Der Duft der Mandelblüte - Anett Diell - E-Book
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Der Duft der Mandelblüte E-Book

Anett Diell

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Beschreibung

Zwei verfeindete Familien, eine verbotene Liebe und ein Haus voller Geheimnisse …
Das fesselnde Familiengeheimnis vor der schönen Kulisse Süditaliens

Italien im Jahr 1955: Schweren Herzens gibt Anatolia Lavoratori ihre Träume von einem Kunststudium in Neapel auf, um ihren Eltern unter die Arme zu greifen. Denn um deren Pizzeria im wunderschönen Casa Principessa steht es seit dem Schlaganfall ihrer Mutter schlecht. Im Handumdrehen gelingt es der kreativen Anatolia das Geschäft zum Blühen zu bringen. Als sie jedoch den jungen Tynano kennenlernt und sich Hals über Kopf in ihn verliebt, tritt dieses plötzlich in den Hintergrund. Was sie nicht ahnt: er gehört der Familie Di Nero an, die seit Jahrzehnten mit der ihren eine verbitterte Feindschaft führt. Wird ihre Liebe an dieser Fehde zerbrechen?

Deutschland, fünfzig Jahre später: Die junge Konditorin Liza steht kurz vor der Erfüllung ihres Lebenstraums: Eine eigene Konditorei zu eröffnen. Als jedoch ihre Mutter unerwartet verstirbt, ändern sich ihre Pläne schlagartig. Liza reist nach Italien, um dem letzten Wunsch ihrer Mutter gerecht zu werden, und deren Asche in ihre Heimatstadt Venosa zu bringen. Dort angekommen, erkennt Liza schnell, dass in den Straßen Venosas ein Geheimnis lauert, das seinen Ursprung in einer Zeit lange vor ihrer Geburt nimmt. Auf der Suche nach Antworten findet sich Liza schon bald in einer Welt aus Zwietracht und Hass verstrickt, in der die Liebe über allem schwebt …

Erste Leser:innenstimmen
„Fesselnde Familiensaga, dramatische Liebesgeschichte und charmantes, italienisches Setting.“
„Diese Star-Crossed-Lovers-Geschichte hat mich tief berührt.“
„Ein Familiengeheimnis-Roman genau nach meinem Geschmack: geheimnisvoll, romantisch, atmosphärisch.“
„Für Fans von Romeo und Julia und mysteriösen Familiengeheimnissen eine klare Lese-Empfehlung!“

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Seitenzahl: 565

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Über dieses E-Book

Italien 1955: Schweren Herzens gibt Anatolia ihre Träume von einem Kunststudium in Neapel auf, um ihren Eltern in deren Pizzeria in Venosa unter die Arme zu greifen. Im Handumdrehen gelingt es der kreativen Anatolia das Geschäft zum Blühen zu bringen. Als sie dort den jungen Tynano kennenlernt und sich Hals über Kopf in ihn verliebt, ahnt sie nicht, dass er der Familie Di Nero angehört, die seit Jahrzehnten mit ihrer Familie eine verbitterte Feindschaft führt. Wird ihre aufkeimende Liebe an dieser Fehde zerbrechen?

Deutschland, fünfzig Jahre später: Die junge Konditorin Liza steht kurz vor der Erfüllung ihres Lebenstraums eine eigene Konditorei zu eröffnen. Doch als ihre Mutter unerwartet verstirbt, ändern sich ihre Pläne schlagartig. Liza reist nach Italien, um dem letzten Wunsch ihrer Mutter gerecht zu werden und stößt dabei auf ein gut gehütetes Familiengeheimnis. Auf der Suche nach Antworten findet sie sich schon bald in einer Welt aus Zwietracht und Hass verstrickt, in der die Liebe über allem schwebt …

Impressum

Erstausgabe Juni 2023

Copyright © 2024 dp Verlag, ein Imprint der dp DIGITAL PUBLISHERS GmbH Made in Stuttgart with ♥ Alle Rechte vorbehalten

E-Book-ISBN: 978-3-98637-840-0 Taschenbuch-ISBN: 978-3-98778-411-8

Covergestaltung: Larissa Siepmann unter Verwendung von Motiven von: shutterstock.com: © Praew stock, © Sergii Figurnyi, © vololibero, © S.Borisov stock.adobe.com: © Enrico Della Pietra depositphotos.com: © Tamara_k Lektorat: Sandra Effert

E-Book-Version 12.06.2024, 16:43:53.

Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Sämtliche Personen und Ereignisse dieses Werks sind frei erfunden. Etwaige Ähnlichkeiten mit real existierenden Personen, ob lebend oder tot, wären rein zufällig.

Abhängig vom verwendeten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.

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Der Duft der Mandelblüte

Für jene, die gegangen sind,

für die, die noch kommen,

und für alle, die immer für mich da sind.

Einst im beginnenden Sommer eines Jahres, das ich das unsere nenne, hast du mir gesagt, das Leben bestehe aus mehr als dem unmittelbaren Umfeld, aus mehr, als man mit dem bloßen Auge sehen könne. Du sagtest, dass unser Dolce Vita nicht allein bedeute, es sich gut gehen zu lassen, sondern sich gut zu fühlen mit dem, was man erreicht hat. Du wolltest deine Träume jagen und dabei die Süße finden. Sowie das Licht, das unseren Tag erhellt. In diesem einen Sommer waren wir deinem Ziel zum Greifen nah.

Prolog

Freiburg, Mai 2005

»Es gibt diese Momente im Leben, in denen du glaubst, alles im Griff zu haben und dir vielleicht sogar einredest, zufrieden zu sein. Vertrau mir, du kannst dich darauf verlassen, dass sie schneller rum sind, als du gucken kannst.«

Das Licht flackerte in den Neonröhren an der Decke, surrte leise und sorgte für ein permanentes Ohrgeräusch, während Liza Blüm durch den Flur der Volkshochschule eilte, die Worte ihrer Mutter im Kopf. Im Grunde passte dieser Ausspruch nicht zu ihr. Anatolia Blüm war keine übertrieben pessimistische Frau. Was sie anpackte, gelang ihr, weil sie mit Entschlossenheit und Eifer dahinter war, und diesen Wesenszug hatte sie an Liza weitergegeben. Ihr Lachen hallte in jeder Erinnerung mit, begleitete Lizas Leben. Nichtsdestotrotz verklang jener Hall schnell. Ohne es je angesprochen zu haben, wusste Liza, dass ihre Mutter etwas in sich trug, das dunkel war, ihre Laune ab und an verschleierte. In den vergangenen Monaten seit ihrem siebzigsten Geburtstag hatten diese Tendenzen zugenommen. Sie begrüßte Liza nur noch selten mit einem Lachen und gleichzeitig strahlten ihre Augen eine schwermütige Note aus.

Als Liza an diesem Abend aus einem Interview mit der Badischen Zeitung gerissen wurde, weil ihre Mutter vom Lörracher Elisabethen-Krankenhaus aus anrief, fühlten sich ihre Worte so wahr wie nie zuvor an. Bedachte man, dass sich Liza eben noch mit dem Journalisten über ihr regional hochgefeiertes Backbuch Vom Weckmann und anderen Genüssen unterhalten hatte und nun um ihre Mutter bangen musste.

Sie ließ sich von der Rezeptionistin das Telefon reichen und trat in den ungelüfteten Gästeraum. Fast wurde ihr dabei übel. Sie brachte ihre feine Nase zum Verstummen – seit sie sich erinnern konnte, war es ihre Nase, die den ersten Eindruck einer neuen Situation bestimmte. Was jetzt unbedeutend war. Jetzt zählte einzig ihre Mutter.

»Mama? Was ist passiert?«

Die Stimme am anderen Ende der Leitung klang so jung und unbeschwert wie immer. Einzig an ihrer gedämpften Lautstärke erkannte Liza, dass ihre Mutter nicht bei voller Kraft war. Sie war gut darin zu verbergen, wenn es ihr schlecht ging. Und sie war noch besser darin, einen tadellosen Schein zu wahren. Ihr Aussehen half ihr dabei. Hätte man sie als Unbekannte gefragt, wie alt sie Anatolia Blüm schätzte, hätte Liza ihr knappe fünfzig Jahre gegeben, fast faltenlos wie sie war und mit lediglich einer Handvoll ergrauten Haaren. Erst als sie nun sprach, hörte Liza plötzlich ihr Alter heraus. »Ich bin gestürzt, Schätzchen.«

»Was?«, fragte Liza und stöhnte. Sie verfluchte sich innerlich dafür, dass sie ihre Mutter nicht schon früher aus dem alten Haus in Haltingen geholt hatte, das viel zu viele Treppen und Stolperfallen barg. Seit dem Tod ihres Vaters lebte ihre Mutter dort allein und behauptete, sie käme zurecht. Nicht, dass Liza ihr widersprechen wollte, sie fand ihre Mutter bemerkenswert eigenständig und bewunderte sie für die vielen Dinge, die sie, jegliche Hilfe ablehnend, immer noch selbst meisterte. Trotzdem war das Haus nicht für das Alter geschaffen, mochte sie noch so gut in Schuss sein.

»Hast du dir etwas gebrochen? Was sagt der Arzt? Hast du …«

»Gemach, Schätzchen, gemach. Das ist es nicht, das mich umbringen wird.«

Liza hielt inne. »Was soll das heißen?«

»Dass ich sterben werde. Da sitzt ein Tumor in meinem Kopf. Seit letztem Herbst.«

Die Welt hörte auf, sich zu drehen, die Zeit stoppte. Liza starrte mit unbeweglicher Miene an die kahle Wand ihr gegenüber, sämtliche Gerüche entzogen sich ihrer Nase, sämtliches Licht verdunkelte sich um sie herum. Ihr war, als überwiege plötzlich nur das Surren der Neonröhren oben an der Decke. Sie wusste nicht, wie viel Zeit vergangen war, bis sie endlich glaubte, sich regen zu können. Sie sollte etwas sagen, aber es wollte nichts kommen. Stattdessen spürte sie das Kitzeln in ihrer Nase, das Ziehen am Gaumen und den Moment nahen, in dem sich ihre Augen mit Tränen füllten. »Nein«, entfuhr es ihr schließlich.

