Die Engel sollen bei dir sein - Cathy Glass - E-Book

Die Engel sollen bei dir sein E-Book

Cathy Glass

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Beschreibung

Der achtjährige Michael ist im Begriff, Vollwaise zu werden: Seine Mutter verstarb früh, und nun ist auch noch sein Vater unheilbar erkrankt. Auf Wunsch des Vaters findet er ein neues Zuhause bei der Pflegemutter Cathy, die ihm liebevoll beisteht. Voller Erstaunen beobachtet sie, wie gelassen Michael mit den belastenden Umständen umgeht. Zuversicht schöpft der kleine Junge aus seinem Glauben: Er betet täglich für die Erlösung seines Vaters und hofft, dass die Eltern im Himmel wieder vereint werden mögen ...

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Inhalt

CoverÜber dieses BuchÜber die AutorinTitelImpressumVorspannDanksagungVorwort1. Das Leben ist grausam2. Mutterstolz3. »Stirbst du auch?«4. Ein tapferer Mann5. Schatzsuche6. Einsam und verängstigt7. Ohnmacht8. Im Krankenhaus9. Erhörte Gebete10. Kind sein11. Freunde und Nachbarn12. Gute und schlechte Nachrichten13. Rendezvous14. »Mögen Glückseligkeit und Frieden dich umgeben«15. Fester Freund16. Das leere Haus17. Verbundenheit18. Wenig Neues19. Die Macht des Gebets20. Besuch21. Unterstützung22. Genesung23. Sorgenzeit24. Der Nachthimmel25. Positiv bleiben26. Ruhepause27 Die Vorahnung28. Vater-Sohn-Zeit29. Hell leuchtende Sterne30. Das Treffen31. Eine schwere Entscheidung32. Himmel33. Abschied nehmenEpilog

Über dieses Buch

Der achtjährige Michael ist im Begriff, Vollwaise zu werden: Seine Mutter verstarb früh, und nun ist auch noch sein Vater unheilbar erkrankt. Auf Wunsch des Vaters findet er ein neues Zuhause bei der Pflegemutter Cathy, die ihm liebevoll beisteht. Voller Erstaunen beobachtet sie, wie gelassen Michael mit den belastenden Umständen umgeht. Zuversicht schöpft der kleine Junge aus seinem Glauben: Er betet täglich für die Erlösung seines Vaters und hofft, dass die Eltern im Himmel wieder vereint werden mögen ...

Über die Autorin

Cathy Glass ist das Pseudonym einer britischen Autorin und Pflegemutter, die seit über 25 Jahren besonders herausfordernde Kinder beherbergt. Seit einigen Jahren schreibt Cathy über ihre Erfahrungen – mit großem Erfolg. Sie erfreut sich einer riesigen Fangemeinschaft, viele ihrer Bücher sind Bestseller.

Cathy Glass

Die Engel sollenbei dir sein

Mein Pflegekind verlor seineEltern und bewahrte dochden Glauben an das Leben

Aus dem Englischen vonElisa Valérie Thieme

Vollständige E-Book-Ausgabe

des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes

Deutsche Erstausgabe

Für die Originalausgabe:

Copyright © 2011 by Cathy Glass

Titel der englischen Originalausgabe: »The Night The Angels Came«

Originalverlag: HarperCollins Publishers Ltd.

Für die deutschsprachige Ausgabe:

Copyright © 2019 by Bastei Lübbe AG, Köln

Umschlaggestaltung: Tanja Østlyngen

Einband-/Umschlagmotive: © HarperCollinsPublishers Ltd. 2011; © Plainpicture/Erickson/Jim Erickson

eBook-Produktion: hanseatenSatz-bremen, Bremen

ISBN 978-3-7325-7325-9

www.luebbe.de

www.lesejury.de

Pflegefamilien bieten Schutz für die Schwächsten der Gesellschaft. Sie werden gebraucht, wenn Kinder Opfer von Gewalt oder schwerer Vernachlässigung werden und ihr Zuhause verlassen müssen. Ab und an kommt es jedoch auch vor, dass ein oder beide Elternteile versterben und deshalb ein neues Heim gefunden werden muss. So war es in Michaels Fall: Seine Mutter erkrankte früh an Krebs, und auch sein Vater blieb von der Krankheit nicht verschont. Mit gerade einmal acht Jahren stand Michael kurz davor, Vollwaise zu werden.

Als Cathy gefragt wird, ob sie Michael aufnehmen möchte, zögert sie. Die Herausforderung scheint zu groß. Aber sobald sie Michael und seinen Vater kennenlernt, ist Cathy von deren Tapferkeit, ihrem unerschütterlichen Glauben und ihrer positiven Lebenseinstellung überwältigt. Sie verspricht, die beiden auf jede erdenkliche Weise zu unterstützen.

Danksagung

Mein Dank gilt meiner Lektorin Anne, meinem Agenten Andrew Lownie, Carole und dem gesamten HarperCollins-Team.

Vorwort

Im Regelfall werden Kinder in Pflegefamilien aufgenommen, wenn sie Opfer von Gewalt oder schwerer Vernachlässigung geworden sind. Ab und an muss ein Kind jedoch sein Heim verlassen, weil ein oder beide Elternteile todkrank sind.

Dies ist die wahre Geschichte von Michael, dessen Tapferkeit, unerschütterlichen Glauben und Kraft ich nie vergessen werde.

Erstes Kapitel

Das Leben ist grausam

»Cathy«, sagte Jill vorsichtig. »Ich muss dich etwas fragen, und du solltest vorher wissen, dass du Nein sagen darfst.«

»Alles klar. Schieß los, Jill. Ich kann gut Nein sagen«, gab ich unbeschwert zurück.

Jill stieß ein kleines Lachen aus, aber ich merkte gleich, dass es irgendwie gedämpft und nicht so fröhlich wie sonst klang. Jill ist meine zuständige Sozialarbeiterin bei Homefinders, der Pflegevermittlung, für die ich arbeite, und wir verstehen uns bestens.

»Wir suchen eine Pflegefamilie für einen kleinen Jungen namens Michael«, fuhr sie fort. »Er ist erst acht. In den letzten sechs Jahren hat sein Vater sich alleine um ihn gekümmert, da seine Mutter gestorben ist, als er gerade mal zwei war.« Jill verstummte. Es schien so, als brauche sie einen Moment, um sich für das nun Folgende zu wappnen. Ich nahm an, dass der Junge misshandelt und vernachlässigt worden war oder dass sein Vater eine neue Lebensgefährtin hatte und das Kind loswerden wollte. Ich hatte das Gespräch im Wohnzimmer angenommen und saß auf dem Sofa, bereit, weitere Einzelheiten über die schwierige Situation des Jungen zu hören. Einzelheiten, die mich entsetzen würden, obwohl ich bereits seit neun Jahren Kinder in meine Obhut nahm. Was Jill mir dann erzählte, erschreckte mich jedoch aus einem völlig anderen Grund.

