Das Geheimnis von Darkmoor Hall - Nina Scheweling - E-Book

Das Geheimnis von Darkmoor Hall E-Book

Nina Scheweling

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Beschreibung

1. Band einer zweibändigen Abenteuerreihe Ein verschollen geglaubter Schatz, ein dunkles Familiengeheimnis und die undurchsichtige Vergangenheit eines ganzen Dorfes: Drei Freunde geraten in das Abenteuer ihres Lebens, das nicht nur knifflige Rätsel, sondern auch ungeahnte Gefahren bereithält … Düster und abweisend thront das alte Herrenhaus Darkmoor Hall auf der Klippe über dem südenglischen Meer. Kate ist neu im Dorf und ahnt nicht, dass das Geheimnis des Hauses sie bald in das allergrößte Abenteuer ihres Lebens katapultieren wird – denn ihr neuer Freund Gus hat von seinem Urgroßvater nicht nur einen antiken Kompass geerbt, sondern dazu auch ein seltsames Rätsel, das in den letzten hundert Jahren niemand zu lösen vermochte. Ob es Kate und ihren Freunden Gus und Billy gelingen wird, die rachevollen Gedichte des alten Augustus zu entschlüsseln und den vermeintlichen Schatz zu heben?

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Seitenzahl: 269

Veröffentlichungsjahr: 2024

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Nina Scheweling

Das Geheimnis von Darkmoor Hall

 

 

Mit Vignetten von Cornelia Haas

Über dieses Buch

 

 

Ein verschollen geglaubter Schatz, ein dunkles Familiengeheimnis und die undurchsichtige Vergangenheit eines ganzen Dorfes: Drei Freunde geraten in das Abenteuer ihres Lebens, das nicht nur knifflige Rätsel, sondern auch ungeahnte Gefahren bereithält …

 

Düster und abweisend thront das alte Herrenhaus Darkmoor Hall auf der Klippe über dem südenglischen Meer. Kate ist neu im Dorf und ahnt nicht, dass das Geheimnis des Hauses sie bald in das allergrößte Abenteuer ihres Lebens katapultieren wird – denn ihr neuer Freund Gus hat von seinem Urgroßvater nicht nur einen antiken Kompass geerbt, sondern dazu auch ein seltsames Rätsel, das in den letzten hundert Jahren niemand zu lösen vermochte. Ob es Kate und ihren Freunden Gus und Billy gelingen wird, die rachevollen Gedichte des alten Augustus zu entschlüsseln und den vermeintlichen Schatz zu heben?

 

 

Weitere Informationen finden Sie unter www.fischerverlage.de/kinderbuch-jugendbuch

Biografie

 

 

Nina Scheweling war während ihres Studiums der Anglistik, Germanistik und Neueren Geschichte als Literaturübersetzerin tätig. Nach ihrem Abschluss entdeckte sie ihre Liebe fürs Kinderbuch und arbeitet seitdem als freie Übersetzerin, Lektorin und Autorin in der Nähe von Freiburg.

 

Cornelia Haas machte zunächst eine Ausbildung zur Schilder- und Lichtreklameherstellerin. Danach studierte sie Grafikdesign an der FH Münster und illustriert nun mit großem Spaß und bildlichem Vergnügen Kinder- und Jugendbücher.

1Das wütende Meer

Die Wellen krachten mit einer solchen Wucht gegen die Klippen, dass die gesamte Erde zu beben schien. Gischt spritzte auf und legte sich wie kalter salziger Nebel auf ihre Haut. Kate wischte sich eine feuchte Haarsträhne aus dem Gesicht und trat näher an die zerklüftete Kante heran, unter der das Meer tobte.

Als sie vor einer halben Stunde von zu Hause losgegangen war, hatte der Himmel wie eine verstaubte Decke über der Landschaft gelegen, trist und grau und unscheinbar. Doch mit einem Mal frischte der Wind auf, und kurz darauf stoben dunkle Wolkenfetzen über sie hinweg und türmten sich über dem Meer zu finsteren Gebirgen auf. Sie wusste, dass das Wetter an der Küste schnell umschlagen konnte. Doch mit dieser dramatischen Wendung hatte sie nicht gerechnet.

Sie sah über den Rand der Klippe in die Tiefe.Zwischen spitzen Gesteinsbrocken gurgelte und schäumte das Wasser. Eine gewaltige Welle rollte heran und donnerte gegen den Felsen. Rasch wich sie zurück, doch es war zu spät. Eine Fontäne aus Wasser, Schaum und Salz schoss an der Klippe empor und verpasste ihr eine eiskalte Dusche. Wasser tropfte von ihren Haaren und lief in den Kragen ihrer Jacke, und ihre Turnschuhe waren innerhalb weniger Sekunden durchnässt.

Kate fluchte leise. Als wäre ihre Stimmung nicht schon mies genug. Doch selbst wenn sie in ein paar Minuten bis auf die Knochen nass sein sollte: Nichts würde sie dazu bringen, zurück nach Hause zu gehen.

