Obwohl die beiden noch immer unter Beobachtung des Jugendamts standen, waren ihre Zukunftsaussichten überaus positiv. Tinas Mutter wollte das Beste für ihre Tochter und schien nur vorübergehend vom rechten Pfad abgekommen zu sein – Mutter und Tochter liebten sich wirklich.
Vor Schulbeginn im September war mit keinem weiteren Pflegekind mehr zu rechnen. Der August gilt für den Pflegekinderdienst bei den Jugendämtern als »ruhige Zeit«, nicht etwa, weil Kinder da nicht misshandelt würden oder Familien nicht in Krisen gerieten, sondern lediglich, weil keiner davon erfährt. Sobald die Kinder im September in die Schule zurückkehren – das ist eine traurige Tatsache –, entdecken die Lehrer Blutergüsse bei ihnen. Sie hören sie davon reden, dass man sie alleine gelassen und ihnen nichts zu essen gegeben hat, oder merken, dass ein Kind verschlossen, verwirrt, vernachlässigt wirkt, und dann melden sie ihre Befürchtungen. Die hektischste Zeit für Pflegekinderdienst und Pflegeeltern ist der Monat Oktober sowie, leider, auch die Tage nach Weihnachten, wo der Druck auf dysfunktionale Familien, die man für eine ganze Woche zusammensperrt, schließlich seinen Tribut fordert.
Daher überraschte es mich, Jills Stimme zu hören, als ich, vom Wäscheaufhängen aus dem Garten kommend, ans Telefon eilte. Jill war die für mich zuständige Sozialarbeiterin der Homefinders Fostering Agency, der Agentur, für die ich Pflegschaften übernahm.
»Hi, Cathy«, begrüßte sie mich, fröhlich wie immer. »Genießt du die Sonne?«
»Und wie. Und du, hattest du einen schönen Urlaub?«
»Ja, danke. Kreta war herrlich, obwohl, nach zwei Tagen hier bin ich schon wieder urlaubsreif.«
»Ist denn so viel los bei euch?«, fragte ich überrascht.
»Nein, aber diese Woche bin ich allein im Büro. Rose und Mike sind beide weg.« Jill hielt inne, und ich wartete, denn dass sie mich anrief, nur um zu fragen, ob ich die Sonne genoss, oder um sich über das Ende ihrer Ferien zu beklagen, war unwahrscheinlich. Ich sollte recht behalten. »Cathy, ich hatte eben einen Anruf von einer Sozialarbeiterin, Edna Smith. Sie ist wunderbar, ein echter Schatz, und versucht gerade, ein Kind zu platzieren – Donna, die Ende Juli in Obhut kam. Ich hab sofort an dich gedacht.«
Ich quittierte ihre Aussage mit einem leisen Lachen, denn zweifellos bedeutete das Ärger. Wenn ein Kind schon nach drei Wochen aus seiner Pflegefamilie herausgenommen werden musste, konnte das nur bedeuten, dass es irgendwelche Sachen ausagiert und verrücktgespielt hatte, bis die Pflegeeltern es einfach nicht mehr packten.
»Was hat sie denn angestellt?«, fragte ich.
Nun gluckste Jill. »Ich bin mir nicht sicher, und Edna auch nicht. Die Pflegeeltern behaupten nur, sie käme nicht mit ihren zwei jüngeren Brüdern aus. Die drei waren gemeinsam untergebracht.«
»Das klingt mir aber nicht nach einem guten Grund«, erwiderte ich.
Nur wenn es absolut nötig und das Verhältnis unheilbar zerrüttet ist, nimmt man Kinder aus einer Pflegefamilie, denn natürlich geht so ein Wechsel mit großer Verunsicherung einher.
»Nein, das hab ich auch gesagt, und Edna sieht es genauso. Edna ist schon auf dem Weg zu den Pflegeeltern, um zu sehen, was da los ist. Hoffentlich kann sie die Situation beruhigen. Aber wäre es okay, wenn ich ihr deine Nummer gebe, damit sie dich bei Bedarf direkt kontaktieren kann?«
»Ja, klar«, sagte ich. »Ich bin bis Mittag zu Hause, danach wollte ich mit Adrian und Paula in den Park. Ich nehme mein Handy mit, also gib Edna beide Nummern. Aber auch wenn Donna bei uns untergebracht werden sollte, so eilig ist es ja wohl nicht?«
»Nein, ich denke nicht. Und falls es so weit kommt, nimmst du sie gerne?«
»Ja. Wie alt ist sie denn?«
»Zehn, aber wie ich höre, ist sie ziemlich weit in ihrer Entwicklung und wirkt nicht nur älter, sondern verhält sich auch so.«
»Okay, kein Problem. Hoffentlich kann Edna die Sache klären – falls es nur Geschwisterrivalität ist – und Donna muss nicht umziehen.«
»Ja«, pflichtete Jill mir bei. »Danke. Schönen Tag noch.«
»Dir auch.«
Sie seufzte. »Im Büro?«
* * *
Ich ging zurück in den Garten, um die restliche Wäsche aufzuhängen. Adrian und Paula spielten im Sandkasten. Während Paula vergnügt auf dem Rand saß und mit Plastikförmchen kleine Sandtiere »backte«, war Adrian mit einem großen Plastikbagger beschäftigt und transportierte Sand an verschiedene Stellen im Rasen. Inzwischen sprenkelten recht ansehnliche Sandhügel das Gras, sodass es aussah, als wäre im Untergrund ein bösartiger Maulwurf zugange. Ich wusste, dass Paula, die ihren Sand – wie die meisten anderen Sachen – sauber liebte, die inzwischen mit Gras vermischten Körner nicht mehr in ihrem Kasten willkommen heißen würde.
»Lass mal lieber den Sand schön im Kasten. Sei so gut«, meinte ich im Vorbeigehen zu Adrian.
»Ich bau eine Autobahn«, gab er zurück. »Ich brauche Zement und Wasser, um sie mit dem Sand zu vermischen, dann härtet er zu Beton aus.«
»Ach ja?«, meinte ich zweifelnd.
»Der ist für die Pfeiler, die die Autobahnbrücke tragen. Und dann begrabe ich Leichen im Beton der Pfeiler.«
»Wie bitte?«, fragte ich. Paula blickte auf.
»Im Beton lässt man Leichen verschwinden«, bekräftigte Adrian.
»Wer hat dir denn das weisgemacht?«
»Brad in der Schule. Die Mafia, hat er gesagt, bringt Leute um, die ihr Geld schulden, und dann betoniert sie die Leichen in die Säulen der Autobahnbrücken ein. Und keiner wird sie je finden.«
»Na großartig«, sagte ich. »Vielleicht könntest du ja eine traditionellere Brücke ohne Leichen bauen. Und am besten so, dass der Sand im Kasten bleibt.«
»Schau mal!«, fuhr er unbeirrt fort. »Ich hab schon eine Leiche begraben.«
Ich unterbrach das Wäscheaufhängen, als Adrian rasch einen der Sandhügel mit seinem Bagger zerstörte und eine kleine, sandverkrustete Puppe zum Vorschein kam.
»Die gehört mir!«, kreischte Paula. »Das ist Topsy! Du hast sie aus meinem Puppenhaus gestohlen!« Und schon bekam sie feuchte Augen.
»Adrian, hast du Paula gefragt, ob du dir Topsy ausborgen und sie im Sand beerdigen darfst?«, fragte ich.