»Cathy«, sagte sie ernst, »Michaels Vater Patrick stirbt. Er hat Kontakt zum Sozialamt aufgenommen und darum gebeten, eine Pflegefamilie für seinen Sohn zu finden.«

Jill hielt inne und wartete auf meine Reaktion. Ich wusste nicht recht, was ich sagen sollte. »Ach je«, entgegnete ich schließlich lahm, während Bilder und Gedanken auf mich einstürmten und ich versuchte, das Gehörte zu erfassen.

»Patrick liebt seinen Sohn über alles«, fuhr Jill fort. »Und hat ihm eine möglichst schöne Kindheit geboten. Seit zwei Jahren kämpft er jetzt gegen den Krebs. Er gilt allerdings als austherapiert und bekommt nur noch palliative Pflege. Er hat kaum noch Kraft, und es wird nicht mehr lange dauern, bis er endgültig ins Krankenhaus oder Hospiz muss. Patrick wünscht sich, dass Michael seine Pflegefamilie kennenlernt, bevor es so weit kommt.«

»Ach je«, sagte ich erneut. Leise fuhr ich fort: »Wie unfassbar traurig. Gibt es denn keine Angehörigen, die Michael bei sich aufnehmen könnten?« Das ist normalerweise die beste Lösung, wenn Eltern sich nicht mehr selbst um ihre Kinder kümmern können.

»Scheinbar nicht«, sagte Jill. »Die Großeltern sind verstorben und Patrick hat keine Geschwister, sondern nur eine Tante irgendwo in Wales. Aber Patrick meinte, sie stünden sich nicht sehr nah. Sie hat Michael schon seit er ein Baby war nicht mehr gesehen und Patrick glaubt nicht, dass sie sich um ihn kümmern will. Das Sozialamt wird natürlich weitere Nachforschungen anstellen, aber … Patrick stammt ursprünglich aus Irland. Es könnte also länger dauern, und ihm bleibt nicht mehr viel Zeit.«

»Wie lange hat er noch?«, fragte ich zögernd.

»Etwa drei Monate.«

Ich verstummte, und auch Jill sagte nichts mehr. Das war einer der traurigsten Anlässe für die Suche nach einem Pflegeplatz, der mir je untergekommen war. »Weiß Michael, wie schlecht es um seinen Vater steht?«, fragte ich schließlich.

»Ich bin mir nicht sicher. Er weiß auf jeden Fall, dass sein Dad sehr krank ist. Ob er auch weiß, dass Patrick bald sterben wird, weiß ich nicht. Ich versuche, es herauszubekommen, und werde auch noch einmal nachfragen, ob psychologische Unterstützung angeboten wurde. Das ist natürlich eine heikle Situation, und ich kann mir denken, was wir dir und deiner Familie damit abverlangen. Es ist schlimm genug, wenn jemand im eigenen Umfeld stirbt, aber sich bewusst in eine solche Situation hineinzubegeben ist natürlich noch einmal etwas vollkommen anderes.« Sie stieß ein trockenes Lachen aus.

Ich antwortete nicht gleich, sondern sah durch die Verandatür in den Garten, in dem gerade die Frühlingsblumen zu blühen begonnen hatten. Strahlend gelbe Osterglocken reckten neben blauen und weißen Hyazinthen ihre Köpfchen aus dem saftig grünen Gras. Dass die Natur in frischen Farben erstrahlte, während ein Menschenleben langsam zugrunde ging, wirkte wie bittere Ironie. Obwohl ich Michael und seinen Vater nicht kannte, fühlte ich mit ihnen. Vor allem der kleine Junge, der seinen Vater verlieren und völlig allein zurückbleiben würde, tat mir leid.

»Wonach wir suchen«, erklärte Jill, »ist eine Betreuungsperson, die Michael kennenlernt, solange er noch zu Hause lebt und sich anschließend um ihn kümmert, wenn sein Vater ins Krankenhaus oder Hospiz kommt. Falls sich kein Verwandter findet, der Michael ein dauerhaftes Heim bietet, werden wir natürlich nach einer Langzeitpflegefamilie suchen müssen. Aber damit setzen wir uns erst dann genauer auseinander, wenn es so weit ist. Sein Vater hat gesagt, er würde den Betreuer zunächst gern allein treffen, um die Bedürfnisse, den Alltag, die Vorlieben und Abneigungen seines Sohnes zu besprechen. Das klingt vernünftig, finde ich. Eine Sozialarbeiterin würde das Treffen sobald wie möglich organisieren.«

»Jill«, unterbrach ich sie. »Ich muss darüber nachdenken. Ich meine, hier geht es ja nicht nur um die Betreuung eines Kindes, oder? Abgesehen von der emotionalen Herausforderung mache ich mir auch Sorgen, wie es Adrian und Paula damit gehen würde. Ihr Vater hat uns ja erst letztes Jahr verlassen. Ich bin mir nicht sicher, wie sie mit der Situation zurechtkommen würden. Adrian ist so alt wie Michael und sehr sensibel. Er wird schrecklich unter Michaels Verlust leiden. Ich weiß nicht, ob ich das meiner Familie zumuten kann.«

»Das verstehe ich natürlich«, sagte Jill. »Ich war mir nicht mal sicher, ob ich dich überhaupt fragen soll.« Für einen kurzen Moment hätte ich am liebsten geantwortet: »Ich wünschte, du hättest es nicht getan«, da ich nun schon von Michael und seinem Vater wusste und ihnen gegenüber eine gewisse Verantwortung spürte. Ich wusste, dass mir eine Absage schwerfallen würde.

»Bis wann brauchst du eine Antwort?«, fragte ich Jill.

»Bis morgen, bitte. Schlaf vielleicht am besten drüber und sag mir dann Bescheid.«

»Ja, mache ich. Ich weiß noch nicht, ob ich mit Adrian und Paula darüber sprechen werde. Paula ist ja erst vier. Sie weiß noch nicht, was Sterben bedeutet.«

»Weiß das überhaupt jemand?«, fragte Jill leise. Da fiel mir wieder ein, dass sie im Jahr zuvor ihren Bruder verloren hatte.

»Das Leben ist manchmal schrecklich grausam«, sagte ich. »Ich denke darüber nach, Jill, und melde mich dann wieder.«

»Vielen Dank, Cathy. Und entschuldige bitte, falls ich dich in eine Zwickmühle gebracht habe. Ich weiß, dass es schwierig ist.«

Wir verabschiedeten uns und legten auf. Ich blieb auf dem Sofa sitzen, starrte ins Leere und dachte an Patrick, der seit dem Tod seiner Frau ganz allein für seinen Sohn verantwortlich gewesen war. Wie schrecklich musste es gewesen sein, als ihm die Krebsdiagnose gestellt wurde! Die Vorstellung, seine Kinder im Stich zu lassen, ist der Albtraum jedes Alleinerziehenden. Es beeindruckte mich, dass Patrick sich trotz einer kräftezehrenden Chemotherapie weiterhin um Michael gekümmert hatte. Woher er die Energie nahm, angesichts solch einer Situation noch Vorbereitungen für Michaels Zukunft zu treffen, war mir nicht klar. Aber war ich die Richtige, um Michael und seinem Vater zu helfen? Wäre es richtig, die Trauer in unser Haus einkehren zu lassen? Wollte ich das wirklich?