Nach Hause. Pah. Sie bezweifelte, dass sie Darkmoor-on-Sea, dieses kleine, abgeschiedene Kaff an der Küste Cornwalls, jemals als ihr Zuhause bezeichnen würde. Sie waren vor zwei Wochen aus der Stadt hierhergezogen, in ein Haus in der Dorfmitte, das angeblich 450 Jahre alt war. Sie hasste den Geruch nach muffigem Salz, der sich in jede Ritze des Hauses gesetzt hatte. Sie hasste die aus grobem Stein gehauenen Wände, aus denen der Mörtel bröckelte. Sie hasste die trostlose Landschaft vor den Fenstern, die nur aus Heide, Moor und Klippen zu bestehen schien. Und sie hasste das Schweigen, das zusammen mit ihnen in das Haus gezogen war.

Dabei war das Schweigen doch der Grund für ihren Umzug gewesen. Ihre Eltern hatten gehofft, sich mit der Eröffnung eines Cafés nicht nur einen lang gehegten Traum zu erfüllen, sondern auch ihre Ehe zu retten. Aber der Plan war gründlich schiefgegangen. Das Schweigen war mitgekommen, hatte es sich gemütlich gemacht in den kleinen dunklen Zimmern über dem Café, und Kate hatte die dumpfe Vermutung, dass es auch so bald nicht wieder ausziehen würde.

Sie ließ ihren Blick über die Heidelandschaft schweifen, die sich oberhalb der Klippen erstreckte, und entdeckte einen schmalen Pfad, der direkt in die Felswand gehauen zu sein schien und zum Strand hinunterführte. Die Bucht endete in einiger Entfernung an steilen Felsen, die sich bis hinaus aufs Meer erstreckten. An der Spitze der Landzunge thronte ein herrschaftliches Haus. Es wirkte abweisend und düster, und Kate fragte sich, wer sein Haus ausgerechnet an so einen unwirtlichen Ort baute. Es war das Erste, was ihr in diesem abgeschiedenen Dorf halbwegs interessant vorkam, und sie beschloss, es sich aus der Nähe anzusehen.

Missmutig schlitterte sie den unebenen Pfad zu dem menschenleeren Strand hinunter. Der Sand war nass und schwer, und ihre Schuhe hinterließen tiefe Abdrücke, in denen sich sofort Wasser sammelte. Einige Vögel suchten auf den schlickverkrusteten Felsen nach Essbarem. Sonst war niemand zu sehen.

Eine heftige Böe schlug ihr ins Gesicht und zerrte weitere Strähnen aus ihrem Zopf. Doch Kate achtete nicht darauf. Ihr Blick fiel auf etwas Weißes, das durch die Luft wirbelte. Es wurde in einem nervösen Auf und Ab über den Strand geweht, bis der Wind eine kurze Verschnaufpause einlegte und es genau vor ihren Füßen in den Sand warf.

Kate bückte sich und hob es auf. Es war ein Blatt Papier mit Bleistiftzeichnungen, die nach einer Mischung aus alter Taschenuhr und Kompass anmuteten. Das Blatt konnte noch nicht lange hier unten am Strand sein, denn es war sauber und trocken. Kate sah hinauf zu den Felsen, aus deren Richtung es gekommen war. In diesem Moment flatterte erneut ein Papier in die Luft und wurde vom Wind davongewirbelt.

Abschätzend nahm sie die zerklüfteten Klippen in Augenschein. Die rauen, mit Seepocken überzogenen Felsen waren von tiefen Rissen und Spalten durchzogen, und an einigen Stellen lagen große Felsbrocken so über- und ineinander verschachtelt, dass sie ihr genug Halt bieten würden. Kurz entschlossen machte sie sich an den Aufstieg. Die Kerben und Vorsprünge fügten sich erstaunlich gut zusammen, sodass sie bald wie auf einer Treppe nach oben stieg.

Nach etwa fünf Metern erreichte sie unversehens ein kleines hinter Felsen verborgenes Plateau, von dem aus man den gesamten Strand überblicken konnte, ohne selbst gesehen zu werden. Es war das perfekte Versteck, und wie es schien, hatte es bereits jemand vor ihr entdeckt. Neben einem Felsbrocken lag eine Mappe aus dickem blassblauem Karton, aus der einige lose Seiten herausragten. Jeder Windstoß hob den Deckel von Neuem ein wenig, bis sich schließlich ein weiteres Blatt löste und in die Luft gewirbelt wurde. Kate sprang hoch und bekam es gerade noch rechtzeitig zu fassen, bevor es hinunter zum Strand flatterte. Auch darauf war eine Zeichnung des alten Kompasses zu sehen. Sie bückte sich nach der Mappe und schlug sie vorsichtig auf, um nicht noch ein Blatt an den Wind zu verlieren. Die Skizzen waren atemberaubend gut. Eine zeigte den Leuchtturm auf der kleinen Insel vor der Bucht, eine andere das Herrenhaus auf den Klippen, wieder eine andere eine Möwe, die beinahe nachdenklich aufs Meer hinausschaute, während der Wind ihre Federn zerzauste. Auf den meisten Zeichnungen war jedoch der Kompass zu sehen, und er wirkte jedes Mal so realistisch, dass Kate das Gefühl hatte, ihn vom Blatt nehmen zu können. Auf seinem Deckel war das Gesicht eines Mannes abgebildet, der die Backen aufgebläht hatte, als wolle er mit aller Kraft etwas wegpusten. Und immer wieder war auch eine Art Gedicht daneben geschrieben worden. Doch Kate hatte keine Zeit, sich näher damit zu befassen.

