Nichts wird je vergessen sein - Cathy Glass - E-Book

Nichts wird je vergessen sein E-Book

Cathy Glass

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Beschreibung

Ihr neues Pflegekind gibt Cathy Glass Rätsel auf: Die dreizehnjährige Dawn ist ihr gegenüber stets liebenswert und um Harmonie bemüht, doch kaum ist sie außer Sichtweite, schwänzt sie die Schule, treibt sich in Bars herum - und sie verletzt sich selbst. Vergeblich versucht Cathy herauszufinden, warum sich das Mädchen so weh tut. Weder das überforderte Jugendamt noch Dawns gleichgültige Mutter unterstützen sie dabei. So bleibt Cathy nichts anderes übrig, als dem Mädchen auf eigene Faust zu helfen, indem sie Dawns Vertrauen durch Zuneigung und Geduld gewinnt.

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Seitenzahl: 424

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Inhalt

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Über dieses Buch

Ihr neues Pflegekind gibt Cathy Glass Rätsel auf: Die dreizehnjährige Dawn ist ihr gegenüber stets liebenswert und um Harmonie bemüht, doch kaum ist sie außer Sichtweite, schwänzt sie die Schule, treibt sich in Bars herum – und sie verletzt sich selbst. Vergeblich versucht Cathy herauszufinden, warum sich das Mädchen so weh tut. Weder das überforderte Jugendamt noch Dawns gleichgültige Mutter unterstützen sie dabei. So bleibt Cathy nichts anderes übrig, als dem Mädchen auf eigene Faust zu helfen, indem sie Dawns Vertrauen durch Zuneigung und Geduld gewinnt.

Über die Autorin

Cathy Glass ist das Pseudonym einer britischen Autorin und Pflegemutter, die seit über 25 Jahren besonders herausfordernde Kinder beherbergt. Seit einigen Jahren schreibt Cathy über ihre Erfahrungen – mit großem Erfolg. Sie erfreut sich einer riesigen Fangemeinschaft, viele ihrer Bücher sind Bestseller.

Cathy Glass

Nichts wird je

vergessen sein

Meine Pflegetochter und die Schatten ihrer Vergangenheit

Aus dem Englischen vonMaria Mill

Vollständige E-Book-Ausgabe

des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes

Deutsche Erstausgabe

Für die Originalausgabe:

Copyright © 2008 by Cathy Glass

Titel der englischen Originalausgabe: »Cut«

Originalverlag: HarperCollins Publishers Ltd.

Für die deutschsprachige Ausgabe:

Copyright © 2020 by Bastei Lübbe AG, Köln

Umschlagmotive: © shutterstock: Csaba Peterdi

Umschlaggestaltung: Tanja Østlyngen

eBook-Produktion: hanseatenSatz-bremen, Bremen

ISBN 978-3-7325-8926-5

www.luebbe.de

www.lesejury.de

Für meine Familie, in Liebe

Danksagung

Mein Dank gilt Carole Tonkinson und dem gesamten Team bei HarperCollins, meinem Agenten Andrew Lownie sowie Ann Askwith für die Bearbeitung.

Prolog

In Interviews werde ich oft gefragt, wann und warum ich vor all den Jahren begonnen habe, Pflegekinder aufzunehmen. Dies ist die Story dazu, die wahre Geschichte von Dawn. Dawn war mein zweites Pflegekind und beinahe auch das letzte. Die Geschichte spielt noch zu einer Zeit vor den Kinderschutzgesetzen, als es weder Schulungen für Pflegeeltern, Dokumentationspflichten, regelmäßige Treffen noch Hintergrundinformationen über das Kind und auch wenig Verantwortung und kaum Unterstützung gab. »Die Kinder nur möglichst schnell wieder loszuwerden« schien damals die Devise der Jugendämter zu lauten, und je gestörter ein Kind war, umso zügiger und fixer entzog sich das Amt seiner Verantwortung. Nach all den Veränderungen in der Praxis von Pflege und Jugendarbeit sollte Derartiges eigentlich nicht mehr vorkommen, obwohl ich fürchte, dass es auch heute noch Pflegeeltern gibt, die das Gegenteil beweisen.

Einige Einzelheiten, darunter Namen, Orte und Daten, wurden zum Schutz des Kindes geändert.

1

Am Anfang

Mein Mann John und ich wollten eine Familie gründen, was sich aber als schwierig erwies. Wir bemühten uns redlich, doch das ersehnte Baby blieb aus. Eines Samstagabends stieß ich beim Durchblättern der Lokalzeitung auf eine Anzeige: Könnten Sie einem Kind ein Heim bieten? Mary braucht dringend eines. Daneben war das Schwarzweißfoto eines entzückenden kleinen Mädchens von sechs Monaten, das mit Ärmchen und Augen an den Betrachter appellierte, sowie die Telefonnummer der zuständigen Dienststelle des Jugendamts.

Ich blickte zu John hinüber, der auf dem Wohnzimmerboden hockte und an seinem Elektrobohrer herumdokterte. Kleine Metallteile lagen über eine alte Zeitung verstreut. Unser erstes gemeinsames Heim war ein Heimwerkerprojekt, obwohl mittlerweile, nachdem wir bereits zwei Jahre darin lebten, das Schlimmste überstanden war. Die meisten Räume waren nicht nur bewohnbar, sondern auch eingerichtet und trotz spärlicher Möblierung gemütlich. Wieder blickte ich auf die Anzeige und die kleiner gedruckte Zeile unter der Hauptunterschrift: Die kleine Mary braucht eine Pflegefamilie, während ihre Mutter im Krankenhaus behandelt wird.

»John?«, begann ich vorsichtig.

»Hm?« Er guckte auf.

»Was hältst du hiervon?« Ich erhob mich vom Sofa und hielt ihm, vorsichtig seinen Maschinenteilen ausweichend, die aufgeschlagene Seite unter die Nase.

Er las den kurzen Text und sah mich an. »Aber du würdest die Kleine doch nie wieder hergeben wollen, oder?«

Ich schwieg, war tief in Gedanken versunken. »Wenn man sich dafür entscheidet, muss man sich wohl klar sein, dass man das Kind irgendwann wieder abgeben muss. Was meinst du? Sollen wir anrufen?«

»Und was ist mit deinem Job?«, meinte er.

»Den würde ich wohl kündigen müssen. Wollte ich ja sowieso bei einem Kind.«

»Das ist aber nicht das Gleiche wie bei einem eigenen, oder?« Immer noch ruhte sein besorgter Blick auf mir. Bei John konnte man sich darauf verlassen, dass er Situationen objektiv betrachtete und Fallstricke und Probleme vorhersah, in die ich womöglich blind hineingestolpert wäre.

»Doch, das wäre genauso«, erwiderte ich.

Er blickte auf seinen Bohrer. »Da bin ich mir nicht so sicher. Lass mich drüber nachdenken.« Und wenn ich ganz ehrlich war, war ich mir auch nicht so sicher.

Konnte ich mich um ein Kind kümmern, das nicht mein eigenes war? Es füttern, wickeln, eine Beziehung zu ihm aufbauen in dem Wissen, dass es irgendwann zu seiner Mutter zurückkehren würde? Es war ein gewaltiges emotionales Abenteuer und eine lebensverändernde Verantwortung, noch dazu da wir mein Einkommen wirklich brauchten. Jeder Penny zählte, nicht nur wegen der Hauskosten, sondern auch als finanzielles Polster für den Tag, an dem wir ein Kind bekamen und ich meine Arbeit aufgeben musste. Ich faltete die Zeitung zusammen und steckte sie in den Zeitschriftenständer. »Kaffee?«, fragte ich John.

»Ja bitte. Und einen Donut, falls noch einer übrig ist.«

Nach einigem Nachdenken brachte John das Thema abends beim Schlafengehen erneut aufs Tapet. »Ich hatte eine Tante, die Pflegemutter war«, begann er. »Sie kümmerte sich um zwei Jungs. Die Details weiß ich nicht mehr. Sie hat in Schottland gelebt, und wir sahen sie nicht so oft, doch sie machten einen ganz glücklichen Eindruck.«

»Echt?«, fragte ich fasziniert und ließ den Kopf ins Kissen sinken.