»Doch«, erklärte ihre Mutter, »so ist es.«

Wie konnte sie dabei so gelassen bleiben? »Warum hast du mir nicht längst etwas gesagt?«, fragte sie.

Ihre Mutter lachte. »Was hätte das denn geändert? Du hattest so viel um die Ohren und dich gerade verlobt. Ich wollte lieber die letzte gemeinsame Zeit genießen, statt sie mit etwas zu überschatten, das unaufhaltsam ist. Glaub mir, es ist in Ordnung.«

Wie konnte das in Ordnung sein? Liza erschauderte angesichts der Abgeklärtheit, die ihre Mutter in sich trug. Es ruhte eine Friedlichkeit in ihren Aussagen, die ihr zeitlebens nicht gegeben war. Als hätte sie sich mit allem abgefunden, als erleichterte sie diese Erkenntnis. Liza hingegen konnte und wollte sich nicht damit abfinden. Sie war nicht bereit, ihre Mutter gehen zu lassen. Wie konnte ein Mensch je für so etwas bereit sein? Siebzig Jahre, das war ein Klacks. Niemand starb mit siebzig, niemand verlor seine Mutter mit dreißig. Sie hatten noch ihr halbes Leben vor sich – gemeinsam!

»Aber ich will nicht.« Plötzlich klang sie wieder wie eine Zwölfjährige.

»Wer will das schon?«, fragte ihre Mutter. »Trotzdem hatten wir unsere Zeit und sie war wunderschön. Das ist das Wichtigste. Wir haben beide Großes vor. Du hier und ich an einem anderen Ort. Jetzt hör mir zu. Ich habe alles in die Wege geleitet. Du musst nur noch unseren Familiennotar kontaktieren. Er wird dich über alles in Kenntnis setzen.«

»Mama, hör auf. Ich komme sofort runtergefahren. In einer Stunde bin ich da und dann können wir das vor Ort besprechen.«

Ihre Mutter hustete. »Ja, ich weiß. Einzig für den Fall, dass es vorher mit mir zu Ende geht, muss ich dich noch um eine Sache bitten.«

***

Venosa, August 1955

Die ersten Sonnenstrahlen kitzelten die Dächer einer erwachenden Stadt, schenkten den Vögelchen ein warmes Bad und luden sie dazu ein, ihren Gesang zu eröffnen. Wer gut hinhörte, konnte die knarzenden Betten aus Olivenholz in den engen Wohnstuben erahnen, aus denen sich die arbeitende Bevölkerung schälte, jeden Morgen aufs Neue und zu jeder Stunde bestens gelaunt. Hier pfiff ein Signore sein Liedchen, da trällerte eine Signora eine Canzone und dazwischen ein Dutzend Kinderstimmen, die hinaus in die Straßen riefen, sich auf Plätzen versammelten und dann in alle Himmelsrichtungen auseinanderstieben. Von der Via Degli Zoccolanti strömte bereits der Duft von frischem Panettone und süßen Fior di Mandorla, denn in der Nummer zweiundzwanzig herrschte seit vier Uhr in der Nacht Hochbetrieb. Lorenzo Di Nero öffnete seine PanetteriaZuccheroso pünktlich mit dem siebenten Glockenschlag eines jeden Morgen. Bis dahin musste seine Backstube heiß und vom mehligen Nebel durchtränkt sein, die Stirn übersäht mit Schweißperlen und die Hände rau vom Teigkneten. Draußen im Geschäft türmten sich unterdessen die Leckereien, trugen ihren betörenden Duft hinaus in die Straßen Venosas. Die Panetteria befand sich seit Jahrzehnten im Familienbesitz. Immer vom Vater an den ältesten Sohn weitergegeben, einmal sogar an die Tochter, und erfreute sich seit jeher größter Beliebtheit. Besuchte man die Provinz Potenta, so war der erste kulinarische Tipp, der einem Neuankömmling erteilt wurde, er möge in Venosa bei den Di Neros in der Via Degli Zoccolanti vorbeischauen. Niemals in der Geschichte der Familie gingen die Geschäfte allerdings so gut wie in diesem Jahr. Zu verdanken hatte das der stolze Vater von sechs Kindern seinem Zweitgeborenen, Tynano Di Nero, dessen Geschick in der Backstube das eines gewöhnlichen Bäckergesellen überstieg. Ein Panettone wurde nicht bloß ein Panettone in seinen Händen. Er erfand wöchentlich neue Zutaten, die das Gebäck zu einem Gaumenschmaus werden ließen. Mochte er zuweilen auch mit dem Kopf in den Wolken hängen, seine Backkunst litt niemals darunter. Lorenzo Di Nero liebte ihn dafür, wie er gleichfalls seine anderen Söhne und die beiden Töchter liebte, dazu seine Mama, möge sie selig ruhen, und seine zweite Frau Gaia, ein Herzstück hinter der Theke seiner ebenso heiß geliebten Zuccheroso. Den ganzen Vormittag dominierte ihr Liebreiz die Straße, machte seinen Besitzer zum glücklichsten Mann der Stadt.

Erst am Nachmittag durchzog etwas die Via Degli Zoccolanti, das sich höchst unfein mit dem Duft süßen Gebäcks vermengte, ihn sogar beinahe vertrieb. Dem Geruch folgte der Lärm der trällernden Aurora Lavoratori, von der alle behaupteten, ihre Gesänge verrieten bereits die Gourmandise ihres Abendangebots. Lorenzo dagegen empfand ihre Stimme als disharmonisch und störend. Letzteres vor allem in Bezug auf sein Geschäft. Pepe Lavoratori und seine singende Frau hatten sich vor einigen Jahren in den Kopf gesetzt, mit ihrer PizzeriaIn un Pezzo seine Straße zu verunglimpfen. Dabei waren dieser Pepe und seine überschaubare Familie ursprünglich nichts anderes als Bauern aus dem Umland gewesen. Schon immer hier und schon immer unangenehm, nur niemals so nah in direkter Nachbarschaft. Manch einer lobpreiste ihn dafür, dass er innerhalb kürzester Zeit und ohne einen einzigen Centesimi in der Tasche eine der beliebtesten Pizzerien Süditaliens aufgebaut hatte. Lorenzo dagegen dachte für sich, dass Pizzabacken ja wohl jeder simplen Hausfrau gelang und der Emporkömmling seinen Ruhm allein dem Casa Principessa verdankte. Es war das schönste Gebäude der Straße, aus hellem Werkstein erbaut, im Ansatz wie eine Miniaturburg entworfen und daher mit seinen turmähnlichen Rundungen und dem märchenhaften Außenbereich durchaus charmant. Wer würde darin nicht gerne essen? Dabei hatte er sich die Pacht damals erlogen, im Glücksspiel, erinnerte sich Lorenzo. Zu viel Glück für seinen Geschmack. Er hörte noch die Worte seines Vaters, die Lavoratoris hätten nie gewusst, wo ihr eigentlicher Platz sei. Doch Pepe, der schoss eindeutig übers Ziel hinaus! Seit sich Lorenzo erinnern konnte, befanden sie sich in einem ständigen, mal mehr, mal weniger aufflammenden Zwist. Die Geburtsstunde ihrer Feindschaft konnte niemand so genau benennen. Vielleicht war sie entstanden, weil der eine Urgroßvater es einst versäumt hatte, den anderen zu grüßen. Vielleicht, weil ein Jungspund dem anderen das Mädchen ausgespannt hatte. Oder vielleicht, weil langjährige Familienfehden hier unten im Süden dazugehörten. Lorenzo war es einerlei. Er mochte diesen Pepe nicht und dasselbe galt für seine nichtsnutzigen Neffen. Zwillinge überdies, die man partout nicht auseinanderhalten konnte. Einer rotzfrecher als der andere. Selbst die Namen klangen fast gleich: Manilo und Manlio. Welcher Spaßvogel hatte die denn getauft? Das einzige Kind, das dem Schoß Auroras entschlüpft war, studierte angeblich in Neapel. Kaum vorstellbar. Die Lavoratoris wirkten nicht wie die hellste Sorte. Es zeugte gleichwohl nicht von einer starken Familie, wenn die einzige Tochter dem Heim so schnell wie möglich entfloh. Besser war es. Je weniger von der Sippe durch seine Straße schlichen, umso sicherer fühlte er sich.

Sprach man vom Teufel, lungerte er auch meistens in unmittelbarer Nähe herum. Manlio und Manilo schlenderten mit den Händen in ihren abgewaschenen Hosen vergraben an seiner Panetteria vorbei.

»Na los, macht, dass ihr verschwindet. Euch wollen wir hier nicht!«, schrie seine Jüngste, Chiara, ein Goldschatz, der es beinahe gelang, burschikoser aufzutreten als ihre älteren Brüder.