»Die hat doch gar nichts abgekriegt«, sagte er und wischte den Sand ab. »Warum ist sie bloß so ’ne Heulsuse?«
»Ich bin keine Heulsuse«, jammerte Paula. »Aber du bist hundsgemein!«
»Okay, okay«, beschwichtigte ich. »Es reicht. Adrian, mach Topsy sauber und gib sie Paula zurück. Und nächstes Mal fragst du deine Schwester, bevor du ihre Sachen nimmst. Wenn du was begraben willst, warum nimmst du nicht deine Dinosaurier? Dinos sind das gewohnt: Die liegen seit Jahrmillionen unter der Erde rum.«
»Mensch, ja, das ist cool!«, rief Adrian mit neuer Begeisterung. »Ich grabe im Garten nach Dino-Fossilien!«
Auf Händen und Knien schaufelte er Topsy mit seinem Bagger auf, deponierte sie in Paulas Schoß und nahm dann Kurs auf die frisch umgepflügte Erde in einem Blumenbeet, in dem ich kürzlich Unkraut gejätet hatte. Falls Edna die Geschwisterrivalität zwischen Donna und ihren jüngeren Brüdern nicht schlichten könnte und Donna zu uns käme, so wäre sie in bester Gesellschaft und würde sich bald wie zu Hause fühlen.
Ich machte uns Brote zum Lunch, die wir unter dem Baum im Garten verspeisten, dann schlug ich den beiden vor, für eine Stunde in den Park zu gehen. Der Park lag etwa zehn Gehminuten entfernt, und Adrian wollte sein Fahrrad, Paula ihren Puppenwagen mitnehmen. Ich bat Adrian, Fahrrad und Puppenwagen aus dem Schuppen zu holen, während ich die trockene Wäsche und die Lunchsachen ins Haus brachte und die Fenster im Erdgeschoss verschloss.
Seit meiner Scheidung war Adrian in mancherlei Hinsicht unser »Mann im Haus« geworden. Und obwohl ich ihm nie Verantwortung auferlegt hätte, die ihn altersmäßig überforderte, hatten ihm die kleinen »Männerjobs« geholfen, das Gefühl des Verlusts zu mildern, natürlich neben den regelmäßigen Besuchen seines Vaters.
Adrian und Paula durften den Schuppen jederzeit betreten. Alle gefährlichen Gegenstände wie Gartenscheren, Rasendünger und Unkrautvernichter waren weggesperrt, und nur ich hatte einen Schlüssel dazu. Abgesehen davon, dass es der Sicherheit der Kinder diente, war es auch ein wesentlicher Bestandteil unserer Richtlinie »Sicherere Pflege«, ein Dokument, das alle Pflegepersonen unterschreiben und befolgen mussten und in dem ausgeführt war, wie die Häuser von Pflegefamilien kindersicher zu gestalten waren.
Einmal im Jahr überprüfte meine Betreuerin Jill die Sicherheit von Haus und Garten und verfasste einen Bericht. Der Garten musste von einem stabilen Zaun umgeben, der Seiteneingang stets abgeschlossen, Abwasserleitungen abgedeckt und alles, was für Kinder eine Gefahr darstellen konnte, weggesperrt sein.
Die Sicherheits-Checkliste für das Haus selbst wurde jedes Jahr länger. Neben den selbstverständlichen Rauchmeldern, Treppengittern (oben und unten), falls man Kleinkinder betreute, der verschlossenen Hausapotheke hoch oben an der Küchenwand und den Kindersicherungen für Steckdosen gab es mittlerweile auch weniger naheliegende Bestimmungen. Die Streben der Treppengeländer mussten nun einen Abstand haben, der es einem Kleinkind unmöglich machte, mit Kopf, Arm oder Bein darin steckenzubleiben; das Glas in Terrassentüren musste gehärtet sein für den Fall, dass ein Kind dagegen stieß; und Thermostate an Heizkörpern hatten so eingestellt zu sein, dass ihre Temperatur die zarte Haut eines Kleinkindes nicht verbrennen konnte. Man kann wohl mit Fug und Recht behaupten, dass das Heim einer Pflegeperson sehr viel sicherer war, als es das gewesen wäre, wenn nur die eigenen Kinder darin gewohnt hätten.
»Und vergiss nicht, die Schuppentür zu schließen, Adrian«, rief ich ihm nach. »Nicht dass sich diese Katze wieder reinschleicht.«
»Klar, Mum«, erwiderte er.
Ebenso wie ich erinnerte er sich an den grauenhaften Gestank, der uns eine Woche zuvor entgegengeschlagen war, nachdem ein Kater versehentlich im Schuppen übernachtet hatte. Trotz all meines Geschrubbes mit Desinfektionsmittel war der Geruch noch immer nicht weg.
»Klar, Mum«, meinte Paula, ihren Bruder nachahmend. Offenbar hatte sie ihm verziehen.
Ich beobachtete, wie Adrian stehen blieb und auf sie wartete. Dann nahm er sie an die Hand und erklärte ihr, dass sie, während er ihren Puppenwagen rausholte, vor dem Schuppen warten solle, um nicht den haarigen Spinnen zu begegnen, die unsichtbar im Inneren lauerten. Die meiste Zeit kamen Adrian und Paula gut miteinander aus, doch wie alle Geschwister stritten sie auch hin und wieder.
Eine halbe Stunde später waren wir abmarschbereit. Fahrrad und Puppenwagen, die wir ins Haus gebracht hatten, um das Schloss am Seitentor nicht aufsperren zu müssen, standen in der Diele. Ich hatte mein Handy und je eine Flasche Wasser für die Kinder in meine Handtasche gesteckt und hielt die Schlüssel in der Hand.
Dann meinte Paula, sie wolle noch mal Pipi machen, weil sie die Toiletten im Park wegen der Spinnen nicht mochte. Adrian und ich warteten in der Diele, während sie nach oben ging, und als sie kurz darauf wieder herunterkam, waren wir wirklich so weit. Ich öffnete die Haustür, Adrian bugsierte sein Rad über die Stufe ins Freie, und eben wollten Paula und ich ihm mit dem Puppenwagen folgen, als das Telefon auf dem Tisch in der Diele zu klingeln begann.
»Warte mal kurz, Adrian«, rief ich, und während Adrian im Vorgarten stand und Paula darauf wartete, dass ich ihr den Puppenwagen über die Stufe hob, griff ich nach dem Hörer. »Hallo?«
»Spreche ich mit Cathy Glass?« Es war eine Frauenstimme mit breitem schottischem Akzent.
»Ja, genau.«
»Hallo, Cathy. Ich bin Edna Smith, Donnas Betreuerin. Ich habe mit Jill gesprochen. Sie haben meinen Anruf wohl schon erwartet?«
»Oh ja. Hallo, Edna. Tut mir leid, können Sie bitte kurz warten?« Ich presste die Hand auf die Muschel. »Es ist eine Sozialarbeiterin«, sagte ich zu Adrian. »Komm noch mal kurz ins Haus.«
Er ließ sein Rad auf dem Gartenpfad stehen.
»Es dauert nicht lange«, sagte ich zu den Kindern. »Geht ins Wohnzimmer, und schaut euch solange ein Bilderbuch an.«
Adrian machte: »Ts«, forderte Paula jedoch mit einem Kopfnicken auf, ihm zu folgen.
»Entschuldigung, Edna«, sagte ich und nahm die Hand von der Muschel. »Wir wollten gerade raus.«
»Tut mir leid. Sind Sie sicher, dass Sie jetzt reden wollen?«
»Ja, schießen Sie los.« Im Grunde konnte ich kaum Nein sagen.
»Ich sitze momentan im Wagen, mit Donna. Sie ist etwas durch den Wind, und ich fahre ein bisschen mit ihr rum. Ich hatte gehofft, ich könnte bei Ihnen vorbeischauen, nur für ein paar Minuten?«
»Hm, ja, okay. Wie weit sind Sie denn noch weg?«
»Etwa zehn Minuten. Wäre das okay für Sie?«
»Ja. Wir wollten in den Park, aber das können wir auch später noch.«
»Danke. Wir bleiben nicht lang, aber ich mach lieber vor dem Einzug einen Antrittsbesuch.«
Also wurde Donna »umgesiedelt«, dachte ich, und während ich Ednas Engagement bewunderte – zweifellos hatte dieser ungeplante Besuch ihren Tagesablauf genauso durcheinandergewirbelt wie unseren –, wünschte ich mir, das alles hätte eine Stunde warten können, bis nach unserem Ausflug.