»Wahrscheinlich könnte man einfach anrufen, um mehr in Erfahrung zu bringen«, sagte er. »Sie kriegen sicher Unmengen von Anfragen, die dann im Sande verlaufen.«

»Wenn ich es schaffe, rufe ich Montag in der Mittagspause an«, erwiderte ich. Ich arbeitete bei der öffentlichen Verwaltung, und der Abteilungsleiter hatte nichts gegen gelegentliche Telefonate der Angestellten, solange sie nicht ins Ausland gingen.

»Und wie wär es, wenn wir inzwischen noch einen Versuch in Sachen Familiengründung unternehmen?«, meinte John lächelnd. »Du weißt ja – Übung macht den Meister.«

Ich lachte, kuschelte mich an ihn und spürte Johns kräftige Arme, seine Lippen, die meine berührten.

Montags telefonierte ich mit dem Jugendamt beziehungsweise dessen Anrufbeantworter. Ich hinterließ Namen und Telefonnummer und gab an, dass ich die Anzeige über Mary gelesen habe und gerne mehr Informationen hätte. Damals hatte das Kinder-und-Familien-Team noch keine eigene Nummer. Ruft man heute dort an, um sich über »Pflege« zu informieren, antwortet eine Sozialpädagogin des Teams, die Erfahrung mit »betreuten Kindern« hat, und erzählt einem, was man wissen möchte. Nun ja, zumindest in der Theorie, denn natürlich sind auch heute noch manche Kommunen effizienter bei der Rekrutierung von Pflegeeltern als andere. Meine Nachricht landete beim damals gerade diensthabenden Sozialarbeiter, der über keine besonderen Kenntnisse diesbezüglich verfügte und Nachrichten zu sämtlichen Problemen entgegennahm.

Einen ganzen Monat lang blieb mein Anruf unbeantwortet, und ich hatte die Sache schon fast vergessen. Eines Abends um halb sechs, als ich gerade von der Arbeit nach Hause kam, rief mich eine Sozialarbeiterin an. Für die verspätete Rückmeldung entschuldigte sie sich nicht. Nachdem sie mir ihren Namen genannt hatte, fragte sie, ob wir schon einmal ein Kind in Pflege gehabt hätten, und ich ahnte schon, dass »Nein« die falsche Antwort war. »Oh«, erwiderte sie und wusste offenbar nicht, wie sie fortfahren sollte. Jede meiner Fragen entlockte ihr lediglich ein »Bedaure, das weiß ich nicht«. Als wir unser Gespräch nach fünf Minuten beendeten, war ich daher so klug wie zuvor. Allerdings hatte sie erwähnt, es müsse irgendwo noch eine Broschüre geben und sie werde versuchen, sie aufzutreiben und mir zuzuschicken, weswegen ich ihr unsere Adresse gab.

Bis der Merkzettel dann eintraf (ein schlichtes fotokopiertes DIN-A4-Blatt mit Bildern lächelnder Kinder und etwas allgemeinem Blabla, dass man Pflegeeltern für Kinder suche, die von ihren leiblichen Eltern nicht mehr betreut werden könnten, doch ohne genaue Einzelheiten, was wirklich Sache war), verging eine weitere Woche. Auf der Rückseite war ein (noch zehn Tage entferntes) Datum genannt, zusammen mit einem Veranstaltungsort, an dem ein »Einführungsabend« stattfinden sollte. Ich nahm an, dass es sich dabei um eine Einführung in die Übernahme einer Pflegschaft handelte, obwohl es sich angesichts der Dürftigkeit der Information auch um Schweinezucht hätte handeln können. Ich hatte der Sozialarbeiterin eine Reihe spezifischer Fragen gestellt, doch das Merkblatt verriet nichts weiter, als dass es Kinder aller Altersgruppen gebe, die Pflegeeltern benötigten.

Ich legte das Blatt zusammen mit anderer nicht eiliger Post aufs Küchenregal und dachte nicht mehr daran. John und ich waren mit unseren Jobs und dem Haus beschäftigt. Erst am Tag vor dem Treffen schnitt John das Thema noch einmal beim Abendessen an.

»Gehst du jetzt da hin?«, fragte er. »Zu diesem Pflege-Treffen«, ergänzte er, als ich ihn perplex anstarrte. »Es ist morgen.«

»Hatte ich eigentlich nicht vor. Wir wollten doch morgen das Bad fertig fliesen.«

»Das kann ich auch allein erledigen, falls du gehen möchtest«, meinte John. »Oder wir gehen zusammen und verschieben das Fliesen auf Samstag. Ich habe kein Golfspiel geplant.«

Nach all der Zeit und angesichts der wenig dynamischen Art der Sozialarbeiterin hatte mein Enthusiasmus für die Übernahme einer Pflegschaft ein wenig gelitten. »Willst du denn?«, fragte ich.

Er nickte. »Warum nicht? Mal hören, was sie zu sagen haben. Sonst fragen wir uns womöglich immer, was wir verpasst haben.«

»Okay«, sagte ich. »Schön.«

Wir waren zu elft im Gemeindesaal: fünf Paare und eine Witwe. Geleitet wurde das Treffen von zwei Sozialarbeiterinnen, die eine halbe Stunde lang erläuterten, weshalb Kinder in Pflege kamen, erklärten, man sei davon überzeugt, dass Kinder in Pflegefamilien besser aufgehoben seien als in Heimen, und uns abschließend unterbreiteten, dass alle Pflegeeltern mündlich befragt werden müssten. Anschließend hielt eine langjährige Pflegemutter einen zwanzigminütigen Vortrag, in dem sie uns unprätentiös und nüchtern von ihren Pflegeerfahrungen berichtete – was hochinteressant war. Wir legten eine Kaffeepause ein und hatten Gelegenheit, mit den anderen Paaren ins Gespräch zu kommen, die alle wie John und ich noch nie zuvor eine Pflegschaft übernommen hatten und gekommen waren, um mehr zu erfahren. Nach dem Kaffee stand die Vortragende zur Beantwortung von Fragen zur Verfügung. Ihre freimütigen Erwiderungen und all die Details des Lebens in einer Pflegefamilie waren fesselnd und, ja, unschätzbar wichtig, da sie uns wirklich weiterhalfen. Als wir eine Stunde später ins Freie traten, waren John und ich wieder voller Enthusiasmus. Die Schilderungen vom traurigen Leben der Kinder und das schöne Gefühl, ihnen ein wenig helfen zu können, hatten uns überzeugt.

»Wir könnten das zweite Schlafzimmer für das Pflegekind herrichten«, sagte ich. »Sodass das dritte, wie geplant, unser Kinderzimmer bleibt«, pflichtete John mir bei.

Beim Treffen hatte man uns gebeten, über alles nachzudenken und bei anhaltendem Interesse das Jugendamt anzurufen, damit man sich mit uns in Verbindung setzen konnte.

Wenn ich an das heutige Überprüfungsverfahren denke, kommt mir das damalige Prozedere geradezu lachhaft vor und im Hinblick auf die Sicherheit des Pflegekindes vielleicht sogar fahrlässig.

In der darauffolgenden Woche rief ich an und erhielt ein Bewerbungsformular zugesandt, das wir gemeinsam ausfüllen mussten. Abgesehen von unseren Kontaktangaben, Geburtsdatum und -ort sowie beruflichem Werdegang gab es einen Kasten, in dem wir in fünfzig Worten darlegen sollten, warum wir Pflegeeltern werden wollten. Für das Formulieren und Umformulieren dieser fünfzig Worte ließen wir uns Zeit und einigten uns schließlich auf etwa Folgendes: dass wir glaubten, einem Kind ein liebevolles Zuhause bieten zu können, uns jedoch auch klar sei, dass das Kind letztendlich zu seiner eigenen Familie zurückkehren werde – nach dem Einführungsabend hatten wir begriffen, dass dies unbedingt erwähnt werden musste. Ich mailte das Formular, und etwa einen Monat später rief eine Dame vom Jugendamt an, um einen Termin zu vereinbaren, an dem sie uns besuchen und befragen wollte. Ihr Name war Susan, und sobald wir mit unseren Kaffeetassen im Wohnzimmer saßen, ging sie unser Bewerbungsformular mit uns durch und bat uns, ihr näher zu erläutern, warum wir glaubten, die passenden Voraussetzungen zu haben, um uns um ein Kind zu kümmern, das nicht unser eigenes war. John und ich erklärten, dass wir Eltern sein wollten und es im Grunde schon waren; dass wir wussten, wie man ein Kind erzieht, weil uns unsere Eltern ein gutes Vorbild gewesen seien; und dass wir, auch wenn wir mal selbst Kinder bekämen, weiterhin Pflegeeltern sein wollten.

