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Eine verbotene Liebe in Potsdam.
1733: Die junge Holländerin Nynke kommt mit ihrer Familie nach Potsdam, wo ein Stadtviertel holländischer Prägung entstehen soll. Nynke interessiert sich mehr für die Bauarbeiten als dafür, einen geeigneten Mann zu finden. Eines Tages begegnet sie dem Handwerker Matthias. Die beiden verlieben sich, doch ihre Beziehung ist nicht standesgemäß – und Matthias scheint etwas vor Nynke zu verbergen. Er muss die Stadt verlassen, um mit seiner Vergangenheit abzuschließen. Nur dann hat ihre Liebe eine Chance. Nynke bleibt allein zurück – und bemerkt, dass sie schwanger ist. Schon bald steht sie vor der schwierigsten Entscheidung ihres Lebens ...
Eine packende Liebesgeschichte – von der Autorin des Bestsellers „Das Erbe der Porzellanmalerin“.
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Seitenzahl: 507
1733: Nynke reist mit ihrer Familie nach Potsdam, wo ein Stadtviertel in holländischem Stil erbaut werden soll. Und sie soll endlich einen Ehemann finden, denn nach einer geplatzten Verlobung ist ihr Ruf in Mitleidenschaft gezogen. Doch stattessen unterstützt Nynke den Baumeister bei seinen Planungen und errichtet eine Krankenstube für verletzte Arbeiter. Eines Tages lernt sie den Handwerker Matthias kennen. Die beiden verlieben sich ineinander, bis er Potsdam überstürzt und aus rätselhaften Gründen verlassen muss. Nynke bleibt zurück und ist verzweifelt – denn sie erwartet ein Kind von ihm.
Birgit Jasmund, geboren 1967, stammt aus der Nähe von Hamburg. Nach dem Studium der Rechtswissenschaften in Kiel hat das Leben sie nach Dresden verschlagen. Wenn einem dort der Wind so richtig um die Nase weht, hält sie nichts im Haus. Im Aufbau Taschenbuch Verlag sind von ihr bereits die historischen Romane „Die Tochter von Rungholt“, „Luther und der Pesttote“, „Der Duft des Teufels“, „Das Geheimnis der Porzellanmalerin“, „Das Geheimnis der Zuckerbäckerin“, „Das Erbe der Porzellanmalerin“ und „Die Maitresse. Aufstieg und Fall der Gräfin Cosel“ sowie bei Rütten & Loening die Liebesgeschichte „Krabbenfang“ erschienen.
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Birgit Jasmund
Das Geheimnis der Baumeisterin
Historischer Roman
Cover
Titel
Inhaltsverzeichnis
Impressum
Titelinformationen
Informationen zum Buch
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Teil Eins — 1733–1737
Kapitel I — 1733
Kapitel II
Kapitel III
Kapitel IV
Kapitel V
Kapitel VI
Kapitel VII
Kapitel VIII
Kapitel IX
Kapitel X
Kapitel XI
Kapitel XII
Kapitel XIII
Kapitel XIV — 1734
Kapitel XV
Kapitel XVI
Kapitel XVII
Kapitel XVIII
Kapitel XIX
Kapitel XX
Kapitel XXI
Kapitel XXII
Kapitel XXIII
Kapitel XXIV
Kapitel XXV
Kapitel XXVI — 1735
Kapitel XXVII
Kapitel XXVIII
Kapitel XXIX
Kapitel XXX
Kapitel XXXI
Kapitel XXXII
Kapitel XXXIII
Kapitel XXXIV
Kapitel XXXV
Kapitel XXXVI
Kapitel XXXVII
Kapitel XXXVIII
Kapitel XXXIX
Kapitel XL
Kapitel XLI
Kapitel XLII — 1736
Kapitel XLIII
Kapitel XLIV
Kapitel XLV — 1736
Kapitel XLVI
Kapitel XLVII
Kapitel XLVIII
Kapitel XLIX
Kapitel L
Kapitel LI
Kapitel LII
Teil Zwei — 1740–1743
Kapitel I — 1740
Kapitel II
Kapitel III
Kapitel IV
Kapitel V
Kapitel VI
Kapitel VII — 1741
Kapitel VIII
Kapitel IX
Kapitel X
Kapitel XI — 1742
Kapitel XII
Kapitel XIII — 1743
Kapitel XIV
Kapitel XV
Kapitel XVI
Kapitel XVII
Kapitel XVIII
Kapitel XIX
Kapitel XX
Kapitel XXI
Kapitel XXII
Kapitel XXIII
Kapitel XXIV
Kapitel XXV
Kapitel XXVI
Kapitel XXVII
Kapitel XXVIII
Kapitel XXIX
Kapitel XXX
Kapitel XXXI
Pitters holländische Ausdrücke
Impressum
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1733–1737
1733
Wir kommen nicht weiter! Zu viel Eis im Fluss.« Der Schiffer Schulte stützte sich auf die mit Raureif überzogene Reling der Schaluppe.
Neben dem Hamburger Schiffer stand Jan Boumann aus Amsterdam und schaute auf die im grauen Wasser der Elbe treibenden Eisschollen hinab. Gegen die Kälte schützte er sich mit einem doppellagigen Wollmantel und einer dazu passenden Samtkappe. Er zählte gerade einmal dreiundzwanzig Jahre, war seit wenigen Monaten verheiratet und mit seiner jungen Frau, seinem Bruder und anderen Holländern auf dem Weg nach Potsdam. Sie folgten einem Ruf des preußischen Königs Friedrich Wilhelm.
Das Eis kratzte an den Schiffsplanken und verursachte ein Geräusch, das Jan einen Schauder über den Rücken jagte. Sein Atem dampfte vor dem Mund und vereiste auf einem weißen Halstuch. Obwohl er Zimmermann und kein Schiffer war, war ihm bewusst, dass das Schiff Gefahr lief, vollständig festzufrieren. Deshalb stimmte er Schulte zu.
»Wir haben Glück, da vorn ist Wittenberge. Dort finden wir einen sicheren Platz zum Anlegen«, begann der Schiffer wieder. »Bis dahin schaffen wir es noch, aber ich werde keine Meile weiterfahren.«
Gerade schrappte wieder eine Eisscholle an der Schiffswand entlang. Trotz seiner dicken Kleidung spürte Jan, wie sich die Härchen auf seinen Armen aufstellten. Er nickte dem Hamburger zu und kletterte unter Deck, um seine Mitreisenden von der veränderten Lage in Kenntnis zu setzen. Als Erstes klopfte er an die Tür der Achterkabine, die seine Frau Anna und deren Schwester Nynke bewohnten.
Die Frauen saßen sich auf den beiden Pritschen gegenüber. Gegen die Kälte waren sie in viele Schichten von Unterröcken, Blusen, wollene Mäntel und Schultertücher gehüllt. Sie vertrieben sich die Zeit mit einem Ratespiel. Auf dem Schoß hielt Nynke ein in ein Schaffell gehülltes Bündel, an dem sie die Hände wärmte. Bei Jans Eintritt bewegte es sich, und zwischen den Falten reckte sich der Kopf eines Graupapageis heraus. Ein knopfrundes Auge mit schwarzer Pupille und einer gelblichen Iris fixierte Jan, und er hatte den Eindruck, als blickte ihn der Papagei vorwurfsvoll an.
Nynke strich mit einem Zeigefinger über den Vogelkopf und gab mit gespitzten Lippen gurrende Geräusche von sich. Seine Frau Anna, mit der er erst seit wenigen Wochen verheiratet war, betrachtete ihre Schwester mit einem Stirnrunzeln. Ihre zierliche Gestalt wirkte unter den vielen Schichten Kleidung gedrungen. Vorwitzige blonde Löckchen schauten unter ihrer Haube hervor, als sie ihm ihr verfroren wirkendes Gesicht mit geröteter Nase zuwandte. Jan wollte am liebsten Küsse auf die zarte Haut drücken, bis sie wieder warm wurde.
»Was ist das für ein Kratzen außen am Schiff?«, wollte Nynke wissen. »Das klingt, als scharre ein Seeungeheuer am Holz und wolle jeden Moment bei uns hereinschauen.«
»Eisschollen reiben sich an den Planken, deswegen ändern sich unsere Pläne.« Jan erklärte ihnen, was der Schiffer an Deck entschieden hatte.
»Wie geht es von dort weiter?«, verlangte Anna zu wissen. »Es ist unangenehm genug, bei diesem Wetter unterwegs zu sein, und nun müssen wir die Reise im Nirgendwo unterbrechen. Was ist dieses Wittenberge für ein Ort? Hat dort nicht Martin Luther seine Thesen an die Tür der Schlosskirche genagelt?«
»Das war in Wittenberg und ganz woanders«, erklärte Nynke. Sie war drei Jahre älter als ihre Schwester.
»Was macht schon der eine Buchstabe.«
»Zwei verschiedene Städte.«
»Wichtiger ist allemal, ob es in diesem Wittenberge ein bequemes Gasthaus gibt und wann wir weiterreisen können.«
»Ich freue mich jedenfalls schon darauf, mir wieder einmal an Land die Füße zu vertreten«, erwiderte Nynke.
Anna schaute über den Papagei Pitter hinweg in das Gesicht ihrer älteren Schwester. »Bei diesem Wetter werde ich nicht durch die Stadt laufen, und du wirst es auch nicht. Untersteh dich, allein herumzulaufen! Ich bin für dich verantwortlich und werde dafür sorgen, dass du keinen Anlass zu Gerede gibst.«
»Nur weil du verheiratet bist, brauchst du dich nicht aufzuspielen, als wärest du die Ältere. Ich kann allein eine Gasse entlanglaufen.« Nynke schaute zu ihrem Schwager, der immer noch in der Tür stand, da die Kabine mit zwei Leuten und einem Papagei überfüllt schien.
