Das Geheimnis von Silverton Hall - Anett Diell - E-Book

Das Geheimnis von Silverton Hall E-Book

Anett Diell

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Beschreibung

GÜNSTIGER EINFÜHRUNGSPREIS NUR FÜR KURZE ZEIT! Eine unbekannte Frau, ein unergründliches Anwesen, eine unsterbliche Liebe: Familiengeheimnis-Roman für die Fans von Lucinda Riley und Katherine Webb  »Ein Foto ist nicht nur ein Foto, es ist eine Tür in eine andere Welt.«  Die junge Kunstfotografin Elaine Little hat ein Auge für ausdrucksstarke Motive. In der englischen Grafschaft Devon weckt das Landhaus einer uralten Adelsfamilie ihre Aufmerksamkeit: Silverton Hall. Begeistert von seiner Anmut gelingt es ihr, den Besitzer Lord Henry Asbury davon zu überzeugen, seine Bildergalerie fotografisch festzuhalten. Schon bald bemerkt sie, dass Silverton Hall eine Menge Geheimnisse zu haben scheint: Wer ist die unbekannte Frau, die auf vielen Gemälden zu sehen ist? Was verbirgt sich in der Gartenanlage? Und weshalb zieht es den Lord häufiger in die Hauptstadt als auf seinen wunderschönen Landsitz? Fragen, die in den Hintergrund treten, als Elaine ihm nach einer Feier unerwartet näherkommt. Aber je intensiver ihre Beziehung, desto mehr Geheimnisse lüften sich und schließlich erkennt Elaine, dass ihre Familien womöglich bereits in der Vergangenheit miteinander verbunden waren … 

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© Piper Verlag GmbH, München 2024

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Agentur Ashera GbR.

Redaktion: Julia Feldbaum

Konvertierung auf Grundlage eines CSS-Layouts von digital publishing competence (München) mit abavo vlow (Buchloe)

Covergestaltung: MostlyPremade – Nadine Most

Covermotiv: unter Verwendung von stock.adobe.com (Praew stock, TTstudio, vadim_fl, Radek Sturgolewski, Spiroview Inc., Debu55y, kharchenkoirina, pichet, Freeman)

Alle Rechte vorbehalten. Unbefugte Nutzungen, wie etwa Vervielfältigung, Verbreitung, Speicherung oder Übertragung können zivil- oder strafrechtlich verfolgt werden.

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Inhalt

Inhaltsübersicht

Cover & Impressum

Kapitel eins

Kapitel zwei

Kapitel drei

Kapitel vier

Kapitel fünf

Kapitel sechs

Kapitel sieben

Kapitel acht

Kapitel neun

Kapitel zehn

Kapitel elf

Kapitel zwölf

Kapitel dreizehn

Kapitel vierzehn

Kapitel fünfzehn

Buchnavigation

Inhaltsübersicht

Cover

Textanfang

Impressum

Sie sehen mich an und haben keine Ahnung, dass ich eine solche Knospe bin, und ich werde vor ihren Augen wachsen und wachsen und irgendwann so groß sein, dass sie ihre Augen nicht von mir wenden können. Wir werden uns ansehen, und ich werde lächeln. Weil wir auf derselben Ebene stehen.

Reisejournal von Audrina Taylor-Hill, Trostgedanken

Kapitel eins

Silverton, April 2009

Der Frühling hatte die Landschaft Devons liebevoll geküsst, den Bäumen ein volles grünes Blätterdach beschert und den Wiesen befohlen, ihr saftiges Gras zu präsentieren. Die Grafschaft erblühte unter den hübschesten Blumen, die ihre Köpfe der Sonne entgegenreckten. Ein Bildnis, das Elaine vergessen ließ, dass sie in einem überfüllten Reisebus saß, der keine Unebenheit der Straße ausließ. Ihren Fensterplatz hatte sie sich mit einer feinen Prise Charme und einem besonderen Lächeln erkämpft, und sie war froh über ihren Sieg, denn seit sich der Bus auf seinen ruckelnden Weg gemacht hatte, konnte sie die Augen nicht mehr von der Landschaft abwenden.

London bot eine Fülle fabelhafter Motive, und sie liebte ihre Heimatstadt über alles, aber beim Anblick der Farbenpracht des Umlands schlich sich ein versonnenes Lächeln in ihre Züge. Für Bilder wie diese lohnte es sich, die Komfortzone zu verlassen und sich in die Welt hinauszuwagen. Nicht, dass Elaine ernsthafte Schwierigkeiten hatte, dieser angeblichen Komfortzone zu entkommen. Wenn es sie überhaupt in ihrem Leben gab, so wechselte die eine die andere nach kürzester Zeit ab. Dennoch hatte sich Elaine im Abschlussjahr ihres Studiums auf städtische Motive konzentriert – was zum einen an ihrer Spezialisierung lag, zum anderen an ihren Lebensumständen.

Der Kloß, der sich bei diesem Gedanken in ihrem Hals bildete – oder anschwoll, denn völlig fort war er nie –, schmälerte für einen Wimpernschlag lang das Lächeln auf ihrem Gesicht. Eins von beidem musste weichen, daher verdrängte sie die beklemmenden Gefühle und lächelte noch ein bisschen breiter. Es half. Ihr Blick folgte den Kornfeldern, die entlang der Eisenbahnstrecke bei Bradninch verliefen und sacht im Fahrtwind wehten. Wäre Elaine mit dem Pinsel in der Hand so begabt wie mit dem Finger auf dem Auslöser ihrer Kamera, sie hätte liebend gern gemalt. Landschaftsgemälde hatten im Vergleich zur Landschaftsfotografie das gewisse Etwas, diesen minimal attraktiveren Effekt. Vielleicht, weil der Künstler am Erschaffen seines Motivs teilgehabt, ihm womöglich einen winzig kleinen Eigenanteil vermacht hatte. Das konnte Elaine im Nachhinein natürlich mit ihrem Foto und durch dessen Bearbeitung ebenfalls tun, den gleichen Charme hatte es trotzdem nicht. Höchstwahrscheinlich der Grund, warum sie sich auf Kunstfotografie spezialisiert hatte. Auf diese Weise konnte sie teilhaben an den großen Kunstwerken, die andere, von der Muse geküsst, erschaffen hatten, und lernte dabei über jedes von ihnen etwas. Viel mehr, als ein Informationstext preisgeben könnte. Jedes Gemälde, jede Landschaft oder Skulptur sprach zu ihr, nicht bloß über sich selbst, sondern auch über den Künstler, der sie gefertigt hatte. Und Elaine war eine gute Zuhörerin, sie war sogar die perfekte Zuhörerin, weil sie sich alle Zeit der Welt ließ. Denn sie hatte alle Zeit der Welt. Von dem Moment an, in dem es niemanden mehr gegeben hatte, dem man seine Zeit schenken konnte, hatte sie nur noch ihr allein gehört – und es ließ sich plötzlich unfassbar viel damit anfangen.

Elaine hatte sich fest vorgenommen, keine Sekunde davon zu verschenken. Jeder Augenblick galt dieser Welt, die voller bezaubernder Dinge war und die von ihr abgelichtet werden wollten. Sah sie ihrem Motiv ins Angesicht, lächelten sie einander zu, und Elaine hob die Kamera. Es war ein kleineres Exemplar, als die meisten anderen mit sich führten. Keine Spiegelreflex-, sondern eine Systemkamera, die den Vorteil in sich barg, dass sie kleiner und damit leichter war. Da Elaine sie im Grunde so gut wie nie aus der Hand legte und ein ständiger Begleiter angenehmer war, wenn er einige Pfunde weniger wog, hatte sie die »Kleine Schwarze« ausgewählt und es nie bereut. Auch jetzt juckte es sie im Finger, den Auslöser zu betätigen, um den flüsternden Kornfeldern zu antworten. Aber eine Fotografie durch eine Busfensterscheibe war wie das Spiegelbild in einem See. Verfremdet und nicht vollkommen ehrlich. Das wollte sie den Kornfeldern nicht antun, sie verdienten mehr als das. Außerdem suchte sie für das Kunstjournal Artistry nicht nach Landschaften. Diese Reise durch Devon folgte nicht dem gewohnten Treibenlassen.