So wie Susan fortwährend lächelte und nickte, schien sie mit unseren Antworten zufrieden zu sein. Sie fragte uns nach unseren Familien und wie sich die Geburt eines Babys wohl auf ein Pflegekind auswirken würde. Wir antworteten ihr aufrichtig und so gut wir konnten, erzählten, was wir instinktiv empfanden. Auch nach den Konsequenzen, die ein Pflegekind wohl für unser Leben haben werde, fragte sie. Susans erster Besuch dauerte etwa zwei Stunden; zwei Wochen später, nachdem sie ihren Bericht verfasst hatte, besuchte sie uns erneut für eine Stunde. Lesen durften wir ihren Bericht nicht – heute ist das künftigen Pflegeeltern gestattet –, doch sie fasste uns den Hauptinhalt kurz zusammen und meinte, sie werde unsere Bewerbung befürworten und dass sie noch bewilligt werden müsse – von wem, verriet sie uns nicht.

Ein weiterer Monat ging ins Land, und wir erhielten einen Anruf von Susan, die uns erfreut mitteilte, dass unsere Bewerbung bewilligt worden sei. Und dass wir einen Informationsabend besuchen müssten, ehe es losging. Da wir keine Erfahrung mit Babys oder Kleinkindern hätten, würden wir nur Pflegekinder ab einem Alter von fünf Jahren aufnehmen können. Vielleicht hatte, wer immer unsere Bewerbung genehmigt hatte, sich gedacht, dass unsere naiven und unbeholfenen Bemühungen älteren Kindern weniger schaden würden – ich weiß es nicht: John und ich waren überglücklich, die Überprüfung bestanden zu haben und tatsächlich ein Pflegekind zu bekommen, wenn auch keines in Marys Alter.

Zu diesem Zeitpunkt weihten wir unsere Eltern in unser Vorhaben ein und erhielten gemischte Reaktionen. »Oh, ich dachte, ihr wolltet selbst eines«, meinte Johns Mutter. Worauf John erwiderte: »Stimmt. Ist doch dasselbe.« Meine Mutter bemerkte: »Sehr nett von dir, das zu sagen, Liebes, aber du hast doch überhaupt keine Ahnung von Kindern.« Ich konterte: »Hat das denn überhaupt einer, bevor er Kinder hat? Ich bin sicher, dass wir bald den Bogen raushaben.« Ein wahreres Wort wurde nie gesprochen!

Nach dem zweistündigen Informationsabend, bei dem wir andere als Pflegeeltern zugelassene Paare trafen und diverse Situationen, die sich zwischen Pflegeeltern und -kind ergeben konnten, mithilfe von Rollenspielen durchspielten, waren wir bereit, unser erstes Kind in Empfang zu nehmen. Zwei Tage später rief Susan an und meinte, sie werde am Abend einen Jungen vorbeibringen.

»Jack ist fünfzehn«, sagte sie. »Er geht zur Schule, sodass Ihnen noch Zeit bleibt für Ihre Kündigung. Einen Monat beträgt die Kündigungsfrist, oder?«

»Äh, ja«, erwiderte ich zögernd. »Ein Teenager also?«

»Ja. Die meisten Kinder, die wir gegenwärtig vermitteln, sind Teenager. Es fehlt uns an Pflegepersonen für Jugendliche, was sich durch die Schließung einer unserer Jugendeinrichtungen nicht gerade verbessert hat. Keine Sorge«, fügte Susan hinzu. »Jack wird Ihnen keinen Ärger machen.«

Das war der erste Hinweis darauf, dass Pflegekinder (häufig gänzlich unverschuldet) auch »Ärger« bereiten konnten, und zwar nicht zu knapp.

2

Falsche Sicherheiten

Jack war erst drei Monate bei uns, als es mit der Übelkeit losging. Keine, die mit einem verdorbenen Magen zusammenhing, sondern eine Art ständiger Brechreiz, der frühmorgens am schlimmsten war. Da ich es kaum zu hoffen wagte, kaufte ich mir, ohne John einzuweihen, einen Schwangerschaftstest und erzählte es meinem Mann erst, als ich das Ergebnis hatte.

»Ist ja irre! Wahnsinn! Juhu!«, rief John. Normalerweise drückte er sich gewählter aus, besitzt sogar einen Uniabschluss. »Lass uns feiern! Heute Abend! Hol Jack, und wir gehen essen. Nein, wenn ich es mir recht überlege: Mach es dir gemütlich und leg die Beine hoch, und ich hole Jack.«

Ich lachte, als John die Treppe hinaufstürmte, um Jack von seiner ihn gänzlich vereinnahmenden Rapmusik loszueisen, die lief, sobald er in seinem Zimmer war. Eine Stunde später saßen wir zu dritt an einem Ecktisch unseres Lieblingsitalieners, und John brachte einen Toast aus: »Auf Cathy: Bravo, Glückwunsch. Und auf Jack, weil er so gut in der Schule war.«

Während wir unsere Sektgläser erhoben, warf ich Jack ein Lächeln zu. Sein Glas war nur zu einem Viertel gefüllt, was uns für sein Alter angemessen erschien – ein paar Schlucke würden ihn nicht umbringen, und es war wichtig, dass er sich einbezogen fühlte.

»Ich erwarte ein Baby«, sagte ich leise zu Jack, der nicht ahnen konnte, warum John an seine Zimmertür gehämmert und ihm – unfähig, seine Begeisterung zu zügeln – befohlen hatte, sich in sein bestes Outfit zu werfen, da wir ausgehen und feiern wollten.

Jack lächelte etwas verlegen und nahm einen Schluck. »Woraus wird Sekt eigentlich gemacht?«, fragte er, das Gesicht verziehend.

»Aus Trauben, genau wie Wein«, erwiderte John. »Aber es ist eine besondere Rebsorte, und der Gärungsprozess ist ein anderer.«

»Haut mich nicht vom Hocker«, meinte Jack. »Kann ich ein Bier haben?«

»Nein«, riefen John und ich im Chor. »Dazu bist du zu jung«, fügte ich hinzu. »Du kannst eine Cola haben, wenn dir der Sekt nicht schmeckt.«

Sich um Jack zu kümmern hieß vor allem, Zugeständnisse zu machen, und John und ich mussten Entscheidungen treffen, was Jack gemäß gesundem Menschenverstand tun durfte oder auch nicht. Da wir keine Übung im Umgang mit Teenagern hatten und uns die Erfahrung mit eigenen halbwüchsigen Kindern fehlte, verließen wir uns auf das, was wir für einen fünfzehnjährigen Burschen für angemessen hielten. Wollte Jack daher abends mit seinen Kumpels ausgehen, musste er an Schultagen um neun, am Wochenende um zehn zu Hause sein. Jack war es gewohnt, recht viel mit seinen Freunden abzuhängen, was John auf zweimal die Woche reduzierte, da am Schuljahresende wichtige Prüfungen anstanden. Wir wollten wissen, wohin er ging, und verlangten, dass er uns, wenn er einen Freund besuchte, eine Telefonnummer hinterließ. Jack hatte sich unseren »Regeln« nie widersetzt, ja schien sogar positiv auf die von uns gezogenen Grenzen zu reagieren; er begriff, dass sie seinem Wohl dienten.