»Ich würde Donna gern heute Abend vorbeibringen«, fügte Edna hinzu, »wenn das für Sie und Ihre Familie in Ordnung geht?«
Offensichtlich hatte sich die Situation zwischen Donna und ihren Brüdern seit ihrem Gespräch mit Jill verschlechtert.
»Ja, dann sehen wir Sie gleich, Edna«, bestätigte ich ihr.
»Danke.« Sie hielt inne. »Und, Cathy? Auch wenn Donna ein wenig verstört auf Sie wirken sollte, normalerweise ist sie ein sehr angenehmes Kind.«
»Okay, Edna. Wir freuen uns auf sie.«
Ich legte auf und hielt kurz inne. Edna hatte sich offensichtlich sehr vorsichtig ausgedrückt, da Donna bei ihr im Wagen saß und jedes Wort mitbekam. Doch das Tempo, in dem das Ganze geschah, sagte ja alles. Kaum anderthalb Stunden zuvor hatte Jill angerufen, und schon sah Edna sich veranlasst, Donna aus der Pflegefamilie zu nehmen, um die Situation zu entschärfen.
Und Ednas Beschreibung von Donna – »ein wenig verstört, aber normalerweise ein sehr angenehmes Kind« – war ein Euphemismus, der nicht schwer zu deuten war. Es hieß nichts anderes als: Schotten dicht und sich auf den Sturm gefasst machen.
Adrian und Paula hatten gehört, dass ich aufgelegt hatte, kamen in die Diele und wollten los.
»Tut mir leid«, sagte ich. »Wir können erst später in den Park. In zehn Minuten schaut die Sozialarbeiterin mit einem Mädchen vorbei. Tut mir wirklich leid«, wiederholte ich. »Sobald sie wieder weg sind, gehen wir.«
Kein Wunder, dass die beiden Grimassen schnitten. Vor allem Adrian war nicht begeistert.
»Jetzt muss ich mein Fahrrad wieder reinwuchten«, brummte er.
»Ich mach das schon«, versicherte ich. »Wie wär’s denn, wenn ich euch beiden ein Eis aus dem Gefrierfach hole, das ihr im Garten schlecken könnt, während ich mich mit der Sozialarbeiterin unterhalte?« Wie vorauszusehen, linderte das die Enttäuschung.
Also schob ich Paulas Puppenwagen aus dem Weg und ins vordere Zimmer, dann brachte ich Adrians Rad herein und stellte es ebenfalls dort ab. Anschließend ging ich in die Küche, holte zwei Eishörnchen aus dem Tiefkühlschrank, riss das Papier herunter und biss von beiden ein Stückchen ab, ehe ich sie den Kindern im Wohnzimmer überreichte. Sie beschwerten sich nicht – sie kannten meine Marotte, mir stets einen Happen zu gönnen.
Nachdem ich die Terrassentür geöffnet hatte, ging ich, während Adrian und Paula in den Garten zurückkehrten und im Schatten des Baumes ihr Eis schleckten, rasch nach oben, um das Zimmer zu checken, in dem Donna am Abend schlafen würde. Pflegepersonen und ihre Familien sind es gewohnt, Pläne über den Haufen zu werfen und flexibel zu sein.
Kaum war ich wieder unten, klingelte es schon an der Haustür. Ich widerstand der Versuchung, durch den Spion einen Blick auf die erwarteten Besucher zu werfen, und öffnete die Tür. Nebeneinander standen Edna und Donna unter dem Vordach, und mein Blick wanderte zwischen den beiden hin und her.
Zwei Dinge fielen mir sofort auf. Erstens, dass Donna, wie Edna gesagt hatte, ein großes Mädchen war, nicht übergewichtig, sondern einfach groß für ihr Alter und gut gebaut. Und zweitens, dass sie so entsetzlich traurig wirkte. Sie blickte mit ihren großen braunen Augen zu Boden und hatte die Schultern hochgezogen, als trüge sie die ganze Last der Welt. Ohne Zweifel war sie das am traurigsten dreinblickende Kind – ob nun Pflegekind oder nicht –, das ich je gesehen hatte.
»Kommt rein«, begrüßte ich sie lächelnd und hielt ihnen die Tür auf.
»Cathy, das ist Donna«, sagte Edna in ihrem schottischen Singsang.
Erneut lächelte ich Donna an, die noch immer nicht aufblickte.
»Hallo, Donna«, zwitscherte ich fröhlich. »Schön, dich kennenzulernen.«
Sie schob sich in die Diele und schaffte es nicht einmal, aufzusehen und meinen Blick zu erwidern.
»Das Wohnzimmer ist geradeaus durch die Diele«, sagte ich zu ihr und schloss die Haustür hinter uns.
Mit gesenktem Kopf und hängenden Armen wartete Donna im Flur, bis ich voranging.
»Schön hier, nicht wahr?«, meinte Edna, an Donna gewandt. Offenbar gab sie sich Mühe, eine positive Atmosphäre zu schaffen.
Donna schwieg noch immer, folgte jedoch Edna und mir ins Wohnzimmer.
»Was für ein schöner Raum«, versuchte Edna es erneut. »Und sieh mal, der herrliche Garten. Ich sehe Schaukeln dahinten.«
Die Terrassentür stand offen. Für die meisten Kinder wäre das eine unwiderstehliche Einladung gewesen, loszulaufen und zu spielen, froh über die Gelegenheit, der langweiligen Erwachsenenunterhaltung zu entkommen. Doch Donna hielt sich dicht an der Seite ihrer Sozialarbeiterin und schaute nicht einmal auf.
»Willst du nicht raus?«, fragte ich Donna. »Meine Kinder, Adrian und Paula, sind draußen und essen Eis. Möchtest du auch eins?«
Ich sah sie an. Sie maß etwa einen Meter fünfzig und war damit nur etwa zehn Zentimeter kleiner als ich. Ihre olivfarbene Haut und die dunkelbraunen Haare ließen vermuten, dass Mutter oder Vater – oder auch eine Großmutter oder ein Großvater – afro-karibischer Herkunft war. Sie hatte ein hübsches rundes Gesicht, das jedoch traurig und bedrückt wirkte, ja, von Trauer überschattet. Ich hätte sie am liebsten in die Arme genommen und einmal richtig gedrückt.
»Hättest du gerne ein Eis?«, wiederholte Edna meine Frage. Donna hatte weder geantwortet noch aufgeschaut.
Beinah unmerklich schüttelte sie den Kopf.
»Würdest du gern mal kurz zu Adrian und Paula in den Garten gehen, während ich mich mit Cathy unterhalte?«, fragte Edna.
Donna schüttelte erneut den Kopf, sagte jedoch nichts.
Edna hätte sich wirklich darüber gefreut, das wusste ich, weil sie dann offen mit mir hätte sprechen können – was in Donnas Anwesenheit offensichtlich nicht möglich war. Weitere Informationen über Donnas Familie und darüber, was zu ihrer Inobhutnahme geführt hatte, würden mit den Unterbringungsdokumenten folgen, die Edna bei Donnas Übergabe mitbringen würde. Aber es wäre praktisch gewesen, gleich ein paar Infos zur Hand zu haben, um mich besser auf ihre Ankunft vorbereiten, einige der womöglich auftretenden Probleme vorhersehen und mich auf ihre Bedürfnisse einstellen zu können.
Donna verharrte reglos neben Edna an der offenen Terrassentür und hob nicht einmal den Blick, um hinauszusehen.
»Tja, setzen wir uns doch und plaudern ein wenig«, schlug ich vor. »Vielleicht fühlt Donna sich ja dann ein bisschen mehr wie zu Hause. Schön, dich kennenzulernen, Donna«, versuchte ich es erneut und berührte sie leicht am Arm.
Sie rückte ab, als weiche sie vor der Berührung zurück. Dieses Kind war ja wirklich zutiefst verletzt, und ich konnte mir beim besten Willen nicht vorstellen, welche Art von »Geschwisterrivalität« dazu geführt haben mochte. Offensichtlich steckte da mehr dahinter als die üblichen Zwistigkeiten zwischen Brüdern und Schwestern.