Jan hob die Hände. »Ich mische mich da nicht ein.«
In Wittenberge kamen die Holländer in einer Herberge namens ›Roter Hahn‹ unter. In der Schlafstube, die Nynke mit den drei kleinen Töchtern des Zimmermanns Anton van Ridder teilen musste, verbreitete ein Kachelofen angenehme Wärme. Als frisch verheiratetem Paar teilte der Wirt Anna und Jan sein bestes, einem Fürsten würdiges Zimmer zu. Nynke spähte neugierig hinein.
Die Stube besaß drei mit Eisblumen überzogene Fenster, die Holzdecke war mit einem Muster bemalt, bei dem Rot und Grün vorherrschten. Im Kachelofen in der Ecke knisterte ein Feuer, aber es reichte noch nicht aus, den Raum zu erwärmen. Diesen beherrschte ein breites Bett mit schweren, weinroten Vorhängen. Es gab außerdem zwei breite Lehnstühle und Fußschemel.
»Arme deutsche Fürsten. Wenn das ihre Schlafstuben sind«, murrte Anna und ließ sich auch nicht aufheitern, als Jan sie umarmte und ihr einen Kuss auf die Nasenspitze gab. »Jeder mittelmäßig erfolgreiche Kaufmann nennt bei uns Besseres sein Eigen.«
»Ich hoffe nur, die Preußen werden sich an deine spitze Zunge gewöhnen. Ich jedenfalls liebe sie.« Jan lachte. »Du entschuldigst mich. Ich muss Erkundigungen einziehen.«
In ihrer Schlafstube musste Nynke drei plappernde Mädchen ertragen, die alle Pitter streicheln und mit ihm spielen wollten. Sie setzte den Papagei außerhalb ihrer Reichweite auf einen Schrank. Den Kindern erklärte sie, der Vogel brauche nach der ungewohnten Schiffsreise Ruhe, ehe sie ihnen half, die vielen Schichten Kleidung abzulegen. Anschließend sollten sie Gesichter und Hände waschen. Die Älteste schob rebellisch die Unterlippe vor, sah sich aber einem so strengen Blick Nynkes ausgesetzt, dass sie lieber gehorchte.
Nynke verfrachtete die sauber geschrubbten Mädchen zu ihren Eltern, damit die sich um ihren Nachwuchs kümmerten, während sie selbst sich ans Fenster setzte und in das winterlich verschneite Wittenberge hinausschaute. Pitter kam auf ihre Schulter geflogen und schmiegte sich an ihr Ohr. Er nahm die Haut ihres Halses in den Schnabel und rollte sie hin und her. Ein Papageienkuss. Nynke blinzelte, weil ihr Tränen in die Augen schossen, aber sie ließ Pitter gewähren.
»Zum Glück wussten die Mädchen nicht, dass du zuvor einem Seemann gehörtest und dich auf Schiffen besser auskennst als wir alle zusammen«, sagte sie und zauste zärtlich die Federn an seinem Hals.
Pitter gab ein Krächzen von sich, von dem sie nicht wusste, ob er ihre Flunkerei guthieß oder dagegen protestierte.
Zwei Tage später war ihre Weiterreise über Land organisiert. Der Kaufmann Kowing übernahm die Verantwortung für den Transport der Reisenden und ihr Gepäck. Für die Menschen stellte er Kutschen, heiße Ziegel, wollene Decken und Schaffelle zur Verfügung. Das Gepäck wollte er mit Ochsenwagen nach Potsdam transportieren.
Anna fand daran etwas auszusetzen. »Wir werden in Potsdam wochenlang auf unsere Sachen warten müssen und nicht mehr besitzen als die Kleidung, die wir auf dem Leib tragen. Wir werden auf der nackten Erde schlafen und unsere Suppe mit den Händen schöpfen müssen, wenn alles mit Ochsenwagen transportiert wird. Diese Tiere gehen nicht schneller als Schnecken. Ich bestehe auf Wagen mit Pferden.«
Der Gehilfe des Kaufmannes, dem sie diese Worte entgegenschleuderte, schaute hilflos zwischen ihr und Jan hin und her. »Pferde können bei diesem Wetter weniger schwer ziehen als Ochsen und sind bei Eis und Schnee nicht so trittsicher mit dem Gewicht der Gepäckwagen. Außerdem …«
Anna wollte den Rest nicht mehr hören und drehte sich schmollend weg.
»Benimm dich nicht, als wärst du neunzehn Jahre alt und bisher nie aus Amsterdam herausgekommen. Auch wenn das wahr ist«, flüsterte Nynke ihr zu. Das trug ihr einen giftigen Blick der Schwester ein.
»Ich bin überzeugt, König Friedrich Wilhelm von Preußen wird Ordre gegeben haben, für unsere Ankunft alles vorzubereiten. In Potsdam wird es ebenso Gasthäuser geben wie in Wittenberge. Und dann werden wir uns sehr schnell sehr schöne Häuser bauen. Du musst nur noch die kleine Mühe der Reise auf dich nehmen, Liebes.« Jan berührte seine Frau am Ellenbogen, um sie zur ersten der wartenden Kutschen zu führen.
Nynke stieg nach ihrer Schwester ein, kuschelte sich in eine Ecke und zog eine schwere Wolldecke über die Knie. Den in ein Schaffell eingewickelten Pitter setzte sie auf ihren Schoß.
Stunde um Stunde fuhren sie. Die heißen Ziegelsteine, die anfangs ihre Füße gewärmt hatten, waren längst erkaltet, und vor ihren Mündern dampfte der Atem. Nynke schob die Finger unter das Schaffell und wärmte sich an dem Papagei.
Obwohl die Ochsenwagen gemeinsam mit den Kutschen losgefahren waren, dauerte es nicht lange, bis sie hinter den Pferdegespannen zurückblieben. Am ersten Tag kamen sie bis Kyritz, dann wurde es dunkel, und die Kutscher hielten es für zu gefährlich weiterzufahren. Leicht konnte eines der Pferde im Dunkeln vom Weg abkommen und sich vertreten. Niemand protestierte gegen diese Entscheidung, alle waren froh, die engen Kutschen verlassen und sich die Füße vertreten zu können. Selbst Pitter kletterte aus seinem Schaffell und streckte die Flügel. Tags darauf ging die Reise bis Wustermark, und dann war es nicht mehr weit bis Potsdam.
Das trübe Winterwetter verhinderte, dass Nynke bei der Einfahrt in die Stadt viel von ihr sah. Die Kutschenfenster waren beschlagen, und so viel sie auch rieb, von der Welt außerhalb erblickte sie nur graue Schlieren.
Dafür wurden sie damit überrascht, dass der König ihre Unterbringung im Stadtschloss verfügt hatte. Erwartet hatte Nynke eine Unterkunft in einem Gasthaus, wie sie für die anderen holländischen Handwerker vorbereitet war.
»Wir wohnen in einem richtigen Schloss«, freute sich Anna. »Ob wir den König sehen werden?«
»Er steht bestimmt nicht vor der Tür, um uns zu empfangen.« Die Aussicht, dem preußischen König zu begegnen, erfüllte Nynke eher mit Sorge. Sie hätte eine Unterkunft im Gasthaus in der Gemeinschaft der anderen vorgezogen.
Das Potsdamer Stadtschloss lag am Ufer der Havel und war ein von außen schmuckloser Bau, der lediglich durch seine Größe beeindruckte. Diese musste mit den königlichen Marställen wetteifern, die das Schlossgelände zur Straße abgrenzten und von wahrhaft beeindruckender Länge waren.
»Pferde haben es hier auf jeden Fall gut«, kommentierte Jan, als ihre Kutsche in den Schlosshof rollte.
Die Frauen ließen diese Bemerkung unerwidert. Anna war anzusehen, dass sie sich die Pracht ausmalte, in der sie zukünftig leben würde.
Ihre Wohnung bestand aus einer Zimmerflucht, die sich über einen langen Flur erstreckte, damit endete jedoch die Herrlichkeit. Keiner der Räume war für ihre Ankunft beheizt worden. Dunkle Ränder auf den Wänden zeigten an, wo einmal Bilder oder Teppiche gehangen hatten. Das waren nicht wenige Stellen. Diese Flecken ließen die Räume noch ungemütlicher aussehen. Sie waren nur mit dem Nötigsten ausgestattet, und das sah aus, als habe es bereits eine lange Zeit des Gebrauchs hinter sich.
Selbst die wenig prachtverliebte Nynke war enttäuscht. Sie schritt durch die Räume, und der Saum ihres Umhangs schleifte über den staubigen Boden. Pitter saß auf ihrer Schulter. Er dreht den Kopf hierhin und dorthin. Die großen, fast leeren Räume waren eine Einladung für ihn. Er streckte sich und stieß sich von ihrer Schulter ab. Mit kräftigen Flügelschlägen steuerte er einen großen Schrank an.
Wenigstens einer fühlt sich wohl, dachte Nynke und erkor diesen Raum zu ihrer Schlafstube, da er nicht nur Pitter gefiel, sondern auch einen Blick auf den Schlosspark bot.
»Das soll ein Schloss sein?«, sagte dagegen Anna. Sie bestimmte das neben Nynkes Stube liegende und mehr als doppelt so große Gemach als Schlafzimmer für sich und Jan. »So manches Stadthaus in Amsterdam ist prächtiger als das. Wie sollen wir hier unsere Kinder großziehen?«
»Wir haben jedenfalls mehr Platz, als wir uns in Amsterdam je hätten vorstellen können.« In diesen leicht dahingesagten Worten ihres Schwagers hörte Nynke, dass ihn die karg eingerichteten Räume ebenfalls enttäuschten. »Wir werden es gemütlich haben, sobald unser Gepäck angekommen ist.«
»Unsere Sachen taugen nicht für ein Schloss. Sie werden sich hier winzig ausnehmen und schäbig wirken.« Dass Anna sich selbst widersprach, kümmerte sie nicht, und Nynke wies sie nicht darauf hin, weil sie keinen Streit beginnen wollte.