Erste, schwere Tropfen klatschten um sie herum auf die Felsen. Kate sah zum Himmel und erschrak beim Anblick der schwarzen Wolken, die sich über ihr zusammengeballt hatten. Ein unheilvolles Grollen rollte vom offenen Meer auf die Küste zu und kündigte ein handfestes Unwetter an. Rasch klappte sie die Mappe zu, bevor der Regen die Zeichnungen beschädigte. Erst jetzt bemerkte sie den Namen, der auf dem Karton stand: Gustav Grenville. Er sagte ihr nichts. Aber wie auch – schließlich wohnte sie erst seit ein paar Tagen hier.

Kate schob die Mappe unter ihre Jacke und wollte wieder zum Strand hinunterklettern, als sie über sich plötzlich ein Geräusch hörte.

Ein Junge erschien auf der Klippe und rannte am Abgrund entlang, als wäre der Teufel hinter ihm her. Immer wieder sah er sich gehetzt um, dann sprang er auf einmal in die Tiefe, landete auf einem Felsvorsprung, kletterte flink ein Stück an der zerklüfteten Felswand entlang und duckte sich schließlich in eine kleine, höhlenartige Einbuchtung. Ein erleichtertes Grinsen breitete sich auf seinem Gesicht aus, doch nicht für lange. Als er Kate entdeckte, die verwundert zu ihm hinaufblickte, weiteten sich seine Augen vor Schreck, und er legte flehend den Zeigefinger auf die Lippen.

«Oi!» Noch bevor Kate begriffen hatte, was überhaupt vor sich ging, schallte eine Stimme zu ihr herab. Überrascht stellte sie fest, dass drei weitere Jungen am Rand der Klippe aufgetaucht waren. Wo kamen die denn plötzlich alle her? Vor einer Minute hätte man diesen Strand noch für den einsamsten Ort der Welt halten können, und jetzt ging es hier zu wie in einem Taubenschlag.

Kate schätzte die Jungs auf dreizehn oder vierzehn, also etwa zwei Jahre älter als sie selbst. Der linke war schlaksig, verpickelt und hatte orangefarbene Haare. Der rechte war rund wie eine Tonne, mit einem Gesicht, das Kate entfernt an einen Klumpen Hefeteig erinnerte. Der mittlere hingegen war vollkommen unscheinbar, weswegen er sich vermutlich für die gelb-rot karierte Öljacke entschieden hatte, um wenigstens ein bisschen aufzufallen. Genau dieser Junge winkte nun herrisch zu ihr herunter und rief erneut: «Oi! Du da! Hast du Billy gesehen?»

Als Kate nicht sofort reagierte, fügte der Schlaksige ungeduldig hinzu: «Schmächtiger Typ, olle Klamotten, dämliches Grinsen – was ihm allerdings bald vergehen wird.»

Alle drei lachten hämisch.

«Wir haben ihn bei den Klippen aus den Augen verloren», sagte wieder der Unscheinbare. «Entweder hat sich der Feigling unter ’nen Ginsterbusch gequetscht, oder er ist hier zum Strand runter.»

Kate ließ den Blick unauffällig von den Jungs zwei Meter nach unten wandern. Wie es der Zufall wollte, befand sich die Nische, in die sich Billy – denn um ihn handelte es sich zweifellos – geflüchtet hatte, genau unterhalb von ihnen. Der Junge warf ihr einen flehenden Blick zu und schüttelte stumm den Kopf. Kate hatte zwar keine Ahnung, was hier vor sich ging, aber sie beschloss spontan, ihm zu helfen.

«Er ist dahin gelaufen», rief sie und deutete den Strand entlang in die Richtung, aus der sie gekommen war.

«Er will bestimmt zu den Fischerhütten», sagte der Schlaksige. «Denkt wohl, dass er sich dort verstecken kann.»

Der Unscheinbare musterte Kate misstrauisch. «Uns hält man nicht ungestraft zum Narren», knurrte er, und sie beschlich das dumpfe Gefühl, dass er damit nicht nur Billy, sondern auch sie meinte.

«Los, bevor er uns entwischt!» Hefegesicht und der Schlaksige sprinteten los. Doch der Unscheinbare folgte ihnen nicht, sondern sah immer noch nachdenklich zu Kate hinunter. Erst als einer seiner Freunde «Mach schon, Dan» rief, wandte er sich ohne ein weiteres Wort um und folgte ihnen.

2Das Haus auf den Klippen

Stirnrunzelnd sah Kate den Jungs nach, die bald darauf hinter dem Rand der Klippen verschwunden waren. Sie hatte noch niemanden in Darkmoor kennengelernt, aber wenn hier alle so tickten wie die drei, konnte sie auch gut darauf verzichten.

In der Ferne rumpelte und grollte es erneut. Kate stellte erschrocken fest, wie dunkel es geworden war. Unheil verkündende Wolkenberge ballten sich am Himmel über ihr zusammen und tauchten den Strand in ein konturloses Halbdunkel. Wieder ertönte ein Grollen, näher diesmal, und einige Sekunden später blitzte es grellweiß auf.

Sie sah hinaus auf das tintenschwarze Meer, das von Wind und Wellen unbarmherzig hin und her gezerrt wurde. Eine dichte Regenwand schob sich auf den Strand zu und wühlte die Wasseroberfläche zusätzlich auf. Das wäre dann die zweite kalte Dusche an diesem Tag. Nein danke!