Elaine war seit einem halben Jahr eine Angestellte mit einem echten Gehalt. Eine neue Erfahrung für die verträumte Seele, die in ihr ruhte und der sie es verdankte, dass sie ihre Dienste viel zu häufig simply for free angeboten hatte. Ja, Elaine Little hatte erst noch lernen müssen, dass sich das Leben nicht ausschließlich von Ästhetik und Sinneseindrücken finanzieren ließ und dass andere Geld mehr liebten als eine ergreifende Momentaufnahme.

»Meine Damen und Herren, hier spricht Bernie, Ihr Busfahrer. In Kürze erreichen wir Silverton«, ertönte eine gelangweilte Stimme aus dem kleinen Lautsprecher oberhalb der Fahrerkabine. »Das Dorf zählt zu den ältesten in Devon und besticht durch seinen ländlichen Charme«, leierte er weiter, als würde er den Text von einer Anzeigetafel ablesen. »Sie haben für den restlichen Tag die Möglichkeit, sich davon zu überzeugen. Lassen Sie sich auf keinen Fall einen Spaziergang zu Silverton Hall entgehen.«

Warum, das betonte er nicht explizit, wusste es vermutlich nicht einmal. Er fuhr hier nur den Bus (und das nicht mal besonders gut), jedenfalls gab er dies seit Reisebeginn unmissverständlich zu erkennen.

»Wir werden im Silverton Inn absteigen. Ich bitte Sie, morgen pünktlich um acht Uhr dreißig wieder reisefertig zu sein.«

Ein leises Knistern aus den Lautsprechern, und Bernie konzentrierte sich wieder darauf, jedes Schlagloch der Strecke zu befahren.

Elaine lächelte der älteren Dame zu, die ihr liebenswürdigerweise den Sitzplatz am Fenster überlassen hatte, und beide teilten im darauffolgenden höflichen Small Talk die Ahnung, dass sie nicht zu viel von ihrer Absteige erwarten durften.

Sie bestätigte sich nicht.

Der ländliche Charme, von dem Bernie gesprochen hatte, war unverkennbar und schlich sich über sämtliche Sinne ein. Die meisten Häuser Silvertons waren mit graubraunen Rieddächern bestückt, die Straßen wie leer gefegt, und es lag ein Aroma in der Luft, als würde ein Bauer, den man allerdings nirgendwo entdecken konnte, sämtliche Felder im Umkreis düngen.

Als Elaine aus dem Bus stieg, fuhr ihr eine leichte Brise durch das kakaobraune Haar, ließ es sekundenlang wie eine gehisste Flagge flattern, ehe sich der Wind legte. Sie wandte den Kopf und ließ den Blick über die mit weißen Häusern gesäumte Straße und hinüber zu einem schmalen Feldweg schweifen. Hinter ihm erstreckte sich eine Wiese mit kurz gestutztem Gras. Sie war durch einen einfachen Zaun vom Weg abgegrenzt. All das nahm Elaine unscharf wahr, realisierte es nebenbei, der Fokus war auf den Mann gerichtet, der über den Feldweg lief. Er pausierte seinen Schritt für den Bruchteil einer Sekunde, als er zu der dem Bus entsteigenden Reisegruppe hinüberschaute, und beinah glaubte Elaine, er sehe sie direkt an. Auf die Entfernung wusste sie es nicht mit Sicherheit zu sagen, konnte sich des Eindrucks jedoch nicht erwehren, seinen Blick auf sich zu spüren. Wie ein sachtes Prickeln – ähnlich der Einwirkung wärmender Sonnenstrahlen auf nackter Haut.

Der Moment war zu schnell vorüber, seine steife Gangart beschleunigte sich, und Elaine verwarf den Gedanken, dass er interessiert hergesehen haben könnte. So, wie er aussah, konnte sie sich kaum vorstellen, dass er an irgendetwas anderem als seiner eigenen Person Interesse zeigte. Oder wer trug heutzutage und auf dem Land einen derart schnieken Anzug? Da musste man sich schon sehr wichtig fühlen.

»Bitte schön, Miss, und einen schönen Aufenthalt in Silverton.« Bernie war ein passionierter Zerstörer englischer Höflichkeit, bediente sich ihrer zwar in seiner Wortwahl, seine Phrasierung und vor allem Handlungsweise strafte sie hingegen Lügen. Er schob Elaine deren kleine olivgrüne Reisetasche vor die Füße, ohne darauf achtzugeben, ob er ihre Zehen traf. Zwei davon bekamen es schmerzlich zu spüren. Elaine lächelte Bernie dennoch an und wünschte ihm im Stillen einen Gast auf den Hals, der ihm bei seiner nächsten Fahrt gehörig auf die Nerven ging.

Warum ausgerechnet Menschen, die keinerlei Ausstrahlung oder gar Ambitionen besaßen, eine Reisegruppe durch die Landschaft zu fahren, einem solchen Job nachgingen, wusste Elaine nicht.

Von Bernies Wenigkeit abgesehen, verhielten sich alle anderen Leute in Silverton äußerst zuvorkommend. Die Passanten auf den Straßen nickten ihnen zu, die Empfangsdame im Silverton Inn begrüßte sie mit einem gütigen Zwinkern, und der Liftboy, der keiner war, weil der Lift seinen Dienst versagte, bot den älteren Herrschaften höflich an, ihr Gepäck zu den Zimmern zu tragen, was alle ebenso höflich ablehnten.

Elaine mochte ihr Hotel sofort, war überrascht von der modernen Innenausstattung in stilvollem Schwarz oder Silbergrau, die sich trotzdem nicht mit dem ursprünglich rustikalen Gebäudebau biss. Frühstück und Abendessen würden im darunterliegenden Pub eingenommen werden, verriet ihr die alte Dame, die neben ihr im Bus gesessen hatte.

»Da bin ich ja gespannt, ob ich einschlafen kann, jetzt, wo ich über einem Pup wohne«, stellte die Alte mit einem verschmitzten Lächeln fest. »Wobei es nicht so aussieht, als wären hier sonderlich viele Feierlustige unterwegs.«

Womit sie nicht unrecht hatte. Silverton war der bislang ruhigste Ort ihrer Reise, im Vergleich zu London sogar beinah eine Geisterstadt. Was einen gewissen Reiz nicht vermissen ließ. Zudem verbargen sich die interessantesten Dinge häufig dort, wo man sie am wenigsten vermutet hätte.

Als Elaine kurz darauf umgekleidet, frisch frisiert und mit ihrer Sony in der Hand durch die Straßen Silvertons schlenderte, musste sie sich nach kürzester Zeit eingestehen, dass sie sich entweder zu gut verbargen oder schlicht nicht existierten. Neben dem Silverton Inn verfügte das Dorf noch über einen bescheidenen Supermarkt, eingepfercht zwischen zwei Backsteinhäusern und nur aufgrund seines leuchtend roten Ladenschilds erkennbar. Zudem über ein Postamt, das lediglich an zwei Tagen in der Woche geöffnet hatte, und ein paar Gebäude, deren Bedeutung sich nicht offenbarte.

Gerade wollte sich Elaine in die Richtung begeben, in der sie ein minimal höheres Menschenaufkommen vermutete, da entdeckte sie das Schild mit der Aufschrift Silverton Hall, 1 Mile. Elaine erinnerte sich an die Worte Bernies, sich einen Besuch dieses Landhauses nicht entgehen zu lassen, und hatte das unbestimmte Gefühl, es würde sich lohnen.

Die Wohngegend, durch die sie spazierte, war nichts anderes als nett anzusehen, und als die School Road in die Park Road überging, war Elaine schon fast wieder zum Dorf hinausspaziert. Die Landschaft sprach sie augenblicklich wieder an. Sie hob die Kamera, um sich nun den Kornblumen in ihrer gesamten Pracht zu widmen. Immer ländlicher wurde die Umgebung, links und rechts von ihr befanden sich längst keine Häuser mehr, sondern weite Wiesen und Felder. Dem Kornblumenfeld folgte eines mit Mohnblumen, das schließlich zu einem umzäunten Wiesenstück überging. Das Landhaus, das sich dahinter offenbarte, war in der Tat wunderschön. Elaine war stehen geblieben, den Blick ehrfürchtig auf das stattliche Anwesen gerichtet, das sich noch etwa hundert Meter von ihr entfernt auf einer kleinen Anhöhe befand. Es sah nicht wie die typischen alten Herrenhäuser aus, mutete südländisch an, da es fast vollständig von Säulengängen umgeben war, die in ihrem strahlenden Weiß an einen griechischen Tempel erinnerten. Die Stallungen daneben waren viktorianischer angehaucht. Gleichwohl bedeutete dieser architektonische Unterschied nicht, dass die beiden Gebäude einander abstießen – im Gegenteil. Elaine hatte den Eindruck, das eine könnte ohne das andere kaum existieren. Woher sie dieses Empfinden nahm, konnte sie sich nicht erklären. Ihre Kamera war schneller erhoben, als sie sich der Absicht bewusst geworden wäre, das Herrenhaus für die Ewigkeit festhalten zu wollen. Obschon sie Gebäude selten als Motive auswählte, dieses hier schrie förmlich nach Aufmerksamkeit.