In diesen Moment der beinahe umkippenden Stimmung betraten zwei Bedienstete durch eine in der Wandvertäfelung kaum auszumachende Tür den Raum, um die Kamine und Kachelöfen zu beheizen. Später wurde ihnen Essen aus der Schlossküche heraufgebracht: als erster Gang eine Suppe mit dicken Bohnen, danach Grünkohl und Blutwurst, begleitet von einem Brotpudding, und zum Nachtisch eine Schale Kekse. Niemand konnte diesem Essen etwas abgewinnen.
Die erste Nacht im Potsdamer Stadtschloss endete zeitig mit Trommelklang und schrillem Pfeifen. Nynke fuhr erschrocken aus dem Schlaf.
»In de Wanten! In de Wanten!«, krächzte Pitter und flog eine Runde um das Zimmer.
Nynke warf sich einen Morgenmantel über und eilte aus dem Zimmer, der Quelle des Lärms auf den Grund zu gehen. Im Flur traf sie auf Jan mit vom Schlaf verwuscheltem Haar, den Morgenmantel hielt er hastig vor dem Leib zusammen, als er sie bemerkte, und seine nackten Füße steckten in Holzpantinen.
Die Flurfenster zeigten auf den Schlosshof hinaus, von dort drang Lichtschein zu ihnen, und dort befand sich auch die Quelle des Radaus. Gemeinsam schauten sie hinunter. Etliche Fackeln erhellten den Schlosshof, auf dem eine Menge Soldaten angetreten waren. Zu getrommelten und gepfiffenen Befehlen marschierten sie über den Hof, schwenkten bald in die eine oder andere Richtung.
»Die armen Kerle«, sagte Nynke. »Es kann doch kaum fünf Uhr in der Früh sein.«
Jan pellte seine filigrane Uhr aus der Tasche des Morgenmantels und klappte den Deckel auf. »Es ist halb sechs Uhr.«
»Ist Anna aufgewacht?«
»Was denkst du denn? Sie hat einen leichten Schlaf.«
Nynke kannte den gesunden Schlaf ihrer Schwester, verzichtete aber auf eine Erwiderung.
Das Exerzieren im Hof machte nicht den Anschein, bald beendet zu sein. Nynke und Jan gingen zurück in ihre jeweiligen Schlafstuben.
Dies wiederholte sich alle paar Tage in den frühen Morgenstunden, und die neuen Schlossbewohner gewöhnten sich an die Trommeln und Pfeifen.
Jan nahm seine Arbeit als Schlosskastellan auf, die darin bestand, den reibungslosen Ablauf aller Arbeiten im Schloss zu organisieren und zu überwachen. Die Abrechnungen der Küche, der Leinen- und Bettenkammer, der Geschirrkammer, der Silberkammer und noch diverser anderer Kammern wurden ihm von den jeweiligen Schreibern vorgelegt und mussten von ihm abgezeichnet werden. Das Gleiche galt für Inventarlisten und Bestellungen. Ihm selbst unterstanden zwei Schreiber, die wiederum alles in einer Kastellanrechnung zusammenfassten, die von Jan abgezeichnet dem Oberhofmarschallamt vorgelegt wurde. Was dann damit passierte …
»Ich habe noch nie so viele Haken auf Listen gesetzt und Unterschriften geleistet wie in den letzten Tagen«, stöhnte er am Ende der ersten Woche. »Ein holländischer Kaufmannsgehilfe wäre die bessere Wahl gewesen als ein holländischer Zimmermann – wenn es denn unbedingt ein Holländer sein muss.«
»Das ist so üblich für den Kastellan des Potsdamer Stadtschlosses. Ich habe mich erkundigt. Der preußische König begeistert sich für alles Holländische und hat selbst holländische Verwandtschaft.« Anna legte ihrem Mann eine Hand auf den Arm und schaute zu ihm auf.
»Ich frage mich nur, was ich für den König bauen soll? In meiner Anwerbung hieß es ausdrücklich, ich solle auch als Baumeister nach Potsdam kommen.«
Darauf wusste niemand eine Antwort. Während die anderen holländischen Handwerker Arbeit auf den königlichen Baustellen gefunden hatten – innerhalb des mit einer neuen Stadtmauer umschlossenen Areals wurde ein ganzes Viertel, die sogenannte zweite Stadterweiterung errichtet –, blieb die kleine Familie Boumann im Schloss. Jan zeichnete Listen ab, Nynke erkundete den Schlosspark, der im frühmorgendlichen Nebel oder mit Raureif bedeckt ganz zauberhaft aussah. Anna beschäftigte sich damit, die Wohnung zu verschönern. Bald ergoss sich ein Heer von Lakaien in die Räume, die Möbel, zusammengerollte Teppiche und anderen Zierrat heranschleppten. Anna hatte einen Dispens erhalten, sich aus den königlichen Magazinen bedienen zu dürfen.
Manche Geschmacklosigkeit fand ihren Weg in die Boumann’sche Wohnung. Als ein schmächtiger Diener einen lebensgroßen Bronzeadler in Nynkes Schlafstube schleppen wollte, stemmte diese die Arme in die Hüften. »Bringe er das sofort wieder hinaus.«
»Die gnädige Frau Boumann …«
»Es ist mir egal, was sie gesagt hat. Hinaus damit!«
»Landrotten! Landrotten!«, krächzte Pitter von seinem sicheren Sitz auf dem Schrank herab.
Voller Schreck ließ der Diener beinahe den Adler fallen. Seine Augen wurden groß beim Anblick des Papageis. Nynke nutzte diesen Moment der Verwirrung, ihn samt Bronzevogel aus dem Zimmer zu schieben.
In der Wohnung gab es noch einen zweiten Raum, in dem Anna nicht walten durfte, wie sie wollte. Das war Jans Arbeitskabinett. Er ließ einen großen Tisch sowie mehrere Stühle und Schemel hineinstellen, dazu Wandschränke und ein schweres Regal, in dem als einziges Buch eine Bibel in der Übersetzung Martin Luthers stand.
Eines Tages, das Jahr 1733 befand sich längst in seinem zweiten Monat, schickte ein Herr Peter de Gayette seine Namenskarte in die Boumann’sche Wohnung hinauf, um sich melden zu lassen. Anna frohlockte sogleich, dass es ihnen gelungen sei, die vornehme Potsdamer Gesellschaft für sich zu interessieren, und erklärte, den Herrn empfangen zu wollen. Eilig klopfte sie die Kissen im Salon zurecht und richtete sich das Haar.
Nynke begrüßte an der Haustür einen Mann, der den Zenit seines Lebens bereits überschritten hatte, sich gerade hielt, als hätte er einen Ladestock verschluckt, und der sie verkniffen musterte. Unter dem Arm trug er zusammengerollte Papiere. Zu Annas Enttäuschung hatte Herr de Gayette etwas mit Jan zu besprechen.
Die beiden Männer zogen sich in dessen Arbeitskabinett zurück, während die Schwestern sich die Zeit im Salon totschlugen. Es dauerte über eine Stunde, ehe sich die Tür des Arbeitskabinetts öffnete, Schritte zu hören waren und Jan seinen Besucher verabschiedete. Ein Strahlen im Gesicht, gesellte er sich danach zu den beiden Frauen.
»Der König will in seiner edlen und gütigen Weisheit, dass ich ein ganzes Stadtviertel mit holländischen Häusern für ihn baue. Insgesamt vier Karrees mit über einhundertzwanzig Häusern.« Die Stimme versagte ihm, nachdem er die Zahl gesagt hatte.
Anna fiel ihrem Mann um den Hals. »Oh Jan, wie wunderbar! Der König hat dein Talent erkannt.«
Nynke freute sich für den Schwager. Ein Stadtviertel bedeutete Arbeit für Jahre und endlich das, wofür er nach Potsdam gekommen war.
»Wo soll dieses neue Stadtviertel entstehen?«, fragte sie.
»Beim Nauener Tor in der Nähe der zweiten Stadterweiterung. Herr de Gayette ist deren Architekt und hat mir auf Geheiß des Königs die Pläne übergeben, die er für die holländischen Karrees bereits angefertigt hat.«
»Alle Pläne sind schon fertig? Dann bleibt für dich kaum noch etwas zu tun«, beklagte sich Anna.
Jan küsste sie auf die Nasenspitze. »Es wird genug übrig bleiben. Schließlich sollen das holländische Häuser werden, dazu braucht es einen holländischen Baumeister. Ursprünglich sollten de Gayette und mein Vorgänger als Kastellan die holländischen Häuser bauen. Nach dem plötzlichen Ableben des Kastellans geriet der Plan ins Stocken. Ich bestand darauf, die holländischen Handwerker unter meinen Männern zu haben und dass man mir freie Hand lasse, damit ich eben nicht einfach die Häuser baue, die ein anderer geplant hat. Nach einigem Zögern gestand Herr de Gayette mir beides zu.«
»Mein lieber Mann.« Anna lehnte den Kopf an Jans Schulter. »Du wirst der größte Baumeister Potsdams werden.«
»Du sollst nicht übertreiben, Anneli. Bei den holländischen Karrees geht es darum, Häuser für Handwerker zu bauen, aber eben in unserem Stil, damit wir uns wie daheim in Amsterdam fühlen.«
»Das ist der Auftakt zu großen Werken. Du wirst es sehen, mein Lieber.« Die Eheleute sahen einander tief in die Augen.