»Sieh mal, Manlio«, rief in dem Fall Manilo, »das kleine Hündchen kläfft uns an. Sollen wir zurückbellen?«

Der Beschützerinstinkt des Vaters schwoll in Lorenzo an und seine Kundschaft nur für einen winzigen Moment vernachlässigend, stürmte er hinaus auf die Straße. »Wagt es nicht, ihr Rotzlöffel!«, tobte er und zog Chiara am Arm ins Geschäft. »Verzieht euch und lasst euch nicht mehr blicken. Erst recht nicht bei meiner Tochter.«

Selbstverständlich erntete er bloß ein Lachen von den beiden Burschen. Seine Stirnader pulsierte, und doch vermied er es, noch einmal laut zu werden. Immerhin warteten die Liboninos auf ihre Zuckerspeisen. Er kehrte zurück und nickte ihnen mit unterdrückter Gereiztheit zu. »Verzeiht mir, was darf es sein?«

Für Signora Libonino durften es die Mandel Cantuccini sein und für ihren lieben Gatten, dem ein aufrichtiger Freund besser geraten hätte, es der Gesundheit zuliebe dabei zu belassen, eine schokoladige Sfogliatelle. Der Kerl war gerade mal Ende dreißig. Seine Körperfülle machte ihm das Gehen nicht leicht und beeilte er sich, so hörte sich sein Atem wie der eines sterbenden Tieres an. Doch wo käme Lorenzo hin, würde er seinen Kunden davon abraten, sich von ihm verwöhnen zu lassen? Er war gut Freund mit ihnen allen, aber eben als Bäcker, nicht als Apotheker.

»Was ist das mit euch und den Lavoratoris, hm, Lorenzo?«, fragte Andrea Libonino mit seiner rauen Stimme und strich über seinen gezwirbelten Schnauzer. »Lass doch diese Burschen. So übel sind sie nicht. Obendrein nicht mal Konkurrenz. Wer vergleicht schon Pasticcini mit Pizza?«

Ich, dachte Lorenzo und war froh, dem fetten Sack kein aufrichtiger Freund gewesen zu sein. Wer nicht erkannte, was für ein Pack die Lavoratoris waren, verdiente seine Freundschaft nicht. Und der Tag, an dem Pizza Pasticcini ebenbürtig wird, ist der letzte der Menschheit!

Die Pasticcini verließen Lorenzos Geschäft und verbreiteten ihren süßen Duft in der Via Degli Zoccolanti, indem er dem Packpapier entschwebte und den Liboninos vorauseilte. Vorbei an Signora Lunas rosa gestrichenem Häuschen, das an das gelbe der Familie Svera anschloss, deren Balkon mit dem ihrer Nachbarn über eine gespannte Wäscheleine verbunden wurde. Signore Sveras Hemden trockneten neben Signora Vinos Küchenschürzen und manch einer behauptete, es seien nicht nur ihre Kleidungsstücke, die sich zueinander hingezogen fühlten. Was weder Signore Sveras liebe Gattin störte, die ihm als Sechzehnjährige versprochen worden war und entgegen allen Behauptungen nie gelernt hatte, ihn zu lieben, noch den alten Vino, der seit Jahren nichts anderes tat, als den gesamten Tag seine Zeitung zu lesen. Gerade stieg ihm das Aroma der Cantuccini und Sfogliatelle in die Nase – verschwendet, versteht sich. Denn er war so vertieft in den bereits drei Mal gelesenen Sportartikel, dass er es nicht zu schätzen wusste und den Gruß der Liboninos überhörte. Gleichwohl zog das Odeur weiter, zauberte ein Lächeln auf das Gesicht von Gina vor dem Zeitungshäuschen und brachte Pippo, den Briefträger, dazu, sich einmal kurz umzuwenden. An der Ecke Via Campania vermengte es sich mit dem des Negozio di fiori von Zia Alva, deren Rosensträuße heute in allen Farben erstrahlten. Ebenso wie die kleine Isabella, der sie eine davon ins Haar setzte. Juchzend rannte das Mädchen weiter die Straße hinunter. Sein Lachen fegte dem Hopserlauf vorweg, die Füße sprangen über das Pflaster und hätten sich gewiss nicht aufhalten lassen, wäre nicht die summende Signora Lavoratori auf die Straße hinausgetreten, einen gewaltigen Kübel voller Pizzateig im Arm haltend. Es waren nicht allein die erwachenden Gelüste auf eine Pizza am Stück oder die Melodie, die der Kehle der Signora entwich, die Isabella stumm und staunend machten, sondern das stolzeste Haus der Straße, vor dem sich beides feilbot. In der Tat: Das Casa Principessa sah ein bisschen aus wie ein verträumter Märchenturm, der an ein helles Fachwerkhaus anschloss und von Rosenhecken umrankt wurde. Ein liebliches Bild, das durch den kleinen Springbrunnen auf dem Platz davor verfeinert wurde, an dessen Rand Isabella und die anderen Mädchen so manche Stunde verbrachten und sich vorstellten, sie seien die verfluchte Prinzessin Liebseelchen auf der Suche nach ihrem Prinzen Röhropp.

»Röhropp ist kein feiner Prinz. Er hat sich täuschen und zum Narren halten lassen. Somit verdient er die Prinzessin nicht.«

»Was redest du für einen Unfug?«, fragte Isabella ihre Freundin Maria, wenn diese ihr wie so oft das frohe Ende zerstören wollte. Das, in dem Prinz und Prinzessin einander unsterblich verfielen. »Er hat sich nicht täuschen lassen, er wurde getäuscht. Wie hätte er es besser wissen sollen?«

»So was weiß man nun mal, sofern man ein wahrer Liebender ist.«

Isabella furchte die Stirn, stemmte die Hände in die noch nicht gerundeten Hüften. »Weißt du, ich habe gestern einen Kuss von Lino bekommen. Hier auf den Mund.« Sie deutete mit dem Finger auf ihre gespitzten Lippen. »Wie eine wahre Liebende.«

Die Augen ihrer Freundin weiteten sich. Lino war der schönste Zwölfjährige im Viertel, weil er lange Wimpern besaß und von der Sonne gold melierte Haare auf dem Kopf trug. »Ehrlich?«

»Mhm.« Isabella nickte.

»Ich wünschte, er würde mich nur einmal ansehen«, sagte Maria und seufzte. »Wie fühlt es sich an, von ihm geküsst zu werden?«

»Keine Ahnung.« Isabella lachte. »Es war gelogen. Ich habe dich getäuscht und zum Narren gehalten. Na, wie fühlt sich das an?«

In Marias Protest mischte sich das Gelächter von Signora Lavoratori ein, die vor dem Küchenfenster des Casa Principessa stand und ihren Pizzateig in den Händen knetete. »Da hat sie dich aber ganz schön erwischt, kleine Maria. Nimm es nie mit einer romantischen Seele auf. Die haben immer recht.«

»Stimmt nicht«, murrte Maria, vergaß ihren Groll jedoch bei der Aussicht auf frische Pizzabrote, die ihnen Signora Lavoratori anbot. Das war das Zweitschönste an dieser Frau: Sie geizte nicht mit ihren Waren, hatte stets ein Körbchen mehr in ihrer Küche stehen, um die hungrigen Kindermäuler aus der Nachbarschaft zu stopfen. Das ersparte ihr außerdem, dass die Jungs heimlich etwas aus der Backstube mitgehen ließen. Hinter denen herzujagen, wie es Lorenzo Di Nero hielt, wenn ihm einer davon sein Gebäck stibitzte, das lag nicht in ihrer Natur. Sie alberte lieber mit ihnen herum und ließ ihr Lachen als Echo von den Häuserfassaden widerhallen. Das war nämlich das Schönste an ihr. Sie konnte lachen, dass es einem warm ums Herz wurde und man mitlachen musste. Isabella mutmaßte, sie verarbeite diese Fröhlichkeit mit in ihre Pizzen – in die langen Stücke, die der Pizzeria ihren Namen gaben. Deshalb lachten ihre Gäste mit jedem Bissen und zahlten einen oder gar zwei Livre mehr.

Heute allerdings war Signora Lavoratoris Lachen verhalten. Sie stand zwar unterm Fenster, die große Schüssel voll mit Teig im Arm und summte, doch glänzten ihr die Schweißperlen auf der Stirn und ihre Haut wirkte ungewöhnlich blass. Mit Isabellas Auftritt glättete sich ihr Runzeln auf der Stirn und kehrte als lachende Fältchen um die Augen zurück. »Na, Prinzessin Liebseelchen, heute schon deinen Prinzen gefunden?«

»In meinen Träumen sind wir sogar vermählt«, sagte das Mädchen und die Signora lachte. »Da leben wir in einem Schloss am Meer mit Hunderten von Bediensteten.«

»Das würde mir auch gefallen. Lädst du mich mal in deine Träume ein?«

Isabella riss den Mund auf, sah an der Fassade des Casa Principessa entlang. »Signora, Sie leben ja längst in einem Schloss!«

Eine Bemerkung, die Signora Lavoratori doch noch zum Lachen brachte, so schön und voll, dass es die Via hinauf- und wieder herunterjagte und alle im Umkreis ansteckte. Isabella und Maria stimmten jedenfalls mit ein und einige Sekunden lang boten die drei einen herrlichen Anblick mit ihrer blendenden Laune. Keiner hätte geahnt, dass sie sich in der nächsten ins Gegenteil wandeln würde. Isabella bemerkte viel zu spät, dass sich die Augen der Signora weiteten, ihr Lachen einem Keuchen wich und sie gegen die Hauswand zurücktaumelte. Erst als ihr der Topf aus den Händen glitt und polternd über das Pflaster kullerte, während sich der Teig darüber verteilte, erstarrte Isabella und Maria schlug sich die Hand vor den Mund. »Signora? Was ist mit Ihnen?«

Doch Aurora Lavoratori gab keinen Laut mehr von sich und sank an der Fassade ihres Casa hinab.