Spontan lehnte ich die Vorstellung ab. Ich stand auf, wischte eine Träne fort und begann mit der Hausarbeit. Nur so konnte ich mich von der überwältigenden Betroffenheit über das gerade Gehörte ablenken.

Zweites Kapitel

Mutterstolz

Als ich Adrian später von der Schule und Paula von einer Freundin abholte, umarmte ich sie besonders fest. Das Leben ist so kurz, jeder Moment ist kostbar, und man sollte nichts als selbstverständlich hinnehmen. Vielleicht muss man daran manchmal erinnert werden, damit man seine Lieben umso mehr zu schätzen weiß und aus jedem Tag das Beste macht.

Es war ein warmer Aprilnachmittag, und ich schlug vor, einen Abstecher in den Park zu machen, statt – wie sonst – direkt nach Hause zu gehen. Adrian und Paula stimmten begeistert zu. Scheinbar waren auch andere Mütter auf den Gedanken gekommen, denn im Park wimmelte es vor Kindern. Adrian rannte direkt zur großen Rutsche hinüber, während Paula und ich in den Kleinkindbereich schlenderten. Ich beobachtete sie auf dem kleinen Drehkarussell und ging zu ihr hinüber, als sie Hilfe auf der Schaukel brauchte. Während ich Paula auf den Sitz hob, hörte ich Adrian rufen: »Guck mal, Mum!«

Ich drehte mich in seine Richtung und sah ihn auf einer der größeren Schaukeln. Er bemühte sich sichtlich, so weit wie möglich nach oben zu fliegen, und wollte, dass ich seinen Mut bewunderte. Ich lächelte und nickte ihm anerkennend zu. Dann folgte meine übliche Warnung: »Halt dich bitte gut fest!« Daraufhin schaukelte er natürlich noch höher. Aber so ist Adrian eben: ein typischer Junge.

Paula mochte es lieber, sanft angestupst zu werden. Während ich ihr half, beobachtete ich Adrian. Er war von der Schaukel gesprungen und wackelte nun über ein Seil, das Teil des Geschicklichkeitsparcours war. Meine Gedanken wanderten immer wieder zu Michael. Ob er sich noch an so einfachen Dingen wie Fangen und Spielen im Park erfreuen konnte? Oder war sein Leben von der Krankheit seines Vaters dominiert? Ohne die Liebe und Unterstützung von Freunden und Verwandten drehte sich bestimmt alles darum. Ich schaute wieder zu Adrian hinüber, und für den Bruchteil einer Sekunde sah ich vor mir, wie sein Gesicht langsam zusammenfallen würde, wenn ihm jemand sagen würde, ich sei sterbenskrank. Ich bebte vor Entsetzen und lenkte meine Gedanken in eine andere Richtung. Patrick hatte um ein Treffen mit der potenziellen Betreuungsperson gebeten. Ich war mir nach wie vor nicht sicher, ob ich diese Bürde würde schultern können. Mit einem sterbenden Mann über die Zukunft seines Sohnes zu sprechen schien mir eine zu große Herausforderung. Vielleicht wäre es einfacher, wenn ich Trost im Glauben finden würde. Allerdings war ich nicht besonders religiös. Wie so viele andere auch versuchte ich dennoch, mir ein Leben nach dem Tod vorzustellen. Ganz überzeugt war ich aber nicht davon. Der Tod erschien mir daher fürchterlich endgültig, und ich vermied tunlichst, darüber nachzudenken.

Als wir schließlich nach Hause gingen, fühlte ich mich recht niedergeschlagen bei dem Gedanken, Michael nicht helfen zu können. Doch dann passierte etwas Seltsames …

Während ich das Abendessen vorbereitete, sahen Adrian und Paula eine Kindersendung. Ich konnte sie bis in die Küche hören. Es war eine Dramaserie – in etwa das Kinderäquivalent zu den Seifenopern im Vorabendprogramm. Meistens handelte es von Alltagsproblemen oder Familienkrisen: Themen bisher waren ein neues Geschwisterkind, Arztbesuche, Krankenhausaufenthalte, Scheidungen und Leben mit einem alkoholabhängigen Elternteil. Zu meiner Überraschung handelte die neue Folge von dem Tod eines geliebten Menschen. Ich setzte mich zu den Kindern auf das Sofa. Zwar ging es in der Folge nicht um ein Eltern-, sondern ein Großelternteil, aber das Timing der Folge war dennoch unglaublich. Die Show endete mit dem schönen Satz »Er wird in unseren Erinnerungen lebendig bleiben«.

Gedankenversunken kehrte ich in die Küche zurück und machte mich wieder an die Vorbereitung des Abendessens. Trotz der Sendung blieb ich unschlüssig, ob ich die Richtige war, um Michael und seinem Vater beizustehen. Wie ich Jill erklärt hatte, wollte ich Adrian und Paula derzeit nicht noch mehr belasten. Schließlich entschied ich jedoch, das Thema zumindest kurz anzusprechen und vorsichtig vorzufühlen, was Adrian und Paula von der Sache hielten. Schließlich würde Michael in unser gemeinsames Zuhause einziehen und Teil ihres Lebens werden.

»Ihr wisst ja, dass wir manchmal Kinder bei uns aufnehmen, richtig?«, fragte ich möglichst unbeschwert.

»Ja«, sagte Paula. Adrian nickte zustimmend.

»Wollen wir damit weitermachen?« Diese Frage hatte ich schon ein paar Mal gestellt, da die Zustimmung der beiden für mich keine Selbstverständlichkeit war.

Adrian nickte erneut und wandte sich dann wieder hingebungsvoll seinem Abendessen zu. Paula schielte verstohlen zu mir hinüber. Scheinbar wollte sie sichergehen, dass ich nicht mitbekam, wie sie ihre Erbsen auf dem Teller zusammenschob, statt sie zu essen.

»Iss zumindest ein paar«, ermunterte ich sie. »Gemüse ist wichtig.« Seit ihre beste Freundin eine Raupe in ihrem Brokkoli entdeckt hatte, weigerte sich Paula, grünes Essen zu sich zu nehmen. Dazu zählte natürlich das meiste Gemüse. »Prima!«, lobte ich sie, als sie eine einzelne Erbse mit der Gabel aufspießte. »Und du bist auch einverstanden, wenn wir wieder ein Kind bei uns aufnehmen?«

»Ja, das finde ich gut«, bestätigte Paula.