Nynke verdrehte die ihren. Es war für sie nicht leicht, das Eheglück der Schwester zu ertragen. Zu oft erinnerte es sie daran, was sie verloren hatte. In Amsterdam war sie mit einem Geiger verlobt gewesen und hatte sich glücklich an seiner Seite gefühlt. Aber dann hatte er sich immer öfter in Den Haag aufgehalten. Sie hatte geglaubt, es gehe um eine Position im königlichen Orchester. Vielleicht war es so, aber auf jeden Fall gab es dort die Tochter eines Geigerkollegen. Nynke bemerkte dies erst, als ihr Verlobter sie um die Auflösung ihrer Verbindung bat. Fortan war ihr Name in Amsterdam mit einem Skandal verknüpft. Junge standesgemäße Männer hielten sich zurück, und deshalb war ihre drei Jahre jüngere Schwester vor ihr verheiratet. Ihre Eltern hatten nicht gezögert und Nynke mit nach Potsdam geschickt, als Anna ihr Leben in der Fremde nicht ohne eine Vertraute an der Seite beginnen wollte.
Jan brannte darauf, den Baugrund für die holländischen Häuser in Augenschein zu nehmen. Die anderen holländischen Handwerker begleiteten ihn, darunter sein jüngerer Bruder Dirck Boumann, Anton van Ridder und Adrianus den Ouden, Zimmerleute wie er, sowie der Maurer Hiuybrecht Ketel. Sie alle waren aufgekratzt und gespannt.
Nynke schloss sich den Männern an. Ein einheimischer Vorarbeiter mit Namen Wolfhardt Dyballa, ein vierschrötiger Kerl, geplatzte Äderchen auf Nase und Wangen, wartete am Nauener Tor auf sie. Er führte sie wenige Schritte über aufgeweichten Boden, bis er stehen blieb und mit ausgestrecktem Arm nach vorn deutete.
»Das ist es.« Dyballa zeigte auf eine brach liegende Fläche, die sich vor ihnen erstreckte. Zwischen schmutzigen Flecken Schnee schaute braune gefrorene Erde heraus. In kleinen Kuhlen, manche nicht größer als ein Stiefeltritt, war das Wasser zu Eis erstarrt. Baumstämme und Erdhaufen lagen wild durcheinander, als hätten Riesenkinder damit gespielt und wären unvermittelt weggerufen worden. Nynke bemerkte den fassungslosen Ausdruck im Gesicht ihres Schwagers.
»Dort kann man eine Hütte errichten, aber kein Stadtviertel.«
»Was unser allergnädigster König bestimmt, wird gemacht. Wollen Sie ihm erklären, dass Sie ihm seine holländischen Häuser nicht bauen können? Obwohl er Sie extra dafür hat kommen lassen? Ich wünsche den Herren viel Erfolg.« Dyballa verneigte sich leicht. Der Hohn in seiner Stimme war nicht zu überhören.
Jan trat mehrmals fest auf. Der Dreck spritzte unter seinen Stiefeln. »Was wurde bereits versucht, um das Gelände trockenzulegen?«
Zuerst zuckte Dyballa mit den Schultern, ließ sich dann aber doch zu einer Antwort herab: »Unmengen Sand und Balken wurden abgeladen. Hat nicht viel genützt.«
»Das sieht man.« Jan kniff die Augen zusammen und betrachtete eine Stelle, wo kreuz und quer liegende Stämme den Fehlversuch deutlich dokumentierten.
Das Rot auf Dyballas Nase und Wangen vertiefte sich.
Anton van Ridder schritt in das sumpfige Gelände hinein und balancierte auf dem unebenen Grund. Er musste die Arme ausbreiten, um das Gleichgewicht zu halten. Er drehte sich zu den anderen um.
»Wir schaffen das. Wir sind Holländer. Als Erste haben wir Deiche gebaut. Es ist noch nicht lange her, da haben wir an der ganzen Nordseeküste dafür gesorgt, dass das Meer gezähmt wird. Ein guter Teil unseres Landes liegt unterhalb des Meeresspiegels, trotzdem bauen wir überall. Amsterdam ist auf einem Untergrund errichtet, der sumpfig ist wie dieser. Wir schaffen, was kein anderer kann. Jan, Dirck, warum sehe ich Zweifel in euren Gesichtern? Ich jedenfalls gehe hier nicht weg, bevor die Häuser stehen.«
»Ich auch nicht«, sagte Hiuybrecht Ketel sofort.
»Von mir dürft ihr nichts anderes erwarten«, kam es von Adrianus den Ouden.
»Ich bin auch dabei«, sagte Dirck.
Nynke öffnete den Mund, um etwas sagen, aber dann schloss sie ihn wieder.
Auf Jans Gesicht breitete sich ein Strahlen aus. Er legte seinem Bruder und Adrianus die Arme um die Schultern. Dann begann er zu lachen. Die anderen fielen nach und nach ein; bis auf Dyballa, der aussah, als hätte er einen Löffel Salz verschluckt.
»Komm her, Nynke!«, rief Jan, nahm seine Arme von den Schultern der Männer und zog sie in ihren Kreis. Nynke spürte das zuversichtliche Gewicht seiner Hand auf ihrer Schulter. Sie fiel in das Lachen ein.
»Ist das Gelände vermessen?«, fragte Jan, nachdem sie sich die Lachtränen aus den Augen gewischt hatten und wieder ernst waren.
»Selbstverständlich. Die Unterlagen werden dem Herrn Zimmermeister aus Holland zugehen.«
»Das ist gut, aber ich werde nachmessen. So halten es die Baumeister bei uns. Das soll kein Misstrauen Ihnen oder Herrn de Gayette gegenüber sein, ich will mich nur vergewissern, dass alles seine Richtigkeit hat.«
»Wie der holländische Zimmermeister es wünscht.«
Jan baute sich vor Dyballa auf. Er war größer als der Vorarbeiter, aber schmaler. »Ich bin Baumeister und erwarte, dass Sie mich so nennen. Seine Launen dulde ich nicht.«
»Wie der Herr es wünscht.«
»Zuerst müssen wir hier aufräumen. So wie das Gelände aussieht, baut darauf niemand ein Haus. Ich brauche Männer, Gerät und Pferde. Kräftige Pferde. Damit aus diesem Sumpf ein Baugelände wird.«
»Ich bin Vorabeiter, kein Stallmeister.«
»Mein Bruder wird mein Vorarbeiter sein, zusammen mit Ihnen.«
Dyballa deutete erneut eine Verbeugung an. »Dann soll es so sein.«
Später blieb Jan allein mit seinem Bruder auf der zukünftigen Baustelle. Die anderen Holländer waren in ihre Quartiere zurückgegangen, und Hiuybrecht hatte sich erboten, Nynke zu begleiten.
Nebeneinander stapften die beiden Brüder über das sumpfige Gelände. Mit ausholenden Armbewegungen sprach Jan darüber, Stubben zu roden, alles einzuebnen, die Stämme aus dem Dreck zu ziehen und die gut gewachsenen für die Gründung zu verwenden; bei den anderen würde sich zeigen, wofür sie noch taugten. Ob sich daraus Balken, Bretter, Treppenwangen oder Fensterrahmen fertigen ließen. Dirck unterbrach seinen Redefluss.
»Es war vielleicht nicht sehr geschickt, diesem Dyballa das alles unter die Nase zu reiben. Er schien mir alles andere als zufrieden.«
»Was meinst du?« Jan blieb stehen und drehte sich halb zu seinem Bruder herum. »Dyballa muss nicht zufrieden sein, sondern machen, was wir von ihm wollen. Außerdem habe ich nur gesagt, was offensichtlich ist. Weißt du etwas über ihn?«
»Ich habe ihn nie gesehen«, erwiderte Dirck. »Aber wenn der preußische König ihn zu deinem Vorarbeiter bestimmt hat, wirst du mit ihm auskommen müssen. Du hättest nicht so auf dem sumpfigen Gelände und den dilettantischen Versuchen der Trockenlegung herumreiten sollen.«
»Das ist sumpfiges Gelände. Sogar Nynke kann das sehen.«
»Deine Schwägerin trägt einen klugen Kopf auf ihrem schlanken Hals.« Dirck grinste.
»Dann meinetwegen Antons Kinder. Die hätten es auch alle gesehen.«
»Du hättest trotzdem diplomatischer sein können.«
»Das ist papistisch gedacht.«
»Und du musst nicht immer so furchtbar calvinistisch tun und diesem Dyballa zusätzlich zu allem anderen erklären, dass du alles nachmessen willst.«
»Das will ich aber«, erwiderte Jan aufgebracht. »Wie soll ich einem Architekten Herrn de Gayette trauen, der so ein Baugelände verursacht? Du an meiner Stelle …«
»Ich würde auch nachmessen, aber es nicht so laut herausposaunen. Du kannst nicht wissen, ob du nicht noch einmal dankbar sein musst für deinen Vorarbeiter oder den Architekten. Sie sind von hier, kennen sich aus, wohingegen wir fremd sind. Wenn sie wollen, können sie uns Schwierigkeiten machen. Sei in Zukunft vorsichtiger, mehr wollte ich gar nicht sagen.«
»Das von meinem jüngeren Bruder, der sonst der Feuerkopf unter uns beiden ist.«
***
»Dieser Bengel! Hundsfott! Von so einem jungschen Kerl …! Ein jämmerlicher Zimmermann und Schiffbauer will mir …!« Peter der Gayette stampfte in seiner Stube auf und ab. Seine Hände ballten sich zu Fäusten und öffneten sich wieder.