Kapitel I

Conflitto interiore

Neapel, August 1955

Die Hitze flimmerte auf dem Boden, über den einige Tauben in der Hoffnung auf verirrte Brotkrumen umhertippelten. Die meisten Menschen hatten sich in den Schutz ihrer Häuser zurückgezogen, die Cafés und Bars hielten ihre Mittagsruhe. Neapel machte Riposo – denn zur besonders heißen sechsten Stunde war an Arbeiten nicht zu denken. Die Stadt war dennoch nicht ruhig. Straßenlärm drang in jede Ecke, lachende Jugendliche trieben sich in den Gassen herum, kreuzten den Weg der Touristen, von denen es in den letzten Jahren immer mehr gab. Scheinbar zog es die Menschen im Sommer in Scharen in den Süden. Jeder wollte von der Süße Italiens kosten, das sich langsam, aber sicher vom Krieg erholte und einen gewissen Wohlstand genoss. Beileibe nichts, das sich von jetzt auf gleich ergeben hatte. O nein! Es lagen Jahre harter Arbeit hinter den fröhlichen Südländern, zu denen sich Anatolia Lavoratori an diesem Tag nicht zählte.

Sie saß auf den steinernen Stufen, die zum Haupteingang der Accademia di Belle Arti führten und rauchte eine Zigarette. Ein Zeichen dafür, dass sie nervös war und ihr Kopf voller Sorgen. Seit Tagen stritten sich darin die Gedanken, hielten sich nicht einmal nachts zurück. Keine Spur von Fröhlichkeit. Dass sie in ihren Semesterferien vor ihrer Ausbildungsstätte saß, war ein weiteres Zeichen. Vermutlich war sie die einzige Studentin weit und breit, die sich wünschte, es gäbe keine unterrichtsfreie Zeit. Zumindest war sie die einzige Studentin ihres Jahrgangs. Denn dass Frauen studierten, war hier unten im Süden immer noch eine Rarität. Sie verdankte es ihrem Stipendium und einem Talent, dessen sie sich nicht bewusst gewesen war. Die Dozenten der Akademie, die als königliche Zeichenakademie im Jahr 1752 gegründet worden war, hielten große Stücke auf sie, Anatolia Lavoratori, die im staubigen Venosa aufgewachsen und absolut nichts Besonderes war. Hier schon. Hier stach sie mit ihren innovativen Ideen und der lebhaften Art heraus. Hier mochte man nicht nur ihre Kunstfertigkeit, sondern ebenso ihr Vermögen, vor einem Publikum zu stehen und über die hohen Künste zu referieren. Als Frau! Erlaubte sie sich das Eigenlob, tat sie das sogar besser als ihre männlichen Kommilitonen. Nein. Im Grunde gab es nichts, das sie jemals veranlassen könnte, ihr Studium im vorletzten Semester zu unterbrechen.

Bis auf Nachrichten aus der Heimat. Zerstörerische Nachrichten, die sie nicht übergehen konnte. Dass ihre Mutter von einem plötzlichen Schlaganfall ans Bett gefesselt wurde. Dass ihr Vater ohne sie keine Pizzeria führen konnte. Dass es nicht gut stand um den Familienbetrieb in Venosa. Gar nicht gut. Anatolia blies den Zigarettenqualm seufzend in die Luft und sah ihm dabei zu, wie er im Nu verwehte.

Lass das nicht geschehen. Du bist gegangen, weil du mehr als das wolltest. Du sehnst dich nach einer anderen Zukunft und bist so kurz davor, sie zu erreichen!

Es stimmte. Sie war dem Landleben Venosas entflohen, dem immer gleichen, öden Alltag, der aus nichts anderem als Pizzateig bestand. Die Seele ihrer Mutter mochte es erfüllen – für sie gab es nichts Schöneres, als summend meterlange Pizzen zu kreieren und ihre Gäste zu bewirten. Anatolia hingegen verzehrte sich nach Kunst, nach Kreativität und Freiheit. Nach ihrem eigenen Leben. Sollten doch ihre Cousins mitanpacken. Sie lebten schon im Haus ihres Papas, da war Anatolia noch nicht einmal geboren gewesen. Nachdem ihr Onkel Vincenzo und dessen Gattin verunfallt waren, hatte Anatolias Papa die Zwillinge bei sich aufgenommen und bis zum heutigen Tag wussten die beiden nicht recht, was aus ihnen werden sollte. Bitte. Da konnten sie sich in der Backstube nützlich machen und Anatolia ihr Studium beenden.

Klar, damit auch der letzte Rest Kundschaft flieht! Anatolia hasste die Gegenstimme in ihrem Kopf, die jeden Entschluss wieder vernichtete, die Thematik neu aufrollte und Anatolia damit zur Verzweiflung trieb. In der Tat waren Manilo und Manlio nicht gerade zuverlässig. Ihr Hang, den Leuten sinnlose Streiche zu spielen, kam bei den einen vielleicht an, bei anderen kein bisschen. Sie waren kein Ersatz für die gut gelaunte Aurora Lavoratori, die den Menschen ihre Pizza mit einem Lachen und einem Schwank servierte. Anatolia lächelte bei dem Gedanken an ihre Mama, von der sie das Vermögen anzupacken, zweifellos geerbt hatte. Ihr Papa war ein gutmütiger Kerl und tüchtig obendrein. Doch wenn ihm eine Laus über die Leber lief, konnte ihn das über Tage und Wochen aus der Bahn werfen. Dazu zählte gewiss auch der Schlaganfall seiner Gattin. Anatolia seufzte. Nein, es half nichts. Sie konnte ihn nicht im Stich lassen. Sie musste ihm beistehen und dafür sorgen, dass seine Pizzeria In un Pezzo weiterlebte.

Anatolia, du bist die einzige weibliche Studentin an der Akademie der schönen Künste. Wirf das jetzt nicht weg, um dein Kunsttalent an die heimische Küche zu verschwenden.

Sie schloss die Augen, wusste, dass das die Stimme in ihrem Kopf nicht zum Verstummen bringen würde. Warum war das Erreichen von Zielen immer so beschwerlich? Sie öffnete die Augen und betrachtete die aus gelbem Tuffstein erbaute Akademie. Sie zählte zu den ältesten in Europa und hatte schon sehr viele neapolitanische Künstler hervorgebracht. Eine davon wollte sie sein. Lass dir wenigstens ein paar Tage Zeit, bis du dich entscheidest.

»Hey Anatolia, was machst du hier? Hast du vom Lernen immer noch nicht genug?« Die Stimme Luca Tumilas ließ sie aus ihren Gedanken hochschrecken. Er und seine Freunde standen in ihren Polohemden und halblangen Chinos vor ihr, ebenso in Urlaubslaune wie alle anderen ringsumher. Anatolia mochte Männer in Polohemden nicht. Nein, das war nicht korrekt: Sie mochte Polohemden nicht! Denn die Männer, die darin steckten und wie Idioten aussahen, waren eigentlich völlig in Ordnung. Zumindest diese drei hier, im selben Semester wie sie und keine, die auf sie als Frau heruntersahen.

»Nur wer niemals aufhört zu lernen, wird den Weg zu den Sternen finden«, erwiderte sie mit einem Grinsen, verbarg ihre Sorgen dahinter und stand auf, während sie mit den Spitzen ihrer Pin Up-Schuhe ihre Zigarette austrat. Die Augen der drei ruhten dabei auf ihren Hüften und sie genoss jede Sekunde davon.

»Wen zitierst du denn jetzt wieder?«

»Mich selbst«, antwortete Anatolia und sah die drei an. »Was ist? Ihr wolltet mich zweifelsohne fragen, ob ich euch an den Strand begleite, oder nicht?«

Der Abend brachte kaum Abkühlung. Das Meer hingegen hatte Anatolia kurzzeitig erfrischt und die gute Laune ihrer Kommilitonen sie abgelenkt. Sie wusste, dass es Menschen gab, die sich mit gefurchter Stirn nach ihr umdrehten, wenn sie wie selbstverständlich im Gleichschritt mit den jungen Studenten die Via hinabschlenderte. Die Menschen wunderten sich und fragten, ob es sich für ein junges Mädchen ziemte, so ausgelassen mit Männern unterwegs zu sein. Wieso nicht? Die Zeiten änderten sich. Jeder strebte dieser Tage nach Fortschritt und Anatolia hatte mittlerweile ihren Wert erkannt. Sie musste sich nicht unter ihm verkaufen. An der Akademie stand sie den Burschen in nichts nach, weshalb im sonstigen Leben? Sie konnte mit ihnen einen Tag am Strand verbringen, ohne ihnen auf der Stelle zu verfallen. Sie konnte sogar mit ihnen flirten, ohne etwas zu beabsichtigen. Freche Sprüche gehörten dazu und waren nicht allein den Männern vorbehalten, fand Anatolia. Sie zählte sich nicht zu diesen Mädchen, die darauf warteten, von ihrem Prinzen geküsst und verführt zu werden. Oder zu jenen, die alles so handhabten, wie es schon immer gewesen war. Zumal die Welt rastloser wurde und sich ständig wandelte. Nach dem Krieg herrschte ein neues Lebensgefühl und Anatolia teilte es. Sie teilte den Wunsch nach Veränderung und ihrer eigenen Selbstverwirklichung. Sie war nicht immer so tough gewesen. Sich in einer fremden Stadt zu behaupten, hatte sie einige Monate gekostet, ein ganzes Jahr, bis sie sich an das Großstadtleben gewöhnt hatte. Bedachte man es recht, war sie bloß ein Mädchen vom Lande, das versuchte, sein Glück zu machen.

Bei diesen Gedanken kehrte schlagartig die Erinnerung an das zurück, das sie in den letzten Stunden erfolgreich verdrängt hatte. Konnte sie hier ihr Glück machen? Oder streckte ihre Vergangenheit bereits die Hände nach ihr aus, zog sie zurück in das stillstehende Venosa? Zurück zu Riten und Normen, zu Traditionen, die nie gebrochen wurden. Nicht einmal die unangenehmen. Jahrelange Familienfehden oder alberne Beschimpfungen auf offener Straße.