Da keine grundsätzlichen Einwände bestanden, wagte ich mich noch ein Stück weiter vor.

»Jill hat vorhin angerufen«, setzte ich an. »Es ging um einen kleinen Jungen namens Michael, der bald eine Pflegefamilie braucht.«

»Super! Ein Junge«, rief Adrian. Mehr schien ihn nicht zu interessieren. »Wie alt ist er?«

»So alt wie du: acht.«

»Toll. Dann können wir zu Hause spielen.«

»Das ist nicht fair«, klagte Paula. »Ich will ein Mädchen, das so alt ist wie ich.«

»Ich kann leider keine Kinder auf Knopfdruck bestellen«, sagte ich. »Es geht darum, wer ein Zuhause braucht.« Das wussten die beiden eigentlich. »In der Vergangenheit war es doch immer in Ordnung, egal ob Junge oder Mädchen.«

»Wann kommt er?«, fragte Adrian. Die Vorstellung, einen gleichaltrigen Jungen im Haus zu haben, schien ihm sehr zu gefallen. Paula untersuchte in der Zwischenzeit ihre Erbsen auf Tierbefall.

»Ich weiß noch nicht, ob er zu uns kommen wird«, antwortete ich vorsichtig. »Jill hat mich gebeten, nichts zu überstürzen. Michaels Vater ist sehr krank und wird sich nicht mehr lange um ihn kümmern können. Daher wird nun eine Pflegefamilie gesucht. Ich bin mir nicht sicher, ob es eine gute Idee ist, ihn zu uns zu holen.«

Adrian sah mich verblüfft an. »Warum sollte er nicht zu uns kommen, während sein Vater sich erholt?«

Mir wurde flau im Magen, als ich mich auf das Kommende vorbereitete. »Leider ist Michaels Vater sehr, sehr krank und wird nie mehr gesund. Wie in der Sendung gerade. Da ging es doch auch um einen lieben Menschen, der stirbt.«

Adrian hörte auf zu essen und starrte mich entsetzt an. »Sein Vater stirbt, und Michael ist gerade mal so alt wie ich?«, fragte er. »Dann kann er ja noch nicht besonders alt sein.«

»Nein, ist er auch nicht. Es ist schrecklich traurig.«

»Sein Dad muss so alt wie du sein«, stellte Adrian sichtlich geschockt fest.

Ich nickte.

»Kann seine Mum sich nicht um ihn kümmern?«, fragte Adrian.

»Leider ist seine Mutter schon gestorben, als Michael noch sehr klein war.«

Adrian sah mich weiterhin aufmerksam an. Sein Gesichtsausdruck war ernst und sehr traurig. Mit einer Unschuld, die mich nahezu zum Weinen brachte, sagte Paula: »Mach dir keine Sorgen. Die Ärzte machen Michaels Daddy gesund.«

Ich lächelte traurig. »Manchmal werden Menschen so krank, dass die Ärzte ihnen nicht mehr helfen können.«

»Ärzte haben nicht immer recht«, sagte Adrian mit Nachdruck. »Letzte Woche war ein Mann im Fernsehen, dem gesagt wurde, er hätte nur noch sechs Monate zu leben. Das war vor zehn Jahren!«

Ich lächelte ihn an. »Ja, manchmal liegen sie daneben und stellen die falsche Diagnose. Aber das passiert nicht oft.«

»Aber sie könnten auch jetzt danebenliegen«, sagte Paula. Sie schien das Gespräch nicht ganz zu verstehen, wollte aber auch etwas dazu beitragen. Adrian nickte.

»Das könnte sein, aber ich halte es für sehr unwahrscheinlich. Michaels Vater ist sehr krank«, sagte ich. Natürlich wünschte ich, meine Kinder hätten mit ihrem Verdacht einer Fehldiagnose recht. Aber den beiden falsche Hoffnungen zu machen kam nicht infrage.

Schweigend aßen wir weiter. Ich bedauerte, das Thema angesprochen zu haben. »Nun gut«, sagte ich nach einer Weile. »Ich werde Jill sagen, dass wir Michael leider nicht bei uns aufnehmen können.«

»Warum?«, fragte Adrian.

»Weil es zu viel für uns ist. Zu viel nach … all dem anderen.«

»Du meinst, zu viel, nachdem Dad uns verlassen hat.«

»Genau. Aber auch zu viel sonstige Belastung. Ich möchte nicht traurig sein. Ich will glücklich sein.«

»Ich denke, dass Michael das auch will«, gab Adrian zurück. Wir blickten uns an. In diesem Moment schien mir kein achtjähriger Junge, sondern ein weiser Mann gegenüberzusitzen. »Ich denke, dass Michael zu uns kommen sollte«, sagte er. »Wir können ihm helfen. Paula und ich wissen, wie es ist, seinen Vater zu verlieren. Scheidung ist natürlich was anderes, wir können Dad ja immer noch sehen. Aber als er seine Sachen gepackt hat und gegangen ist, war es ein bisschen so, als wäre er gestorben.«

In solchen Momenten bin ich sehr stolz auf meine Kinder. Meine Augen kribbelten.

»Siehst du das auch so?«, fragte ich Paula.

Sie nickte. »Wir helfen Michael, wenn er seinen Daddy vermisst und weint.«

»Hast du viel geweint, als Daddy gegangen ist?«, fragte ich.

Paula nickte. »Nachts im Bett. Heimlich.«

Ich brauchte einen Augenblick, bevor ich weitersprechen konnte. »Du hättest mit mir reden sollen«, flüsterte ich schließlich und nahm Paula in den Arm. »Vielen Dank, dass ihr mir gesagt habt, wie ihr euch fühlt. Jetzt muss ich noch ein bisschen nachdenken und entscheiden, ob ich Michael wirklich helfen kann.«

»Das kannst du, Mum«, sagte Adrian leise.

»Danke, mein Schatz. Das ist lieb von dir. Ich bin mir aber nicht ganz sicher.«

Drittes Kapitel

»Stirbst du auch?«

Am folgenden Morgen rief ich Jill an. Adrian hatte ich bereits zur Schule und Paula in den Kindergarten gebracht. Sie erwartete meinen Anruf und begrüßte mich freundlich.

»Wurde inzwischen ein Verwandter von Michael gefunden?«, fragte ich hoffnungsvoll, obwohl ich wusste, dass das unwahrscheinlich sein würde.

»Nein«, entgegnete Jill.

Ich zögerte. Es fiel mir schwer, die richtigen Worte zu finden. Und das, obwohl ich die ganze Nacht an nichts anderes gedacht hatte.

»Jill, ich habe natürlich viel an Patrick und Michael gedacht und auch mit Adrian und Paula darüber gesprochen.«

Ich unterbrach mich erneut, während Jill geduldig auf meine Antwort wartete. »Die Kinder denken, dass wir Michael bei uns aufnehmen sollten. Ich habe aber weiterhin große Bedenken. Daher würde ich gern etwas vorschlagen.«

»Ja?«, fragte Jill.