Susans Versicherung, Jack werde uns keinen Ärger machen, hatte sich bestätigt. Sah man einmal davon ab, dass wir ihn zum täglichen Duschen – statt nur einmal die Woche, wie er es gewohnt war – überreden mussten, setzte er uns kaum Widerstand entgegen. Da Jack fünfzehn war, behandelten John und ich ihn in vieler Hinsicht als Erwachsenen, nicht als Kind, das noch eine Mummy und einen Daddy braucht; und angesichts der positiven Resultate war unser Selbstvertrauen gewachsen. Jack hatte sich mühelos in unseren Haushalt integriert, seine Schulnoten hatten sich dramatisch verbessert. Wir trafen seinen Sozialarbeiter nur ein einziges Mal (nämlich als er Jack brachte); und auch danach hatte er nur einmal angerufen und sich erkundigt, ob alles in Ordnung sei. Jack sollte zu seinem Vater Sam ziehen, sobald der etwas Passendes gefunden hatte. Jack hatte seine Mutter und deren neuen Lebensgefährten nach ausufernden Streitereien verlassen, die darin gipfelten, dass der »Stiefvater« ihn schlug und Jack am darauffolgenden Tag mit gebrochener Nase in der Schule erschien. Sam waren wir nur ein einziges Mal begegnet, als er kurz nach Jacks Einzug bei uns vorbeigeschaut hatte. Sam, der von Beruf Zimmermann war, hielt offenkundig große Stücke auf seinen Sohn und hatte John anvertraut, er wünschte, er hätte Jack damals, als er dessen Mutter verließ, zu sich genommen. Inzwischen lebte er in einem möblierten Zimmer und freute sich darauf, seinem Sohn möglichst bald (sobald er eine Dreizimmerwohnung mit bezahlbarer Miete gefunden hatte) ein Heim zu bieten.

»Ich glaube, meine Mum könnte auch schwanger sein«, meinte Jack gegen Ende unserer festlichen Mahlzeit. »Als ich sie das letzte Mal gesehen hab, war sie fett.«

Ich schaute ihn an. »Ah ja? Und wie findest du es, dass deine Mum noch mal ein Kind kriegt?«

Jack zuckte die Achseln. »Ist mir egal. Ich werde sie wohl mal besuchen, wenn ich bei meinem Dad bin.« Verständlicherweise verletzte es Jack, dass seine Mutter einen Partner gewählt hatte, der ihn, Jack, misshandelte, und verübelte ihr, dass sie nicht eingegriffen und ihn beschützt hatte. Seit seinem Auszug hatte er sie nur zweimal gesehen.

»Wahrscheinlich kommt ihr alle viel besser miteinander klar, wenn du erst mal bei deinem Dad wohnst und deine Mum nur besuchst«, sagte ich.

»Kann sein«, meinte er. »Ist ihr Bier. Sie ist die Erwachsene. Sie muss den ersten Schritt machen.«

John und ich tauschten einen verständnisinnigen Blick. Jack war ein intelligenter und empfindsamer Junge, und es war sehr bedauerlich, dass sich seine Mutter, als der Sohn noch bei ihr war, so wenig Gedanken um seine Gefühle gemacht hatte.

»Auch Erwachsene machen Fehler«, sagte ich und lächelte Jack an. »Und manchmal kann es eine ganze Weile dauern, bevor sie es merken.«

Fünf Monate später – inzwischen war ich siebeneinhalb Monate schwanger – zog Jack zu seinem Dad. Wir trafen Jacks Sozialarbeiter zum zweiten Mal, als er ihn abholte. Zwar hatten wir uns anerboten, Jack zu seinem Vater zu bringen, doch offensichtlich fiel dies in den Aufgabenbereich des Sozialarbeiters. Beim Abschied wünschten wir Jack viel Glück, sagten ihm, wie toll es mit ihm gewesen sei und dass er in Sachen Schule am Ball bleiben solle.

»Danke für alles«, meinte Jack und deutete ein Winken an: »Ihr seid schon echt cool als Eltern« – was wir als Kompliment nahmen. Es hatte Spaß gemacht, sich um Jack zu kümmern, und die Erfahrung hatte unser Selbstvertrauen als Pflegeeltern gestärkt.

Das Haus plötzlich wieder für uns allein zu haben war seltsam, doch wenn ich ehrlich bin, auch eine Erleichterung. Gegen Ende der Schwangerschaft fühlte ich mich ganz schön erledigt, und Jack nicht mehr dazuhaben hieß, dass ich abends und an den Wochenenden eher entspannen konnte. Ebenso wie ich unter der Woche nicht mehr um sieben in der Früh auf sein musste, um Jack in die Schule zu schicken. Wir meldeten dem Jugendamt, dass wir erst nach dem Baby wieder jemanden aufnehmen würden, konzentrierten uns auf uns und versuchten, uns auf den großen Tag vorzubereiten. Nach neun Monaten und fünf Tagen Schwangerschaft setzten die Wehen ein, und ich gebar einen kleinen Jungen, der 3714 Gramm wog: Adrian.

Natürlich veränderte die Ankunft des Babys unser Leben, wenn auch nicht so dramatisch wie bei Paaren, bei denen die Frau erst kurz vorher ihren Job aufgegeben hat und sich nicht nur an die Versorgung des Babys, sondern auch ans Daheimsein gewöhnen muss. Ich aber hatte meinen Beruf schon fast ein Jahr früher an den Nagel gehängt und mich um Jack gekümmert. Und obwohl sich die Bedürfnisse eines Babys gewaltig von denen eines Fünfzehnjährigen unterscheiden, befand ich mich bereits in der sorgenden Mutterrolle. Kurzum: John und ich waren als Eltern sofort in unserem Element. Alles lief ziemlich reibungslos, und selbstgefällig vermerkten wir, wie leicht wir uns taten. Zu selbstgefällig womöglich, denn hätten wir mit unserer neuen Rolle gerungen, hätten wir es wohl nicht so eilig gehabt, ein weiteres Kind in Pflege zu nehmen.

Adrian war erst vier Monate alt, als ich eines Morgens einen Anruf von einer Sozialarbeiterin namens Ruth erhielt.

»Stimmt es, dass Sie Platz für einen Teenager haben?«, fragte sie. Ich saß auf dem Wohnzimmersofa, stillte Adrian und drückte ihn mit einer Hand an mich und mit der anderen das Telefon ans Ohr.

»Äh, ja, na ja, nein, eigentlich nicht«, erwiderte ich völlig überrumpelt. »Ich meine, wir nehmen schon Kinder in Pflege, aber momentan legen wir eine Pause ein, weil ich vor Kurzem selbst ein Kind bekommen habe.«

»Aber Pflegekinder haben Sie zurzeit keine?«, fragte Ruth.

»Äh, nein.«

»Gut, dann könnten Sie Dawn also nehmen. Sie ist dreizehn und lebt in einer Jugendwohngruppe. Ich muss sie ganz schnell verlegen. Sie ist zu jung für die Gruppe, und sie hat einige Probleme.« Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. »Kann ich sie heut Abend vorbeibringen?«, fragte Ruth.

Ich wusste immer noch nicht, was ich sagen sollte. »Ich muss das erst mit meinem Mann besprechen. Das war nicht geplant …«

»Könnten Sie ihn sofort anrufen, und ich melde mich in einer halben Stunde wieder? Es ist wichtig, dass ich das schnell vorantreibe.«

Ich spürte die Dringlichkeit in ihrer Stimme und erklärte mich trotz Ruths abruptem Verlangen bereit, John anzurufen – denn einen Teil von mir hatte sie mit ihrer Dringlichkeit schon angesteckt.

John war im Büro und verblüfft, von mir zu hören. Und erst recht baff, als ich ihm von Ruths Anruf erzählte.

»Das musst du entscheiden«, sagte er. »Unter der Woche bleibt schließlich das Meiste an dir hängen. Wird dir das nicht zu viel mit dem Baby?«

»Nein, ich glaube nicht«, erwiderte ich, mich durch die Erfahrung mit Jack in falscher Sicherheit wiegend. »Schließlich ist sie die meiste Zeit über in der Schule. Wir sollten es versuchen.«

3

Eine Fremde im Raum

Am gleichen Abend traf Dawn gemeinsam mit Ruth, der Sozialarbeiterin, bei uns ein. John machte ihnen auf und führte sie ins Wohnzimmer, wo ich, wie so oft, Adrian stillte. Adrian war ein kräftiges Baby und schien fortwährend hungrig zu sein – den Großteil des Tages verbrachte ich halb nackt.