Kurz entschlossen wandte Kate sich um und begann, die Felsen hinauf zu der Nische zu klettern, die ihr wenigstens ein bisschen Schutz vor dem Unwetter bieten würde. Die Felswand wurde immer steiler, doch als sie nirgendwo mehr Halt fand, streckte sich ihr eine Hand entgegen und zog sie auf den Sims hinauf. Und das buchstäblich in letzter Sekunde. Kaum war sie oben, erreichte das Unwetter den Strand. Schlagartig setzten Regenmassen das Land unter Wasser, und der Felsvorsprung bot gerade genug Schutz, um halbwegs trocken zu bleiben.

«Hi», sagte der Junge. «Ich bin Billy.»

«Hi. Ich bin Kate», erwiderte sie lächelnd und musterte den Jungen.

Der Unscheinbare hatte ihn ziemlich treffend beschrieben: Obwohl er etwa in Kates Alter sein musste, war er deutlich kleiner als sie, hatte streichholzdünne Arme und Beine und trug verwaschene Klamotten, die schon bessere Tage gesehen hatten. Er hatte leicht abstehende Ohren, sein Gesicht war von Sommersprossen übersät, und grinsen tat er ebenfalls – auch wenn es nicht dämlich wirkte, sondern eher verlegen.

«Danke, dass du mich nicht verraten hast», sagte er. «Das wäre übel ausgegangen.»

«Gern geschehen.» Kate setzte sich neben Billy, schlang die Arme um die Knie und betrachtete das Spektakel, das sich in der Bucht abspielte. Der Regen trommelte so unbarmherzig nieder, als wolle er die gesamte Küste wegspülen. Man konnte kaum einen Meter weit sehen, und hinter dem verschwommenen, grauen Vorhang zuckten immer wieder grelle Blitze über den Himmel. «Was wollten die von dir?», fragte sie über das Prasseln des Regens hinweg.

Billy zuckte mit den Schultern. «Das Übliche. Mir auf die Nerven gehen.»

Kate sah ihn neugierig an, doch anstatt näher darauf einzugehen, fragte er: «Machst du Urlaub in Darkmoor?»

«Schön wär’s.» Kate schnaubte. «Dann wäre ich wenigstens bald wieder hier weg. Wir sind vor zwei Wochen hergezogen. Meine Eltern haben das Café in der Sea Street übernommen.»

«Das von der alten Molly? Cool. Hoffentlich hat sie euch auch das Rezept für die Zitronenmuffins vermacht. Die sind nämlich unschlagbar.»

Ein lautes Donnern unterbrach sie, und sie sahen hinaus aufs Meer. Die Regenschleier hatten sich etwas gelichtet und gaben den Blick auf die wütenden Wassermassen frei, die an den Strand brandeten und gegen die Felsen der Bucht schlugen. Der Wind hatte sich in einen ausgewachsenen Sturm verwandelt, der sämtliche Farben aus der Landschaft zu wischen schien. Vor ihrer kleinen Höhle versank die Welt in einem Strudel aus Wind und Wasser, untermalt von ohrenbetäubendem Grollen, Prasseln und Rauschen.

Kate hatte solch ein Unwetter noch nie erlebt. Wie zur Bestätigung durchschnitt in diesem Moment ein greller, weitverzweigter Blitz den Himmel hinter der Landzunge und ließ die Silhouette des Herrenhauses schwarz und unheilvoll hervortreten.

Sie deutete auf das Haus. «Wer wohnt da oben?»

«In Darkmoor Hall?», fragte Billy abfällig. «Ethelda Grenville. Oh, Pardon, ich meine natürlich Lady Ethelda Grenville. Wenn sie noch lebt. Im Dorf wurde sie schon seit Jahren nicht mehr gesehen.»

«Man könnte sie ja mal besuchen.»

Billy winkte ab. «Bei allen Pixies! Bloß nicht.»

«Pixies?», hakte Kate nach. «Was ist das denn?»

«Du weißt nicht, was Pixies sind?», fragte Billy überrascht. «Die kleinen Kobolde mit den spitzen Hüten, die einem Streiche spielen und Sachen klauen und so?»

«Nie gehört», erwiderte Kate grinsend. «Scheinen ja nicht sonderlich nett zu sein.»

Billy zuckte mit den Schultern. «Wenn man ihnen Geschenke macht, können sie auch ziemlich nützlich sein.»

Kates Grinsen wurde breiter. «Aha. Und warum findest du den Gedanken so schrecklich, diese Lady Grenville zu besuchen?»

«Erstens, weil sie eine miesepetrige, herrische alte Schachtel ist. Und zweitens, weil ein Fluch auf Darkmoor Hall liegt.»

«Ein Fluch?» Kate lachte auf. «Das ist nicht dein Ernst. Was passiert denn, wenn man das Haus betritt? Fällt man tot um?»

«Mach dich nicht darüber lustig! Mit Flüchen ist nicht zu spaßen.»

«Erst Kobolde, jetzt Flüche. Sag bloß, du glaubst auch an Geister und so einen Quatsch?»

«Geister sind kein Quatsch! Nur weil man manche Dinge nicht erklären kann, heißt das nicht, dass es sie nicht gibt.»