»Du hast gesagt, Patrick würde die Betreuer gerne im Vorfeld kennenlernen, richtig?«

»Ja.«

»Ich nehme mal an, dass er anschließend auch beurteilen könnte, ob die Person die richtige ist?«

»Ich denke schon. Wobei Patrick es sich offen gestanden nicht leisten kann, besonders wählerisch zu sein. Es stehen derzeit nur wenige Pflegefamilien zur Verfügung, und er weiß, dass ihm nicht mehr viel Zeit bleibt.«

»Verstehe. Ich schlage vor, dass ich Patrick treffe und wir anschließend entscheiden, ob Michael zu unserer Familie passt. Was hältst du davon?«

»Ich glaube, dass du damit eine wichtige Entscheidung hinauszögerst, und bin mir nicht sicher, ob das Patrick gegenüber fair ist. Aber ich rede mit der zuständigen Sozialarbeiterin und frage nach, was sie davon hält. Ich melde mich wieder, sobald ich mit ihr gesprochen habe.«

Ich bedankte mich kleinlaut und legte auf.

Anschließend saß ich noch eine Weile auf dem Sofa und starrte in die Luft. Als ob sie mein Dilemma spüren könnte, sprang unsere Katze Toscha auf meinen Schoß und begann sanft zu schnurren. In einer Sache hatte Jill recht: Ich verschleppte die Entscheidung in der Hoffnung, dass doch noch ein Verwandter gefunden werden würde oder Patrick mich für unsympathisch und ungeeignet halten könnte. Normalerweise kommt es im Vorhinein zu keiner Begegnung zwischen Pflegern und Eltern. Sein Gegenüber einem Eignungstest zu unterziehen ist ein unpraktikabler Luxus. Normalerweise trifft das Kind einfach ein – oftmals recht spontan. Aber Michaels Fall war anders. Das wusste Jill, sonst hätte sie bestimmt nicht eingewilligt, mit der zuständigen Sozialarbeiterin zu sprechen. Ich hoffte, dass ich mich Patrick gegenüber nicht unfair verhielt. Schließlich wollte ich sein Leben bestimmt nicht noch schwieriger machen, als es ohnehin schon war.

Nach einer Weile hob ich Toscha von meinem Schoß, hievte mich vom Sofa und verließ beklommen das Wohnzimmer. Ich ging in die Küche, wo ich das Frühstücksgeschirr aufräumte und immer wieder an Patrick und Michael dachte. War mein Vorschlag egoistisch? Jill hatte das angedeutet. Der arme Mann hatte schon genug Sorgen, ohne sich noch um die Zweifel einer möglichen Betreuerin zu kümmern.

Eine Stunde später klingelte das Telefon. Jill war am Apparat. »In Ordnung, Cathy«, sagte sie. Ihre Stimme klang geschäftsmäßig. Keine Spur mehr vom kritischen Unterton. »Ich habe mit Michaels Sozialarbeiterin Stella gesprochen, und sie hat Patrick angerufen. Er ist mit deinem Vorschlag einverstanden. Tatsächlich meinte Stella sogar, er habe recht erleichtert geklungen. Scheinbar hat auch er leichte Vorbehalte, weil ihr keine Katholiken seid. Das wird auf jeden Fall ein Thema sein, über das wir sprechen müssen.«

Ich war beruhigt. »Alles klar, dann freue ich mich, ihn kennenzulernen«, sagte ich.

»Ja, und das sollte so bald wie möglich sein. Stella schlägt vor, dass wir uns morgen früh um zehn Uhr im Gemeindeamt treffen. Ihr, Patrick und mir passt die Zeit, und da Paula normalerweise im Kindergarten ist, hoffe ich, dass du auch kommen kannst.«

»Klingt gut«, sagte ich. »Ich werde da sein.«

»Ich bin mir nicht sicher, in welchem Raum wir uns treffen. Wir sehen uns am Empfang, in Ordnung?«

»Okay. Danke, Jill.«

»Kannst du für Patrick bitte ein paar Fotos von euch und eurem Haus mitbringen?«

»Mache ich.«

Als ich die Kinder später abholte, fragten sie als Erstes: »Kommt Michael zu uns?« Ich sagte, dass ich das noch nicht wüsste, mich aber am nächsten Tag mit Patrick und den beiden Sozialarbeiterinnen treffen würde und die Entscheidung danach fallen würde. Das Thema wurde im Laufe des Abends nicht noch einmal angesprochen, aber ich musste natürlich trotzdem immer wieder daran denken. Irgendwo in unserer Stadt, vielleicht sogar ganz in unserer Nähe, lebte ein kleiner Junge, der seinen Vater verlieren würde. Ich musste an meine eigene Sterblichkeit denken, und auch Adrian und Paula beschäftigte das Thema.

Als ich Paula ins Bett brachte, umarmte sie mich fest. Dann kuschelte sie sich an ihren Teddybären und sagte: »Mein Teddy ist sehr krank, Mummy. Aber die Ärzte machen ihn wieder gesund. Er wird nicht sterben.«

»Gut«, sagte ich. »So ist es meistens.«

Als ich zu Adrian hinüberging, um ihm eine gute Nacht zu wünschen, fragte er unumwunden: »Du wirst nicht so schnell sterben, oder?«

Das will ich verdammt noch mal hoffen!, dachte ich.

Ich nahm auf seiner Bettkante Platz und sah in sein besorgtes Gesicht. »Nein. Das wird noch viele Jahre dauern. Ich bin rundum gesund, mach dir also keine Sorgen um mich.« Natürlich wusste ich nicht, wann ich sterben würde. Aber ich wollte Adrian beruhigen und kein tiefschürfendes Gespräch anfangen.

Er lächelte matt und fragte dann nachdenklich: »Glaubst du, dass es einen Gott gibt?«

»Das weiß ich nicht, Süßer. Aber der Gedanke ist schön.«

»Aber falls es einen Gott gibt, warum lässt er dann schlimme Sachen geschehen? So wie die Krankheit von Michaels Dad, Erdbeben oder Mord?«

Ich schüttelte traurig den Kopf. »Das kann ich dir nicht sagen. Manche Menschen glauben, dass sie geprüft werden – um zu testen, ob ihr Vertrauen in Gott stark genug ist.«

Adrian sah mich an. »Testet Gott auch die, die nicht an ihn glauben?«

»Wer weiß«, sagte ich. Es war klar, wohin seine Frage führen würde.