»Ja, das ist eine gute Idee. Setzen wir uns«, meinte Edna ermunternd.
Ich mochte Edna auf Anhieb. Sie war eine etwas hausbacken wirkende Frau mittleren Alters mit kurzem grauem Haar und schien eine jener zupackenden Sozialarbeiterinnen alter Schule zu sein, die zwar keinen Uniabschluss haben, aber über jahrelange praktische Erfahrung verfügen. Sie nahm auf dem Sofa neben der Terrassentür Platz, wo man einen guten Blick in den Garten hatte, und Donna setzte sich schweigend daneben.
»Kann ich euch etwas zu trinken anbieten?«, fragte ich.
»Für mich nicht, danke, Cathy. Ich war mit Donna mittagessen. Donna, möchtest du was trinken?« Sie wandte den Kopf, um sie anzusehen.
Wieder schüttelte Donna, ohne aufzublicken, stumm den Kopf.
»Nicht mal ein Eis?«, versuchte ich es. »Du kannst es auch hier drinnen essen, wenn du das lieber magst.«
Das gleiche halbe Kopfschütteln mit unverwandt auf den Teppich gerichtetem Blick. Wie um sich zu schützen, kauerte sie mit hochgezogenen Schultern und fest verschränkten Armen auf der Sofakante.
»Vielleicht später«, erwiderte Edna.
Ich nickte und nahm auf dem Sofa gegenüber Platz. »Es ist ein herrlicher Tag«, begann ich.
»Nicht wahr?«, pflichtete Edna mir bei. »Tja, Cathy, ich habe Donna schon im Auto erzählt, was für ein Glück es ist, dass wir Sie so kurzfristig gefunden haben. Donna war in ihrer bisherigen Pflegefamilie ziemlich unglücklich. Vor einem Monat kam sie mit ihren beiden jüngeren Brüdern in Pflege, um ihrer Mutter die Chance zu geben, ein paar Sachen zu klären. Donna hat eine ältere Schwester, Chelsea, die vierzehn Jahre alt ist und im Moment noch bei der Mutter lebt, bis wir eine passende Pflegestelle für sie gefunden haben.«
Edna sah mich nachdrücklich an, und ich wusste, dass mehr unausgesprochen blieb, als gesagt wurde. In Donnas Gegenwart würde sie nicht ins Detail gehen, doch mir kam der Gedanke, dass Chelsea sich vielleicht geweigert hatte. Ich glaubte nicht, dass Edna freiwillig drei Kinder in Obhut genommen und das vierte bei der Mutter gelassen hätte. Doch mit vierzehn war es praktisch unmöglich, ein Kind ohne dessen volle Kooperation in eine Pflegefamilie zu geben, auch wenn es zu seinem Wohl war.
»Donna besucht die Belfont-Schule«, fuhr Edna fort, »etwa fünfzehn Minuten von hier.«
»Ich kenne die Schule«, sagte ich. »Vor ein paar Jahren hatte ich schon mal ein Kind dort.«
»Prima.« Edna musterte Donna. Offenbar erhoffte sie sich etwas Begeisterung, doch Donna hob nicht einmal den Blick. »Mrs Bristow ist immer noch Schulleiterin, sie hat immer sehr eng mit mir zusammengearbeitet. Die Schule fängt erst am 4. September wieder an, und Donna wird dann in die fünfte Klasse gehen.«
Ich überschlug das rasch im Kopf und stellte fest, dass Donna schulisch offenbar ein Jahr hinterherhinkte.
»Donna geht gern zur Schule und ist auch sehr lernbegierig«, fuhr Edna resolut fort. »Wenn sie sich erstmal eingewöhnt hat, wird sie schnell aufholen, da bin ich mir sicher. Die Schule hat ein sehr gutes Förderprogramm, und Mrs Bristow ist, was die jahrgangsmäßige Einstufung der Kinder angeht, sehr flexibel.«
Daraus entnahm ich, dass Donna Lernschwierigkeiten hatte und wahrscheinlich (und klugerweise) ein Jahr zurückgestellt worden war, damit man besser auf ihre Bedürfnisse eingehen konnte.
»Sie hat eine gute Freundin, Emily, die in dieselbe Klasse geht«, sagte Edna und blickte wieder hoffnungsvoll zu Donna, doch die verharrte mit hochgezogenen Schultern und verschränkten Armen und starrte auf den Teppich.
»Ich freue mich schon, Emily kennenzulernen«, meinte ich fröhlich. »Vielleicht hat sie ja Lust, mal zum Tee zu kommen?«
Edna und ich sahen Donna an, doch sie blieb teilnahmslos.
Edna berührte sie am Arm. »Schon gut, Donna. Alles wunderbar.«
Ich schaute Donna an, und sie tat mir leid. Sie schien so entsetzlich zu leiden, und alles im Stillen. Mir wäre es wirklich lieber gewesen, sie wäre sauer geworden, wie so viele andere Kinder, die ich betreut hatte. Schimpfwörter zu schreien und mit Sachen zu werfen schien mir viel gesünder zu sein, als all den Schmerz in sich hineinzufressen wie Donna. So vorgebeugt und mit verschränkten Armen sah sie aus, als spende sie sich selbst die tröstende Umarmung, die sie so dringend brauchte. Ich verspürte den Drang, mich zu ihr zu setzen und sie einmal richtig fest zu umarmen.
In diesem Moment kam Adrian mit Paula im Schlepptau durch die offene Terrassentür hereingestürmt.
»Ich hab mein Eispapier mitgebracht«, meinte er und hielt mir das Papier unter die Nase, nur um dann, als er Edna und Donna erblickte, innezuhalten.
»Gut gemacht«, lobte ich. »Adrian, das ist Donna, die bei uns wohnen wird, und das ist ihre Sozialarbeiterin Edna.«
»Hallo, Adrian«, begrüßte ihn Edna mit ihrem warmen Lächeln, das ihm sofort jede Befangenheit nahm.
»Hi«, erwiderte er.
»Und du musst Paula sein?«, sagte Edna.
Paula lächelte verlegen und reichte mir ihr Papier.
»Wie alt seid ihr denn?«, erkundigte sich Edna.
»Ich bin zehn«, antwortete Adrian, »und sie ist sechs.«
»Ich bin sechs«, sagte Paula, offenbar aus dem Gefühl heraus, das auch selbst sagen zu können.
Donna starrte noch immer zu Boden. Nicht einmal als Adrian und Paula hereingehüpft gekommen waren, hatte sie aufgeblickt.
»Toll, was, Donna?«, meinte Edna in einem neuerlichen Versuch, das Mädchen einzubinden. Dann wandte sie sich an Adrian und Paula. »Donna hat zwei jüngere Brüder im Alter von sechs und sieben. Es wird nett für sie sein, einen Gleichaltrigen zum Spielen zu haben.«
Das beeindruckte Adrian offenbar nicht sonderlich, denn in seinem Alter waren Mädchen etwas, dem man Würmer vor die Nase hielt, um es zum Kreischen zu bringen, aber eigentlich keine Spielkameraden. Und bei dem Höhenunterschied – Donna war gute zehn Zentimeter größer als Adrian – hatte sie eher etwas von einer älteren Schwester als von einer Altersgenossin.
»Du kannst jetzt mit mir spielen«, meinte Paula, die eine Chance auf weibliche Gesellschaft witterte.
»Das ist eine gute Idee«, sagte Edna zu Paula. »Obwohl wir gar nicht lange bleiben können – wir haben noch viel zu erledigen.« Sie legte erneut ihre Hand auf Donnas Arm und fügte hinzu: »Donna, geh mal kurz mit Paula in den Garten. Danach zeigen wir dir noch das Haus und verabschieden uns.«
Ich blickte zu Donna und fragte mich, ob sie Ednas Worten, die eher Befehl als Bitte gewesen waren, Folge leisten würde. Edna, Adrian und Paula sahen sie ebenfalls an.