«Geister?», hakte Kate amüsiert nach. «Okay, jetzt bin ich neugierig. Was ist das für ein Fluch?»

Billy sah in das Unwetter hinaus und seufzte. «Also gut. Ich erzähl’s dir. Aber nur, wenn du nicht lachst.»

«Versprochen.»

«Die Grenvilles waren schon immer ziemlich sonderbar, musst du wissen», begann er. «Sie halten sich für was Besseres und bleiben meist unter sich. Selbst die Leute aus dem Dorf gehen ihnen aus dem Weg.» Billy rutschte hin und her, bis er eine bequemere Position gefunden hatte, und schlang die Arme um die Knie. «Das Ganze ist irgendwann vor ein paar Hundert Jahren passiert. An einem stürmischen Abend tauchte ein Fremder in Darkmoor Hall auf. Er war halb erfroren und fragte nach einer Unterkunft für die Nacht. Der Butler wies ihn ab. Man sei keine Herberge für Bettler und Herumtreiber, sagte er und knallte ihm die Tür vor der Nase zu. Doch der Fremde war zu schwach, um weiterzugehen – er brach auf den Stufen vor Darkmoor Hall zusammen. Ein Dienstmädchen fand ihn dort, hatte Mitleid mit ihm und ließ ihn ins Haus, damit er sich aufwärmen und etwas essen konnte. Doch sie wurden von Lord Grenville überrascht. Als er den Fremden sah, warf er ihn kurzerhand ins Verlies – wo er kläglich verhungerte.»

Ein Donner hallte über das Meer, als wollte er Billys Geschichte untermalen.

«Darkmoor Hall hat ein Verlies?», fragte Kate ungläubig.

«Man munkelt, dass es im Felsen unter dem Herrenhaus ein ganzes Labyrinth aus Katakomben gibt, mit Verlies und Folterkammer und wer weiß was noch», erwiderte Billy.

«Und was hat das jetzt mit dem angeblichen Geist zu tun?»

«Der Fremde wurde nie begraben. Sein Skelett liegt immer noch in einem der Kerker. Und wenn Tote kein ordentliches Begräbnis bekommen, finden ihre Seelen keinen Frieden. Sie sind für immer in unserer Welt gefangen und spuken als Geister durch die Gegend. Du kannst dir sicher vorstellen, dass der Geist des Fremden nicht gut auf die Grenvilles zu sprechen ist. Jedenfalls ging es seitdem mit der Familie stetig bergab. Es sind immer wieder Familienmitglieder auf ungeklärte Weise zu Tode gekommen. Einige Alte aus dem Dorf schwören Stein und Bein, dass der Fremde die Grenvilles kurz vor seinem Tod mit einem Fluch belegt hat.»

Kate schüttelte belustigt den Kopf. «So ein Blödsinn. Es gibt weder Flüche noch Geister.»

«Pah», machte Billy beleidigt. «Du hast ja keine Ahnung.»

Plötzlich fiel Kate etwas ein. Grenville … der Name war ihr heute doch schon mal begegnet. Sie zog die Mappe unter ihrer Jacke hervor und las noch einmal den Namen, der darauf geschrieben stand.

«Gustav Grenville. Ist das ein Verwandter von Ethelda Grenville?»

«Das muss ihr Neffe sein», sagte Billy. «Es gibt sonst keine Grenvilles mehr in Darkmoor. Oder woanders. Die Familie ist praktisch ausgestorben.» Billy sah sie vielsagend an.

«Ja, ja.» Kate winkte ab. «Der Fluch, schon klar. Was weißt du über diesen Gustav?»

Billy zuckte mit den Schultern. «Nicht viel. Er ist ungefähr so alt wie wir. Seine Eltern sind bei einem Unfall gestorben, und es stellte sich heraus, dass Lady Grenville seine einzige lebende Verwandte ist. Also ist er vor einem halben Jahr zu ihr gezogen. Aber er ist ein ziemlich seltsamer Vogel. Er geht auf eine Privatschule in Barton Cove und hat noch mit niemandem im Dorf ein Wort gesprochen. Die meiste Zeit verkriecht er sich in dem alten Kasten, genau wie seine Tante. Und wenn er doch mal draußen unterwegs ist, dann hier unten am Strand, wo er stundenlang aufs Meer rausstarrt.» Billy deutete auf die Mappe. «Wo hast du die her?»

«Sie lag unten bei den Felsen. Wahrscheinlich hat er sie hier vergessen.» Sie klappte die Mappe auf.

Staunend betrachtete Billy die Skizzen. «Wow. Die sind ja richtig gut.» Er blätterte durch die Seiten und deutete schließlich auf das Gedicht, das auch Kate schon aufgefallen war. «Was ist das?»

«Weiß nicht. Ich hatte vorhin keine Zeit, es mir genauer anzusehen.» Sie nahm Billy die Seite aus der Hand und las die Zeilen laut vor:

Am Morgen das Leuchten, am Mittag der Schlot,

Am Abend das Läuten, um Mittnacht der Tod.

Wo sie sich begegnen im Schriftenrund,

Befreiet die Winde aus Dämons Schlund.

«Aha», machte Billy. «Und was bedeutet das?»

«Keine Ahnung. Klingt wie ein Rätsel.»