»Ich hoffe nicht«, meinte Adrian mit betrübter Miene. »Ich möchte nicht geprüft werden, indem mir etwas Schlechtes passiert. Ich finde, wenn Gott gütig und gerecht ist, soll er machen, dass nichts Schlimmes mehr auf der Welt passiert. Es ist nicht fair, dass manche Menschen schreckliche Dinge erleben.«

»Das Leben ist nicht immer fair«, sagte ich sanft. »Egal ob man an Gott glaubt oder nicht. Wir wissen nie, was noch so passiert. Daher sollte man aus jedem Tag das Beste machen. Was wir, glaube ich, tun.«

Adrian nickte und lehnte sich dann in sein Kissen zurück. »Vielleicht sollte ich weniger fernsehen und stattdessen andere Sachen machen.«

Ich lächelte und streichelte über seine Stirn. »Es ist schon in Ordnung, wenn du deine Lieblingssendungen schaust. Du siehst ja nicht zu viel fern. Und mach dir bitte keine Sorgen, dass jemand von uns stirbt. Was Michael passiert, kommt nicht oft vor. Wie viele Kinder kennst du schon, die mit nur einem Elternteil aufgewachsen sind und dann auch noch das zweite verlieren? Denk mal an die Kinder an deiner Schule. Fällt dir jemand ein?« Ich wollte, dass er die Situation als ungewöhnlich begriff, da ich wusste, dass Adrian sich ansonsten Sorgen machen würde.

»Ich kenne niemanden«, sagte er.

»Richtig. Erwachsene leben normalerweise lange und werden richtig alt. Denk mal an Oma und Opa. Die sind kerngesund und dabei schon fast siebzig.«

»Ja, die sind echt alt«, stimmte Adrian zu. Obwohl ich nicht sicher war, ob meine Eltern mit dieser Bezeichnung einverstanden gewesen wären, war ich doch erleichtert, dass Adrian beruhigt war. Seine Gesichtszüge entspannten sich. Ich streichelte seine Stirn, bis seine Augen sich langsam schlossen. »Ich hoffe, dass Michael zu uns kommt«, murmelte er leise und schlief dann ein.

Viertes Kapitel

Ein tapferer Mann

Eigentlich lerne ich die Angehörigen eines Kindes erst kennen, nachdem es bei uns eingezogen ist. Ab und an trifft man sich, wenn Besuche vereinbart werden oder das Jugendamt spezielle Treffen arrangiert. Manchmal zeigen sich die Eltern sehr bemüht, und die Zusammenarbeit verläuft entsprechend harmonisch. Andere sind wütend auf die Pflegeperson und verstehen sie oder ihn als Teil des »Systems«, das ihnen das Kind weggenommen hat. In solchen Fällen versuche ich zum Wohl des Kindes alles in meiner Macht Stehende, um diese Vorurteile aus dem Weg zu räumen. Im Laufe der Jahre habe ich viel erlebt und einen reichen Erfahrungsschatz angesammelt. Trotzdem war ich noch nie so nervös und unsicher wie an dem Morgen, als ich mich am Empfang des Gemeindeamts nach Jill umsah.

Zum Glück entdeckte ich sie umgehend auf einem Eckplatz im Wartebereich. Sie sah mich auch, stand auf und kam zu mir hinüber. »Ist alles in Ordnung?«, fragte sie und berührte mich sanft am Arm. Ich nickte und atmete tief ein. »Mach dir keine Sorgen. Das wird schon. Wir treffen uns im Gesprächsraum 2. Er ist recht klein, aber wir sind auch nur zu viert. Stella, die andere Sozialarbeiterin, und Patrick sitzen schon drin. Ich habe sie gerade kurz begrüßt.«

Wieder nickte ich. Jill drehte sich um und marschierte zum Empfang zurück. Dahinter befand sich eine große Tür, die zum Treppenaufgang führte. Von meinen vergangenen Besuchen wusste ich bereits, dass die Gesprächsräume im ersten Stock waren. Unsere Absätze verursachten mit jedem Schritt ein lautes Klacken auf den steinernen Stufen, und ich merkte, wie mein Herz mit jedem Tritt lauter klopfte. Mir war übel vor Sorge. Ich hatte Angst, etwas Falsches zu Patrick zu sagen und ihn vor den Kopf zu stoßen. Oder dass ich kein Wort herausbringen würde. Oder dass ich direkt in Tränen ausbrechen würde.

Als wir im ersten Stock ankamen, stieß Jill zwei Flügeltüren auf, und ich folgte ihr in einen langen Gang, von dem zu allen Seiten Räume abgingen. Gesprächsraum 2 befand sich hinter der zweiten Tür rechter Hand. Ich atmete tief ein, als Jill anklopfte und dann die Tür öffnete. Mein Blick fiel sofort auf einen kleinen Stuhlkreis in der Mitte des Zimmers, wo ein Mann und eine Frau mit Sicht zur Tür saßen.

»Hallo zusammen, das ist Cathy«, sagte Jill fröhlich.

Stella lächelte mir zu, und Patrick stand auf und schüttelte meine Hand. »Schön, Sie kennenzulernen«, sagte er. Er hatte eine angenehme Stimme und sprach mit irischem Akzent.

»Gleichfalls«, sagte ich. Ziemlich erleichtert, da die befürchtete Blamage noch nicht eingetreten war.

Patrick war groß, bestimmt über 1,80 m, und elegant gekleidet. Er trug eine dunkelblaue Hose, ein hellblaues Hemd und ein dazu passendes Jackett. Es fiel auf, dass er stark abgenommen hatte. Die Kleidungsstücke waren sichtlich zu groß, und auch der Hemdkragen saß extrem locker. Sein Gesicht wirkte eingesunken, und die Wangenknochen standen hervor. Was mir jedoch am stärksten auffiel, waren seine Augen. Tiefblau, sanft und lächelnd. Vom Schmerz und Leid seiner aktuellen Situation war darin nichts zu lesen.

Wir setzten uns.

»Sollen wir mit einer kleinen Vorstellungsrunde beginnen?«, fragte Stella. So laufen diese Treffen immer ab, auch wenn die Anwesenden eigentlich wissen, wer die anderen im Raum sind.

»Ich bin Stella, die Sozialarbeiterin von Patrick und Michael«, legte sie los.

»Ich bin Jill, Cathys Sozialarbeiterin von der Pflegevermittlung Homefinders«, sagte Jill in Richtung Patrick.

»Ich heiße Cathy«, stellte ich mich vor und lächelte Patrick zu. »Und bin eine Pflegemutter.«

»Patrick, Vater von Michael«, schloss Patrick mit sonorer Stimme.

»Vielen Dank«, meinte Stella und sah in die Runde. »Der Anlass unseres Treffens ist bekannt: Wir sind hier, um die Betreuung von Michael zu besprechen. Ich werde ein paar Notizen für unsere Akten machen, es wird jedoch kein detailliertes Protokoll geben. In Ordnung?«

Patrick und ich nickten, und Jill sagte: »Ja.« Auch Jill hatte ihr Notizbuch schon aufgeschlagen. Wie immer würde sie Stichpunkte zu allem machen, was während der Betreuung wichtig sein könnte. Ich entspannte mich etwas. Mein Herz pochte nicht mehr so stark, obwohl ich noch immer nervös war. Alle anderen wirkten sehr locker. Sogar Patrick, dessen Hände ruhig auf seinen Knien lagen.