»Komm«, sagte Paula. »Komm, spiel mit mir.« Sie legte ihre kleine Hand auf den Ärmel von Donnas T-Shirt und zupfte daran. Diesmal wich Donna nicht zurück.
»Na, komm schon, Donna«, drängte Edna. »Ein paar Minuten im Garten, dann müssen wir los.«
»Komm«, wiederholte Paula und zupfte erneut an Donnas T-Shirt. »Du kannst mich auf der Schaukel anschubsen.«
Die Arme noch immer vor der Brust verschränkt und ohne aufzublicken, erhob Donna sich langsam. Sie glich eher einer alten Frau, die sich zur Spüle schleppt, um den Abwasch zu erledigen, als einer Zehnjährigen, die im Garten spielen will.
»Sehr gut«, lobte Edna.
Wir sahen zu, wie sich Donna gesenkten Hauptes von Paula zur Terrassentür und in den Garten führen ließ. Adrian beobachtete sie fasziniert und sah mich fragend an. Ich wusste, was er dachte: Normalerweise fiel es Kindern nicht so schwer, zum Spielen rauszugehen.
»Donna ist ein bisschen durch den Wind«, erklärte ich ihm. »Sie fängt sich schon wieder. Du kannst jetzt auch wieder spielen.«
Er drehte sich um und ging hinaus, Edna und ich sahen den Kindern nach. Adrian nahm seine archäologischen Aktivitäten im Sandkasten wieder auf, während Paula, immer noch Donnas T-Shirt umklammernd, das Mädchen zu den Schaukeln führte.
»Paula und Donna werden gut zurechtkommen«, meinte Edna, die meine Gedanken las. »Donna kann gut mit jüngeren Kindern.«
Auch wenn ich mir nie vorgestellt hätte, Donna könnte Paula schlagen – sie war so viel größer als Paula. Tatsächlich war mir schon in den Sinn gekommen, dass sich all die aufgestauten Gefühle bei ihr leicht auf vielerlei Weise entladen konnten, auch in körperlicher Aggression.
Edna seufzte leise und kehrte zum Sofa zurück. Ich setzte mich so neben sie, dass ich den Garten im Auge behielt.
»Das war ein anstrengender Morgen«, sagte Edna. »Mary und Ray, Donnas momentane Betreuer, haben mich schon ganz früh angerufen und verlangt, dass ich Donna umgehend abhole. Ich musste sämtliche Termine für heute absagen, um mich darum zu kümmern.«
Ich nickte. »Donna wirkt sehr niedergeschlagen.«
»Ja.« Sie seufzte erneut. »Ich begreife wirklich nicht, Cathy, was da so furchtbar schiefgelaufen ist. Die Pflegeeltern erklären nur, dass Donna sich ihren Brüdern, Warren und Jason, gegenüber zwanghaft besitzergreifend verhält, nicht zulässt, dass Mary und Ray sich um die beiden kümmern. Anscheinend mussten sie sie mehr als einmal unter vollem Körpereinsatz aus dem Zimmer bugsieren, damit sie die Jungen versorgen konnten. Donna ist ein kräftiges Mädchen, und wenn ich das richtig verstanden habe, kam es zu einigen hässlichen Szenen. Zum Beispiel hat mir Mary einen Bluterguss am Arm gezeigt, den Donna ihr am Vorabend zugefügt hatte, als sie und Ray versuchten, sie aus dem Bad zu drängen, damit die Jungs gebadet werden konnten. Die zwei sind erfahrene Pflegeeltern, meinen jedoch, Donna nicht weiter betreuen zu können.«
Ich runzelte die Stirn, war genauso verwirrt wie Edna. Die Schilderung passte so gar nicht zu dem stillen, verschlossenen Kind, das zu uns hereingeschlichen war und mich dabei nicht einmal hatte ansehen können.
»Die Jungs bleiben vorerst bei Mary und Ray«, fuhr Edna fort. »Die Geschwister gehen alle auf dieselbe Schule, sodass Sie Ray und Mary kennenlernen werden, sobald der Unterricht wieder anfängt. Die beiden sind Vollzeitpflegeeltern, Ray ist bereits im Vorruhestand. Sie haben die Genehmigung, bis zu drei Kinder zu betreuen, und haben das in der Vergangenheit sehr erfolgreich praktiziert, sodass ich wirklich nicht weiß, was da falsch gelaufen ist.«
Auch ich war nach ihren Ausführungen ratlos, doch es stand mir nicht zu, etwas anzuzweifeln oder zu kritisieren.
»Wahrscheinlich war die Betreuung von drei Kindern einfach zu viel«, mutmaßte ich. »Es ist schon eine Menge Arbeit, sich nur um eins zu kümmern, und dann erst drei! Vor allem, wenn sie gerade erst in Obhut genommen wurden, durcheinander sind und sich noch eingewöhnen müssen.«
Edna nickte nachdenklich und starrte mit mir in den Garten hinaus. Donna stieß Paula auf der Schaukel an, doch während Paula sich dabei völlig in ihrem Element befand und vor Entzücken quiekte, machte Donna eher den Eindruck banaler Pflichterfüllung und schien keinerlei Spaß daran zu finden.
»Ist das denn für Donna okay?«, fragte ich. »Sie muss Paula nicht anschubsen.«
»Bestimmt, Cathy. Momentan kann sie sich einfach für nichts begeistern.« Edna sah mich wieder an. »Mittlerweile arbeite ich schon seit drei Jahren mit Donnas Familie. Ich hab wirklich versucht, sie zusammenzuhalten, aber die Mutter packt es einfach nicht. Ich habe ihnen alle Hilfestellungen gegeben, die möglich waren. Ich hab sogar vorbeigeschaut und ihnen beim Waschen, Bügeln, Putzen geholfen – nur um beim nächsten Besuch alles wieder genauso schmutzig vorzufinden. Mir blieb keine andere Wahl, als die Kinder in Pflege zu geben.«
Bedauernd blickte Edna mich an, und ich spürte, dass sie es persönlich nahm und glaubte, trotz aller Bemühungen versagt zu haben. Wenn es aber eine gewissenhafte und engagierte Sozialarbeiterin gab, dann, so sollte es sich bestätigen, war das Edna, und Donna hatte großes Glück, von ihr betreut zu werden.
»Sie haben getan, was Sie konnten«, sagte ich. »Es gibt bestimmt nicht viele, die das alles gemacht hätten.« Das meinte ich auch so.
Edna schaute mich an. »Donnas Familie hat schon seit Langem mit den Sozialbehörden zu tun, die Mutter war als Kind selbst immer wieder in Pflegefamilien. Donnas Vater sollte eigentlich gar nicht bei der Familie leben, aber ich habe ihn erst letzte Woche bei einem geplanten Besuch dort angetroffen. Die Haustür war aufgebrochen, und Rita, Donnas Mutter, erklärte, Mr Bajan, Donnas Vater, habe die Scheibe eingeschlagen. Doch als ich ankam, saß er ganz zufrieden mit seinem Bier in einem Sessel, und auch Rita sah nicht gerade aus, als wolle sie ihn loswerden. Ich habe gleich veranlasst, dass die Tür repariert wird, weil sie das Haus anders nicht sichern können. Und Chelsea wohnt ja immer noch dort.«
Ich nickte. »Was für Sorgen!«
»Das können Sie laut sagen. Chelsea geht seit Monaten nicht mehr zur Schule«, fuhr Edna fort und schüttelte traurig den Kopf. »Und sie hat mir erzählt, dass Mr Bajan schon seit Monaten seine Medikamente wieder nicht nimmt. Man hat bei ihm eine paranoide Schizophrenie diagnostiziert, und wenn er die Medikamente nicht einnimmt, kriegt er Wahnvorstellungen und wird zuweilen gewalttätig. Ich hab ihm gesagt, dass er sie weiter schlucken muss und ich ihn, wenn er es nicht tut, wieder einweisen lassen werde. Er hat sich zwar sehr bereitwillig gezeigt, aber ich glaube nicht, dass er sich an meine Mahnungen erinnern wird. Wenn er die Tabletten nimmt, ist er völlig normal, und weil er sich dann besser fühlt, meint er, er braucht sie nicht mehr. Also nimmt er sie nicht mehr ein und wird wieder krank.«
Was für ein Schicksal Donna und ihre Familie doch zu erleiden hatten, dachte ich, und wieder sah ich hinaus in den Garten, wo Donna immer noch schwerfällig Paula auf der Schaukel anschubste.