«In Dämons Schlund … Ob Gustav sich das selbst ausgedacht hat?»

«Fragen wir ihn doch.»

«Nein danke. Zu der alten Grenville kriegen mich keine zehn Pferde.»

«Okay», erwiderte Kate und klappte die Mappe wieder zu. «Dann geh ich eben allein.»

Billy zuckte mit den Schultern. «Tu, was du nicht lassen kannst.»

 

Kurz darauf hörte es auf zu regnen. Das Gewitter zog weiter, der Sturm beruhigte sich und mit ihm das Meer, das jetzt die bleigraue Farbe des Himmels angenommen hatte. Kate und Billy kletterten aus der Nische heraus und schlitterten die nassen Felsen hinab zum Strand. Unten angekommen, warf Billy einen Blick auf seine Armbanduhr, deren Glas derart zerkratzt war, dass man kaum noch die Uhrzeit lesen konnte. «Mist, schon so spät», fluchte er. «Das gibt Ärger. War nett, dich kennenzulernen.»

Bevor Kate irgendetwas erwidern konnte, lief er los. «Danke noch mal für deine Hilfe», rief er über die Schulter zurück. «Und halt dich von Darkmoor Hall fern. Mit Geistern ist nicht zu spaßen. Und mit Lady Grenville schon gar nicht.»

Kate winkte ihm zum Abschied zu und beobachtete, wie er wieselflink den schmalen Pfad hinaufflitzte und bald darauf hinter den Klippen verschwunden war. Dann lächelte sie grimmig. Ein verfluchtes Herrenhaus, ein seltsamer Junge, ein rätselhaftes Gedicht – das klang, als hätte Darkmoor-on-Sea doch mehr zu bieten, als sie gedacht hatte. Sie tastete nach der Zeichenmappe, die wieder unter ihrer Jacke steckte. Darkmoor Hall schrie geradezu danach, von ihr erkundet zu werden. Und wie es der Zufall wollte, hatte sie den perfekten Vorwand, dieses Vorhaben in die Tat umzusetzen.

3Darkmoor Hall

Schweigend räumte ihre Mutter das Geschirr in die Spülmaschine und versuchte dabei so gut wie möglich, ihrem Vater aus dem Weg zu gehen, der gerade die Müslipackungen zurück in den Schrank stellte. Kurz darauf ging ihr Vater ohne ein Wort nach unten in die Küche des Cafés, um die Torten und Kuchen für den heutigen Tag zu backen. Ihre Mutter wischte noch eine Zeit lang mit starrem Blick auf der Arbeitsfläche herum, bevor sie Kate und Ben einen Kuss gab und ihrem Mann folgte, um das Café für die Gäste vorzubereiten.

Als Kate ihr nachsah, lief ihr ein kalter Schauer über den Rücken. Eiszeit. Das schien das einzige Wort zu sein, das den Zustand bei ihnen zu Hause treffend beschrieb. Ihre Eltern schafften es, mit ihrem Schweigen eine solche Kälte zu erzeugen, dass es Kate lieber gewesen wäre, sie hätten sich wieder angeschrien. So wie früher, als sie über alles Mögliche gestritten hatten. Doch jetzt taten sie nicht mal mehr das, als hätten sie sämtliche Worte verloren, die man einander sagen konnte. Und Kate hatte das dumpfe Gefühl, dass sie auch gar nicht vorhatten, die Worte wiederzufinden.

Da das Café von 9 bis 18 Uhr geöffnet hatte, waren Kate und ihr jüngerer Bruder Ben in den Ferien die meiste Zeit auf sich allein gestellt. Ben verkroch sich nach dem Frühstück wie immer in seinem Zimmer und bastelte dort an Modellen von Planetensystemen und Weltraumraketen. Er war besessen von allem Außerirdischen, und manchmal glaubte Kate, dass er sich in den dunklen Weiten des Alls mehr zu Hause fühlte als auf der Erde.

Sie selbst hielt es keine Sekunde länger in der muffigen Wohnung aus. Also schnappte sie sich ihre Regenjacke und die Mappe mit den Zeichnungen und flüchtete nach draußen. Ihre Eltern waren es gewohnt, dass sie stundenlang allein umherstreifte, und hatten zum Glück nichts dagegen.

Sie trat auf die Sea Street hinaus und ging Richtung Marktplatz, vorbei an den aus grauem Stein gemauerten Häusern und Cottages, die das Bild von Darkmoor-on-Sea prägten. Im Gegensatz zu vielen anderen Dörfern entlang der Küste, die zumindest im Sommer einige Touristen anlockten, schien Darkmoor von der Welt vergessen worden zu sein. Es gab kaum Pensionen, in denen Gäste übernachten konnten, und nur einen einzigen Pub. Baden am Strand – sofern man einen Tag erwischte, der zumindest entfernt mit Badewetter aufwartete – war wegen der Felsen und Unterströmungen unmöglich, und auch sonst hatte das Dorf keinerlei Sehenswürdigkeiten zu bieten. Ein Wunder, dass es überhaupt auf einer Karte verzeichnet war. Und ein Mysterium, wie Kates Eltern hier ein Café betreiben wollten.