»Cathy«, sagte Stella und sah mich an. »Ich glaube, es wäre gut, wenn Sie ein bisschen über sich und Ihre Familie erzählen würden. Und dann könnten Sie, Patrick«, fügte sie hinzu und blickte zu ihm hinüber, »Cathy von sich und Michael berichten?«

Patrick nickte. Ich setzte mich aufrecht hin und versuchte, einen klaren Kopf zu bekommen. Ich bin nicht besonders gut in Vorträgen – obwohl ich mich im Laufe der Jahre schon stark gebessert habe. Früher war ich so aufgeregt, dass ich keinen Ton herausbrachte und nichts von dem sagen konnte, was ich eigentlich erzählen wollte.

»Ich arbeite seit neun Jahren als Pflegemutter«, fing ich an. »Und habe auch zwei eigene Kinder. Einen Jungen und ein Mädchen, die acht und vier Jahre alt sind. Ich war verheiratet, lebe aber inzwischen seit zwei Jahren getrennt. Meine Kinder sind mit anderen Pflegekindern aufgewachsen und mögen es, wenn wir jemanden bei uns aufnehmen. Sie können den Kindern oft helfen, sich schnell bei uns einzuleben. Natürlich ist es für jedes Pflegekind zunächst eine ungewohnte Situation. Oft bauen sie erst Vertrauen zu Adrian und Paula auf, bevor sie sich mir gegenüber öffnen.« Ich zögerte und wusste nicht recht, was ich noch sagen sollte.

»Könntest du vielleicht noch ein bisschen darüber erzählen, was ihr so am Wochenende macht?«, schlug Jill vor.

»Ja, natürlich. Wir unternehmen fast immer etwas und gehen zum Beispiel in den Park oder ins Museum. Manchmal sehen wir auch einen Film im Kino. Und wir treffen uns regelmäßig mit meinen Eltern, meinem Bruder und meinen Cousinen und Cousins. Sie leben alle nicht weit entfernt von uns.«

»Es ist schön, Zeit mit der Familie zu verbringen«, meinte Patrick.

»Stimmt«, erwiderte ich. »Wir stehen uns sehr nah. Daher lernt jedes Pflegekind meine Familie kennen und nimmt an unseren gemeinsamen Unternehmungen teil. Es ist mir wichtig, dass jedes Kind ein schönes Weihnachtsfest bei uns erlebt und eine tolle Geburtstagsfeier hat. Im Sommer fahren wir manchmal für ein paar Tage weg, meistens an eine der englischen Küsten.« Patrick nickte. »Ich bestärke die Kinder in ihren Hobbys und Interessen und sorge dafür, dass sie immer pünktlich in der Schule sind. Falls es Hausaufgaben gibt, sollen diese vor dem Spielen und Fernsehen erledigt werden.« Ich hielt inne und dachte darüber nach, was ich noch erzählen könnte. Es war nicht einfach, unser gesamtes Leben binnen weniger Minuten zu präsentieren.

»Hast du an die Fotos gedacht?«, fragte Jill.

»Oh, ja. Die hab ich fast vergessen.« Ich griff in meine Handtasche und zog einen Umschlag voller Bilder heraus, die ich heute Morgen noch hastig aus unseren Fotoalben gesammelt hatte. Ich gab sie Patrick, der sie in Ruhe durchsah. Es waren ungefähr zwölf Aufnahmen, die unsere Familie in verschiedenen Räumen und im Garten zeigten. Auch unsere Katze Toscha war dabei. Wenn ich mehr Zeit gehabt hätte, hätte ich ein kleines Album vorbereitet.

Patrick lächelte. »Vielen Dank«, sagte er, schob die Fotos wieder in den Umschlag und reichte sie mir zurück. »Sie haben eine nette Familie und ein sehr schönes Zuhause. Ich bin mir sicher, dass Michael sich bei Ihnen sehr wohl fühlen würde.«

»Danke schön«, sagte ich.

»Darf ich auch mal sehen?«, fragte Stella. Ich gab ihr den Umschlag. »Während ich mir die Bilder ansehe, würde ich Sie, Patrick, bitten, etwas über sich und Michael zu erzählen.«

Patrick nickte, räusperte sich und machte es sich auf seinem Stuhl bequem. Er sah mich an.

»Zunächst möchte ich mich bei Ihnen bedanken, dass Sie heute hergekommen sind und darüber nachdenken, sich um Michael zu kümmern, wenn ich es nicht mehr kann. An der Art, wie Sie sprechen, merkt man, dass Sie sehr fürsorglich sind, und ich bin mir sicher, dass Sie gut für Michael sorgen würden.« Ich lächelte und schluckte. Meine Kehle schnürte sich zu. Patrick war ein tapferer Mann. Es war deutlich, dass das Sprechen ihn sehr anstrengte. Er brauchte einen Moment, um Luft zu schöpfen. »Es wird Sie nicht überraschen, dass ich ursprünglich aus Irland stamme«, fuhr er dann fort und grinste. »Ich weiß, dass man es immer noch in jedem Wort hört. Und das, obwohl ich schon seit zwanzig Jahren hier lebe. Ich kam als Neunzehnjähriger nach England, um am Schienenausbau zu helfen. Es gefiel mir so gut, dass ich einfach dageblieben bin.« Er war also erst neununddreißig. »Leider sind meine Eltern beide an Krebs verstorben, als ich noch jung war. Cathy, Sie haben wirklich großes Glück, dass Ihre Eltern noch leben. Und Ihre Kinder, dass sie Großeltern haben. Ich hoffe, Sie wissen, dass das nicht selbstverständlich ist. Eltern sind ein besonderes Gottesgeschenk.«

»Ja, ich weiß«, sagte ich. Meine Augen kribbelten. Reiß dich zusammen, befahl ich mir.

»Obwohl ich sehr traurig war, so früh meine Eltern zu verlieren«, fuhr Patrick fort, »hatte ich ein gutes Leben. Ich habe genug Geld verdient und war oft mit meinen Kumpels unterwegs. Wir haben viel gefeiert, und Frauen waren auch immer ein Thema. Wie junge Iren halt so sind. Dann habe ich Kathleen kennengelernt, und es war schnell klar, dass sie meine große Liebe ist. Ich hab meine Frauengeschichten aufgegeben. Wir haben geheiratet und uns niedergelassen, ein Jahr später wurde unser wunderbarer Junge Michael geboren. Wir waren unendlich glücklich. Kathleen und ich waren beide Einzelkinder – was in irischen Familien nicht oft vorkommt. Und wir wollten beide eine große Familie mit mindestens drei Kindern. Leider sollte es nicht sein. Als Michael gerade ein Jahr alt war, wurde bei Kathleen Gebärmutterkrebs diagnostiziert. Sie starb ein Jahr später. Da war sie achtundzwanzig.«

Er verstummte und sah zu Boden, scheinbar versunken in bittersüßen Erinnerungen. Es war still im Raum. Jill und Stella vertieften sich in ihre Notizen, ich schaute auf den Umschlag, den ich immer noch in der Hand hielt. So viel Verlust und Trauer innerhalb einer Familie, dachte ich. Das war wirklich nicht gerecht. Aber so ist Krebs: Manche Familien trifft er hart, andere gar nicht.