»Das ist Silverton Hall, Miss.«

Sie zuckte zusammen, ihr Finger betätigte ungewollt den Auslöser und verdammte das Foto dazu, ein missglücktes zu werden. Sie ließ die Kamera rasch sinken und wandte sich zu der Person um, die sie ungefragt angesprochen hatte. Es war ein junger Kerl in Radlerhose und Muskelshirt – ein Outfit, das Elaine an Joggern immer zutiefst lächerlich fand, auch wenn es vermutlich irgendeinem Zweck diente. Sie war überrascht, dass er seinen Lauf unterbrach, um sie über den Namen des Herrenhauses zu informieren. Der Schweiß stand ihm auf der Stirn, eine einzelne Perle rann ihm über die dunkle rechte Augenbraue abwärts. Er war sehr schmal, lang und dunkeläugig, das Lächeln geriet schief, obwohl nicht unsympathisch.

»Verzeihung, ich wollte Sie nicht erschrecken. Dachte nur, ich erwähne es mal.«

Elaine lächelte.

»Von innen ist es übrigens weitaus schöner. Nur falls Sie Interesse haben sollten. Lord Asbury verfügt über eine faszinierende Bildergalerie und bietet sie zu Besichtigungen an«, erzählte er weiter. »Kostenfrei.« Er wischte sich mit dem Handrücken über die Stirn, seine dunklen Locken hatte er mithilfe eines Sportbands zurückgehalten. »Wir könnten sie uns zusammen ansehen, sollten Sie Lust haben.«

Pling.

Mit einiger Verspätung dämmere Elaine, was hier vor sich ging, folgte seinem Blick zu ihren kurzen grünen Shorts, die sie über roten Leggings trug. Keine bewusste Einladung zum Hinsehen, eher ein Bedürfnis ihrerseits, sich farblich auffällig zu kleiden. Es war nicht das erste Mal, dass sie deshalb angesprochen wurde. Oder um ein Date gebeten. Das sie wie immer höflich ablehnte.

»Oh, vielen Dank, aber ich habe einen Freund.« Hatte sie nicht, es war bloß ihre Standardansage gegenüber Männern. Sie beabsichtigte nicht, jemals einen zu haben, entsprechend bestand die cleverste Form, dieses Unglück von sich abzuwenden, darin zu behaupten, bereits vergeben zu sein.

»Oh, echt? Wo ist er?«

Ging das den Kerl etwas an? Sie antwortete trotzdem so unverfänglich wie möglich: »Im Hotel geblieben. Wem, sagten Sie, gehört dieses Haus?«

»Lord Asbury, sagte ich.« Er grinste und nickte unbestimmt in Richtung des Anwesens. »Komischer Kauz. Hat kein Interesse an dem guten Stück. Oder zumindest ist er selten da. Bewachen lässt er es allerdings ziemlich gut. Da will bestimmt keiner einbrechen.« Sein Blick kehrte zu ihr zurück, das Grinsen wurde eine Spur breiter. »Also, sollten Sie es sich anders überlegen, ich wohne in dem Haus neben dem Supermarkt. Tim Denham.« Er wartete nicht darauf, dass sie sich ebenfalls vorstellte, sondern nahm seinen Laufschritt wieder auf und folgte dem verzweifelten Drang, besonders cool dabei auszusehen.

Nein danke. Für unreife Typen wie den hatte Elaine wenig übrig. Was sie allerdings brennend interessierte, war die Bildergalerie, die er erwähnt hatte. Wer weiß? Vielleicht würde sie ja gleich am dritten Tag ihrer Reise ein geeignetes Motiv für das Artistry finden.

 

Es gab diese seltenen Augenblicke im Leben, in denen die Sprachlosigkeit einen wie einen vollkommenen Idioten aussehen ließ. In denen das, was sich einem offenbarte, eine so unfassbare Faszination auslöste, dass sich der Mund nicht mehr schließen ließ und die Augen tellergroß wurden. Tim Denham hatte nicht zu viel versprochen, Silverton Hall war von innen noch um ein Vielfaches schöner. Die Flure erstreckten sich marmorn und in spiegelglattem Cremeweiß, das dunkle Mobiliar schuf einen ansprechenden Antagonismus. Überall standen Skulpturen herum, die mit ihrer Melancholie auf Elaine hinabsahen.

Sie schritt ehrfürchtig durch die Eingangshalle, die allein bereits so groß war wie das gesamte Silverton Inn.

»Einen wunderschönen guten Tag, Miss. Mein Name ist Tomasin Stuart, ich bin die Haushälterin hier. Sie sind sicher bei uns, um die Galerie zu besuchen.«

Elaine benötigte einen Moment, um ihre Aufmerksamkeit von dem detailgetreuen Fries an der Wand fort und hin zu der Dame zu lenken, die sie angesprochen hatte. »Hallo. Elaine Little. Und ja, das bin ich, woher wissen Sie das?«

Das gutmütige Lächeln ihres Gegenübers schmälerte sich kein bisschen, als ihr Blick an Elaine herabwanderte und sie beiläufig bemerkte: »Nun, eine Freundin der Familie scheinen Sie mir nicht zu sein.«

Es klang auf so formvollendete Art kultiviert, dass Elaine verzögert bewusst wurde, dass sie ihr nicht unbedingt ein Kompliment gemacht haben dürfte. Sie lächelte breit. »Nein, das bin ich nicht, aber eine Freundin von Kunstgegenständen. Ich würde mich sehr gern davon überzeugen, wie fantastisch diese Galerie ist.«

Tomasin Stuarts Mundwinkel zuckten leicht. »Oh, das ist sie, das werden Sie schnell bemerken.« Sie deutete mit ausgestrecktem Arm nach links. »Wenn Sie mir folgen möchten?«

Sie ging Elaine in dieser Manier voran, in der sich Professionalität und Gediegenheit perfekt vermischten und bei Besuchern augenblicklich ein gutes Gefühl auslöste. Elaine folgte ihr, ließ die Augen fasziniert über die Innenarchitektur schweifen. Bereits das Mobiliar schien überaus kostbar zu sein, mit einer Maserung, die Elaine noch nie gesehen hatte.

»Es handelt sich bei dem Holz um eine Sonderform des Zuckerahorns«, erklärte Miss Stuart, die offensichtlich geübt darin war, in den Gedanken ihrer Gäste zu lesen. »Im Laufe der Zeit haben sich um den Stamm eingewachsene Stiftästchen gebildet, die für die fleckenartigen Muster sorgen. Man sagt auch Vogelaugen dazu. Lord Asbury hat die weiße Lackierung so anbringen lassen, dass diese Besonderheit weiterhin hervorsticht. Es hat ein Vermögen gekostet, jedes einzelne Möbelstück entsprechend anfertigen zu lassen. Sie werden mir zustimmen, dass der Effekt dafür bemerkenswert ist.«

»Durchaus, es sieht wundervoll aus.«

Miss Stuart lächelte auf ihre verbindliche Art. »Lord Henry Asbury ist ein Ästhet durch und durch. Was so sein muss, nehme ich an, sobald man sein Zuhause der Öffentlichkeit preisgibt. Sie haben übrigens Glück. Er ist ausnahmsweise zugegen. Was bedeutet, dass Sie ihn möglicherweise zu Gesicht bekommen. Die meiste Zeit ist er in London, wo ihn ein wichtiges Geschäft nach dem anderen beansprucht. Ich bin immer erleichtert, gestatten es ihm diese, hierher zurückzukommen.« Ihre Miene erfuhr eine Nuance Nachdenklichkeit. »Nicht wegen der Arbeit mit dem Anwesen. Es fühlt sich einfach sicherer an, wenn der Hausherr zugegen ist.«

Mit dieser Bemerkung beendete sie das Gespräch und trat einen Schritt zur Seite, als sie einen langen Korridor erreichten, der durch eine große Flügeltür aus besagtem Zuckerahornholz abgegrenzt wurde.