»Anatolia? Bist du es?«

Sie erreichte eben das kleine Häuschen, in dessen Dachgeschoss sie ein winziges Zimmer bezogen hatte. Bei einer alten Dame, die kaum mehr etwas sah, es sei denn, man stand einen halben Meter von ihr entfernt. An diesem Abend saß sie auf der Bank in ihrem Vorgarten, genoss die Wärme, die ihren alten Knochen schmeichelte, wie sie immer behauptete. Bis vor anderthalb Jahren hatte sie das zusammen mit ihrem Gatten getan. Manchmal sah Anatolia ihn immer noch neben ihr sitzen.

»Ja, ich bin es«, sagte Anatolia. »Buona sera, Signora Ricci.«

Die Signora lächelte mit sichelförmigen Augen, ihre ausgeprägten Falten tanzten über ihr Gesicht. Sie behielt ihr Alter für sich, versorgte sich größtenteils allein und vermied es tunlichst um Hilfe zu bitten. Hin und wieder, wenn ihr die Milchflaschen zu schwer waren oder sich die Wäscheleine unter der Last der Handtücher durchbog, ging ihr Anatolia ungefragt zur Hand und die Signora ließ es geschehen. Anderntags stand ein Stück Ciambella oder eine Schale Obst vor ihrer Wohnungstür und beide Frauen schenkten einander ein Lächeln. Signora Riccis Verwandtschaft lebte im Norden Italiens und ließ sich nur selten blicken, was die Alte nicht störte. »Familie heißt Verpflichtung und ich bin alt und lästig«, sagte sie gerne mit einem Grinsen und fügte mit einem breiteren hinzu: »Ein Kompliment, das ich erwidern kann.«

Nun teilte sie ihr mit einem Ausdruck mit, in dem Anatolia lesen konnte, dass sie auch deren Familie für lästig hielt: »Mädchen, du hast zwei Anrufe verpasst.« Dass die alte Signora über den Luxus eines privaten Telefons verfügte, verdankte sie ihrem verstorbenen Ehemann, der als Mitarbeiter einer Telefonzentrale einen eigenen Anschluss in seinem Haus gelegt hatte. Es war kein besonderes Modell. Sperrig und nicht immer zuverlässig stand es im Hausflur auf einem Holzsockel, die Steckverbindung war aus Anatolias Sicht kriminell und würde es nicht mehr lange machen. Doch bis dahin war es weit mehr, als sie aus ihrer Heimat kannte. In Venosa war ihr Vater gezwungen, extra zum Postamt zu gehen, um ein Gespräch zu führen. Daher musste es ihn sowohl eine Menge Zeit als auch Nerven gekostet haben – ohne sie zu erreichen. So sehr sie es zurückdrängte, das schlechte Gewissen überkam sie und sie biss sich auf die Unterlippe.

»Ah, schau nicht so Kind. Ich habe ihm gesagt, er soll um neun heute Abend anrufen, nicht mitten am Nachmittag.«

Anatolia lächelte. »Mille grazie, Signora!« Obschon sie dem baldigen Telefonat mitnichten entgegenfieberte, war sie doch froh, sich nicht die gesamte Nacht den Kopf darüber zerbrechen zu müssen, was ihr Papa ihr zu sagen haben würde.

Zu ihrer Überraschung war es nicht Papa Pepe, wie sie ihn scherzhaft nannte – und halb Venosa dazu, weil er mit seiner Gemütlichkeit für alle eine väterliche Figur darstellte –, sondern ihr Cousin Manlio, der um zehn nach neun anrief.

»Ho, ciao Cousinchen! Wie geht es drüben in Neapel?«

Sie schmunzelte. »Alles bestens, danke.«

»Das freut mich zu hören. Ich bin auch wohl auf. Manilo und ich haben eine neue Geschäftsidee, die sich gewiss lukrativ gestalten wird. Das schwöre ich dir!«

Anatolia sank mit einem innerlichen Aufseufzen gegen die Wand. Seit sie denken konnte, hatten ihre Cousins alberne Ideen, von denen sie immerzu annahmen, sie brächten ihnen eine Menge ein, und am Ende musste irgendwer für den Schlamassel geradestehen, den sie verursacht hatten. Im Zweifelsfall ihr Onkel und damit Anatolias Papa.

»Eine Geschäftsidee?« Sie runzelte die Stirn.

»Ja! Das wird eine wundervolle Sache. Wir verstehen uns mittlerweile auf Süßigkeiten. Wir wollen unsere eigenen Haribos herstellen. Du weißt schon, wie der Bursche aus Deutschland. Diese Tanzbären. Die einstweilige Rohstoffknappheit kommt uns entgegen. Vielleicht werden wir ihm ernsthafte Konkurrenten und …« Anatolia verlor die Geduld. »Ja, furchtbar interessant, Manlio, aber das ist nicht der Grund für deinen Anruf, oder?«

In der Leitung knisterte es kurz. »Sag, wann kommst du nach Hause?«

Anatolia stöhnte. »Ach, ist es für euch schon abgemacht, dass ich komme?«

»Selbstverständlich«, erwiderte Manlio. »Wie könntest du nicht? Aurora erholt sich so schnell nicht und Papa Pepe hat alle Hände voll zu tun. Auch jetzt musste er mich schicken, obwohl ich wahrlich Besseres zu tun hätte. Die Pizzen machen sich nicht von allein. Manilo und ich haben maximal einen Tag in der Woche Zeit, um ihm zur Hand zu gehen. Du weißt … unser Geschäft … die Tanzbären. Somit bist du die einzige Hoffnung deines Papas. Obendrein ist es deine Pflicht als Tochter, dich um die Familie zu kümmern.«

Anatolia konnte es nicht leiden, wenn andere von ihren Pflichten sprachen. Manlios Worte sprudelten indes weiter immun gegen sämtliche Einwände.

»… hinzu kommt, dass diese Di Nero-Bande, diese Satansbraten, durch die Straße stolzieren, als seien sie sich unseres Ruins bereits sicher. Das können wir nicht auf uns sitzen lassen.«

Sie hatte es geahnt, hatte gewusst, dass er auf diese Familie zu sprechen kommen würde, die seit Jahren nichts anderes herbeizusehnen schien als den Untergang der Lavoratoris. Als sie ein Mädchen gewesen war, hatten diese kleinen Zwistigkeiten noch ihren Reiz besessen und sie den verhassten Nachbarn ab und an genauso gerne Streiche gespielt wie ihre Cousins. Heute, zehn Jahre später, waren sie aus dem Alter heraus und Anatolia heilfroh, diesem ständigen Gezänk entflohen zu sein. Ihre Rückkehr würde daran nichts ändern.

»… ohne jeden Zweifel haben sie es auf unser Casa Principessa abgesehen und …«

Es war erstaunlich, wie häufig er von unserem Ruin und unserem Casa sprach, aber stets von Anatolias Pflichten. »Manlio, Manlio, mach mal langsam.« Sie erhob ihre Stimme nur minimal, doch es zeigte Wirkung. Er unterbrach sein wasserfallartiges Geschwätz. »Ich kann nicht so leicht mein Studium abbrechen und nach Venosa kommen. Ich habe Prüfungen und …«

»Pah, dein Studium. Was ist ein Studium, wenn es um die Familie geht?«

»Was ist deine Geschäftsidee, wenn es um die Familie geht?«, fragte Anatolia.

»Es ist nicht meine Mama, die im Bett liegt. Es ist nicht mein Papa, der bei jeder Kleinigkeit die Nerven verliert.«

Anatolia presste die Lippen aufeinander und schwieg. Ihr Herz schlug wie wild. Er hatte natürlich recht. Es waren nicht seine Eltern, die Hilfe brauchten. Was ihn nicht davon abhielt, die Hand nach Geld für zum Scheitern verurteilte Ideen auszustrecken. Das würde sie ihm nicht sagen. Sie wollte sich nicht streiten, nicht am Telefon, nicht im Haus von Signora Ricci, deren Ohren ihr im Vergleich zu ihren Augen noch einen vortrefflichen Dienst erwiesen.

»Ich habe erst …«

»Dein ach so wichtiges Studium lässt sich doch verschieben, oder nicht? Klar lässt es sich das. Ich schlage vor …«

Sie würde nicht mehr erfahren, was er ihr vorzuschlagen beabsichtigte. Mit einem leisen Knacken versagte die Verbindung. Ein nicht unübliches Phänomen, für das es, war Anatolia ehrlich, keinen besseren Zeitpunkt hätte geben können. Mit ihren Cousins ließ sich nicht reden, schon deshalb, weil sie es nicht ausstehen konnte, dass sie immerzu verlangten und niemals verstanden. Seufzend legte sie den Hörer auf die Gabel und wusste, dass sie eine Entscheidung treffen musste. Alles in ihr schrie nach einer Trotzhandlung, in der sie ihre Familie drüben in Venosa sitzen lassen würde. Nach diesem Gespräch umso mehr. Gleichwohl war ihr bewusst, dass sie ihren Groll gegen Manlio nicht auf ihre Eltern übertragen durfte. Santo cielo! Was für ein Dilemma.

Die Hitze hatte sich über Nacht in einem Gewitter entladen und brachte eine frische Brise über den Morgen danach. Die Neapolitaner trieb es in die Straßen hinaus, selbst um die Mittagszeit war mehr los als tags zuvor. Allein in Anatolia stürmte und tobte es weiter, als habe sich das Gewitter in ihren Kopf verzogen, und warf tiefe, grüblerische Falten auf ihre Stirn. Sie ging eiligen Schrittes durch die Straßen, angetrieben von ihren Gedanken.