Seine Frau Berte stand in der Tür und beobachtete ihn. Sie war eine kleine, dralle Person mit Apfelbäckchen. Ihr Gesicht zeigte selbst dann einen fröhlichen Ausdruck, wenn sie ärgerlich war. Jetzt war sie besorgt um ihren Gatten und aufgebracht, weil sie den Besucher, der ihren Mann die letzte halbe Stunde heimgesucht und ohne Abschied wieder gegangen war, nicht abgewimmelt hatte.
»Regen Sie sich nicht auf«, riet sie vorsichtig. »Denken Sie an Ihre Gesundheit.«
»Ich denke an nichts anderes!«, rief der Architekt, ohne von seiner Wanderung abzulassen.
Berte seufzte. Sie kannte ihren Mann seit über zwanzig Jahren, und wenn er sich derartig erregte, fand er seine Ruhe nicht schnell wieder. Dabei hatte er in der letzten Zeit vermehrt über Schmerzen in der Brust und knappe Luft geklagt, jedoch keinen Arzt aufsuchen wollen. Sie hatte ihn blass und appetitlos gefunden. Nicht einmal ein geschmortes Kaninchen hatte ihn zu reizen vermocht. Obwohl er gewöhnlich allein ein ganzes vertilgte. Berte wischte die Hände an ihrer Schürze ab.
»Ich koche Ihnen Kaffee. Oder eine Schokolade? Es ist auch etwas Rinderbouillon da.« Sie sprach das französische Wort mit besonderer Betonung. »Mit etwas Warmem im Magen sieht alles gleich anders aus.«
»Verschonen Sie mich mit derartigen Küchenweisheiten. Dieser impertinente Mensch wird nicht verschwinden, nur weil ich einen Kaffee trinke. Obwohl das eine charmante Idee wäre.«
Innerlich atmete Berte auf. Wenn ihr Mann zu seinem Humor zurückfand, war das Schlimmste überstanden. »Von wem sprechen Sie? Von diesem Subjekt Dyballa, der vorhin hier war?«
»Der gute Herr Dyballa doch nicht. Er hat mir nur … Richten Sie nicht über den Überbringer einer schlechten Nachricht, meine Liebe.«
»Ich will über niemanden richten. Aber ich gerate in Sorge, wenn Sie sich solcherart echauffieren.«
»Sie sind eine gute Frau.« De Gayette griff sich an die Brust und seufzte.
Berte eilte hinzu, half ihm in einen Sessel, lockerte sein Halstuch und legte ihm fürsorglich eine Decke über die Knie. Sein Protest dagegen prallte an ihr ab.
»Ich hole Ihnen Bouillon. Bis ich zurück bin, rühren Sie sich keinen Fingerbreit. Danach erzählen Sie mir, was Sie bedrückt.«
Was Berte bestimmte, geschah. Nachdem de Gayette brav die Brühe geschlürft hatte, berichtete er ihr von dem Gespräch mit dem Vorarbeiter Dyballa. In ehelicher Loyalität schimpfte Berte ein wenig auf den unverschämten Jan Boumann und verwendete dabei Ausdrücke, die eine Dame nicht kennen sollte.
»Dieser holländische Herr kann Ihnen nicht gefährlich werden. Der ist nur Zimmermann. Unser gnädiger König schätzt Sie, und auf allen Plänen für diese holländischen Häuser steht Ihr Name.«
»Trotzdem hat der König verfügt, dass ich alles an diesen Emporkömmling übergeben muss. Weil nur ein Holländer holländische Häuser … Das ist natürlich … Aber der König glaubt nun einmal daran.« De Gayette schüttelte die Hand seiner Gattin ab, schob die Decke von seinen Knien und stand auf.
»Was haben Sie vor?« Berte war alarmiert.
»Einen Brief schreiben.«
»An den König?«
»So ähnlich.«
»Ich bitte Sie …« Worum sie ihn bitten wollte, konnte Berte nicht mehr anbringen, denn die Stubentür schloss sich hinter ihrem Mann.
Später sah sie einen Brief an die Königlichen Ziegeleien im Flur liegen. Sie nahm ihn mit in die Küche, erwärmte das Siegel vorsichtig über Wasserdampf und öffnete das Schreiben. Am Küchentisch sitzend las sie, dass die entsprechend der königlichen Specification zu liefernden Dach- und Mauersteine im Namen von Jan Boumann in Potsdam erwartet wurden. Sie war beruhigt.
Von den weiteren Briefen, die ihr Gatte geschrieben hatte, ahnte sie nichts.
Jan und Dirck hatten mit der Vermessung des Geländes für die vier holländischen Karrees begonnen. Nicht, weil Jan grundsätzlich nur seinen eigenen Berechnungen traute, sondern weil Peter de Gayette entgegen der Ankündigung des Vorarbeiters seine Unterlagen nicht geschickt hatte. Dyballa war mit einem Dutzend Männern und vier kräftigen Pferden beauftragt, die durcheinanderliegenden Stämme zu entfernen. Die holländischen Arbeiter rodeten die Stubben oder gruben Wurzeln aus. Dabei halfen ihnen zwei weitere Pferde. Alle Männer, Pferde und Gerätschaften, die Jan beim König beantragt hatte, waren ihm bewilligt worden, stets mit dem Hinweis, die Errichtung der Häuser kräftig voranzutreiben, damit bald die ersten Bewohner einziehen könnten.
»Wir müssten dahinten ein Bassin graben, um das ganze Wasser aus diesem Gelände dorthin abzuleiten. Es würde sich ein hübscher See zum Flanieren für die Potsdamer ergeben«, sagte Jan und deutete auf ein Stück Land, das noch tiefer lag und noch feuchter war als ihr Baugrund. »Ich fürchte jedoch, dass wir die Zeit nicht haben.«
»Ganz sicher haben wir die Zeit nicht. Seine Majestät kann die Fertigstellung der Häuser kaum erwarten. Andere können es kaum erwarten, uns scheitern zu sehen«, erwiderte Dirck.
»Du und deine Schwarzseherei.« Jan schaute bei diesen Worten zu Dyballa, der seine Männer und sich selbst nicht schonte. »Ich traue ihm nicht, aber ich finde nichts auszusetzen an seiner Arbeit.«
»Gerade das macht mich stutzig. Er will uns in Sicherheit wiegen. Mit dem Bau eines Bassins gebe ich dir recht. Vielleicht findet sich später die Gelegenheit?«
Nachdem Jan in einem sehr höflichen Brief an Peter de Gayette um die Hergabe der Berechnungen gebeten und gute Zusammenarbeit gewünscht hatte, wurden die Vermessungsunterlagen geliefert. Ohne jedes Begleitschreiben. Ein Bündel zusammengenähter Akten und eine nicht minder dicke Rolle Pläne lagen auf dem Tisch in Jans Arbeitskabinett und harrten der Bearbeitung.
Die Tür stand halb offen, und Nynke wagte einen Blick. Ihr Schwager war gerade nicht da. Sie schlüpfte hinein, wollte nur einmal schauen. Sie beugte sich über die an den Ecken mit Büchern beschwerten Pläne und erblickte eine Vielzahl verwirrender Linien, beschriftet mit Zahlen oder Buchstaben. Nach einem Haus, gar einem ganzen Stadtviertel, sah ihr nichts davon aus.
Auf dem Tisch lagen mehrere Pläne übereinander, und sie hätte gern den oberen zusammengerollt, um die weiter unten liegenden zu betrachten, wollte aber nicht erwischt werden, wie sie die Sachen ihres Schwagers durcheinanderbrachte.
»Nynke«, sagte Jan von der Tür her.
Sie wirbelte mit einem Aufschrei herum, stieß einen Bücherstapel an, der ins Rutschen geriet und zu Boden klatschte. Die beschwerte Ecke rollte mit einem schnurrenden Geräusch zurück.
Nynke starrte auf die Bescherung, die sie angerichtet hatte. »Das wollte ich nicht. Wirklich nicht. Ich habe nichts angefasst. Entschuldige, dass ich hier eingedrungen bin.«
»Du musst dich nicht entschuldigen.« Jan kam lächelnd auf sie zu. Er sammelte die Bücher ein und stapelte sie wieder auf. »Interessierst du dich für den Bau?«
»Ich möchte es gern verstehen.«
»Komm her, ich zeige es dir.«
»Ich will dich nicht stören. Du hast wichtige Pflichten. Anna hat mir streng verboten, dir auf die Nerven zu gehen.«
»Das tust du nicht. Tatsächlich könntest du mir helfen, meine Gedanken zu ordnen.«
»Wie soll ich das machen?«
»Indem du mir zuhörst.«
Dazu war Nynke mehr als bereit. Sie ließ sich von ihrem Schwager erklären, dass auf den Plänen alles vierundzwanzigmal kleiner eingezeichnet war als in der Wirklichkeit. Er erklärte ihr, wo das Nauener Tor lag und fuhr den Verlauf der Stadtmauer mit dem Finger nach. Er kreiste das Gebiet ein, auf dem das neue Stadtviertel entstehen sollte.
»Im Augenblick wird hier gebaut.« Jan deutete auf ein Gebiet auf der anderen Seite des Nauener Tores. »Sie nennen es die zweite Stadterweiterung, und unser Viertel wird die dritte werden.
»Wenn die zweite fertig ist, geht es mit der dritten los?«
»Es wird an beiden gleichzeitig gearbeitet.«
»Ich hätte gedacht, dass auf den Plänen Häuser zu erkennen sein würden. Dass sie ähnlich aussehen würden wie auf Bildern. Nicht farbig … Vielleicht waren das dumme Gedanken.«
»Gar nicht«, beruhigte Jan sie. »Später werde ich Pläne haben, auf denen Häuser zu erkennen sind. Die heißen dann Risse und Schnitte. Im Moment geht es erst einmal um die Aufmessung des Geländes und dessen Einteilung. Wo stehen die Häuser, wo werden später Straßen sein, wo die Gärten und Höfe. Dazu haben der Architekt Peter de Gayette und ich das Gebiet vermessen. Die Ergebnisse siehst du in diesen Berechnungen.« Jan deutete auf mit Zahlen bedeckte Foliobögen.