Der Marktplatz wurde fast vollständig von einer Kirche eingenommen, die Kate für solch ein kleines Dorf wie Darkmoor übertrieben groß vorkam. Der aufwendig gestaltete Kirchturm ragte hoch hinauf in den Himmel und glich eher einer Kathedrale denn einer Dorfkirche. Überhaupt wirkte das gesamte Gebäude wie nachträglich auf den Platz gequetscht – an manchen Stellen blieb zwischen Kirchenmauer und angrenzenden Häuserwänden nur ein knapper Meter Abstand. Kate hatte das Gerücht gehört, dass nachts Musik aus dem Kirchenschiff drang. Offenbar litt der Pfarrer an Schlafstörungen, die er sich mit dem nächtlichen Spielen düsterer Choräle versüßte. Kate schüttelte den Kopf. Ein langweiliges Dorf voller Spinner. Wo war sie hier nur hingeraten? Sie drückte sich durch einen besonders schmalen Durchgang links des riesigen Gebäudes und bog in die Tilly Road ein.

Das Wetter hatte sich im Gegensatz zum Vortag sichtlich beruhigt. Der sanfte Wind trug den Geschmack nach Salz und das Geschrei der Möwen mit sich, und es war so kühl, dass Kate den Reißverschluss ihrer Jacke bis obenhin zuzog. Und das in den Sommerferien, dachte sie verdrossen. Ein weiterer Grund, Darkmoor zum Teufel zu wünschen.

Nur wenige Minuten später hatte Kate die letzten Häuser hinter sich gelassen. Vor ihr erstreckten sich die Klippen und dahinter das blaugraue Meer. Kate folgte der Straße, die nun durch karge Heidelandschaft und ausgedehnte Schafweiden in Richtung Meer führte und schließlich in eine schmale Landstraße mündete.

Nachdem sie der Straße etwa fünf Minuten lang gefolgt war, erreichte sie die Landzunge, die von hier aussah wie der Finger einer alten Hexe, der knochig und krumm ins Meer stach. Eine Einfahrt, die von einem großen schmiedeeisernen Tor versperrt wurde, führte zum Herrenhaus hinauf. Links und rechts der Torpfosten verlief eine hohe Mauer bis zu den Klippen.

Kate suchte nach einer Klingel oder Ähnlichem, womit sie sich bemerkbar machen konnte. Doch sie fand nichts, weder am Tor selbst noch in der Mauer daneben. Schließlich rüttelte sie ein wenig an den Stäben des rechten Torflügels. Zu ihrer Überraschung gab er nach und schwang mit einem leisen Quietschen auf. Kurz entschlossen trat Kate hindurch.

Ein Weg führte in sanften Windungen die schmale Landzunge hinauf. Insgeheim befürchtete sie, dass jeden Moment ein geifernder Wachhund auf sie zugeschossen kam, wild entschlossen, sie in Stücke zu zerreißen. Doch nichts dergleichen geschah. Sie begegnete keiner Menschenseele, und es wirkte fast so, als wäre schon seit langer Zeit niemand mehr den Weg nach Darkmoor Hall hinaufgegangen.

Schließlich erreichte sie einen kiesbedeckten Vorplatz mit einem fleckigen, wasserlosen Brunnen. In der Mitte des Brunnens befand sich die Skulptur eines gebückten bärtigen Mannes, der einen Sack über der Schulter trug. Was für eine merkwürdige Statue für einen Brunnen, dachte Kate, doch der Gedanke verflog so schnell, wie er gekommen war, denn ihr Blick wurde wie magisch von dem Gebäude angezogen, das hinter dem Brunnen in den Himmel ragte. Das Herrenhaus bestand aus einem Haupttrakt und zwei symmetrisch angeordneten Seitentrakten. Die schmutzig graue Fassade war schmucklos, die Fenster glichen winzigen Schießscharten, und auf dem Dach stachen unzählige spitze kleine Schornsteine in den Himmel. Je näher Kate dem Gebäude kam, desto mehr Einzelheiten fielen ihr auf. An den Dachrinnen und auf abbröckelnden Mauervorsprüngen wimmelte es vor steinernen Statuen mit zu schaurigen Fratzen verzogenen Mündern. Die Fenster des linken Traktes waren verstaubt und blind. Das Haus musste früher eine imposante Erscheinung gewesen sein und Reichtum und Macht ausgestrahlt haben. Jetzt wirkte es nur noch kalt, abweisend und verlassen.

Sie ging die breiten, ausgetretenen Stufen zum Eingang hinauf. In der Mitte der mächtigen Eichentür befand sich ein Türklopfer aus Messing, der vom Maul einer Teufelsfratze gehalten wurde. Kate zog an dem bleischweren Ring und ließ ihn zurück auf das Holz krachen. Der dumpfe Schlag schien bis in die hintersten Winkel des Hauses zu hallen. Sie wiederholte den Vorgang noch zweimal, dann wartete sie.

Vom Fuß der Klippen drang das leise Rauschen des Meeres zu ihr herauf, und irgendwo krächzte ein Rabe. Ansonsten war es beinahe gespenstisch still. Kate wollte gerade erneut zum Türklopfer greifen, als schlurfende Schritte von innen zu hören waren. Ein Riegel wurde aufgeschoben, und kurz darauf öffnete sich die Tür. Ein Mann in schwarzer Livree erschien in dem dunklen Spalt. Er hatte graue, leblos wirkende Augen, schütteres Haar und ein zerknittertes Gesicht, das Kate an zerknülltes Papier erinnerte.