Sie richtete ihren ausgestreckten Arm in Richtung des Korridors. »Das ist der Ahnenflur. Hier hängen die Gemälde aller Hausherren vom 16. Jahrhundert bis heute. Lassen Sie sie auf sich wirken.«

Das war nicht schwer. Einige Wimpernschläge stand Elaine regungslos im Korridor und ließ die Augen über die Pracht schweifen, die sich ihr bot. Eine Bildergalerie wie diese hatte sie nie zuvor gesehen, weder in England noch sonst wo auf der Welt. Prachtvoll wäre ein zu schwaches Wort für die dicht gehängten Werke, die in ihren kunstreich geschnitzten Rahmen – waren sie etwa auch aus Zuckerahorn? – an den Wänden hingen. Der weiße Marmorboden wich einem Gelbton und mit jedem Schritt, den sie auf ihm ging, fühlte sich Elaine kleiner und unbedeutender. Die Ahnen dieses Hauses blickten auf sie herab, die gefühlt Hundert Augenpaare folgten jeder ihrer Bewegungen. Dass sie in unterschiedlichen Stilrichtungen geschaffen waren, war gleichgültig.

Den Gemälden des 16. Jahrhunderts hafteten die unverkennbaren barocken Stilelemente an. Die eher plastische Modellierung der Porträtsitzenden unter Hervorhebung des Gegensatzes von Licht und Schatten war eindeutig zu erkennen. Lord Theodore Asbury schaute sie mit kühlem Hochmut an, die linke Gesichtshälfte lag im Schatten und verlieh ihm etwas Verwegenes. Sein Bruder Joseph verstand es durch die Hand des Künstlers, der ihn festgehalten hatte, die Lippen zum aristokratischen Schmollmund zu formen, während seine Augen spöttisch blitzten. In einer gläsernen Vitrine unterhalb der Porträts waren einige Miniaturbildnisse von Damen ausgestellt – laut Ausschilderung allesamt Geliebte Theodores.

Elaine ging schmunzelnd weiter, stellte fasziniert den federleichten Übergang zur klassizistisch ruhigen Pinselführung des 18. Jahrhunderts fest. Darunter waren einige Porträts, die einem so malerisch-realistischen Muster folgten, dass Elaine beinahe glaubte, sie blicke auf ein Foto. Sie musste sich zusammenreißen, nicht ehrfürchtig die Finger nach dem Bildnis von Dorian Asbury und seiner Schwester Ainsley auszustrecken. Noch beeindruckender wurden die Gemälde des 19. Jahrhunderts, die Elaine schon immer geschätzt hatte. Besonders die sogenannten Erzählbilder, die in der Tat wie Fotografien anmuteten, waren von einer besonderen Ausdruckskraft. Hier präsentierten sich die Adeligen nun nicht länger nur sitzend, sondern in alltäglichen Situationen – beim Dinner beispielsweise oder in ihren prachtvollen Gartenanlagen. Es waren häufig Gruppenporträts, die Elaine mit ihrer Detailtreue wie magisch in die damalige Zeit zogen.

Würde sie, wenn sie einen Schritt auf das Gemälde zuging, einfach Teil davon werden und sich im England eines anderen Jahrhunderts wiederfinden? Sie schmunzelte über diesen Gedanken.

Hin und wieder genehmigte sie sich den Luxus, ein bisschen herumzuspinnen und zu träumen. Sie hätte nichts dagegen gehabt, in einer anderen Zeit zu landen, ihr gesamtes Wesen passte nicht in diese Welt. Sie war ihr zu schnell, zu laut, zu … na ja … zu modern. Hier, in diesem Kompendium unterschiedlicher Künste, fühlte sie sich wohl. Hier war sie in ihrem Element, und deshalb war die Frage, die sie im Hinausgehen – nach über einer Stunde in diesem Flur – an Miss Stuart richtete, fast schon ein Selbstverständnis.

Die Haushälterin stand zwischen zwei Büsten von Adeligen und notierte etwas. In dem Moment, in dem sie sich zu ihr umdrehte, drängte sich Elaine der Gedanke auf, dass sie selbst wie eine Büste wirkte: mit der ebenmäßigen Gesichtsform und dieser Haut, die perlweiß und makellos war. Sie trug die braunen Haare im leichten Dauerwellen-Look, an den Seiten gekämmt, womit sie ihre blauen Augen betonten. Die rot geschminkten Lippen verzogen sich zu diesem breiten, sehr aristokratischen Lächeln, sodass man glauben könnte, sie wäre nicht bloß die Haushälterin, sondern die Hausherrin persönlich.

»Wie kann ich behilflich sein?«

Gedankenlesen konnte sie außerdem auch noch. Elaine lächelte und suchte in ihrem Kopf nach den Worten, die diese Frau überzeugen würden. »Sie haben nicht zu viel versprochen, diese Galerie ist mehr als faszinierend.«

»Das habe ich mir gedacht, und Sie waren länger als jede Besucherin zuvor in diesem einen Flur.«

»Das hat seine Gründe«, erklärte Elaine. »Ich bin Kunstfotografin und derzeit auf der Suche nach Motiven für das Kunstjournal Artistry, für das ich arbeite.«

»Ah, ja, ich meine, davon gehört zu haben.«

Nicht überraschend, das Artistry zählte zu den bekanntesten Kunstjournalen Englands.

»Würden Sie gern einen Artikel über unsere Galerie schreiben?«

Elaine lachte. »Nicht ganz. Ich bin, wie gesagt, Kunstfotografin. Das bedeutet, ich fotografiere Kunst und erschaffe dadurch eine neue Form davon, indem ich sie entsprechend ablichte. Daraus wird letzten Endes ein Artikel, ja, allerdings mit dem Schwerpunkt auf Fotokunst. Diese Galerie eignet sich vortrefflich dazu, Kunst in Kunst zu schaffen.«

Miss Stuart machte einen nachdenklichen Spitzmund. »Mir war nicht bekannt, dass Fotografie als Kunst bezeichnet wird oder dass man solche damit schaffen würde. Ich meine, Malerei ist eindeutig Kunst, das Schaffen dieser Büsten«, sie deutete links und rechts neben sich, »ist Kunst, aber Fotografie? Würde sie die Galerie nicht entwürdigen? Etwas so Erhabenes abzulichten, erscheint mir kaum möglich.«

Elaine verstand diesen Gedanken, sie hatte zu Beginn ihres Studiums eine ähnliche Ansicht vertreten. Bis sie die Fotografie näher kennenlernen durfte. »Wer Gemälde mit seiner Digitalkamera schnappschussgleich fotografiert, entwürdigt sie mit Sicherheit, einer Kunstfotografin hingegen passiert das eher selten. Außerdem gehört die Fotografie definitiv der Gattung bildender Künste an. Übersetzt man das Wort aus dem Griechischen, so setzt es sich aus photo für Licht und graph für zeichnen zusammen und bedeutet nichts anderes, als mit Licht zu zeichnen.«

Miss Stuart musterte Elaine. Zweifellos formte sie gerade ihr Bild über sie neu. »Hm, mit Licht zeichnen. Sie verstehen es, dem Ganzen einen malerischen Namen zu verleihen, das gebe ich gern zu.« Sie dachte noch einen Augenblick nach.

Elaine zog eine Broschüre aus ihrer Tasche und reichte sie ihr. »Das sind ein paar meiner Kunstfotografien aus London, damit sie sich eine bessere Vorstellung meiner Arbeit machen können.« Auf die Ablichtungen aus der National Portrait Gallery am Trafalgar Square war sie besonders stolz.

Miss Stuart nahm den Prospekt entgegen, ihre Lippen formten wieder dieses besondere Lächeln. »Ich werde es mir ansehen und Ihr Anliegen mit Lord Asbury besprechen. Er ist immerhin gerade in Silverton. Wenn Sie morgen wiederkommen möchten?«

Elaine erinnerte sich an die Worte ihres Busfahrers, anderntags pünktlich um acht Uhr dreißig zur Abfahrt bereitzustehen. »Wir reisen morgen schon früh weiter …«

»Ah, Sie sind mit der Bustruppe gekommen, ich verstehe. Die werden heute bestimmt noch diese Hallen stürmen. Kommen Sie einfach da noch mal mit.«

Elaine erwiderte ihr Lächeln. »Eine gute Idee.«

Sie verabschiedeten sich vorerst voneinander, und Elaine ging gemächlichen Schrittes durch die Eingangshalle; fast war sie traurig, sie wieder zu verlassen. Nun, sie würde ja mit etwas Glück wiederkommen.