»Ho, ho! Langsam, meine Hübsche, wo willst du so schnell hin?« Sie schreckte auf, hatte überhaupt nicht bemerkt, dass sie beinah mit jemandem zusammengestoßen wäre. Ihr Gesicht hellte sich minimal auf, als sie erkannte, wer es war. Man konnte sich hier in der Nähe der Akademie tatsächlich darauf verlassen, auch in den Ferien stets einen Mitstudierenden zu treffen. Emilio war ein beliebter und fröhlicher Bursche und an diesem Tag um ein Vielfaches mehr.

»Verzeih, ich war in Gedanken.« Ihre Augen wanderten von seinem schicken Anzug zum Vorgarten seines Hauses, in dem sich allerlei schwatzende Menschen versammelt hatten. »Was ist denn hier los? Gibt es etwas zu feiern?«

»Sicher, sicher gibt es das. Den Namenstag seiner Mama«, sagte der Nachbar aus dem Erdgeschoss, der sich den Kopf aus dem Fenster streckend ins Gespräch einmischte. »Die lassen keinen Anlass aus. Emilio ist der geborene Familienmensch!« Es lag Herzlichkeit in seiner Mimik, als störe ihn die muntere Gesellschaft kein bisschen.

»Was gut so ist«, erwiderte Emilio. »Solange wir zusammen feiern können, sollten wir es tun. Glaub mir, ich will jede Minute mit ihnen nutzen. Im Leben jedes Menschen kommt einmal die Zeit, in der er jemanden an seiner Seite braucht und dann ist er gottfroh, eine Familie um sich zu haben, die ihn liebt.« Er hob lachend die Hand und winkte in den Garten hinein, aus dem ihm vielstimmiges Gelächter als Antwort entgegenscholl. Anatolia lächelte beim Anblick dieser Menschen, die nichts anderes taten, als die Schönheit des Tages miteinander zu genießen. Emilio bemerkte ihren Gesichtsausdruck. »Setz dich doch einen Moment zu uns, was denkst du?«

Eigentlich wollte Anatolia dankend ablehnen, so gut kannte sie Emilio nicht, war aber im Nu umringt von kichernden und johlenden Menschen, die sie einluden, ein wenig von der Limonade zu trinken oder einen Happen vom Kuchen zu essen.

Nicht einmal Anatolia konnte sich dagegen wehren, diese malerische Zusammenkunft aus Menschen nicht zu genießen. Ein Gefühl der Vertrautheit beschlich ihren Körper, als Emilio auf die Bank deutete und lachende Gesichter ihr Eiscreme in den Mund schoben, kaum dass sie saß. Die völlige Perfektion lag in diesem Moment, der sie mit jedem Atemzug an Venosa erinnerte. Der Himmel schien blau auf sie hinab und die Mandelbäume duftenden in der brennenden Sonne. Noch bevor das Eis in ihrem Mund sein Aroma entfaltete, hatte sie eine Entscheidung getroffen.

Am Tag darauf packte sie ihre Habseligkeiten zusammen, regelte, was zu regeln war, verabschiedete sich bei jenen, die sie täglich sah und stand zu Beginn der Woche mit ihren zwei Koffern vor der Accademia di Belle Arti, ein wehmütiges Lächeln im Gesicht.

»Ich komme zurück«, hauchte sie. Sie würde ihr Studium unter- nicht abbrechen. Das schwor sie den beiden Bronzelöwen am Eingang der Akademie – und sich selbst. Dann schnappte sie sich die Koffer und schlug den Weg zum Bahnhof ein.

Sogni

Venosa, August 1955

Darin ein Vergnügen zu sehen, in einem stickigen Bus über unebene Straßen zu holpern und Zeugin jedweder Familiengeschichte der übrigen Fahrgäste zu werden, war Anatolia schon immer unsinnig erschienen. Mit der Aussicht aus der kulturell bereichernden Stadt Neapel in das traditionsbewusste Venosa zurückzukehren, das seine Sternstunde vielleicht im 16. Jahrhundert unter den Gesualdos erlebt hatte, aber gewiss nicht dieser Tage, wurde aus einem nicht vorhandenen Vergnügen größtmöglicher Widerwille. Anatolia hatte das Gefühl, in die Vergangenheit zu reisen. In ihr wuchs mit jedem Kilometer, mit dem sie ihrer Heimat näherruckelte, die Furcht, sie würde sich in der stillstehenden Zeit verlieren und nie wieder freikommen. Nicht, dass sie die heraufziehende Industrialisierung und Vernichtung der Landstriche bevorzugte – sie war heilfroh, im Süden Italiens zu leben, wo sich dieser moderne Einzug in Grenzen hielt. Ein bisschen Urbanisierung konnte allerdings nicht schaden. Je weiter sie sich von Neapel entfernte, desto holpriger verlief die Straße, desto trockener wurde die Gegend, die sich keiner nennenswerten Bodenschätze erfreuen durfte und deshalb ausschließlich agrarisch genutzt wurde. Ob sich diese Landschaft wahrlich glücklich nennen durfte, wie es bereits zu Zeiten der Magna Graecia hieß, wagte Anatolia zu bezweifeln.

Als sie nach fast sechs Stunden Fahrt, der es an jeglichem Komfort gefehlt hatte, aus dem Bus wankte, legte sich bereits die Abendsonne über Venosa. Einen Augenblick lang stand Anatolia verloren und unschlüssig an der Bushaltestelle Maschito. Der hübsche schokobraun gepunktete Faltenrock, der ihre Taille betonte, passte ebenso wenig in die Umgebung wie ihr dazu passendes Hütchen, das auf ihren schulterlangen, dunkelbraunen Haaren saß. Anatolia fühlte sich wie ein Fremdkörper. Was sie gegebenenfalls beabsichtigt hatte. Sie wollte sich abheben, den Leuten hier zeigen, dass sie einen anderen Status lebte. Kleidung war dieser Tage ein Aushängeschild. Sowie eine fraglose Eleganz. Noch vor einigen Jahren hatten die Frauen ihre Hosen mit Stolz getragen, jetzt machte es vor allem Eindruck, wenn das Kleid besonders hoch in der Taille saß. Warum war ihr das so wichtig? Weil du klarstellen willst, dass du nicht hierhergehörst, richtig? Mutmaßlich.

Es erleichterte Anatolia, dass sie ihrer Familie keine exakte Anreisezeit genannt hatte. Sie wollte nicht von ihnen abgeholt und von einer Sekunde auf die andere mit Neuigkeiten überhäuft werden, die sie nach einer anstrengenden Reise nicht hören mochte, geschweige denn verarbeiten konnte.

Entsprechend hob sie ihre Koffer an und ging damit auf die Stadt zu, nicht die Spur desillusioniert ob der Tatsache, eine Wegstrecke von etwa dreißig Minuten zu Fuß zurücklegen zu müssen. Auf ihre Pumps hatte sie wohlweislich verzichtet. Sie wusste, was es bedeutete, selbst zu gehen. Es war ihre bewährte Vorgehensweise, so viele Dinge wie nur irgend möglich allein zu bewerkstelligen. So marschierte sie entschlossenen Schrittes auf den Stadtkern zu. Es dauerte nicht allzu lange, bis sie auf die ersten Einwohner traf. Sie wurde in ihren Erwartungen nicht enttäuscht. Die tellergroßen Augen der Kerle, die überall herumlungerten, sei es in ihren Stühlen am Straßenrand sitzend wie im Falle der älteren Generation, oder eben auf dem Bürgersteig und rauchend wie in dem der jüngeren, missachtete sie. Letztere ließen es sich nicht nehmen, ihr mit mehr als bloßen Blicken zu folgen. Ihre Pfiffe reizten Anatolias Trommelfell und ihr verschwitzter Geruch hing ihr noch meterweit in der Nase. Als hätten sie noch nie eine Frau gesehen. Vor allem Anatolia, die sie eigentlich kennen müssten. Aber da konnte man mal sehen, wie schnell ein Mädchen zur Fremden wurde, wenn es drei Jahre fort gewesen war. Irgendetwas musste in dieser Zeit passiert sein. Soweit sie sich erinnern konnte, hatten die Jungen ihr früher nicht so unverhohlen nachgestarrt.

»Ciao, Bellezza!«, rief ihr jeder Zweite hinterher, was ihr eindeutig bewies, dass sie sie nicht als die Tochter Pepe Lavoratoris wiedererkannten. Dabei wusste Anatolia von den meisten, wer sie waren – und im Grunde hatte sich an ihnen kaum etwas verändert. Enrique, dessen Mama ihm bis zu seinem zehnten Lebensjahr den Popo abgewischt hatte, trug seinen Babyspeck immer noch mit Stolz. Die Pickel auf Alfonsos Gesicht waren von den Wangen zur Stirn gewandert und Fernandos Lachen klang seit eh und je wie ein halbes Hundebellen. Den alten Vittorio mit seinem fetten Bauch und den drei Härchen über der Glatze, auf den sie am Tabakstand traf und der sie anstelle eines Grußes mit einem hungrigen Blick bedachte, hatte sie schon als Kind nicht leiden können. Wie es aussah, hatte sich daran nichts geändert – es gestaltete sich alles genauso wie befürchtet. Sie bog in die Via del Calvario ein und verlangsamte ihren Schritt. Ein Fehler.

»Woher kommst du, Süße? Rom, Venedig oder Neapel?«

Albernes Gelächter folgte dieser Frage, dem sich ein weiterer Ruf anschloss. »Biste in den falschen Bus gestiegen?«

Anatolia hielt inne, schloss die Augen und überhörte die Stimmen in ihrem Kopf. Sie drehte sich um und sah die vier Burschen geradewegs an. »Wer hierherkommt, muss einen triftigen Grund haben. Freiwillig möchte sich unbestreitbar niemand das blöde Gewitzel halbreifer Jungen anhören. Wer außerdem nicht unmittelbar erkennt, woher ich stamme, an den dürfte jedes weitere Wort verschwendet sein.« Damit machte sie auf dem Absatz kehrt, schalt sich eine eingebildete Kuh und genoss es dennoch, dass die Bengel ihr mit offenen Mündern hinterhersahen.