«Ja?», brummte er und musterte sie finster.

«Hi», erwiderte Kate und holte die Zeichenmappe unter ihrer Jacke hervor. «Ich habe am Strand diese Mappe gefunden. Darauf steht der Name Gustav Grenville. Ich habe gehört, dass er hier wohnt, und möchte sie ihm gerne zurückgeben.»

«Hm», brummte der Mann, zweifelsohne der Butler von Darkmoor Hall, und streckte auffordernd die Hand aus. «Danke.»

Kate zögerte. Wenn sie ihm die Mappe gab, verspielte sie womöglich ihre einzige Chance, sich das riesige Haus von innen anzusehen. Und das interessierte sie mindestens ebenso sehr wie das Äußere. «Ich möchte Gustav die Zeichnungen persönlich geben», erwiderte sie daher.

Der Butler runzelte missbilligend die Stirn. «Wir empfangen keine unangemeldeten Gäste. Ich werde dem Jungen die Mappe aushändigen.» Er kam einen Schritt auf sie zu und streckte erneut auffordernd die Hand aus.

Kate drückte die Mappe gegen die Brust und reckte trotzig das Kinn. So leicht würde sie sich nicht geschlagen geben. «Dann melden sie mich doch einfach an. Ich warte hier so lange.»

«So funktioniert das nicht, junge Dame. Gib mir die Mappe und dann verschwinde von hier.»

«Nein.»

Die Falten auf der Stirn des Butlers vertieften sich. «Wie bitte?»

«Nein. Ich gehe nicht, bevor Sie Gustav gesagt haben, dass ich hier bin.»

«Der junge Herr wünscht keinen Besuch.»

«Woher wollen Sie das wissen, wenn Sie ihn nicht fragen?»

«Ich verbitte mir diesen Ton.» Der Butler starrte sie empört an. Kate starrte stur zurück.

Der Butler schien einzusehen, dass er sie am schnellsten loswurde, wenn er sie kurz ins Haus ließ. Also trat er widerstrebend einen Schritt zurück und gab den Eingang frei. Kate versuchte, nicht allzu triumphierend zu grinsen, während sie an ihm vorbei ins Haus trat. Mit einem dumpfen Knall fiel die Eichentür hinter ihr ins Schloss und ließ alles um sie herum in düsterem Zwielicht versinken. Der Butler grummelte irgendetwas Unverständliches, dann sagte er: «Warte hier», und schlurfte davon.

Sie hatte es geschafft. Sie war in Darkmoor Hall. Und tatsächlich übertraf das Herrenhaus noch ihre kühnsten Erwartungen.

4Ein seltsamer Junge

Sie stand in einer riesigen Eingangshalle mit ausgetretenem Parkettboden und dunklen holzgetäfelten Wänden. Rechts von Kate führte eine breite, geschwungene Treppe zu einer Galerie hinauf. Das einzige Licht in der Halle fiel durch schmale Fenster oberhalb der Eingangstür, doch die blassgrauen Streifen versiegten auf halber Strecke, als schafften sie es nicht, durch den Staub und Muff bis zum Boden zu dringen. Die Halle war leer, abgesehen von einem riesigen Ölgemälde an der linken Wand. Es zeigte einen Mann mit nacktem Oberkörper und wild ins Gesicht hängenden Haaren, der eine monströse Seeschlange mit bloßen Händen erwürgte. In seinen weit aufgerissenen Augen spiegelten sich Triumph und Irrsinn. Kate schauderte.

Ein leises Rascheln ließ sie aufblicken. Auf der Galerie in den Schatten eines Pfeilers stand ein Junge, der zu ihr herunterblickte. Als er bemerkte, dass sie ihn entdeckt hatte, wich er ein Stück zurück, beobachtete sie aber weiter.

«Hey», rief sie zu ihm hinauf. Ihre Stimme hallte so laut in dem riesigen Raum wider, dass sie kurz zusammenzuckte. «Bist du Gustav?»

Der Junge zögerte, dann nickte er vorsichtig.

Kate hielt die Zeichenmappe hoch. «Ist das deine?»

Gustav starrte auf die Mappe. «Wo hast du die her?» Er sprach so leise, dass Kate ihn kaum verstand.

«Ich hab sie gestern unten am Strand gefunden und wollte sie dir zurückbringen.»

Gustav schien eine Weile mit sich zu ringen, doch dann trat er aus dem Schatten des Pfeilers und kam langsam die Treppe herunter. Kate musterte ihn. Er war etwa so alt wie sie, hatte kurze, dunkle Haare und ein blasses Gesicht. Als er mit gesenktem Blick vor ihr stehen blieb, hatte Kate den Eindruck, dass er sich am liebsten unsichtbar gemacht hätte.

«Ich bin Kate», sagte sie und reichte ihm die Mappe. «Hier.»

Gustav nahm sie entgegen und murmelte ein «Danke», ohne sie dabei anzusehen. Dann trat er unschlüssig von einem Bein aufs andere und schwieg. Im Grunde hatte Kate erledigt, wozu sie hergekommen war. Aber sie wollte noch nicht gehen. Also deutete sie auf die Mappe und sagte: «Ich hab mal reingesehen. Du kannst super zeichnen.»

«Danke», murmelte Gustav erneut.