»Wie dem auch sei«, meinte Patrick mit ruhiger Stimme. »Der liebe Gott scheint uns früh zu sich rufen zu wollen.«

Das verblüffte mich. Am liebsten hätte ich gefragt, ob er das tatsächlich glaubte, aber das schien wenig angemessen.

»Bis jetzt«, fuhr Patrick fort, »gab es also nur Michael und mich. Ich habe ein Foto von Michael dabei, das ich immer bei mir trage. Möchten Sie es sehen?«

Ich nickte. Er griff in sein Jackett und beförderte ein abgenutztes braunes Lederportemonnaie zutage. Es berührte mich zu sehen, wie seine ausgemergelten Finger leicht zitterten, als er sich abmühte, sein Portemonnaie zu öffnen und das Foto herauszuziehen. Schließlich hielt er mir ein kleines Bild entgegen.

»Danke sehr«, sagte ich. »Was für ein Prachtkerl!«

Patrick grinste. »Das ist sein aktuelles Schulporträt.«

Michael war in seiner Uniform abgebildet. Auf dem Bild sah man ihn kerzengerade sitzend, mit ordentlich gekämmtem Haar und ein wenig linkisch in die Kamera grinsend. Die Ähnlichkeit mit Patrick war unbestreitbar: Beide hatten blaue Augen, einen hellen Teint und einen freundlichen Gesichtsausdruck.

»Er sieht Ihnen wirklich sehr ähnlich«, meinte ich lächelnd und reichte das Bild an Jill weiter.

Patrick nickte. »Und er ist genauso ein Dickkopf wie ich. Man muss ihm also genau zeigen, wo es langgeht. Aber er gibt keine frechen Widerworte und hört auf das, was man ihm sagt. Seine Lehrer meinen, er wäre ein guter Schüler.«

»Das hat er sicher Ihnen zu verdanken«, sagte ich.

Jill zeigte Stella das Foto und reichte es dann an Patrick zurück. Patrick erzählte uns noch ein bisschen über Michaels Alltag und darüber, welches Essen er besonders mochte oder auch gar nicht mochte, welche Schule er besuchte und was er am liebsten im Fernsehen sah. Er nannte all die Dinge, die wichtig sind und nach denen ich ihn noch einmal genauer fragen würde, sollte Michael bei uns einziehen. Patrick gestand auch ein, dass Michael wenig Hobbys hatte, da Patricks Krankheit zuletzt den Alltag der beiden bestimmt hatte. Er sei jedoch Mitglied in der Computer AG. »Ich bin mir sicher, dass ich jede Menge vergessen habe«, sagte Patrick schließlich. »Fragen Sie mich also bitte alles, was Sie sonst noch wissen möchten.«

»Wenn ich an dieser Stelle unterbrechen darf«, warf Stella ein. Wir sahen sie an. »Ich denke, dass wir zunächst einmal auf das Thema Religion zu sprechen kommen sollten. Patrick und Michael sind Katholiken, Cathys Familie nicht. Wie geht es Ihnen bei dem Gedanken?« Sie sah zu Patrick hinüber.

»Nun ja, ich werde Cathy schon nicht bitten, extra zu konvertieren«, sagte er lachend. »Aber es wäre mir wichtig, dass Michael weiterhin den Sonntagsgottesdienst besucht. Wenn Cathy ihn zur Kirche bringt, können Freunde aus der Gemeinde während der Messe nach ihm sehen. Ich gehe seit vielen Jahren zur gleichen Kirche, und der Pfarrer weiß von meiner Krankheit. Er unterstützt uns, so gut er kann.«

»Wäre das in Ordnung für Sie?«, fragte Stella mich.

»Ja, selbstverständlich«, sagte ich. Obwohl ganztägige Sonntagsausflüge somit gestrichen wären.

»Wenn Sie etwas vorhaben an einem Sonntag«, sagte Patrick, »kann Michael natürlich auch mal einen Gottesdienst verpassen oder zur Frühmesse um acht Uhr gehen.« Er konnte scheinbar Gedanken lesen.

»Ja, das wäre möglich«, erwiderte ich.

»Vielen Dank«, sagte Patrick. Dann fügte er nachdenklich hinzu: »Ich hoffe, Michael wird noch zur Kirche gehen, wenn ich nicht mehr da bin. Aber das ist natürlich seine Entscheidung.«

»Können wir festhalten, dass wir uns diesbezüglich einig sind?«, fragte Stella und sah für einen Moment von ihren Notizen auf. »Patrick, es ist also in Ordnung, dass Cathy keine Katholikin ist, und es reicht, wenn sie Michael zur Kirche bringt?«

»Ganz genau«, antwortete er nickend.

»Und Cathy, Sie sind damit einverstanden und erklären sich auch bereit, Michaels Glauben zu unterstützen?«

»Ja, das bin ich.«

Sowohl Stella als auch Jill hielten das schriftlich fest. Während die beiden schrieben, lächelten Patrick und ich uns zu.

Stella sah auf und blickte mich an. »Falls Sie der Betreuung von Michael zustimmen, würde Patrick gern im Vorfeld einmal gemeinsam mit Michael vorbeischauen. Wäre das ebenfalls in Ihrem Sinne, Cathy?«

»Ja.«

»Vielen Dank, Cathy«, sagte Patrick. »Mir würde ein Stein vom Herzen fallen, wenn ich weiß, wo mein Sohn zukünftig schläft.«

»Und Sie können auch meine Kinder kennenlernen«, fügte ich hinzu.

Jill und Stella schrieben erneut. »Ein weiterer Aspekt, den wir besprechen sollten, sind Krankenhausbesuche«, fuhr Stella schließlich fort. »Wäre es möglich, dass Sie Michael zum Krankenhaus oder Hospiz begleiten, sobald das notwendig ist?«

»Ja. Dabei darf ich jedoch nicht meine beiden Kinder vergessen. Ich müsste dementsprechend planen. Sollen die Besuche jeden Tag stattfinden?«

»Ich würde Michael gern jeden Tag sehen. Am besten direkt nach der Schule«, bestätigte Patrick.

»Und am Wochenende?«, fragte Jill.

»Wenn möglich auch dann.«