»Donnas Mutter Rita hat ein Alkoholproblem«, fuhr Edna, meinem Blick folgend, fort, »und vielleicht auch eins mit Drogen, obwohl wir das nicht sicher wissen. Das Haus ist völlig verdreckt, ein Gesundheitsrisiko. Ich habe es mehrmals durch die Gemeinde desinfizieren lassen, Rita kann es nicht sauber halten. Ich habe ihr gezeigt, wie man putzt, schon oft, aber es sind ständig Katzen- und Hundefäkalien auf dem Boden, weil sie streunende Tiere reinlassen. Und statt den Dreck zu beseitigen, schmeißen sie Zeitungspapier drauf, um ihn zu verstecken. Das ganze Haus stinkt. Sie haben das neue Bad, das ich habe einbauen lassen, ruiniert, und der Herd, für den ich Rita ein Darlehen beschafft habe, wurde nie angeschlossen. Von dem Tisch und den Stühlen, die ich anliefern ließ, ist nichts zu sehen, ebenso wenig wie von den Betten, die ich bestellt habe. Die Kinder haben nämlich auf einer alten Matratze geschlafen – alle auf einer einzigen. Auf den Böden liegen nur alte Zeitungen, und die meisten Fenster sind irgendwann mal eingeschlagen worden. Dann ruft Rita mich jedes Mal an, und ich muss mich um die Reparatur kümmern. Zu essen ist nie was im Haus, und Warren und Jason, Donnas Brüder, haben auf dem Grundstück randaliert. Immer wieder beschweren sich Nachbarn über die Familie, auch über das Geschrei und Geplärr aus dem Haus, wenn Mr Bajan da ist.«
Ich nickte wieder, und beide blickten wir hinaus in den Garten, wo Donna Paula noch immer auf der Schaukel anschubste.
»Mr Bajan ist Donnas Vater, den Geburtsurkunden nach auch der von Warren und Jason, obwohl ich da meine Zweifel habe«, fuhr Edna fort. »Chelsea hat einen anderen Vater, dessen Name nie genannt wurde, aber sie hat größere Ähnlichkeit mit Donna als die mit den Jungs. Mr Bajan stammt aus einer gemischten Familie, seine Mutter kommt ursprünglich aus Barbados. Sie lebt in der gleichen Wohnanlage und unterstützt die Familie, so gut sie kann. Ich hab sie gefragt, ob sie sich um die Kinder kümmern könne, aber sie fühlt sich dem in ihrem Alter nicht mehr gewachsen, was verständlich ist. Sie ist selbst nicht bei bester Gesundheit und verbringt die Winter teilweise bei ihrer Familie auf Barbados. Sie ist eine reizende Dame, die aber – wie der Rest der Familie – mir die Schuld daran gibt, dass die Kinder in Obhut genommen wurden.«
Edna hielt inne und seufzte.
»Aber was konnte ich tun, Cathy?«, fuhr sie dann fort. »Die Situation ist immer schlimmer geworden statt besser. Als ich Donna und ihre Brüder das erste Mal in Obhut nahm, hatten sie alle Läuse und Flöhe, die beiden Jungs auch noch Würmer. Ich erzählte es ihrer Mutter, und sie zuckte bloß mit den Schultern. Beim besten Willen, aber ich komme einfach nicht an Rita ran.«
»Und was haben Sie auf längere Sicht mit den Kindern vor?«, fragte ich.
»Wir haben einstweilige Verfügungen – für Donna und die Jungen. Ich werde mich ans Gericht wenden, um sie zu erneuern, und sehen, was dabei herauskommt. Vielleicht ist die Inobhutnahme der Kinder ja ein Weckruf für Rita, den sie braucht, um sich endlich am Riemen zu reißen. Ich hoffe es. Wenn nicht, bleibt mir nichts anderes übrig, als den Eltern das Sorgerecht entziehen zu lassen und die Kinder dauerhaft in einer Pflegefamilie unterzubringen. Sicherlich liebt Rita die Kinder auf ihre Weise, aber sie kann sich nicht um sie kümmern oder einen Haushalt führen. Ich wollte auch Chelsea aus der Familie nehmen, aber sie weigert sich, und in gewisser Weise ist es dafür auch schon zu spät. Chelsea ist ziemlich leicht zu haben, und die Mutter kapiert einfach nicht, dass es falsch ist, wenn eine Vierzehnjährige mit ihrem Freund schläft. Ja, Rita fördert es sogar, indem sie den Freund ihrer Tochter im Haus übernachten lässt und Chelsea die Pille gibt. Ich hab Rita gesagt, dass Sex mit Minderjährigen strafbar ist, aber sie lacht nur darüber. Rita war selbst gerade mal fünfzehn, als sie mit Chelsea schwanger wurde, und kann nichts Falsches daran erkennen. Sie hat den größten Teil ihres Lebens schwanger verbracht – neben den Schwangerschaften mit Chelsea, Donna und den Jungs hatte sie, soviel ich weiß, auch noch drei Fehlgeburten.«
Ich schauderte. »Wie traurig.«
»Ja. Am besten wäre, Rita würde nie wieder schwanger werden, und ich versuche, sie davon zu überzeugen, sich sterilisieren zu lassen, aber momentan beiße ich bei ihr auf Granit. Sie hat Lernschwierigkeiten, genau wie Donna und Chelsea. Die Jungen sind ziemlich helle, Warren sogar sehr. Sobald er in die Schule kam und Zugang zu Büchern hatte, hat er sich das Lesen selbst beigebracht.«
»Wirklich? Das ist ja erstaunlich!« Ich war beeindruckt.
Edna nickte und sah mich aufmerksam an. »Sie geben Donna doch nicht auf, Cathy? Sie ist wirklich ein liebes Kind, und ich weiß nicht, was da falsch gelaufen ist.«
»Nein, natürlich nicht«, versicherte ich ihr. »Bestimmt fängt sie sich wieder. Ich hab Donna sofort gemocht, und Paula offenbar auch.« Wieder schauten wir beide in den Garten. »Obwohl Donna – nach allem, was Sie erzählen – ihre Brüder wohl vermissen dürfte«, fügte ich hinzu.
»Ich fürchte, sie gibt sich die Schuld daran, dass die drei in Obhut genommen wurden«, erwiderte Edna. »Donna hat sich um Warren und Jason gekümmert und versucht, den Haushalt zu machen. Chelsea war ständig unterwegs, und die Mutter schläft fast den ganzen Tag, wenn sie gerade nicht trinkt. Aber von einer Zehnjährigen kann man kaum erwarten, dass sie zwei Kinder erzieht und einen Haushalt führt. Donna gibt sich die Schuld, der Rest der Familie mir. Als ich das letzte Mal dort war, hat Rita mich geschlagen. Ich habe ihr gesagt, wenn sie das noch mal tut, rufe ich die Polizei und lasse sie verhaften.«
Nicht zum ersten Mal registrierte ich mit Verwunderung, in welche Gefahren sich Sozialarbeiterinnen in ihrem normalen Arbeitsalltag begaben – und dass wir alle das für selbstverständlich hielten.
Wir blickten in den Garten hinaus. Paula hatte die Schaukel verlassen und redete auf Donna ein, die mit verschränkten Armen und schief gelegtem Kopf neben ihr stand. Sie hatte eher etwas von einer Mutter, die ihrem Kind mit geheuchelter Geduld zuhört, als von einer Zehnjährigen.