Als sie durch das Portal nach draußen trat, umfing sie die Landschaft Silvertons mit ihrer frühlingshaften Manier, und Elaine seufzte. Es war ein kleines Nest, doch es verfügte über einen gewaltigen Charme. Das festzustellen, während sie auf den Treppenstufen eines Hauses geheimer Kunstschätze stand, brachte sie zum Schmunzeln.

»Ach, Miss Little?« Die Türen hinter Elaine öffneten sich, und hinaus trat Miss Stuart mit ihrer Broschüre in der Hand. »Wissen Sie, ich habe eben einen Blick darauf geworfen, und ich finde diese Kunst, der sie nachgehen, wirklich außerordentlich.« Sie schenkte ihr ein sehr breites Lächeln. »Daher denke ich, wir würden Lord Asbury einen Dienst erweisen, seine Galerie auf diese Weise festzuhalten. Ich werde natürlich noch mit ihm sprechen, aber ich würde Ihnen liebend gern schon jetzt eine Zusage zu diesem Projekt geben.« Das Lächeln wurde breiter. »Man kennt ja die Menschen, für die man arbeitet. Was halten Sie davon: Hinterlassen Sie mir Ihre Telefonnummer, und ich melde mich, falls er ablehnen sollte. Andernfalls betrachten Sie sich als engagiert.«

Elaine konnte ein Strahlen nicht zurückhalten. »Davon halte ich sehr viel, danke, Miss Stuart.«

»Dann ist es abgemacht.«

 

So kam es, dass Elaine Little anderntags, statt in einen holpernden Reisebus zu steigen und sich von Bernie durchschütteln zu lassen, ihren Mitreisenden Lebewohl sagte und ihren Aufenthalt im Silverton Inn zur Überraschung aller verlängerte. Am Abend zuvor hatte sich Miss Stuart telefonisch gemeldet, um ihre Zusage noch einmal zu bestätigen – was Elaine wiederum darin bestätigt hatte, dass bildhaftes Anschauungsmaterial wahre Wunder wirkte. Offensichtlich hatte ihre Broschüre mit ihrer Arbeit mehr Überzeugungskraft besessen als ihre Worte. Ihr war es gleichgültig, solange eines davon fruchtete.

Ein feines Lächeln saß in ihren Mundwinkeln, als sie dem Reisebus hinterherwinkte.

Wieder allein.

Flüchtig zuckte der Knoten in ihrem Hals, ehe sie an Silverton Hall dachte und ihn zurückdrängte.

»Sie bleiben hier?«

Elaine blickte überrascht zur Seite, als sie so unvermittelt angesprochen wurde. Eine Dorfbewohnerin, von der sie glaubte, sie schon beim gestrigen Abendspaziergang gesehen zu haben, stand neben ihr. Sie trug ein Tuch um den Kopf und hielt einen Eimer in der Hand – als wäre sie gerade mit dem Melken ihrer Kühe fertig geworden.

»Sollten Sie nicht in dem Bus sitzen?«

»Eigentlich ja …« Elaines Augen waren auf den Horizont gerichtet. Die Leute hier waren gut informiert darüber, wer man war oder wo man hingehörte. Sie bemerkte, dass sie der Frau noch eine Antwort schuldig war, und informierte sie höflich über ihr Vorhaben in Silverton Hall.

Die Augenbrauen der Frau schossen in die Höhe. »Sie haben vor, in Silverton Hall die Galerie zu fotografieren? So etwas ist möglich?« Ehe Elaine sie über das Handwerk der Kunstfotografie aufklären konnte, fügte die Frau hinzu: »Lord Asbury macht das mit?«

Elaine zuckte mit den Schultern. »Scheint so.«

Ein Hauch von Misstrauen mischte sich in die Züge der Frau. »Ist ja erstaunlich. Der lässt für gewöhnlich niemanden außer der Stuart mehr als einmal in sein Haus. Keine Ahnung, warum er überhaupt Leute hineinlässt, wo er sie doch nicht leiden kann. Aber da hat ihn sicher die gute Miss Stuart bequatscht.« Sie grinste. »Und was die Fotografiererei angeht, auch. Na, sei’s drum. Ich wünsche viel Vergnügen bei Ihrem Kunstprojekt.«

Täuschte sich Elaine, oder verbarg sich in der Stimme der Frau ein sarkastischer Unterton?

 

Elaine benötigte nicht viel, um ihrer Arbeit nachzugehen. Sie hatte sich angewöhnt, mit wenigen Mitteln viel zu erreichen und diese wenigen dafür gekonnt einzusetzen. Kunstfotografie war ein Metier für sich, das korrekte Ablichten von Kunstwerken hingegen nicht allzu kompliziert, sofern man sich an einige wichtige Regeln hielt.

Der Ahnenflur Silverton Halls war trotz großer bodenlanger Fenster nicht überall perfekt belichtet, weshalb Elaine neben ihrem Stativ außerdem die entsprechenden Beleuchtungskörper mitgebracht hatte. Ihre Systemkamera hing an Elaines Kameragurt um ihren Hals und begleitete jeden ihrer vorbereitenden Schritte. Was, wie Elaine aus den Augenwinkeln bemerkte, an diesem Vormittag noch jemand anderes tat. Das junge Mädchen war ihr bereits bei ihrer Begrüßung durch Miss Stuart aufgefallen, wie es durch die Flure Silverton Halls strich. Seit etwa zehn Minuten stand es hinter der Flügeltür und beobachtete jede von Elaines Gesten. Diese ließ sich dadurch nicht aus ihrer Routine bringen. Ihr erstes Motiv war vom einfallenden Fenster in perfektes Licht getaucht, das das gesamte Gemälde umfasste. Mit ihm würde sie beginnen, denn Licht galt als das wichtigste Element in der Fotografie, und Tageslicht sorgte unter einem leicht bewölkten Himmel für die besten Ergebnisse. Im Augenblick bestrahlte es Lord Thorne Asbury mit seinem stolz vorgereckten Kinn in perfekter Weise. Er war hier laut Beschilderung der Hausherr vor über hundert Jahren gewesen – im späten 19. Jahrhundert –, und aus Elaines Sicht machte er den erhabensten Eindruck. Nicht den sympathischsten zwar, aber das spielte für ihr Journal keine Rolle. Er war in seiner Abendgarderobe gemalt worden, trug sein Hemd mit dem geflügelten Kragen voller Stolz. Den obligatorischen Zylinder, der ihn als Mitglied der obersten Adelsklasse identifizierte, hielt er in der Hand, die er herrisch in die Seiten gestemmt hatte. Eindrucksvoll.

Obwohl sie nicht vorhatte, viel davon zu zeigen, war sie dankbar für den neutralen Hintergrund, den die schlichte cremeweiße Wand bot. Das war ein zweites wichtiges Kriterium der Fotografie von Kunstwerken: möglichst wenig äußere Reize zu erlauben, die das Motiv stören könnten.

Während sie ihr Stativ aufbaute, bemerkte sie, dass das junge Mädchen in den Flur getreten war und sie weiter aus sicherer Entfernung beobachtete.

Die Farbenpracht des Gemäldes von Lord Thorne Asbury war bemerkenswert, und Elaine lag viel daran, die absolut naturgetreue und originale Farbwiedergabe zu erzielen. Deshalb war ein Weißabgleich unabdingbar. Das junge Mädchen war noch einen Schritt näher getreten.

Elaine sah auf und sie direkt an. »Hey, guten Morgen. Wie geht es dir?«

Das Mädchen errötete kaum merklich, sagte aber nichts. Es musste sich um eine Jugendliche von fünfzehn oder sechzehn Jahren handeln, allerdings wie Elaine der heutigen Zeit entrückt. Sie trug ein Kleid, das an das vorherige Jahrhundert erinnerte, aber perfekt zu den Hallen dieses Hauses passte. Ihr Gesicht war schmal und makellos, die Augen blau und die Haare blond. Sie frisierte sie wie Miss Stuart die ihren. Ob sie ihre Tochter war?