Nynke brauchte kein großes rechnerisches Geschick, um zu erkennen, dass die Zahlen verschieden waren. Sie wies ihren Schwager darauf hin.
»Das liegt an verschiedenen Methoden und Maßen, die angewandt werden können. Ich habe die Amsterdamer Elle benutzt und de Gayette das preußische Fußmaß. Man muss es umrechnen und anpassen. Dabei habe ich zwei Fehler entdeckt.« Jan senkte verschämt den Blick. »In meinen Maßen. Ich muss Herrn de Gayette für seine Arbeit dankbar sein.«
Er rollte einen Plan zusammen und zog einen anderen heran, auf dem am oberen linken Rand wieder das Nauener Tor zu erkennen war. Den Rest des großformatigen Bogens nahmen vier ungleichmäßige Vierecke ein, die wiederum durch Querstriche unterteilt waren. In jedem dieser Kästchen stand eine Nummer. Zwischen den Vierecken waren schmale Bänder frei geblieben.
»Sind das Straßen?«, riet Nynke und tippte auf eine davon.
»Genau. Straßen und Durchgänge zwischen den Häusern. Da ist de Gayettes Plan ohne jeden Fehl. Insgesamt sollen über einhundertzwanzig Häuser gebaut werden.«
»Das sind viele!«
Jan stieg in Nynkes Achtung, denn die Bedeutung der ihm anvertrauten Aufgabe war nicht zu übersehen.
»Nynke! Ich habe dich gesucht.« Anna stand in der Tür des Arbeitskabinetts und war zum Ausgehen gekleidet. Die Arme hatte sie in die Hüften gestemmt und die Augenbrauen finster zusammengezogen. Das verlieh ihrem lieblichen Gesicht den Ausdruck eines enttäuschten Kätzchens. Bis auf Nynke weckte das in ausnahmslos jedem den Wunsch, ihr zu schmeicheln, bis ihre Miene wieder fröhlich war. Jan eilte auf sie zu, ergriff ihre Hände, küsste sie und streichelte ihre Wange.
»Meine schlimme Schwester hat dich hoffentlich nicht gestört. Ich habe ihr streng verboten …«
»Liebste, liebste Anna, natürlich nicht …« Er streichelte weiter ihre Wange und küsste sogar ihre Augenbrauen.
»Ich will doch nur, dass alles so gemacht wird, wie du es für richtig hältst«, klagte Anna.
»Du machst alles ganz wunderbar. Niemand kann sich eine bessere Ehefrau wünschen als dich. Ich bin ein glücklicher Mann.« Jan klang aufrichtig.
»Weswegen hast du mich gesucht?«, mischte sich Nynke in das eheliche Geturtel.
»Du sollst mich begleiten. Jan hat zu arbeiten.«
Nynke fügte sich in den täglichen Spaziergang, der einmal um das Schloss herum, über den Marktplatz, am Kanal entlang und wieder zurück führte.
Jeden Tag stehst du früher auf«, murmelte Anna schlaftrunken, als Jan beim ersten Hahnenschrei die Beine aus dem Bett schwang. Sie wandte ihm ihr Gesicht zu, die Lippen schmollend vorgeschoben. Der Zopf, zu dem sie ihr blondes Haar jeden Abend flocht, hatte sich halb gelöst, und zerzauste Locken umgaben ihre Wangen.
Jan schenkte ihr ein kurzes Lächeln, reagierte aber nicht auf die Worte, sondern angelte nach seinen Holzpantinen. In Gedanken war er längst auf der Baustelle. Dyballa war mit seinen Männern noch dabei, Stämme aus dem Dreck zu ziehen. Für jeden Baum, den die kräftigen Arbeitspferde herauszogen, tauchten zwei neue auf, die sich mit diesem verkeilt hatten. Es schien kein Ende zu nehmen, aber alle Stämme mussten entfernt werden, sonst würden sie nachher die Gründung behindern. Dirck war mit einem guten Dutzend Männern dabei, die bereits gesäuberten Stellen des Baugrundes einzuebnen. Ein Schöpfwerk hielt ihn so trocken, wie es irgend möglich war. Jan selbst kontrollierte überall die Arbeiten. Seine besondere Aufmerksamkeit musste an diesem Tag den beiden Rammen gelten, die tags zuvor geliefert worden waren und aufgebaut werden mussten.
»Jan!« Anna zupfte ihn am Nachthemd. »Ich will nicht, dass du jeden Tag früher weggehst und am Abend später zurückkehrst.«
Er drehte sich halb zu ihr um. Sie sah allerliebst aus mit den vom Schlaf umflorten Augen und dem verwuschelten Haar. Der Ausschnitt des Nachthemdes zeigte den Ansatz ihrer Brüste. Jan schluckte.
»Du sollst heute bei mir bleiben.«
»Geht es dir nicht gut, Liebes?« Er strich ihr über die Wange.
»Muss es mir schlecht gehen, damit ich deine Gesellschaft genießen darf?«, fragte sie zurück, die Lippen immer noch schmollend verzogen.
»Natürlich nicht, Liebling. Ich sehne mich jeden Moment nach dir, den wir nicht zusammen sind.«
»Dann bin ich dir also nicht gleichgültig geworden?« Sie lehnte sich im Bett zurück, wölbte ihm den Unterleib entgegen.
Das war zu viel für Jans Selbstbeherrschung, und er vergrub das Gesicht zwischen ihren Brüsten. »Du bist mir das Liebste auf der Welt«, murmelte er dabei.
Anna löste die Bänder, die den Ausschnitt ihres Nachthemdes begrenzten, und half ihm, den störenden Stoff zur Seite zu schieben. Seine Lippen glitten über ihre zarte Haut. Die Welt war vergessen, nur ihre Gegenwart zählte.
Viel später ergoss er sich stöhnend in ihr und blieb ermattet auf ihr liegen. Ihre schweißfeuchten Körper klebten aneinander. Anna strich ihm mit einer Hand die Wirbelsäule entlang und zog mit der anderen die Bettdecke über sie beide.
Bevor Jan sich in der Wärme und der Gegenwart seiner Frau verlor, klopfte es zaghaft an die Tür.
»Wir wollen uns nicht stören lassen«, flüsterte Anna ihm ins Ohr. »Nicht heute.«
Es klopfte erneut, diesmal lauter und drängender. Jan wühlte sich aus den Decken hervor und streifte Annas Hand, die ihn zurückhalten wollte, ab.
»Ich komme!«, rief er, während er mit den Beinen in die Hose fuhr und sich ein Hemd überwarf. Er machte sich nicht die Mühe, es zu schließen, sondern zog die Weste über, ehe er zur Tür eilte und diese einen Spalt öffnete.
Nynke stand vor ihm. Sie war vollständig angekleidet und sah zerknirscht drein. Auf ihrer Schulter hockte Pitter, trat von einem Bein auf das andere.
»Luie vent!«, krakelte er. »Geen vermoeidheid! Ellendige landrotten!«
Nynke pikste dem Papagei einen Finger in den Bauch, um ihn zum Verstummen zu bringen. Pitter schlug einmal mit den Flügeln und gab tatsächlich Ruhe.
»Dirck ist gekommen.«
Alle Trägheit fiel schlagartig von Jan ab. Wenn sein Bruder sich am Morgen herbemühte, musste etwas vorgefallen sein. Gewöhnlich sahen sie sich erst auf der Baustelle. Er eilte über den Flur. Dirck wartete mit schlammverschmierten Stiefeln vor der Tür. Er redete sofort auf ihn ein, dabei gestikulierte er aufgeregt. Was er erzählte, ließ Jan buchstäblich die Haare zu Berge stehen. Er fuhr sich mit den Fingern durch seinen Schopf, band ihn im Nacken mit einem schwarzen Band zusammen. Für Strümpfe war keine Zeit mehr, er fuhr mit nackten Füßen in die Stiefel und griff nach seinem Rock.
»Du solltest dein Hemd zuknöpfen«, erinnerte ihn Nynke. Sie machte sich an dem Kleidungsstück zu schaffen, aber er war zu ungeduldig, sie gewähren zu lassen. Er fegte ihre Hände beiseite und wischte dabei auch Pitter von ihrer Schulter. Krächzend rettete sich der Papagei auf einen Bilderrahmen. »Landrotten! Landrotten!«, zeterte er.
»Was ist denn los? Jan?« Anna war in der Tür ihres Schlafzimmers erschienen. Sie hielt ihren Morgenmantel am Hals zusammen und war barfuß.
Dirck neigte den Kopf. »Ich grüße dich, Anna. Jan wird auf der Baustelle gebraucht.«
»Ist was passiert?« Die junge Ehefrau schaute ihn von unten herauf an.
»Du musst dich nicht beunruhigen.« Jan küsste seine Frau auf die Nasenspitze. Er ließ sich von ihr in den Rock helfen und griff nach seinem Hut.
»Ich begleite euch.« Nynke nahm ein wollenes Tuch und schwang es sich um die Schultern. Sie eilte den Männern hinterher.
Auf der Baustelle standen die Tagelöhner und die holländischen Handwerker am Rand des Bauplatzes und schauten zur Havel hinüber. Am Ufer hatten eine Reihe Kähne festgemacht. Unter ihrer Last aus Ziegelsteinen lagen sie tief im Wasser. Der erste war zur Hälfte entladen. Die Steine stapelten sich am Ufer. Der Schiffer stand breitbeinig daneben und dirigierte seine Helfer, sparte nicht mit Flüchen. Nynke verstand nicht alles.