»Donna und ihre Brüder werden ihre Eltern dreimal die Woche sehen«, sagte Edna. »Montag, Mittwoch und Freitag, von fünf bis halb sechs, obwohl ich das heutige Treffen abgesagt habe. Vorerst, bis im Familienzentrum ein Raum frei wird, überwache ich den Umgang in unserem Büro in der Brampton Road. Wissen Sie, wo das ist?«
»Ja.« Ich nickte.
»Können Sie Donna hinbringen und wieder abholen?«
»Ja.«
»Gut. Danke. Rita ist sauer, aber Sie müssen sie ja nicht treffen. Ich werde heute Abend, wenn ich mit Donna vorbeikomme, die Unterbringungsformulare mitbringen. Es wird sicher nach sechs werden. Ray will dabei sein, wenn Donna das Haus verlässt, für den Fall, dass es Probleme gibt. Er hat erst um halb sechs Feierabend. Und Mary hat mich gebeten, Donna den Nachmittag über zu beschäftigen. Sie möchte Donnas Sachen packen und bis halb sechs damit fertig sein.« Wieder seufzte Edna. »Also muss Donna den Nachmittag mit mir im Büro verbringen, und ich werde ein paar Malstifte und Papier auftreiben, damit sie was zu tun hat. Wirklich, Cathy, sie ist ein liebes Mädchen.«
»Bestimmt«, sagte ich. »Nur schade, dass sie nicht mit uns in den Park kommen kann.« Doch wir wussten ja beide, dass das nicht ging, da ich, bevor nicht alle Unterbringungsformulare unterzeichnet waren, offiziell noch nicht Donnas Pflegeperson war.
»Ich denke, das wäre es dann, Cathy«, meinte Edna. »Im Augenblick fällt mir sonst nichts mehr ein.«
»Essen?«, fragte ich. »Muss Donna auf irgendwas achten?«
»Nein, und ihr schmeckt auch das meiste. Auch gesundheitliche Probleme gibt es keine. Na ja, wenigstens keine körperlichen.« Ich schaute sie fragend an, und sie zuckte mit den Achseln. »Mary glaubt, Donna leidet an einer Zwangsneurose.«
»Oh«, meinte ich überrascht. »Wie kommt sie denn darauf?«
»Anscheinend wäscht Donna sich ständig die Hände.« Edna stieß einen ihrer typischen Seufzer aus. »Ich weiß nicht, Cathy. Sie kommen mir ziemlich vernünftig vor. Sie werden schon mitkriegen, falls da etwas nicht stimmt.«
»Wahrscheinlich sind es nur die Nerven«, beruhigte ich sie.
»Ja. Wie auch immer, wir lassen Sie jetzt in den Park gehen. Danke, dass Sie Donna nehmen, und Entschuldigung dafür, dass es so kurzfristig ist. Ich weiß, dass ich später noch Jill anrufen und ihr ein Update geben muss.«
»Ja, bitte. Mag Donna sich vielleicht noch das Haus ansehen, bevor Sie gehen?«
Edna nickte. »Wir machen eine Führung, aber erwarten Sie keine allzu große Reaktion.«
»Nein«, erwiderte ich lächelnd. »Machen Sie sich keine Gedanken. Sie wird sicher bald auftauen, wenn sie erstmal eingezogen ist.«
Edna schien mehr Bestätigung zu brauchen als ich. Wahrscheinlich hatte sie in den drei Jahren, die sie die Familie betreut hatte, eine ziemlich enge Verbindung zu den Kindern aufgebaut. Für Donna schien sie eine besondere Schwäche zu haben, und ich sah auch, warum: Donna schrie geradezu nach Liebe und Aufmerksamkeit, obwohl es ihr sicher gar nicht bewusst war.
Ich erhob mich und trat an die Terrassentür. »Paula!«, rief ich. »Donna muss gehen.«
Ich sah, wie Paula die Botschaft an Donna weitergab, die immer noch mit verschränkten Armen und gesenktem Kopf dastand und Paula nicht ansah. Donna zeigte keine Reaktion, und ich nahm an, dass Paula es wiederholte. Dann sah ich, wie sie ihre Hand in Donnas schob und sie in Richtung Haus führte. Es war traurig und zugleich beinahe komisch zu sehen, wie die kleine Paula dieses große Mädchen an die Hand nahm und Donna, die einen Schritt hinter ihr ging, sich führen ließ.
»Gut gemacht«, lobte ich, als sie bei uns waren.
Paula grinste, doch Donna hielt die Augen gesenkt und mied meinen Blick.
»Cathy zeigt uns jetzt das Haus, Donna«, meinte Edna strahlend. »Und dann müssen wir los.«
»Kann ich mitkommen?«, fragte Paula.
»Ja, natürlich.« Ich lächelte sie an und blickte zu Donna. Doch sie sah nicht auf, sondern schob sich enger an Edna heran. Offenbar fand sie in einer ihr fremden Umgebung Trost in der vertrauten Gegenwart. Ich spürte, dass Donna viel von Edna hielt, genauso wie Edna von Donna.
Rasch führte ich sie durchs Erdgeschoss und zeigte ihnen, wo die Spielsachen waren. Beim Betreten der Zimmer rief Edna jedes Mal: »Schön, Donna, oder?«, und versuchte ein wenig Interesse hervorzukitzeln.
Donna rang sich ein beinah unmerkliches Nicken ab, das war’s, und ich erwartete auch nicht mehr, denn offensichtlich – und wenig überraschend – fand sie das alles ungeheuer anstrengend. Sie blickte nicht weit genug auf, um auch nur irgendetwas in den Räumen sehen zu können. Als wir das für sie gedachte Zimmer betraten und Edna meinte: »Ist doch hübsch, oder?«, brummte Donna leise, und eine Sekunde lang glaubte ich, sie werde aufblicken. Aber stattdessen schmiegte sie sich noch enger an Edna, und Paula konnte bloß noch den Blick aus dem Fenster kommentieren.
»Guck mal, man sieht die Schaukeln im Garten«, rief Paula und trat ans Fenster. »Und den Nachbargarten. Die haben auch Kinder, die manchmal rauskommen und spielen.«
Donna nickte ein wenig, schien mir jedoch trauriger zu sein als je zuvor. Ob es wohl daran lag, dass sie sich binnen eines Monats bereits an das dritte Zimmer gewöhnen musste? Oder daran, dass Paula Kinder erwähnt hatte, und ihr nun dämmerte, dass sie ab sofort nicht mehr täglich mit ihren Brüdern spielen konnte?
»Wenn erst deine Sachen da sind, wird es sicher toll aussehen, Donna«, sagte Edna aufmunternd. Donna schwieg, und Edna sah mich an. »Danke, Cathy. Ich glaube, es wird Zeit, dass wir gehen. Wir haben noch einiges vor.«
Edna verließ das Zimmer als Erste, gefolgt von Donna, Paula und mir. Paula schob ihre Hand in meine und drückte sie; ich schaute sie an.
»Gefällt ihr das Zimmer nicht?«, fragte meine Tochter leise, jedoch nicht leise genug. Ich wusste, dass Donna es gehört hatte.
»Doch, bestimmt. Aber am Anfang ist das wohl alles sehr fremd. Du hast Glück, du hast noch nie umziehen müssen. Mach dir keine Gedanken, wir sorgen schon dafür, dass sie sich bald wohlfühlt.«
Paula kam mit mir zur Tür, um Edna und Donna hinauszubegleiten.
»Grüßen Sie Adrian von mir«, meinte Edna zum Abschied. »Wir sehen uns dann um kurz nach sechs. Ist das für Sie in Ordnung?«
»Ja. Wir freuen uns schon.«
»Tschüss, Donna«, sagte Paula, als ich ihnen die Tür aufhielt und sie hinaustraten. »Bis später.«
Edna blickte zurück und lächelte, doch Donna lief weiter.