»Bist du auch eine Kunstinteressierte? Oder gehörst du zum Hauspersonal?«

Auf diese Fragen hin nickte das Mädchen lediglich, womit die Antwort schwammig blieb. Elaine störte es nicht. Wenn es der Jugendlichen unangenehm war zu sprechen, würde sie nicht weiter nachbohren.

Das Interesse sprang der jungen Frau jedoch förmlich aus den Augen, daher fragte Elaine: »Möchtest du mir behilflich sein?«

Ohne eine Gefühlsregung zu zeigen, nickte sie wieder.

Elaine lächelte. »Schön, danke. Ich bin Elaine, und ich fotografiere diese Galerie für ein Kunstjournal. Dafür muss ich ein paar Dinge vorbereiten, ehe ich loslegen kann.« Sie holte ein großes weißes Plakat hervor und reichte es der Jugendlichen. »Es wäre wunderbar, wenn du es vor Lord Asburys Gemälde halten könntest. Ich muss die Temperatur des Lichts manuell messen. Das nennt man Weißabgleich. Daher das weiße Papier.«

Die Jugendliche nickte und folgte der Anweisung. Sie hielt das Papier akkurat vor Lord Asbury. »Perfekt.« Elaine richtete ihre Kamera darauf und nahm die Einstellungen vor. Sie sah auf und zwinkerte. »Das war’s schon. Ich danke dir. Jetzt kann es losgehen.«

Es juckte Elaine in den Fingern, ihre Kreativität durch spezielle Winkel und Einstellungen auszukosten. Sie musste sich zurückhalten, da das Artistry – das hatte ihr frühmorgendliches Telefongespräch ergeben – in diesem Fall Wert auf eine gewisse Neutralität legte. Verständlich, die Galerie an sich versprach bereits Aussichtsvolles, und diese Dokumentation würde Silverton Hall mit Sicherheit zu neuerlichem Bekanntheitsgrad verhelfen.

Elaine knipste und veränderte Einstellungen, machte Nah- wie Detailaufnahmen und setzte mithilfe ihrer schweigsamen Beobachterin den gesamten Vormittag bis weit nach Mittag unterschiedlichste Lichtquellen ein, um die Bilder in Bestform zu fotografieren.

Zwischenzeitlich pausierte sie, um den Publikumsverkehr nicht einzuschränken, und besah sich in der Zeit ihre Fotos. Sie konnten sich sehen lassen. Elaine gestattete sich ein Lächeln, während sie sie durchging. Die Porträts kamen ausgezeichnet zur Geltung, aber auch ihre ersten Aufnahmen der Erzählgruppen-Gemälde gefielen ihr sehr gut. Eine Winkelveränderung hie und da konnte nicht schaden, und dem ein oder anderen Kunstwerk würde das Aufstellen von Softboxen für die Fotografie mit Studioblitz guttun. Eventuell könnte sie …

Elaine stutzte, und ihre Gedanken versiegten. Sie kniff die Augen zusammen und neigte sich näher über das Display ihrer Kamera. Eine Furche bildete sich auf ihrer Stirn, während sie in ihrer internen Galerie rückwärtsklickte, um sich die vorherigen Fotos noch einmal näher anzusehen. Sie hatte sich nicht getäuscht. Es war ihr im Eifer ihres Arbeitsprozesses nicht aufgefallen, erst beim Durchsehen der Motive sprang es einem förmlich ins Gesicht. Auf gut der Hälfte der Gruppenporträts tauchte immer wieder dieselbe Frau auf. Sie stand niemals im Zentrum, sogar eher etwas abseits, und war dennoch immer gegenwärtig. Eine Frau mit einem besonders hervorstechenden Merkmal: fuchsrotes Haar. Unter all den weiblichen Personen auf den Gemälden stellte sie mit dieser Haarfarbe eine Ausnahme dar. Auch ihr Kleidungsstil war ein anderer als der der restlichen Adelspersonen, will heißen, schlichter. Trug sie eine Art Hose? Warum war sie so häufig abgebildet? Viel häufiger als alle anderen Frauen, und das, obwohl sie weder wie ein Familienmitglied wirkte noch wie eine Durchschnittsadelige.

Elaine ließ nachdenklich ihre Kamera sinken und erhob sich, um durch den Flur zu gehen und die Originale zu betrachten. Tatsächlich machte Elaine diese sonderbare Frau allein auf den Darstellungen des viktorianischen Zeitalters fünfmal aus. Im Gesellschaftsraum am äußeren Rand des Bildes. Im Garten beim Promenieren als eine der letzten Frauen, die über den Kiesweg gingen. Beim Cricketspiel in der vordersten Reihe der Zuschauenden … Nicht nur das Haar und die weniger pompöse Kleidung ließ sie aus der Reihe tanzen, obwohl sie niemals das Zentrum eines Bildes ausmachte. Es war ihre Aura, ihre besondere Art.

Elaine fühlte sich auf eine unerklärliche Weise von ihr angezogen. Wodurch? Was war es, das sie besonders machte? Obschon es unterschiedliche Maler gewesen waren, die die Adelsfamilie porträtiert hatten, waren sie sich in der Darstellung dieser Frau einig. Auf einem Porträt der Geschwister Asbury aus dem Jahr 1890 bemerkte Elaine sie im Hintergrund stehend, neben einigen anderen Adeligen – verschwommen, aber unverkennbar. Ein Blick auf die Bildunterschrift verriet Elaine, dass sie als Einzige nicht namentlich genannt wurde. Warum? Weil sie keine Asbury war? Was hatte sie dann auf den Bildern zu suchen? Konnte sie eine Zofe oder ein Hausmädchen sein? Eine wichtige Beraterin der Familie? Hatten Frauen damals ein solches Amt innegehabt?

Sie ging durch den Flur und erkannte, dass ihr Bildnis auch noch im 20. Jahrhundert zu finden war. Aus dem Jahre 1908 beispielsweise erspähte sie ein weiteres Porträt von einem J. D. Asbury. Im Hintergrund, raffiniert in einem Spiegel dargestellt, tauchte sie erneut auf. Elaine trat näher an das Bild heran. Eindeutig. Sie war es. Das rote Haar lockte sich unbändig um ihr hübsches Gesicht. Sie trug es auf fast allen Bildern dieserart offen.

»Wer bist du?«, murmelte Elaine mit schief gelegtem Kopf. Und was berührte sie an dieser Frau?

Ein leises Räuspern ließ sie von dem Bild zurückschrecken. Elaine drehte sich um und erkannte die Jugendliche, die ihr den gesamten Tag nicht von der Seite gewichen war. Sie sprach immer noch nicht, in ihrem Gesicht ruhte ein kleines Lächeln, und sie streckte die Hand nach Elaine aus, als wollte sie sie berühren, wagte es jedoch nicht. Mit einem Kopfnicken bedeutete sie Elaine, ihr zu folgen. Diese warf noch einen letzten Blick auf die unbekannte Rothaarige auf dem Gemälde und folgte schließlich der Aufforderung.

Das Mädchen führte sie in den Raum, der an den Ahnenflur grenzte. Hier befanden sich vornehmlich Skulpturen und Büsten der Adeligen. Vor einem Schaukasten blieb das Mädchen stehen und deutete durch die Glasfront. Elaine blinzelte überrascht. Unverkennbar zeigte das dort ausgestellte Miniaturporträt das Gesicht der Unbekannten. Dieses Mal hatte sie das Haar der Mode entsprechend hochgesteckt und trug ein wertvolles Collier – sie blieb etwas Besonderes.

Elaines Blick glitt über die anderen Porträts. Jedes davon war mit einem Titel versehen, allein die rothaarige Frau wurde niemals namentlich erwähnt. Elaine betrachtete die rothaarige Schönheit noch einmal, und plötzlich wusste sie, warum sie so sehr hervorstach. Es war ihre Mimik. Sie lächelte auf jeder Abbildung. Beim Gruppenporträt im Garten, erinnerte sich Elaine, hatte sie sogar unverkennbar gelacht. Keine gewöhnliche Haltung des Adels, der stets seine Wichtigkeit mit ernster oder herrischer Miene verdeutlichte.

Elaine wandte sich ihrer stummen Begleiterin zu. »Weißt du, wer das ist?«

Die Jugendliche lächelte mit schmalen Lippen, schüttelte jedoch den Kopf.