»Das ist er.« Dirck zeigte auf den Mann.
»Die Steine sind nicht für uns. Nie und nimmer. Ich habe keine angefordert. Das sind außerdem viel zu viele. Die sind bestimmt für die zweite Stadterweiterung.«
»Der sagt was anderes.« Immer noch zeigte Dirck auf den Schiffer.
»Ich kläre das.« Breitbeinig schritt Jan auf den Mann zu.
Nynke stellte sich neben Dirck. Jan war groß gewachsen, aber dieser Schiffer überragte ihn um einen halben Kopf. Ein Bulle von einem Mann. Neben seinen Oberschenkeln baumelten Hände wie Schaufelblätter.
»Befiehlt Er hier?«, fuhr der Schiffer Jan sogleich an.
»Jan Boumann. Zimmermann und Baumeister aus Holland, zu Seinen Diensten. Er hat an der falschen Stelle angelegt, die zweite Stadterweiterung wird dort errichtet.« Jan zeigte auf die unweit entfernt entstehenden Häuser, für die der Architekt Peter de Gayette verantwortlich zeichnete.
»Bin hier richtig. Dreißigtausend Ziegel für den Baumeister Jan Boumann lautet mein Auftrag. Das ist die erste Ladung. Danach kommt der Rest.«
»Ich habe nichts bestellt.« Jan schüttelte den Kopf. »Nehme Er alles wieder mit.«
Nun schüttelte der Schiffer den Kopf. »Meine Anweisung stammt vom König persönlich. Der werde ich mich nicht widersetzen.«
»Das kann nicht sein.«
»Will Er meine Anweisung sehen?« Ohne auf eine Antwort zu warten, fuhr eine der Schaufelhände in die Rocktasche und kam mit einem zerknitterten Papier wieder hervor. Der Schiffer faltete es auseinander und ließ Jan einen Blick darauf werfen.
Der erkannte nicht mehr als eine Unterschrift. Jan sah sie nicht zum ersten Mal, sie prunkte auch auf der Urkunde, die ihn zum Kastellan des Stadtschlosses ernannte. Er wollte nach dem Papier greifen, um den Inhalt zu lesen, aber der Schiffer zog es weg.
»Das gebe ich nicht her.«
Jan stemmte die Hände in die Hüften. »Lass Er es mich lesen, sonst kann Er seine Steine wieder einpacken und sie ausladen, wo der Pfeffer wächst.«
Etwas in Jans Stimme musste den bulligen Schiffer beeindruckt haben, denn er hielt seine Anweisung so, dass Jan sie lesen konnte. Sie handelte tatsächlich von der Lieferung von vorerst dreißigtausend Steinen für den Bau holländischer Häuser. Weitere Lieferungen hätten ohne Verzögerungen zu erfolgen.
Jan spürte, wie ihm das Blut erst ins Gesicht schoss und danach in die Beine sackte.
»Glaubt Er mir nun?«, höhnte der Schiffer. Er drehte sich zu seinen Gehilfen um, die alle die Arbeit eingestellt hatten und das Gespräch beobachteten. »Nicht trödeln! Keiner hat was von Pause gesagt!«
Die Arbeit wurde wieder aufgenommen. Der Schiffer tat, als wäre Jan nicht da, brüllte seine Leute an und schwenkte die Arme.
Der junge Baumeister trat zu seinem Bruder und Nynke.
»Ich verstehe das nicht«, begann Dirck. »Was sollen wir mit Steinen? Es muss sich um einen Irrtum handeln.«
Jan seufzte. »Ich habe die Anweisung gesehen. Der König persönlich hat sie unterschrieben. Dieser Lieferung werden weitere folgen.« Er schaute Dirck an. »Mir scheint, du hast recht gehabt mit den Schwierigkeiten, die diese Herren de Gayette und Dyballa uns machen können. Das scheint mir ganz und gar deren billige Art zu sein: erst die Hergabe der Pläne und Vermessungen verzögern, dann Baumaterial liefern lassen, das wir nicht brauchen. Diesen Architekten werde ich mir vorknöpfen.«
Dircks Hand schoss vor, packte seinen Bruder am Ellenbogen. »Und ihm diese Genugtuung gönnen? Darauf wartet der doch nur.«
»Ich lasse mit mir nicht so umspringen!« Jan blickte wild um sich.
»Das kann der preußische König doch nicht verfügen, du bist der Baumeister«, platzte Nynke heraus.
»Er ist der König, er kann alles.« Jan lächelte schief und strich seiner Schwägerin eine Locke hinter das Ohr. »Wir haben keine vornehmere Aufgabe, als seinen Willen zu erfüllen.«
Jan eilte davon. Dirck hinterher. Er rief etwas, das der Wind davonwehte. Nynke konnte ihnen kaum folgen. Noch dazu behinderten sie ihre Röcke, die sie liebend gern gerafft hätte, wäre das nicht unschicklich gewesen.
Auf halbem Weg zum Unterstand des Architekten blieb Jan stehen.
»Bist du zur Vernunft gekommen?«, herrschte Dirck ihn an. »Alles, was du machen kannst, ist, diese Steine so schnell wie möglich zu verbauen und neue anzufordern. Schlag diesen Menschen mit seinen eigenen Waffen.«
»Dirck hat recht«, sagte Nynke.
Mitternacht war längst vorüber, und Jan saß noch in seinem Arbeitskabinett. Vom Kerzenrauch brannten ihm die Augen, der Rheinwein schmeckte schal, und in seinem Hirn knäuelten sich die Gedanken. Vor ihm lagen ein Dutzend oder mehr Foliobögen, die mit Berechnungen, Skizzen und Plänen vollgeschrieben waren.
Was sich im Gespräch mit Dirck und Nynke einfach angefühlt hatte, zeigte jetzt sein wahres Gesicht. Die von ihm angeforderten zusätzlichen Männer und Pferde hatte ihm die königliche Baukammer bewilligt. Mit dem Hinweis, dass seine Majestät wegen der zusätzlichen Kosten bald die ersten Häuser in die Höhe wachsen sehen wolle. Seit Stunden brütete Jan darüber, wie sich die Baustelle am besten organisieren ließ. Die Arbeiten mussten ineinandergreifen wie bei einem Uhrwerk ein Zahnrädchen in das andere. Nur dass in einem Uhrwerk alles seinen Platz hatte, auf einer Baustelle dagegen …
Ihm wurden die Lagerflächen knapp, und das lag nicht zuletzt an den Ziegeln, die zu früh geliefert worden waren. Sie machten sich dort breit, wo die von Dyballa aus dem Schlamm gezogenen Stämme abgelegt und auf ihre Verwendungsmöglichkeiten geprüft werden sollten. Die stapelten sich nun dort, wo die für die Gründung zu verwendenden Hölzer lagern sollten. Alles verschob sich.
Mit einem Graphitstift zeichnete Jan einen Kreis auf die Stelle des Planes. Er zog den Stift mehrmals herum, bis ein dicker schwarzer Kringel das Papier verunzierte. Jan raufte sich das Haar.
Das Problem des fehlenden Lagerplatzes würde er in dieser Nacht nicht mehr lösen. Er rieb sich die Augen und zog ein Papier mit Berechnungen heran. Wenigstens die wollte er noch durchsehen.
Er bekam nicht mit, dass die Tür des Kabinetts geöffnet wurde. Erst als Kerzenschein schräg auf seinen Tisch fiel, schaute er auf. Nynke stand vor ihm, einen Morgenmantel über dem Nachthemd und in der erhobenen Rechten eine Kerze.
»Ich sah Licht unter der Tür durchscheinen«, sagte sie. »Was machst du?«
»Ich arbeite.«
»So spät noch?«
»Dies muss fertig werden, sonst ziehen wir uns den Zorn des preußischen Königs zu.« Er schüttelte den Kopf. »Mit diesem Baugrund werde ich sehr viel mehr Zeit benötigen, als mir jedermann zugestehen will. Es muss mit Bedacht gearbeitet werden, aber gewöhnlich schließen sich Eile und Sorgfalt aus. Nur will das bei Hofe niemand verstehen. Stets heißt es: Du bist Holländer – ich kann das nicht mehr hören.«
»Wir haben es auch selbst gesagt«, erinnerte ihn Nynke sanft.
»Nun fällt es uns auf die Füße, meinst du?« Jans Mund verzog sich zu einem schiefen Lächeln.
»Bitte doch um einen neuen Baugrund. Es gibt genug Land zwischen der alten und der neuen Stadtmauer, und nicht überall ist es so feucht wie gerade diese eine Stelle.« Nynke klang hoffnungsvoll.
Die Idee war bestechend. Auf der anderen Seite der Stadt, weiter entfernt von der Havel, lag das Land höher und war wesentlich trockener. Jan griff nach der Hand seiner Schwägerin und zog sie näher zu sich heran.