Sobald sie sich ein Stück entfernt hatten, schloss ich die Tür und spürte, wie Erleichterung mich durchströmte. Donna war nicht das rebellische Kind, mit dem ich gerechnet hatte; weder trat noch schrie noch schimpfte sie. Dennoch war ihr Elend spürbar und ebenso anstrengend wie jedes verstörende oder herausfordernde Verhalten.
Paula folgte mir, als ich, um Adrian ins Haus zu rufen, zur Terrassentür ging.
»Glaubst du, Donna hat Lust, mit mir zu spielen?«, fragte sie.
»Na klar, Liebes. Sie ist nur ein bisschen schüchtern.«
»Ich werd mit ihr spielen und sie glücklich machen«, versprach sie. »Wir können viel Spaß miteinander haben.«
Ich lächelte und nickte, dachte aber, dass es wohl dauern würde, bis Donna sich mal wieder richtig von Herzen freuen könnte – wenn sie sich auch zum Mitmachen zwang, so wie eben an der Schaukel. Trotz allem, was mir Edna über Donnas Familie und die der Inobhutnahme und Unterbringung vorausgegangenen Umstände erzählt hatte, war ich, was ihre Verschlossenheit und den notwendigen Umzug anging, im Grunde nicht schlauer als zuvor. Nur in einem Punkt war ich mir sicher, nämlich dass Donna eine schwere Last mit sich herumschleppte, die sie nur widerstrebend preisgeben würde.
Da Adrian sein Fahrrad den Gehsteig entlangschob und Paula ihren Puppenwagen, kamen wir nur stockend voran. Ich bestand darauf, dass Adrian das Rad schob, bis wir von der Straße weg waren und uns in der Sicherheit des Parks befanden, wo es auch Fahrradwege gab. Immer wieder blieb Paula stehen, um die Decke um ihr »Baby« im Puppenwagen zurechtzuzupfen. Dabei war es derart heiß, wie Adrian genüsslich bemerkte, dass es kaum eine Rolle spielte, ob das Baby zugedeckt war. Die Wahrscheinlichkeit, dass es sich erkältete, war gleich null.
»Nicht schon wieder«, jammerte Adrian, als es erneut zu einer Verzögerung kam, weil Paula stehen blieb und nach dem Baby sah. »Gib es mir«, forderte er schließlich, »ich binde es an meiner Lenkstange fest. Dann kommen wir vielleicht heute noch an.«
»Das Baby ist kein Es«, versetzte Paula und biss sofort an.
Doch das waren völlig normale Neckereien zwischen Geschwistern und wohl weit entfernt von dem, was zwischen Donna und ihren Brüdern vorgefallen war. Da nichts von dem, was Edna erzählt hatte, eine derartige Verschlechterung der Beziehung zwischen Donna und ihren Brüdern erklären konnte, verfiel ich wieder auf den Gedanken, dass es womöglich nur eine Ausrede der Pflegeeltern war. Vielleicht waren Mary und Ray ja einfach nicht mit drei Kindern fertiggeworden, die alle unterschiedliche Bedürfnisse hatten und wohl sehr verstört waren. Doch als erfahrene Pflegeeltern hatten sie sich nicht einfach geschlagen geben, nicht einräumen wollen, dass sie es nicht packten. Möglicherweise hatten sie deshalb begierig den Geschwisterneid aufgegriffen, um Donnas Umzug zu bewerkstelligen.
Ich konnte es ihnen nicht verdenken, hoffte jedoch, dass Donna nicht gemerkt hatte, dass man es ihr in die Schuhe schob. Edna hatte die Situation mit den Worten umschrieben, dass Donna »sich aufgeregt« habe, was nicht darauf schließen ließ, dass sie sich irgendwie schuldig fühlte.
Im Park angekommen kurvte Adrian die Radwege auf und ab, wobei er genau wusste, dass er – wie immer – in Sichtweite zu bleiben hatte.
»Wenn du mich sehen kannst, sehe ich dich auch«, sagte ich zu ihm wie bei jedem Parkbesuch. Dennoch beobachtete ich ihn, während ich Paula auf der Schaukel anschob, mit einem Auge, während ich mit dem anderen auf Paulas Geheiß das Baby im Puppenwagen im Blick behielt.
Während Paula vor mir mit jedem Schubser immer höher schwang und dabei kleine Entzückensschreie ausstieß, dachte ich an Donnas Profil, als sie, in sich zusammengesunken und bedrückt, in unserem Garten gestanden und mechanisch Paula »bespaßt« hatte. Ich würde sicherstellen müssen, dass Donna nicht das Gefühl hatte, Paula bespaßen oder mit ihr spielen zu müssen. Dasselbe galt natürlich auch für Adrian, wenn das auch weniger wahrscheinlich war. Etwas an Donnas Nachgiebigkeit, ihrer Formbarkeit deutete darauf hin, dass sie es sich – vielleicht um des lieben Friedens willen – angewöhnt hatte, sich den Wünschen anderer zu fügen.
Paula vertauschte die Schaukel mit der Wippe; ich setzte mich auf ein Ende, sie aufs andere. Während ich ihr Fliegengewicht, begleitet von ihren nicht sehr überzeugenden »Lass-mich-runter«-Schreien, in die Höhe drückte, spürte ich plötzlich Hoffnung und Vorfreude, ja, Optimismus. Und ich war mir sicher: Wenn Donna zu uns kam, würde sie – sofern man ihr nur genügend Zeit und Raum ließ, ihr die so dringend benötigte Pflege und Zuwendung schenkte – ihr Schneckenhaus verlassen und große Fortschritte machen. Ich konnte mir vorstellen, wie sie hierher zum Spielen kam.
Ich hielt Donna für sehr viel unkomplizierter als einige der von mir bereits betreuten Kinder. Sie brachte weder Verhaltensstörungen – wie Treten oder das Ausstoßen von Beleidigungen – mit, noch war sie hyperaktiv. Und falls Mary tatsächlich einen Bluterguss am Arm hatte, dann wohl deswegen, weil sie und Ray – vermutete ich inzwischen selbstgefällig – die Lage beim Baden der Jungs einfach falsch eingeschätzt hatten. Hätten sie Donna erlaubt, ihnen ein wenig zur Hand zu gehen, statt sie gewaltsam aus dem Bad zu befördern, hätte das die Angelegenheit wohl entschärft. Wie in so vielen Situationen mit Kindern, ob fremden oder eigenen, kam es auf den richtigen Umgang an. Darauf, dass man den Kindern eine Wahl ließ, ihnen eine gewisse Verantwortung zugestand, sodass sie das Gefühl hatten, mitreden zu können.
Ich hatte ja noch so viel zu lernen!
Um fünf Uhr nachmittags, früher als sonst, aßen wir zu Abend, sodass ich den Tisch abräumen konnte und auf Donnas erwartete Ankunft um kurz nach sechs vorbereitet war. Es gab Geflügelauflauf, und für Donna hatte ich einen Teller beiseitegestellt, den ich ihr, falls sie hungrig war, in der Mikrowelle erhitzen würde.
Nachdem sie den Nachmittag mit Edna im Büro verbracht hatte, wollten die zwei nur zum Abholen von Donnas Sachen bei Mary und Ray vorbeischauen und sich verabschieden. Es konnte also durchaus sein, dass sie nichts gegessen hatte. Kinder fühlen sich regelmäßig besser, wenn sie die erste Mahlzeit im neuen Heim, die erste Nacht im neuen Bett hinter sich haben.
Außerdem hatte ich dafür gesorgt, dass Paula bereits im Schlafanzug und gebadet war. Ihre übliche Schlafenszeit lag zwischen sieben und halb acht, doch an diesem Abend wollte ich mich ganz auf Donna konzentrieren. Adrian war es mit seinen zehn Jahren schon gewöhnt, selbstständig zu baden oder zu duschen, sodass man ihn getrost machen lassen konnte – er brauchte und wollte mich nicht mehr dabeihaben.