Die Begegnung hatte ihr verdeutlicht, dass ihr nicht der Sinn danach stand, zu ihrer Familie heimzukehren. Viel lieber würde sie in den späten Abendstunden auftauchen, wenn Hochbetrieb in der Pizzeria herrschte und kaum Zeit für einen großen Empfang blieb. Daher schlenderte sie die Via Frusci hinunter, die sich mitnichten verändert hatte. Im Haus an der Ecke stritten sich wie immer die Sempres, zwei Häuser weiter saß Picco, der altersschwache Hund der Witwe Elisabetta, und sah so ausgemergelt und kränklich aus wie einst. Aus dem Hof dahinter drangen die sanften Töne einer Mandoline an ihr Ohr, sie folgte der Melodie und fand sich vor Matteo Stoccis Cantina wieder. Sie konnte sich nicht erinnern, je im Innern dieses Etablissements etwas getrunken zu haben. Ehe sie mit siebzehn Jahren Venosa verlassen hatte, um zu studieren, war sie selten ausgegangen, und noch weniger hatte sie sich mit dem Genuss von Alkohol auseinandergesetzt – anders als ihre Cousins, die seit ihrem zwölften Lebensjahr von sich behaupteten, in rauen Mengen zu trinken. Matteos Familie besaß ein Stück Land, auf dem jedes Jahr die saftigsten Weintrauben reiften, woraus Matteo einen Wein zauberte, mit dem er den Bewohnern Venosas den Gaumen schmeichelte. Anatolia hatte inzwischen Bekanntschaft mit ihrem ersten Rausch gemacht. Als trinkfest würde sie sich deswegen nicht bezeichnen und schon gar nicht als Weinkennerin. Doch wie sie so dastand und sich scheute, heimzukehren, beschloss sie kurzum, einen Abstecher in Matteos Cantina zu unternehmen. Sie war nichts anderes als ihr Name verriet: ein mit Tischen und Stühlen ausgestatteter Weinkeller. Der gewölbeartige Innenraum machte einiges her. Hinter der Bar stand Matteos älteste Tochter und half ihrem Papa beim Ausschenken. Die beiden hatten alle Hände voll zu tun. Trotz früher Stunde war jeder Tisch besetzt und es herrschte fröhliches Treiben. Der Mandoline hatten sich auf einer Schaubühne weitere Instrumente angeschlossen, spielten ein flottes Canzone Melodica im Stile Claudio Villas. Anatolia mochte diesen jungen Sänger, den die Italiener voller Stolz Kleiner König nannten. Mit seiner hohen Tenorstimme vereinte er die neapolitanische Musik mit neuen Strömungen und erschuf Anatolias Meinung nach etwas völlig Neuwertiges. Etwas Stimmungsvolles. Sie sah sich lächelnd in der Cantina um. Entweder es hatte sich völlig ihrer Kenntnis entzogen oder Matteos Etablissement war innerhalb der letzten drei Jahre zu einer Tanzbar gereift. Die fröhliche Stimmung ging jedenfalls im Nu auf sie über, lockerte das Band um ihre Brust und veranlasste sie dazu, sich an die halbrunde Bar zu setzen. Die beiden Koffer schob sie nah gegen die Olivenholztheke. Sie hob ihren Hut aus Papierstroh vom Kopf, schüttelte die leicht eingedrehten Locken und fächelte sich mit der breiten Krempe Luft zu. Eine zur Gewohnheit gewordene Geste, wenn sie im stickigen Hörsaal der Akademie saß, und die nichts anderes als Luftzufuhr bedeutete. Gleichwohl zog sie damit hier in Matteos Weinkeller die Aufmerksamkeit aller Umstehenden auf sich. Keine Sekunde später war sie umzingelt von Männern jedweder Altersgruppe, die sich nicht zu schade waren, untereinander mit ihren fantasielosen Anmachsprüchen in Konkurrenz zu treten. Konnte es wirklich sein, dass sie niemand wiedererkannte?

»Ciao, schöne Fremde, darf ich dich zu meinem Freund Tom Collins einladen?« Der Bursche kam ihr bekannt vor, war maximal fünfzehn, aber offensichtlich bereits vertraut mit dem Geschäft der flotten Sprüche.

»Danke«, antwortete Anatolia mit liebenswürdiger Herablassung, »ich bleibe beim trockenen Martin und du stehst auf meinem Fuß.«

»Ich stehe auf dich, willst du tanzen?«

Sie zog die Spitze ihres Schuhs unter seinen Gamaschen hervor. »Nein danke, ich würde meine Zehen vermissen.«

»Im Ernst, so eine bist du? Erst machst du uns heiß und dann zierst du dich? Leute, die feine Dame braucht eine Extraeinladung.«

Ehe Anatolia mit ihrer Schlagfertigkeit auftrumpfen konnte, lag seine Hand an ihrer Hüfte und seine Freunde standen ihr nah im Nacken. »Ist das deine Masche, ja? Wo lernt man das? Da würde ich gerne …«

»Jungs, ihr kennt die Regeln hier!«, sagte Matteo schneller, als sich Anatolia wehren konnte. »Die Signorina hat sich deutlich genug ausgedrückt. Nimm deine Hände weg und verzieh dich, Umberto! Und deine Freunde gleich dazu.«

Ach, Umberto, na sicher.Der war schon als kleiner Junge eine Rotznase, erinnerte sich Anatolia. Jetzt versuchte er sich an einem unbekümmerten Grinsen, um seine bröckelnde Lässigkeit zu retten, und zog seine Hand zurück. Stattdessen winkte er seinen Freunden damit zu und sie verzogen sich mit lüsternen Blicken, die Anatolia ungerührt erwiderte. Sie drehte sich zurück zum Tresen, der plötzlich verwaist wirkte. Ein einziger weiterer Gast saß auf einem der Barhocker, traf flüchtig Anatolias Blick. Er senkte ihn nicht, noch schien darin ein Interesse verborgen. Er sah bloß zu ihr hinüber, mehr ab- als anwesend. Der Moment zog weiter, indem sie beide ihre Aufmerksamkeit anderen Dingen schenkten. Er seinem Wein und sie dem hinterm Tresen stehenden Matteo, der ihr ein Lächeln schenkte. »Drei Jahre sind eine lange Zeit. Nicht wahr, Prinzessin unter den Arbeiterinnen?«

Anatolia schmunzelte über seine Bemerkung, erleichtert, dass wenigsten einer wusste, wer sie war. Es war ein vertrauter Scherz derer, die die Lavoratoris schätzten, die weiblichen Familienmitglieder arbeitende Prinzessinnen oder Prinzessinnen der Arbeiterklasse zu nennen – als Anspielung auf ihr Casa Principessa, in dem sie lebten und arbeiteten. »Sieht ganz so aus.«

Er zwinkerte. »Bleibt es beim Dry Martini oder war das lediglich eine saloppe Antwort auf einen dummen Spruch?«

»Was denkst du von mir, Matteo? Ich glaube nicht, dass ich an meinem ersten Abend hier so respektlos sein und deinen hausgemachten Wein verschmähen kann.«

»So ist es recht. Er kommt sofort.«

Gerade nippte sie an ihrer Bestellung, als sich der Weinkeller verdunkelte und ein junges Mädchen die Bühne betrat. Es trug nichts weiter als ein schlichtes Sommerkleid, das dunkle Haar floss ihm lang und seidig über den Rücken, das Lächeln war fast schüchtern. Irgendeine Signora, die weitaus effektheischender in Aussehen und Auftreten wirkte, verkündete den Premierenauftritt der ›Süßen Nina‹, was beklatscht und bejubelt wurde, während die ›Süße Nina‹ verlegen lächelte und auf ihren Einsatz wartete. Sie wurde von der Mandoline unterstützt, die Stimme zart und hoch, nur deshalb getragen, weil sie in ein Mikrofon sang. Zweifellos schlummerte das Talent der großen Sängerin in ihr. Doch traute sich ihr Potenzial noch nicht, sich gänzlich zu entfalten und eine Bühne zu erobern. Vielleicht war sie nicht entsprechend motiviert worden und würde es an diesem Abend auch nicht werden. Ihr Publikum machte keinen Hehl daraus, was es von ihrer schlichten Performance hielt. Einige buhten sogar und der Applaus fiel verhalten aus, weshalb sich Nina mit einem Lächeln rasch entfernte. Anatolia hingegen hatte ihre Gesangseinlage genossen. Sie hatte das Mädchen im Stillen für seinen Mut beglückwünscht, sich auf der Bühne zu erproben. Es gab für jeden ein erstes Mal, das man entweder ergreifen musste oder auf ewig verlorenen Träumen hinterherjagte. Wie gerne hätte sie Nina eben das gesagt und sie ermutigt, nichts auf diese Bande von Unwissenden zu geben, die nach der nächsten pfiffigen Canzone verlangten.