»Du willst mir Mut machen, dafür bin ich dir dankbar, aber ich muss den königlichen Willen achten.«
Nynke zog sich einen Schemel heran. »Dann bleibt uns nichts anderes übrig, als es irgendwie zu schaffen. Wie gründest du in unwegsamem Gelände?«
»Ich lasse es zuerst roden.«
»Das meine ich nicht. Wenn der Boden zu feucht ist.«
»Dann ist es nicht unwegsam, sondern sumpfig. Man kann das Baugelände trockenlegen, was Zeit kostet. Wenn man richtig Pech hat, dauert es Jahre.«
»Was kann man noch machen?« Nynke schaute konzentriert auf Jans Planungen. »Wieso versinken die Häuser in Amsterdam nicht? Da ist der Boden auch feucht.«
»Da gibt es die Grachten. Die regulieren nicht nur die Gezeiten, sondern entwässern auch den Boden. Außerdem sind die Häuser auf Pfählen gegründet.«
»Wie wird das gemacht?«
Jan erklärte es ihr. Zur Verdeutlichung seiner Worte fertigte er eine Zeichnung an. Striche, Pfeile und Wellenlinien, die den morastigen Untergrund andeuteten. Nynke nahm ihm den Graphitstift aus der Hand und fügte ihrerseits Details hinzu. Besonders begabt war sie im Zeichnen nicht, aber es war unschwer zu erkennen, dass sie über der dargestellten Gründung ein Haus zeichnete. Bald waren ihre Finger vom Stift so fleckig wie seine.
»Mein größtes Problem ist derzeit, wie ich alles organisieren kann, damit die verschiedenen Arbeiten gleichzeitig ablaufen und sich nicht gegenseitig stören. Ich brauche viel Lagerfläche für Holz, stattdessen liegen da nun Steine.«
»Du willst gleichzeitig die Stämme rausziehen, das Gelände weiter einebnen und mit der Gründung beginnen«, fasste Nynke sein Problem zusammen.
»Du hast es genau erfasst.«
»Wir entwerfen einen Schlachtplan.«
»Von solchen Dingen sollte eine Frau nichts wissen.«
»Ich weiß es aber.« Nynke zog einen unbeschriebenen Foliobogen heran und hielt den Stift schreibbereit.
Sie steckten die Köpfe zusammen, planten, verwarfen. Notierten ihre Ideen und strichen sie wieder durch. Jan schenkte aus einer Karaffe Wein in einen Pokal, den sie sich teilten. Vor den Fenstern dämmerte der Morgen. Der Tisch war mit beschriebenen Papieren übersät, etliche zusammengeknüllte Blätter lagen auf dem Fußboden.
Jan schob schließlich drei Bögen zusammen. Sie enthielten die Quintessenz der letzten Stunden.
»Du gehörst ins Bett«, sagte er, als Nynke hinter vorgehaltener Hand gähnte.
»Seit wir in Potsdam sind, habe ich kaum etwas so sehr genossen wie das.«
»Nynke.«
»Es ist wahr.«
»Ich habe dir jedenfalls zu danken. Ohne deine klugen Gedanken wären wir nicht so weit gekommen.« Jan stand auf. Er drückte Nynke einen brüderlichen Kuss auf die Stirn. »Du musst nun wirklich zu Bett gehen. Ich will nicht, dass du vor dem Mittag aufstehst.«
»Und was ist mit dir?«
»Ich habe zu arbeiten.«
An einem frühlingshaft warmen Tag Anfang Mai 1733 waren die beiden Rammen einsatzbereit. Sie sollten die Stämme für die Gründung der Häuser in den feuchten Baugrund rammen. Außer den Männern, die mit dem Aufbau beschäftigt waren, waren alle holländischen Handwerker und einheimischen Arbeiter anwesend, um diesen großen Moment zu erleben.
Aus dem Schloss waren Nynke und sogar Anna gekommen. Sie saßen auf einer Bank, die eigens für sie herbeigeschafft worden war. Nynke ließ keinen Blick von den gewaltigen Maschinen, die urzeitlichen Ungetümen ähnelten. Dirck kam zu ihnen herüber. Auf seinem Gesicht glänzte Stolz. Er und Jan hatten abgesprochen, dass er sich vorerst um die Gründung kümmern sollte.
»Habt ihr es bequem? Das ist ein Ding, was?« Er rieb sich die nicht ganz sauberen Hände.
»Wie viele Pfähle werdet ihr heute einrammen?«, wollte Nynke sofort wissen.
»Zehn. Vielleicht werden es aber auch acht oder zwölf. Wer kann das schon sagen? Heute geht es darum, die Männer mit der Arbeit vertraut zu machen und zu sehen, wie sich alles anlässt und wie die Rammen richtig einzustellen sind. Morgen früh geht es richtig los. Das wird ein Spaß.«
Nynke lächelte über den begeisterungsfähigen neunzehnjährigen Dirck Boumann. »Und wie viele Stämme braucht ihr für das ganze Stadtviertel?«
»Tausende«, erwiderte er ernst.
»Und für das erste Haus?«, wollte sie wissen.
»Immer noch viele. Es beginnt gleich. Erschreckt nicht, wenn es einen lauten Knall gibt.«
Zwei kräftige Pferde legten sich ins Geschirr, Seile wurden gespannt. Dirck hatte eine Hand mit den Augen beschirmt und ließ sich nichts entgehen. Die Seile knirschten.
Natürlich erschraken die Frauen, als der Hammer das erste Mal auf den Stamm fiel. Anna presste ein Taschentuch vor den Mund und war blass geworden. Derweil saugte Nynke weiterhin jede Bewegung auf der Baustelle in sich auf. Mit jedem Schlag der Ramme sank der Stamm ein Stück in den Untergrund. Daneben wurde ein zweiter aufgerichtet.
»Ich will nach Hause«, quengelte Anna. »Mir zerspringt gleich der Kopf, ich halte das nicht länger aus.«
Nynke reagierte nicht. Sie war aufgestanden und hatte sich ein paar Schritte von der Bank entfernt.
»Schwester!« So leicht gab Anna nicht auf. »Ich habe gesagt, dass ich nach Hause gehen will. Soll ich mich etwa ohne Begleitung auf den Weg machen?«
Weil Nynke nicht zum Gehen zu bewegen war, brachte zuletzt Anton van Ridder Anna nach Hause. An Dircks Seite wagte Nynke sich näher an die Arbeiten heran.
»Und wenn die Stämme nicht lang genug sind und im Untergrund versinken?«, wollte sie wissen.
»Setzen wir einen zweiten drauf. Irgendwann wird es halten.« Dirck winkte auf einmal hektisch. »Gerade halten! Vorsicht!« An Nynke gewandt sagte er: »Ich muss zurück an die Arbeit.«
Sie folgte ihm. Unterdessen wurden die Pferde wieder angespannt, die Ramme erneut für den nächsten Schlag bereit gemacht. Die hämmerte den Pfahl kaum noch tiefer ins Erdreich.
»Der erste sitzt. Wir haben es geschafft.« Dirck umarmte seinen Bruder. Sie schlugen sich gegenseitig auf den Rücken.
Nynke ließ den Blick über das Gelände schweifen. Sie versuchte, sich vorzustellen, wie es mit holländischen Häusern aussehen mochte. Es gelang ihr nicht recht. Dafür entdeckte sie den Architekten Peter de Gayette. Der ließ seinen Blick genauso schweifen wie sie. Schnell drehte Nynke sich weg. Sie wollte von dem Mann nicht gesehen werden und suchte Deckung hinter einem Holzstapel.
Von dort aus konnte sie beobachten, wie der Architekt und Wolfhardt Dyballa einander ansahen. Als verständigten sie sich über die Entfernung hinweg. Nynke kam das komisch vor. Es schien zwischen ihnen ein geheimes Einverständnis zu herrschen. Für einen loyalen Vorarbeiter gehörte sich das nicht.
Ende Mai des Jahres 1733 besichtigte Friedrich Wilhelm die Baustellen beim Nauener Tor. Er begann früh am Morgen damit, sich die Fortschritte der zweiten Stadterweiterung zeigen zu lassen und quälte Peter de Gayette mit Fragen. Dabei interessierte ihn nicht ausschließlich der Baufortschritt, sondern auch, wie die Wände aufgemauert wurden, wo später in den Häusern Herde und Öfen eingebaut werden sollten, wie die Treppen verliefen. Er wollte wissen, ob die gelieferten Mauer- und Dachziegel in ausreichender Zahl und Güte vorhanden waren. Es gab buchstäblich nichts auf der Baustelle, wonach der König sich nicht erkundigte.
Jan als Kastellan des Stadtschlosses gehörte zum königlichen Gefolge und frohlockte innerlich, wenn Peter de Gayette mit seinen Erklärungen ins Straucheln kam. Jan hatte dem König einmal in der Woche einen ausführlichen Bericht geschickt, trug alle Abschriften dem Datum nach geordnet in einer Ledermappe bei sich und fühlte sich gewappnet.
Nynke sah mit anderen Neugierigen vom Rand der Baustelle aus zu. Neben ihr stand die hochschwangere Ehefrau Anton van Ridders. An jeder Hand hielt sie ein Kind, ein drittes klammerte sich an einer ihrer Rockfalten fest. Keiner wollte sich den Anblick des Königs entgehen lassen.
Anschließend ritt Friedrich Wilhelm wenige Ruten zur Baustelle für das holländische Viertel. Sein Gefolge zog er wie einen Rattenschwanz hinter sich her.
Die beiden Rammen ragten gespenstisch in den verhangenen Himmel. Die Pferde und die Männer, die sie bedienten, warteten daneben. Ihnen war gesagt worden, der König würde die Arbeitsweise der schweren Geräte sehen wollen, nun ritt er achtlos daran vorbei.
»Majestät! Vorsicht, es …«, rief Jan. Seine Worte wehte eine steife Morgenbrise davon.
Der König ritt genau dorthin, wo die Stämme für die Gründung der ersten Häuser in den Sumpf gerammt worden waren. Sie schlossen knapp unterhalb der Oberkante des Geländes ab und warteten darauf, dass die Fundamentblöcke aus Kalkstein auf sie gelegt wurden. Wenn man nicht wusste, worauf man zu achten hatte, übersah man sie leicht. Wenn seine Majestät mit dem Pferd …
»Eure Majestät, Ihr müsst vorsichtig sein, ich bitte Euch!«, rief Jan diesmal lauter.