»Hi«, begrüßte ich die beiden und blickte auf. »Kümmert euch gar nicht um mich. Setzt euch doch bitte.«

Beide warfen mir ein kurzes Lächeln zu und nahmen auf dem Sofa Platz. Dawn war klein für ihr Alter, zierlich und hatte blondes kinnlanges Haar. Sie besaß graublaue Augen und einen hellen Teint, und ihre Züge waren angenehm offen, wenn sie auch insgesamt recht blass wirkte. Sie trug Jeans und eine schwarze Lederjacke, den Reißverschluss hochgezogen bis zum Hals. Es war Mitte Februar und kalt draußen, und obwohl wir die Heizung wegen des Kleinen voll aufgedreht hatten, legte sie die Jacke nicht ab, ja zog sie sich noch fester um den Körper und zitterte dabei ein wenig.

»Möchtest du etwas Warmes trinken?«, fragte ich.

»Nein danke«, erwiderte sie höflich.

»Sie vielleicht, Ruth?«

»Nein, ich muss gleich wieder weg.« Ruth war etwa Mitte vierzig, füllig und trug eine weite schwarze Hose und einen beigefarbenen Pullover. Beim Hereinkommen hatte sie ihren Mantel ausgezogen und über die Sofalehne gelegt. Wir musterten einander kurz, schweigend, verlegen. Ruth und Dawn vermittelten den Eindruck, als hätten sie vor dem Hereinkommen eine Meinungsverschiedenheit gehabt: Einander die kalte Schulter zeigend, saßen sie an den jeweiligen Sofaenden und vermieden es, einander anzusehen.

»Wie geht es dir?«, fragte ich Dawn, um das Schweigen zu brechen. »Wie läuft es in der Schule?«

»Okay«, erwiderte sie aufgeräumt und schenkte mir erneut ein Lächeln.

»Okay wäre es, wenn sie zur Schule ginge«, bemerkte Ruth schroff. Ich sah zu John hinüber, dann schauten wir beide zu Ruth. »In letzter Zeit war Dawn nämlich nicht in der Schule«, erklärte Ruth unverblümt. »Sie scheint Schule für eine Teilzeitbeschäftigung zu halten und sich einzubilden, dass sie dort je nach Lust und Laune vorbeischauen kann. Womit sie ihre Mutter ganz schön in die Bredouille gebracht hat, nicht wahr, Dawn?«

In diesem Moment sah Ruth das Mädchen zum ersten Mal richtig an, obwohl es eher ein zorniges Anfunkeln war. John und ich wandten uns ebenfalls Dawn zu.

»Ich mag Schule nicht«, erwiderte Dawn ausdruckslos.

»Aber warum denn nicht?«, fragte ich und fand, dass die Sozialarbeiterin sich etwas einfühlsamer hätte zeigen und wissen müssen, dass es eine ganze Reihe von Gründen geben konnte, die ein Kind gegen die Schule aufbrachte – Mobbing beispielsweise.

»Ich kann die Lehrer nicht ausstehen«, versetzte Dawn. »Und sie mich auch nicht.«

Ruth seufzte. »Ach was, Dawn, mach mal halblang, die haben sich doch alle ein Bein ausgerissen, um dir entgegenzukommen. Ich wüsste nicht, was sie noch hätten tun können. Du bist nicht das einzige Kind an der Schule, obwohl so wie du dich anstellst, glaubst du das offenbar.«

Dawn zuckte herablassend die Achseln, und ich wusste, meine anfängliche Vermutung eines Streits (wohl wegen der Schule) traf zu.

»Jack, der Junge, der vor dir bei uns war, hatte auch Schwierigkeiten in der Schule«, meinte ich versöhnlich. »Aber jetzt ist alles in Ordnung. Vielleicht kann ich dir helfen, deine Schulprobleme zu lösen, Dawn?«

Ruth schnaubte. »Wer weiß. Ihre Mutter konnte es jedenfalls nicht.«

Dawn schwieg, und sie tat mir leid – Ruth hatte etwas so Barsches an sich, und Dawn wirkte so klein und fast zerbrechlich neben ihr. Ich fragte mich, was genau vorgefallen war, um Dawn derart gegen die Schule aufzubringen. Ruth warf einen Blick auf ihre Armbanduhr.

»Ich werde ein Treffen mit Dawns Mutter vereinbaren«, sagte sie eilig. »Und dann setzen wir einen Vertrag über gutes Benehmen auf. Wir verwenden solche Verträge bei Teenagern, damit alle Parteien wissen, was von ihnen erwartet wird. Er hat zwar keinerlei rechtsverbindliche Wirkung, aber eine moralische. Ich hoffe, Dawn hält sich dran.«

Dawn blickte zu mir auf und lächelte.

»Bestimmt«, sagte ich. »Ist das was Neues mit dem Vertrag? Mit Jack hatten wir keinen.«

»Ja, völlig neu. Wurde auch schon bei anderen Sozialbehörden erprobt, sodass wir uns dachten, warum nicht.« Ich nickte. »Dawn ist ein Einzelkind«, fuhr Ruth fort, die offenbar nur noch das Nötigste sagen und sich verabschieden wollte. »Sie hat teils bei ihrer Mum, teils bei ihrem Dad gewohnt. Und war, wie ich schon am Telefon erwähnt habe, in der Jugendwohngruppe, seit wir sie vor drei Tagen in Obhut genommen haben. Aber sie ist zu jung für die Wohngruppe – es war nur eine Notmaßnahme.« Ruth warf erneut einen Blick auf die Uhr. »Okay, gut, dann überlass ich das mal Ihnen. Dawns Tasche steht in der Diele. Sie hat nicht viel dabei. Ich werde ihre Mutter bitten, ein paar ihrer Sachen mitzubringen, sobald wir einen Termin haben.« Sie stand auf.

John erhob sich ebenfalls, um Ruth hinauszubegleiten, da ich Adrian gerade Bäuerchen machen ließ. Ruth zögerte und sah zu Dawn. »Hast du noch Fragen – solange ich noch da bin?«, meinte sie, als sei ihr das eben noch eingefallen.

»Wann muss ich daheim sein?«, fragte Dawn und sah mich an. Auch Ruth blickte mich an.

»Du bist dreizehn, sodass du nach Einbruch der Dunkelheit nicht mehr auf der Straße sein solltest«, sagte ich. »Deine Mutter würde das sicher auch nicht wollen.« John nickte.

Ruth starrte Dawn an, die den Blick senkte. »Genau«, pflichtete Ruth uns bei. »Ganz meine Meinung. Aber für Dawn ist das kein Hinderungsgrund. Wenn sie sich was in den Kopf gesetzt hat, tut sie es trotzdem. Ihre Mutter schafft es nicht, sie unter Kontrolle zu kriegen, das ist einer der Gründe, warum sie in der Obhut des Jugendamts ist – mangelnde elterliche Kontrolle. Also werden wir rechtzeitiges Nachhausekommen in den Vertrag aufnehmen, Dawn.«

Dawn zuckte die Achseln, und das war es von Ruth. Dawn und mir noch ein kurzes Ade zurufend folgte sie John in die Diele. Wenige Sekunden später hörten wir John Auf Wiedersehen sagen, und die Haustür fiel ins Schloss. Ich fuhr fort, Adrian den Rücken zu massieren, und bereitwillig machte er ein geräuschvolles Bäuerchen. Dawn lachte. Sie erhob sich vom Sofa, kam zu uns und kniete sich neben den Sessel, um Adrian genauer zu betrachten.