Elaine runzelte die Stirn. Wie seltsam.

»Susa! Da bist du. Ich suche dich den halben Tag.« Miss Stuart kam durch die Tür in den Raum geweht. Ihre Schritte waren so beherrscht wie immer, einzig eiliger. »Was treibst du hier? Hast du vergessen, dass heute deine Therapiestunde ist?«

Das als Susa angesprochene Mädchen warf einen Blick auf seine Armbanduhr, schüttelte den Kopf und verabschiedete sich von Elaine mit einem letzten Augenaufschlag. Miss Stuart sah ihr nach. Ihre Augen richteten sich auf Elaine und der strenge Ausdruck darin wich dem üblichen Lächeln.

»Verzeihung, sie hat Sie hoffentlich nicht bei Ihrer Arbeit gestört?«

Elaine verneinte. »Im Gegenteil. Sie hat mich bei einigen Aufnahmen unterstützen können. Ist sie …?«

»Meine Tochter, ja. Sie ist …« Miss Stuart seufzte leise. »Sie ist ein liebes Kind, aber sie spricht nicht mehr, seit sie vor ein paar Jahren diesen Reitunfall hatte. Sie wurde kaum verletzt, das Pferd hingegen … Nun, es hat nicht überlebt.« Miss Stuarts Bemühen, ihre Fassung zu bewahren, scheiterte nicht. Einzig ihre Stimmlage verriet die innere Beteiligung. »Die Ärzte nennen es ein seelisches Trauma oder eine schwere seelische Verletzung. Offensichtlich war das Ereignis auf so außergewöhnliche Weise belastend für sie, dass sie seither schweigt, und ich komme nicht an sie heran. Die Therapie nimmt sie erst seit wenigen Wochen in Anspruch. Das macht es etwas leichter … hoffe ich.« Sie räusperte sich, und das Lächeln wurde wieder breit. »Wie kommen Sie voran? Ich muss sagen, ich bin etwas aufgeregt. Die Leute erfahren zwar von diesem Anwesen und seinen Schätzen und zögern nicht, es zu besuchen, einen besonderen Bekanntheitsgrad hat es dennoch nicht.« Sie strich sich mit einer langsamen, sehr eleganten Bewegung das Haar hinter die Ohren. »Es erfüllt mich, müssen Sie wissen, die Menschen hier zu sehen und ihre Fragen zu beantworten. Es ist etwas einsam … zuweilen.« Sie sah Elaine an. »Ich danke Ihnen außerdem für Ihr zuvorkommendes Vorgehen dem Publikumsverkehr gegenüber. Das hält Sie sicher auf.«

Elaine winkte ab. »Ich habe ausreichend Zeit, keine Sorge.« Sie wollte Miss Stuart auf die Unbekannte auf den Bildern ansprechen, doch in diesem Moment ertönte der Gong, der verkündete, dass die Besuchszeit zu Ende war, und Miss Stuart empfahl sich rasch, um die Gäste in der Eingangshalle zu verabschieden.

Elaine wandte die Augen zurück zu dem Miniaturporträt. Wer war diese Frau?

 

In ihrem Hotelzimmer übertrug Elaine die Fotos auf ihren Laptop. Während des Prozesses tippte sie mit ihrem Fingernagel nachdenklich gegen die Tischplatte. Sie wusste nicht, weshalb sie die Unbekannte so sehr beschäftigte. Aber Elaine hatte schon immer dieses Gespür in sich getragen. Sie wusste es einfach, wenn etwas Vielversprechendes auf sie wartete, und diese rothaarige Unbekannte faszinierte sie. Auf dem vergrößerten Bildschirm entdeckte sie sie noch ein weiteres Mal auf einem Gruppenporträt einer Abendgesellschaft – wieder stand sie abseits und rückte nichtsdestotrotz ins Zentrum.

Elaine schob ihre Zunge gegen die Schneidezähne, betrachtete das Bild. Kam ihr diese Frau vage bekannt vor? Oder war sie irgendeine wichtige Persönlichkeit? Eine Recherche im Internet ließ nicht darauf schließen, dass eine nicht adelige – davon ging Elaine zumindest aus – Frau mit rotem Haar um die Jahrhundertwende in Silverton gewesen war oder dort gewirkt hätte. Wahrscheinlich kam sie ihr nur deshalb so bekannt vor, weil sie ihr Gesicht an diesem Tag so häufig studiert hatte.

Sie scrollte noch einmal durch ihre Bildersammlung. Bei dem Porträt aus dem Jahr 1908 stoppte sie. Es lagen achtzehn Jahre zwischen diesem und den anderen Abbildungen. Dennoch wirkte sie um kein Jahr gealtert. War das nicht seltsam? Elaine beugte sich über den Bildschirm. War das wirklich ein Spiegel im Hintergrund … oder etwas anderes?

Sie lehnte sich auf ihrem Stuhl zurück. Sie musste unbedingt wissen, wer die junge Frau war.

 

Als sie am nächsten Tag nach Silverton Hall aufbrach, bemerkte sie die Blicke einzelner Dorfbewohner. Nicht unfreundlich, aber anders als bei ihrer Ankunft. Sie fragten sich vielleicht, was diese hochgewachsene junge Frau mit einem Karren voller technischer Geräte vorhatte, der ratternd durch die Straßen rollte. Sie hatte ihn vom Hotelbesitzer geliehen, um ihr Stativ und die Beleuchtung nicht die gesamte Strecke tragen zu müssen. Auch wenn es nicht viel war, schleppte sie es nicht gern im Rucksack durch die Gegend. Sie nickte den Menschen zu, die ihren Weg kreuzten, und diese erwiderten den Gruß verhalten. Sie spürte ihre Augen in ihrem Nacken, während sie ihren Weg fortsetzte. Es beschäftigte sie nicht länger, ihre Gedanken kreisten wieder um ihr Projekt und vor allem die Unbekannte auf den Gemälden des Ahnenflurs.

Miss Stuart war beschäftigt, als Elaine das Anwesen erreichte, und überließ sie direkt ihrer Arbeit. Elaine setzte diese bei den Gruppenbildern fort, ihre Aufmerksamkeit aber schweifte immer wieder ab. Schließlich unterbrach sie die Fotodokumentation und fand sich vor dem Porträt J. D. Asburys wieder. Er war ein gut aussehender Mann gewesen, in dessen Augen sie nicht denselben Hochmut las, den seine Verwandten so formvollendet zur Schau trugen. Was suchte die Unbekannte im Hintergrund seines Porträts?

Elaine kniff die Augen zusammen. Oder war es kein Spiegel, in dem sie vom Künstler eingefangen worden war, sondern ein Bild? Ein Bild in einem Bild sozusagen. Allerdings ließ es sich von ihrem Standpunkt aus nur schwer ermessen, das Gemälde hing zu weit oben. Elaine sah sich um. Ohne zu zögern, schnappte sie sich einen der Stühle aus Zuckerahorn. Ehe sie hochkletterte, streifte sie die Schuhe ab, um das Satinkissen nicht zu beschmutzen. Sie neigte sich näher ans Bild. Unverkennbar. Die rothaarige Unbekannte war nicht als Spiegelbild, sondern vielmehr als gerahmtes Porträt dargestellt. Warum? Ob es immer noch in dem Raum hing, in dem dieser junge Lord gemalt worden war? Wo konnte dieses Zimmer sein, und würde sie Zugang erhalten, wenn sie danach fragte?

Elaine legte den Kopf schief. Die Rothaarige erwiderte ihren Blick, als sähen sie einander leibhaftig an. Elaine schluckte. Plötzlich wusste sie, was es war, das sie so sehr berührte!

»Darf ich erfahren, was Sie auf meinem Mobiliar zu suchen haben?«

Elaine entfuhr ein Laut der Überraschung, sie wirbelte auf dem Stuhl herum und schwankte leicht, hielt sich aber gerade so. Sie wusste noch in der Sekunde, in der sie ihn inmitten des Ahnenflurs stehen sah, dass sie dem Hausherrn, Lord Henry Asbury, ins Gesicht blickte. Obwohl sie erhöht stand und er unter ihr, fühlte sie sich wie eine Untergebene. Er machte seinen Urahnen Konkurrenz, wie er sie mit diesem respektheischenden Ausdruck fixierte, in den sich leiser Spott mischte, als sie ihm nicht sofort antwortete. Zu viele Gedanken fluteten ihren Kopf. Miss Stuart hatte erwähnt, dass er sich derzeit in Silverton befand, mit ihm gerechnet hatte sie dennoch nicht. Schon gar nicht, während sie auf seinen Möbeln herumkletterte. Sie schluckte, versuchte zu lächeln. Es gelang ihr nicht. Eine weitere Erkenntnis ergriff sie plötzlich. Sie sah ihn nicht zum ersten Mal. Sie erkannte ihn vom Tag ihrer Ankunft: der Mann auf dem Feldweg – in diesem schicken Anzug, den er auch heute trug. Ein teures Exemplar, das ebenso aus dem 19. Jahrhundert stammen könnte.