John steckte den Kopf zu uns herein. »Ich mach mal Tee. Mag jemand welchen?«

»Bitte«, sagte ich. »Und dein Abendessen steht auch noch im Ofen.«

»Ja bitte, John«, sagte auch Dawn und begann leise auf Adrian einzureden. Nachdem Ruth gegangen war, taute Dawn rasch auf. »Was für ein süßes Baby«, rief sie. »Wie heißt es denn?«

»Adrian.«

»Das ist aber ein hübscher Name. Wie alt ist er denn?«

»Vier Monate.«

»Wie goldig er ist! Nicht wahr, Adrian? Bist ein ganz Goldiger!« Adrian umklammerte Dawns Zeigefinger und zog ihn hin und her. »Sehen Sie mal! Er lächelt mich an«, rief Dawn entzückt. »Ich mag Babys. Ich hätte selber gern eins.«

»Die machen aber auch ganz schön viel Arbeit«, sagte ich und fühlte mich (wie wohl auch Adrian) etwas überwältigt von all der plötzlichen Aufmerksamkeit.

»Aber sobald sie ihren festen Tagesablauf haben, wird es leichter, oder?«, fragte sie.

»Keine Ahnung«, lachte ich. »So weit sind wir noch nicht.«

»Mein Dad und seine Freundin haben ein Baby, aber sie lassen mich nicht mit ihm spielen. Ich glaube, Dads Freundin ist eifersüchtig. Sie ist nur sechs Jahre älter als ich und behauptet, ich wüsste nicht, wie man ein Baby hält. Aber sie zeigts mir auch nicht, woher also soll ich das wissen?« Ich sah zu, wie Dawn völlig vernarrt weiter auf Adrian einredete. Und ich wusste schon, was als Nächstes kam.

»Darf ich Adrian mal halten, bitte?«, fragte Dawn. »Ich pass auch total auf. Sie können mir zeigen, wie das geht. Bitte!« Im Nu saß sie mit gekreuzten Beinen auf dem Boden und hielt die Arme auf, um ihn in Empfang zu nehmen. Ich glitt aus dem Sessel, kauerte mich neben sie und legte ihr Adrian vorsichtig in die Arme. Während sie ihn wiegte und seine Stirn zu küssen begann, stützte ich ihm das Köpfchen, eingedenk dessen, dass mein kostbares Söhnchen in den Armen einer Dreizehnjährigen lag, die gerade erst durch unsere Tür spaziert war und über die ich so gut wie nichts wusste.

»Wie heißt du?«, fragte Dawn plötzlich und schaute mich an.

»Cathy. Hat Ruth dir das nicht gesagt?«

»Nein. Sie war zu sehr damit beschäftigt, auf mir herumzuhacken. John hat mir an der Tür seinen Namen gesagt, aber deinen wusste ich nicht.« Schon in all meiner damaligen Unerfahrenheit fand ich es ziemlich schlimm von der Sozialarbeiterin, ein Kind bei einer Person zurückzulassen, deren Namen es nicht einmal wusste. Und obwohl ich Dawns Vornamen kannte, wurde mir klar, dass ich – abgesehen von dem, was Ruth mir erzählt hatte – weder ihren Nachnamen, ihr Geburtsdatum noch sonst etwas über sie wusste. Jacks Sozialarbeiter hatte mir wenigstens die wichtigsten Informationen auf einen Zettel notiert.

»Wie heißt du denn mit Nachnamen, Dawn?«, fragte ich.

»Jennings.«

Ich nickte. »Und wann hast du Geburtstag?«

»Am sechsten Januar.«

»Du bist also gerade erst dreizehn geworden?«

»Ja.«

Dawn wiegte Adrian nun heftiger, und ich hatte Sorge, dass sie es übertrieb – wie ein Kind, das mit einer Puppe spielte, statt Adrian vorsichtig zu beruhigen, wie es ein so zerbrechliches kleines Wesen verlangte. »Ganz sanft«, sagte ich, immer noch Adrians Kopf stützend, während ich ihr die freie Hand auf den Arm legte. »Bei Babys in diesem Alter ist der Rücken noch nicht so stark.« Zum Glück rettete uns John in diesem Augenblick, als er mit einem Tablett mit seinem Abendessen und drei Teebechern ins Wohnzimmer kam und mir einen Vorwand bot, Adrian aus Dawns Armen zu nehmen.

»Nimm dir einen Becher«, sagte ich. »Möchtest du etwas essen?«

»Nur einen Keks. Ich habe schon in der Wohngruppe zu Abend gegessen.«

John wollte zurück in die Küche, um die Kekse zu holen, doch ich meinte: »Iss du mal schön. Dawn und ich können die Plätzchen holen.«

»Soll ich Adrian tragen?«, fragte Dawn und stand schon wieder neben mir und streckte die Arme nach ihm aus.

»Nein danke, Liebes, ich schaff das schon. Du kannst die Keksdose nehmen.« Ich ging ihr in die Küche voraus und deutete auf die Gebäckdose auf dem Regal. Dawn sah sich in der Küche um, ehe sie die Dose herunternahm. »Schön haben Sie es hier. Sieht alles so neu aus.«

Ich lächelte. »John und ich haben das ganze Haus renoviert. Und sind eben erst fertig geworden – mehr oder weniger. Dein Zimmer zeige ich dir später. Ich hoffe, es gefällt dir.«

»Bestimmt. Diese Jugendwohngruppe war schrecklich. Sie haben drei von uns in ein Zimmer gesteckt, und die anderen zwei waren die ganze Nacht wach. Ich konnte überhaupt nicht schlafen. Und wenn ich bei Mum oder Dad bin, habe ich auch kein eigenes Zimmer. Die Wohnungen sind zu klein.«

»Und wo hast du dann geschlafen und deine Sachen hingetan?«, fragte ich überrascht, und wieder tat sie mir leid.

»Auf dem Sofa. Und ich hab nicht viel. Ich hab ein paar Klamotten in beiden Wohnungen und ein paar in meiner Tasche.«

»Also gut, Liebes. Nachher bringen wir deine Tasche hoch und räumen deine Sachen ein.«

Wir gingen zurück ins Wohnzimmer, plauderten mit John, während der zu Abend aß und Dawn fast den gesamten Inhalt der Keksdose verdrückte. Künftig würde ich darauf achten müssen, dass sie vernünftig aß, denn inzwischen hatte ich meine Zweifel, ob sie in der Wohngruppe tatsächlich zu Abend gegessen hatte. Sie war schmächtig und konnte es sich nicht leisten, Mahlzeiten ausfallen zu lassen, um sich dann mit Keksen vollzustopfen. Ich hielt den zufrieden glucksenden Adrian auf dem Schoß, der gelegentlich gähnte und mit den Armen ruderte. Dawn schien ihr anfängliches Interesse an ihm verloren zu haben und saß nun wieder auf dem Sofa. John und ich erkundigten uns nach der Schule, die sie ihren eigenen Angaben zufolge durchaus besuchte, wenn auch nicht regelmäßig. Ich fragte, ob sie die Schulaufgaben zu schwierig fand oder Probleme mit den Mitschülern habe, worauf sie nur meinte: »Nein, eigentlich nicht.« Sodass John und ich vermuteten, das Schwänzen habe mehr mit mangelnder Disziplin und fehlender elterlicher Anleitung zu tun als mit der Schule selbst. Dawns Aussagen zufolge schien sie zwischen der Wohnung ihrer Mum und der ihres Vaters und dessen Freundin hin- und hergependelt zu sein, ohne dass ein Elternteil sich wirklich kümmerte oder Verantwortung für sie übernahm. Offenbar war sie dabei in ein Abseits geraten, weil beide Eltern, zu sehr mit dem eigenen Leben und ihren Beziehungen beschäftigt, Dawn weder die nötige Zeit noch Aufmerksamkeit widmen konnten.

Ich sagte ihr, dass ich sie am nächsten Tag mit dem Wagen zur Schule bringen würde; danach könne sie, wenn sie wolle, den Bus nehmen wie früher. Sie besuchte eine weiterführende Schule am Stadtrand, die in fünfzehn Minuten per Bus erreichbar war. Doch ich wollte mich in der Schule vorstellen und in Erfahrung bringen, wie ich ihr helfen konnte. So hatte ich es auch bei Jacks Schule gehalten – mit sehr positivem Ergebnis. Dawn akzeptierte meinen Vorschlag liebenswürdig, wie übrigens all unsere Vorschläge und Regelungen, einschließlich derer zu ihrer Schlafenszeit, zu ihren Treffen mit Freunden (bei ihnen daheim oder bei uns, nicht aber auf der Straße) oder der Regel, dass Hausaufgaben Vorrang hatten vor Fernsehserien. Sie machte den Eindruck eines gutmütigen und vernünftigen Mädchens, das man sofort sympathisch fand und das eindeutig mit uns klarkommen und sich in unseren Alltag integrieren wollte.

Als es schon fast halb neun war, der von uns als vernünftig erachtete Zeitpunkt, um sich bettfertig zu machen, erhob Dawn sich ungebeten und meinte: »Dann sag ich mal gute Nacht.«

Ich war angenehm überrascht, genau wie John. Jack hatte während all der Monate bei uns immer wieder ermahnt werden müssen, doch bitte seine Musik oder den Fernseher auszuschalten oder womit immer er gerade beschäftigt war, und endlich ins Bad zu gehen.

»Ihr wollt sicher noch ein bisschen alleine sein«, fügte Dawn hinzu, und ich nahm an, dass sie das aus den Besuchen bei ihrem Dad und dessen Freundin gelernt hatte.

»Okay, Liebes«, sagte ich und erhob mich ebenfalls. »Ich komm noch mit hoch und zeig dir, wo alles ist.«

»Danke, Cathy. Gute Nacht, John. Darf ich dir einen Kuss geben?«

John wirkte momentan überrumpelt, gewann aber rasch die Fassung zurück. »Ja, klar.« Dawn ging zu John und küsste ihn auf den Scheitel. »Gute Nacht«, sagte er.

Ich legte Adrian in Johns Arme – abends nach dem Essen war nämlich ihre Zeit – und ging mit Dawn hinaus in die Diele. Ich griff mir ihr einziges Gepäckstück, eine kleine Reisetasche, und ging ihr voran nach oben in unser zweites Schlafzimmer. Nach Jacks Auszug hatte ich es gründlich gereinigt, und im Anschluss daran hatte es leer gestanden.

»Ist ja toll«, sagte Dawn, als sie sich in ihrem Zimmer umsah.

»Freut mich, dass es dir gefällt. Sobald du deine Sachen um dich hast, fühlst du dich sicher gleich besser.« Die Farben des Zimmers waren neutral gehalten, sodass es sich sowohl für Jungen als auch Mädchen eignete. Adrian schlief nach wie vor in seiner Wiege in unserem Schlafzimmer, doch das dritte Zimmer stand schon, sobald er alt genug war, für ihn bereit.

Ich stellte Dawns Tasche aufs Bett und zog den Reißverschluss auf. »Deine Klamotten kannst du in den Schrank hängen«, sagte ich. »Und da sind auch Regale für deine Bücher und CDs.«

Das Auspacken nahm nicht viel Zeit in Anspruch, und Dawn benötigte weder Schrank noch Regale. Die Reisetasche enthielt lediglich eine Jeans, einen Pullover, drei Unterhosen, einen Pyjama und einen Kulturbeutel.

»Was hattest du denn an, seit sie dich in Obhut genommen haben?«, fragte ich und blickte entsetzt auf die wenigen Kleidungsstücke.

»Das da«, erwiderte sie und deutete auf das, was sie trug.

»Und wo ist deine Schuluniform?«

»Ich hab einen Rock bei Mum und einen Pulli bei Dad. Sportzeug hatte ich eh nie. In der Schule werde ich ständig deswegen angepflaumt.« Ich fragte mich, ob das einer der Gründe war, warum Dawn so gegen die Schule eingenommen war – ohne Uniform handelte sie sich zwangsläufig Ärger mit dem Schulpersonal ein und isolierte sich auch von ihren Kameraden.

»Ich glaube, ich kaufe dir besser eine neue«, sagte ich. »Und ich hoffe, deine Sozialarbeiterin kann Rock und Pulli mitbringen, wenn sie mal zu deinen Eltern kommt. Dann haben wir was in Reserve. Und die Sachen, die du anhast, wasche ich. Morgen früh wirst du noch mal Jeans und Pulli tragen müssen. Aber mach dir keine Sorgen, ich komme mit und erkläre alles.«

»Danke, Cathy«, erwiderte Dawn lächelnd. »Ich habe es so satt, mich beschimpfen zu lassen. Wenn nicht meine Mum oder mein Dad mich anscheißen, dann die in der Schule.«

Ich öffnete den Kulturbeutel, der einen Waschlappen, eine Zahnbürste und eine Tube Zahnpasta enthielt, die man ihr – erzählte Dawn – in der Wohngruppe gegeben habe. »Wann duschst oder badest du normalerweise?«, fragte ich. »Morgens oder abends?«

»Ist mir egal«, meinte sie liebenswürdig.

»Wahrscheinlich wäre es abends – etwa um acht – am besten. John duscht morgens, und ich bade normalerweise vor dem Schlafengehen.« Ich dachte, dass Dawn, die keine feste Routine kannte, so etwas vielleicht schätzen würde; und natürlich war es auch praktisch, weil wir ja alle drei das Badezimmer benutzen mussten.

»Ist okay, Cathy«, sagte sie und lächelte wieder.

Ich nahm ein Handtuch aus dem Trockenschrank, zeigte Dawn das Bad und sorgte dafür, dass sie alles Nötige hatte. Nachdem ich kurz unten gewesen war und gerade wieder zurückkam, ging die Badezimmertür auf, und Dawn war schon fix und fertig und in ihrem Pyjama. Es war neun, und da sie wegen der Schule früh rausmusste, schlug ich ihr vor, am besten gleich schlafen zu gehen. Wie bei allem, das John oder ich ihr bisher vorgeschlagen hatten, stimmte sie bereitwillig zu. Ich zog die Vorhänge zu, während sie ins Bett stieg, und wünschte ihr eine gute Nacht.

»Gibst du mir keinen Kuss?«, fragte sie mich wie vorher John.

»Aber klar, Liebes.«

Sie kuschelte den Kopf ins Kissen, und ich beugte mich zu ihr hinunter und küsste sie auf die Wange. »Haben deine Mum und dein Dad das immer gemacht?«

»Nein, die waren viel zu beschäftigt.« Sie wirkte traurig.

»Dann sollte ich das wohl nachholen«, sagte ich, beugte mich über sie und gab ihr einen zweiten Kuss auf die Wange.

Sie lächelte. »Danke, Cathy. Nacht.«

»Nacht, Liebes. Schlaf gut.«

Ich ging hinaus und schloss die Tür. Obwohl Dawn schon dreizehn war, ähnelte sie in vieler Hinsicht einem viel jüngeren Kind, und sie tat mir unendlich leid.

Unten setzte ich mich zu John aufs Sofa, während Adrian zufrieden in Johns Armbeuge ruhte. »Scheint mir ein liebes Ding zu sein«, meinte John. »Sehr bemüht, es allen recht zu machen und sich anzupassen.«

»Ja«, sagte ich nachdenklich, »stimmt, fast ein bisschen zu bemüht.« John sah mich von der Seite an. »Ich meine, Jack war auch nett, aber erinnerst du dich an die ganzen Debatten übers rechtzeitige Heimkommen, seine Rumtreiberei oder zum Thema Hausaufgaben – von der Hygiene mal ganz zu schweigen?« John nickte. »Dawn hat zu allem Ja und Amen gesagt. Findest du nicht, dass sie ein bisschen zu folgsam ist? Kommt mir irgendwie komisch vor, besonders da die Sozialarbeiterin doch eindeutig von ihr genervt ist.«

»Es ist noch zu früh«, meinte John. »Aber wahrscheinlich ist sie einfach nur dankbar, dass sie endlich ein Zuhause hat. Scheint ja noch nie eins gehabt zu haben, weder beim Vater noch bei der Mutter.«

»Tja, da hast du wohl recht. Ich muss ihr morgen etwas zum Anziehen kaufen und eine komplette neue Schuluniform. Sie hat nichts dabei, und auch in den Wohnungen der Eltern scheint sie nicht viel zu haben.«

»Hast du genug Geld?«, fragte John, da er wusste, dass sein Gehalt erst in der folgenden Woche auf unserem Konto eingehen würde.