»Hat es Ihnen vor Schreck die Sprache verschlagen oder sind Sie noch eine von Miss Stuarts stummen Töchtern, die hier wie Schatten herumgeistern?«

Seine Art zu sprechen faszinierte Elaine. Kein Engländer, der ihr je begegnet war, ließ die Worte so makellos prononciert über die Zunge gleiten. In seinen blauen Augen las sie die Aufforderung zu antworten. Zurecht, denn sie schwieg immer noch wie ein verschrecktes Mäuschen.

Elaine zögerte noch einen Wimpernschlag, ehe sie ihre Fassung zurückerlangte. »Bin ich nicht. Mein Name ist Elaine Little. Miss Stuart hat Sie bestimmt davon in Kenntnis gesetzt, dass ich Ihre beeindruckende Ahnengalerie für ein Kunstjournal ablichte.« Sie bemühte sich um eine ebenso gekonnte Ausdrucks- und Sprechweise.

Ein sehr schwaches Lächeln stahl sich in seine Züge, die Augen blitzten, ließen sie keine Sekunde los. »Hat sie«, erwiderte er, derweil seine Augen über Elaines Körper wanderten. Sie trug ein knappes weißes T-Shirt über einer Jeans, was möglicherweise einen winzigen Spalt zwischen Hose und Saum ließ und somit einen Blick auf ihre nackte Haut offenbarte. Sie widerstand dem Impuls, es zurechtzuzupfen. »Was sie unerwähnt ließ, ist, dass Sie dazu meine Wände wie Berge erklimmen müssen.«

Elaine lächelte. »Ich musste den perfekten Winkel einschätzen.« Eine saloppe Lüge, die ihr leicht über die Lippen kam, um ihre Haut zu retten. Sie war nicht auf den Mund gefallen und wollte sich nicht einschüchtern lassen. Von niemandem. Einschließlich eines Lords. »Ich bitte um Verzeihung, sollte ich eine Grenze überschritten haben.«

Er trat einen Schritt auf sie zu, den Blick erhoben und dennoch auf sie niedersehend. Sie wandte die Augen nicht von seinen. »Noch nicht«, sagte er und nickte zu den Porträts. »Wie kommt man auf die Idee, ein Bild von einem Bild zu machen? Was denken sich Ihre Arbeitgeber?«

»Sie würdigen Kunst.«

Der Hauch seines Lächelns verbreiterte sich. »Tun sie das?«

Elaine nickte. »Auf diese Weise erfährt sie ein neues Gesicht, ohne dass ihr altes verfremdet wird.«

Seine Mundwinkel vibrierten leicht, eine minimalistische Form des Schulterzuckens. »Wie Sie meinen. Tomasin hält es für eine gute Idee. Sie hat Sie wärmstens empfohlen. Ich vermute, sie sähe es gern, wenn die Menschen hier in Scharen anreisen würden, um mein Heim zu fluten.«

»Ist es Ihnen unangenehm?«

»Natürlich. Ich hasse Menschen.«

Elaines Augenlid zuckte, sie hielt jegliche Regung zurück, die in ihr bei dieser Bemerkung juckte. »Möchten Sie, dass ich meine Arbeit einstelle?«

Für den Bruchteil einer Sekunde glaubte sie, in ihm zu lesen wie in einem Buch. Dass er genau das wünschte, dass er nichts lieber täte, als jedem weit und breit den Zutritt zum Haus zu verwehren und sich und seine Schätze darin zu verbarrikadieren. Der Moment verflog, und Lord Asbury verschloss sich wieder, ließ nicht erkennen, was er dachte.

»Nein«, sagte er schlicht. »Ich bin zu selten hier, um mich an dieser Idee zu stören. Was ich allerdings begrüßen würde, ist«, fügte er hinzu und streckte ihr die Hand entgegen, »dass Sie von diesem Stuhl herunterkommen. Bevor Sie sich den Hals brechen.«

Was bestimmt noch niemandem passiert war, der auf einem Stuhl gestanden hatte. Elaine starrte auf seine Hand und hätte sie gern ignoriert. Es kam ihr unhöflich vor. Zumindest in Anbetracht der Tatsache, dass sie sich in seinem Haus befand und von ihm dabei erwischt worden war, wie sie seine Wände erklomm, wie er es genannt hatte. Daher ergriff sie seine Hand und stieg vom Stuhl, ohne Lord Asbury wirklich als Stütze zu benötigen.

Obwohl sie mit ihren 1,67 Metern über dem Durchschnitt der Frauengröße lag, überragte er sie noch um einen Kopf. Es schien ihm zu gefallen. Elaine konnte sich nicht entscheiden, ob sie von seinem Auftritt fasziniert oder verärgert sein sollte. Er bewies eine gewisse Attraktivität in diesem eleganten braunen Anzug mit dem Karomuster, von dem sie wusste, dass es ein Marc Darcy Exemplar war. Sie hatte bei einer Modezeitschrift ihr Praktikum absolviert und kannte sich entsprechend aus. Seine Frisur fiel gescheitelt, er trug das mittellange hellbraune Haar mit Koteletten und hinter den Ohren zurückgestrichen. Es saß perfekt. Sein gepflegter Dreitagebart schimmerte leicht rötlich. Trotz seiner Anstrengungen, sich stilvoll zu kleiden und zu verhalten, überwog das Herablassende, das Unsympathische an ihm. Was ihn dennoch faszinierend machte. Ihn zu porträtieren wäre zweifellos eine Freude. Sie erkannte, dass er sie ebenso intensiv musterte wie sie ihn. Elaine wandte den Kopf zum Porträt neben sich.

»Haben Sie ihn gefunden?«

Elaine drehte den Kopf wieder dem Lord zu und hob die Brauen.

»Den perfekten Winkel«, präzisierte er. »Für den Sie es auf sich genommen haben, einen Stuhl zu bemühen.«

Elaine nickte, sah erneut zu dem Gemälde. »Ich denke schon.« Sie gab sich einen Ruck. »Diese Frau, die im Hintergrund zu sehen ist … Mir fiel auf, dass sie auf etlichen anderen Gemälden ebenfalls abgebildet wurde. Wissen Sie, wer sie war?«

Sie spürte, dass sich seine Hand, die immer noch die ihre hielt, versteifte. Seine Züge verhärteten sich, die Augen wurden noch kälter als zuvor. Elaine fröstelte darunter.

»Konzentrieren Sie sich auf Ihre Fotodokumentation. Alles andere geht Sie nicht das Geringste an.« Er ließ ihre Hand los.

Elaine öffnete den Mund, doch sein Blick ließ sie stumm bleiben.

Er drehte sich auf dem Absatz um und schritt durch den Flur davon. »Sehen Sie zu, dass Sie dieses Projekt so schnell wie möglich beenden.« Im Hinausgehen streifte er seine Hand an seinem Hosenbein ab.

Elaine starrte ihm hinterher. Was war das denn gewesen?

»Nehmen Sie es sich nicht zu Herzen. So ist er immer.«

Elaine fuhr herum. Miss Stuart hatte den Flur von der anderen Seite her durch die Flügeltüren betreten und ging auf sie zu. »Er tritt Fremden gegenüber häufig dieserart auf und kultiviert obendrein ein sehr schlechtes Frauenbild.«

Elaine runzelte die Stirn. »Warum? Hat er negative Erfahrungen gemacht?«

Miss Stuart lächelte traurig. »Würde ich ihn fragen, bestünde sein Leben einzig aus negativen Erfahrungen. Er ist der pessimistischste Mensch, den ich kenne.«

»Trotzdem arbeiten Sie für ihn«, stellte Elaine fest und fragte sich, weshalb. »Verhält er sich Ihnen gegenüber ebenso?«