»Ich stelle Schecks aus. Bis zur Einlösung sind sie dann gedeckt.« Nachdem wir nur noch Johns Gehalt zur Verfügung hatten sowie zusätzliche Ausgaben für Haus und Baby anfielen, mussten wir aufs Geld achten. Heutzutage leisten die meisten Jugendämter neben der wöchentlichen Beihilfe eine Erstzahlung zur Deckung der Kleidungskosten von Pflegekindern. Damals erhielten Pflegeeltern jedoch nur gelegentliche Zahlungen, die kaum die Essenskosten deckten, von allem anderen ganz zu schweigen, und viele bekamen gar nichts.

Ich fütterte Adrian erneut und wie gewohnt um halb elf; danach ließ John ihn noch kurz aufstoßen und legte ihn in seine Wiege, während ich mein Bad nahm. In Dawns Zimmer herrschte Stille, und ich öffnete leise die Tür, um mich zu vergewissern, dass alles in Ordnung war. Sie lag zusammengerollt auf der Seite, schlummerte tief und fest. Ich ging wieder hinaus und schloss geräuschlos die Tür hinter mir. Da ich wusste, dass Adrian gegen drei wieder wach sein würde, lagen John und ich meist um elf in unseren Betten und schliefen. Doch was mich dann weckte, war nicht Adrians Schrei.

4

Nächtliche Erscheinung

Bis auf den zarten, durch einen Vorhangspalt hereindringenden Lichtschimmer der Straßenlampe war es dunkel im Zimmer. Da ich glaubte, der hungrige Adrian habe mich geweckt, blieb ich, wo ich war, schmiegte mich an Johns Rücken und lauschte auf Adrians nächsten Schrei. Dann hörte ich etwas, einen Laut, den ich nicht zuordnen konnte. Ich drehte mich um, wollte auf den Wecker schauen und schrie noch in der Bewegung auf. Im Zimmer neben Adrians Wiege sah ich einen Schatten.

Im Nu saß ich kerzengerade. »Mein Gott! Was machst du da?«

Ich knipste die Nachttischlampe an und stieg aus dem Bett. John war augenblicklich wach und aus dem Bett gesprungen und schaltete das Deckenlicht an.

»Dawn?«, rief er, als wir zu ihr traten. »Was tust du denn da?«

Mein Schrei und das Licht hatten auch Adrian geweckt, der nun laut losplärrte. Ich nahm ihn hoch und blickte mit wild hämmerndem Herzen und trockenem Mund auf Dawn. Sie trug ihren Schlafanzug und starrte mich aus weit aufgerissenen Augen an. Doch irgendetwas in ihrem Blick sagte mir, dass sie mich überhaupt nicht sah; ihre Augen waren glasig und leer, das Gesicht starr und ausdruckslos.

»Dawn?«, sagte ich und suchte Johns Blick. Er war bleich vor Entsetzen. »Dawn?«, versuchte ich es erneut. Doch da war nichts – kein Zucken, keine Bewegung, nicht einmal ein Blinzeln. Nichts, das mir verriet, dass sie mich hören oder sehen konnte oder unsere Anwesenheit überhaupt wahrnahm.

Ich drückte Adrian an meine Brust und warf einen Blick auf den Wecker. Es war halb zwei. Immer noch stand Dawn völlig still und starrte vor sich hin. Angesichts dieser absoluten Reglosigkeit und der starr glotzenden Augen hätte sie ebenso gut aus Stein sein können.

»Dawn?«, sagte John und bewegte langsam die Hand vor ihrem Gesicht auf und ab. Sie blinzelte nicht, zuckte mit keinem Muskel, starrte vielmehr weiter ausdruckslos vor sich hin. Ich spürte, wie sich mir der Magen zusammenzog.

»Ist sie Schlafwandlerin?«, fragte John leise.

»Keine Ahnung.« Er guckte so entsetzt und besorgt, wie ich mich fühlte.

Beide blickten wir auf Dawn, starrten ihr ins Gesicht, in die Augen. Jemanden vor sich stehen zu haben, der allem Anschein nach wach ist, aber weder sieht noch hört noch irgendwie reagiert, war das Gruseligste, was ich je erlebt hatte. Sie glich einer lebenden Statue oder einem Gespenst. Allen Ausdrucks und aller Bewegung beraubt ähnelte sie einer lebenden Toten.

Adrian lag noch immer an meiner Brust, und das tröstliche Gefühl des Gehaltenwerdens hatte ihn wieder einschlafen lassen. Ich hätte ihn in die Wiege zurücklegen können, hielt ihn aber weiter im Arm, meinte, ihn beschützen zu müssen, wenn ich auch nicht hätte sagen können, wovor.

»Was sollen wir tun?«, fragte ich John. Und starrte weiter wie hypnotisiert in Dawns leblose Augen.

»Sie wieder ins Bett bringen?«, schlug John vor.

»Vermutlich, nur wie?«

Ich hatte noch nie jemanden schlafwandeln sehen noch von jemandem gewusst oder gehört, dass er schlafwandelte, obwohl ich es natürlich aus Horrorfilmen und Psychothrillern kannte. Ob ich es aus denen oder irgendeinem Buch oder Artikel hatte, wusste ich nicht, doch ich hielt es für potenziell gefährlich, einen Schlafwandler abrupt aufzuwecken.

»Dawn?«, sagte ich daher betont ruhig. »Dawn, kannst du mich hören?«

Doch da kam nichts, nur der gleiche leblose Blick.

»Dawn, komm, jetzt geh mal wieder ins Bett«, drängte John leise, genauso hilf- und ratlos wie ich.

Von Dawn kam immer noch nichts – keine Reaktion, kein Hinweis, dass sie uns hörte oder irgendein anderer ihrer Sinne funktionierte. »Sie muss doch etwas gesehen haben, wie hätte sie es sonst um den Treppenabsatz herum in unser Schlafzimmer geschafft?«, flüsterte ich.

Er nickte. »Dawn, geh wieder ins Bett«, sagte er und berührte sie leicht am Arm. Dieser Kontakt, Johns Hand auf ihrem Arm, wirkte wie ein Kickstart, und Dawn setzte sich in Bewegung. Kerzengerade, ohne auch nur einmal zu blinzeln oder die Miene zu verziehen, begann sie sich allmählich zu drehen.

Mit einer Mischung aus Staunen und Entsetzen beobachteten John und ich, wie sie langsam und roboterhaft die Drehung vollendete und der Wiege den Rücken zukehrte. Mit gleichmäßigen, mechanischen Schritten näherte sie sich der Tür. John und ich folgten ihr schweigend in kurzem Abstand, während Adrian noch immer in meinen Armen schlummerte.

Wir folgten Dawn auf den Treppenabsatz, und ich beobachtete sprachlos, wie sie sich dort nach rechts wandte und stehen blieb. Einen Moment lang glaubte ich, sie werde nach unten gehen, und mir stockte der Atem. Doch nach kurzem Zögern legte sie die paar Schritte in ihr Zimmer zurück. Wir standen an der Tür, schauten zu, wie sie langsam und ohne anzustoßen das Zimmer durchquerte und in ihr Bett stieg. Ihr Zimmer befand sich an der Rückseite des Hauses und war, da nicht einmal der Lichtschein einer Straßenlampe hereindrang, sehr dunkel. Als sie einen Moment lang aufrecht im Bett saß und dann beim Hinlegen die Decke über sich zog, sahen wir ihr Profil.

»Augenblick«, flüsterte John mir zu, ging zum Treppenabsatz und knipste das Licht an. Nun war es hell genug für uns, um das Meiste im Zimmer, einschließlich des Betts, erkennen zu können. Vorsichtig folgte ich John ins Zimmer und rechnete fast damit, das Dawn sich gleich aufsetzen und uns mit diesen leblosen glasigen Augen anstarren würde. Doch sie schlief offenbar, lag mit geschlossenen Lidern und gleichmäßig atmend auf dem Rücken. Für einen kurzen Moment standen wir an ihrem Bett und blickten auf sie hinunter, um uns dann rasch hinauszuschleichen. John schloss die Tür, und wir kehrten in unser Schlafzimmer zurück.

»Gott!«, stöhnte John. »Was war denn das jetzt?«