»Die haben keine Ahnung.«

Dem Moment haftete ein seltsamer Ton an, wie das plötzliche Zupfen einer Mandolinensaite, als Anatolia überrascht aufsah und ebenso der Kerl an der Bar, der schon zuvor ihren Blick gestreift hatte. Nun lag nichts Flüchtiges mehr darin, nichts Zufälliges. Nein, jetzt sahen sie einander direkt in die Augen. Beide verblüfft darüber, denselben Gedanken zur gleichen Zeit laut geäußert zu haben. Anatolias Verwunderung wich einem Lächeln, seine Mundwinkel zuckten lediglich. Für den Bruchteil von Sekunden stahl sich ein seltsamer Gedanke in ihren Kopf. Dass sie eventuell ihrem Seelenpartner gegenübersaß. Er verflüchtigte sich so schnell, wie er gekommen war. Denn sie kannte diesen jungen Mann nicht, fand jedoch, dass er nicht wie die anderen wirkte. Er war ruhig, nicht laut und gestikulierend, um vehement seine Meinung kundzutun. Er fluchte nicht und flirtete nicht. Er war bloß da. Ein junger Kerl mit dunklem Haar und Augen, die von einem so hellen Braunton waren, dass sie seinem Ausdruck etwas Sanftes verliehen. Oder zumindest fehlte es ihnen an der Verwegenheit. Er war auch blasser als die meisten hier. Nur ein paar einzelne Sommersprossen verteilten sich über sein Gesicht, in dem die Wangenknochen hervorstachen. Mutmaßlich lag er seltener in der Sonne. Sie bemerkten beide, dass sie einander bereits zu lange musterten und senkten die Blicke, um sie eine Sekunde darauf wieder zu heben und einander zu finden.

»Scheinbar sind wir einer Ansicht«, sagte sie.

»Scheinbar, ja.« Sie mochte dieses feine Lächeln an ihm, nur eine Ahnung, trotzdem schön. Er prostete ihr zu und sie erwiderte es, nahm endlich einen Schluck von ihrem Wein. Sie konnte nicht sagen, ob er süß oder herb schmeckte, hatte keinen Schimmer, wie Wein zu schmecken hatte. Denkbar, dass sie überhaupt nicht auf den Geschmack achtete.

»Manchmal begreife ich wirklich nicht, was mit den Menschen hier los ist«, sagte er leise, nicht aufgebracht, mit einer tiefen, weichen Stimme. »Auf der einen Seite reden alle von Zusammenhalt, Familie, Unterstützung und derlei. Kaum steht auf der anderen Seite jemand aus dem eigenen Ort auf der Bühne, wird sie ausgebuht, weil sie noch nicht das Potenzial einer Gewinnerin des Festivals della Canzone Italiana hat.« Er schüttelte den Kopf.

»Sie ist von hier?«, fragte Anatolia und zog die Augenbrauen empor.

»Seit einigen Jahren. Sie ist die Nichte vom Polizeichef.«

Anatolia konnte sich nicht an eine Nichte des Polizeichefs erinnern, wobei man schwerlich jeden Bewohner dieser Stadt kennen konnte. Normalerweise rühmte sie sich eines vortrefflichen Gedächtnisses, was annehmen ließ, dass die ›Süße Nina‹ erst nach ihrem Weggang zugezogen war. »Dann hat es womöglich gar nichts mit ihr zu tun«, sagte sie. Immerhin gehörte Vito Caras nicht gerade zu den beliebtesten Einheimischen, seit er in einigen Straßen das Halteverbot eingeführt hatte. Eine vollkommen absurde Regelung, die niemandem weit und breit einleuchten wollte und die es nirgendwo sonst auf der Welt geben dürfte. Aber Vito hatte genug von den Lackschäden an den Autos gehabt, weil Venosas Straßen zu eng für die zunehmende Automobilisierung waren, und deshalb diese sinnfreie Idee entwickelt, für die ihm halb Venosa die Pest an den Hals wünschte. Ihr Gegenüber verstand die Anspielung und lachte leise. »Der Gedanke ist mir nicht gekommen.«

»Es ändert nichts daran, dass du recht hast. Ich fand ihren Gesang bezaubernd. In ein paar Jahren kann ich sie mir gut als Festivalgewinnerin vorstellen.«

Er wiegte den Kopf hin und her. »Wenn die Reaktion ihres heutigen Publikums ihr nicht für immer den Mut dazu genommen hat. Solche Dinge treffen tief ins Herz, vermute ich.« Anatolia betrachtete ihn, erneut überrascht von seiner Einfühlsamkeit. Seine Augen richteten sich ins Leere, als befände er sich gedanklich an einem anderen Ort. Sie waren umrahmt von dichten Wimpern, länger fast als die Anatolias. »Dabei bewundere ich Menschen, die etwas wagen, das Mut erfordert.«

»Ja«, sagte Anatolia und nickte, »so geht es mir auch.«

Erst mit dieser Bemerkung kehrte er hierher zurück und sah Anatolia an. Ihre Nackenhaare stellten sich auf. Nie hatte ein Fremder sie so angesehen. Er besaß keine Masche und keine Maske. Sein Blick war klar und ging tief. Sie konnte sich nicht vor ihm verstecken. »Vielleicht sollten wir ihr hier und heute das Glück wünschen, ihre Ziele verfolgen und erreichen zu können, und in ein paar Jahren hat die Kraft unserer Imagination ihr dazu verholfen.« Der Gedanke war schneller über ihre Lippen gekommen, als sie ihn hätte aufhalten können. Solcherlei Äußerungen behielt sie für gewöhnlich für sich.

»Das gefällt mir«, sagte er und grinste. »Das sollten wir tun.«

Ihre Verblüffung währte nur einen Herzschlag lang, machte einem warmen Gefühl Platz und verleitete sie zu der nächsten Absurdität. »Fein, dann schließen wir jetzt die Augen und stellen uns die ›Süße Nina‹ in drei Jahren als preisgekrönte Sängerin vor.«

Seine Mundwinkel zuckten, als wollte er lachen, stattdessen nickte er und senkte die Lider. »Eins«, sagte er.

»Zwei«, sagte sie und folgte die Augen schließend seinem Beispiel.

»Drei«, sagten sie gemeinsam, küssten den Wunsch in die Welt hinaus, auf dass er sich erfüllen und ein junges Mädchen glücklich machen möge. Denn was gab es Herrlicheres als die Verwirklichung von Träumen? Zu erkennen, dass das, was in einem verborgen gewesen war, ans Tageslicht brach und nicht nur einen selbst, sondern alle im Umkreis in Staunen versetzte.

»Ich habe den Eindruck, du malst dir gerade ihre gesamte Karriere aus.«

Seine Stimme holte Anatolia zurück und sie lachte blinzelnd. »Wer weiß.«

Er erwiderte das Lachen, doch legte sich ein Schatten auf seine Miene. »Die Realitäten sehen leider häufig anders aus als unsere Wünsche, nicht wahr?«

Anatolia erfasste die Traurigkeit dieser Aussage und nickte, obwohl sie widersprechen wollte.

»Deshalb lebe ich so gerne in meinen Träumen, denke ich.« Er hatte diese Art, Dinge zu äußern, die nicht direkt an sie gerichtet schienen, eher an sich oder den leeren Raum zwischen ihnen. Es überraschte sie jedenfalls nicht, was er sagte. Anatolia konnte ihn sich bildlich vorstellen, wie er durch die Straßen Venosas schlenderte, mit dieser Entrücktheit auf dem Gesicht.

»Hast du sie dir schon mal gegriffen und in die Realität gezerrt?«, fragte sie.

»In die Realität gezerrt?«

Sie nickte. »In Träumen zu leben, ist etwas Wundervolles. Noch schöner dürfte es aber sein, sie in der Realität auszuleben.«

Er blickte sie an, lächelte, während sich ein hübscher Ausdruck in sein Antlitz stahl. Ein Hauch von Faszination. »Ja, vermutlich hast du recht. Kann sein, dass es mir ab und an gelingt.« Er zuckte mit den Schultern. »Trotzdem zu selten.«

»Dann solltest du das dringend nachholen.«

Er nickte, sah sie an. »Das sollte ich«, murmelte er. Sie hätte nicht sagen können, seit wann sie sich so nah saßen, wann oder wer von ihnen aufgestanden war, um näher zu kommen. Irgendetwas Eigenartiges ging hier vor und Anatolia ließ es geschehen, weil es sich so schön anfühlte. Sie genoss seinen Blick, der sich nicht mehr von ihr löste und der sie erst nach einer halben Ewigkeit verlegen machte.

»Was hast du?«, fragte er, als sie unvermittelt zur Seite sah.

»Keine Ahnung, was hast du?«, fragte sie und senkte ihren Blick.

Er grinste. »Ich frage mich gerade, wo du hergekommen bist mit deinen Gedanken, die nicht von dieser Welt sind.«

Sie lachte. Von dieser Welt waren ihre Gedanken, lediglich in Venosa waren sie ungehörig. »Aus Neapel«, sagte sie. »Ich studiere dort die schönen Künste.«

»Ah, das erklärt so einiges.«

»Ach ja?«

Er nickte. »Ja, deine Art, die Dinge zu sehen, hat etwas Künstlerisches. Etwas, das den Leuten hier größtenteils fehlt. Obendrein würde ein Studium erklären, warum du so …« Er suchte nach dem geeigneten Wort. »… so unerschrocken bist. Den Männern gegenüber. Ich nehme an, es gibt noch nicht sehr viele Studentinnen an der Akademie?«

»Nein, nicht viele.«

»Worin bestehen deine schönen Künste? Malst du?«

Malen. Eine Vokabel, die aus ihrem Wortschatz verschwunden war, seit sie erkannt hatte, was es wirklich bedeutete. »Ja und nein. Ich denke, wenn ich eines in den letzten Jahren gelernt habe, dann, dass Kunst eine Ausdrucksform ist, die sich schlecht auf ein einziges Handwerk festlegen lässt. Das heißt, ja, ich male, aber das ist nicht alles. Ich halte nicht einen Pinsel in der Hand und bewege ihn über eine Leinwand. Kreation ist etwas, das durch den gesamten Körper fließt und ihn zu Dingen befähigt, die ihn selbst überraschen. Womit ich mich widerlegen muss, denn, nein, ich male nicht nur, ich stelle dar. Vom Kopf bis in die Fußspitzen fühle ich das, was ich kreiere. Und ist ein Werk beendet, bleibt es nicht unbelebt. Ich hauche ihm Leben ein, indem ich ihm eine Aufgabe gebe.«

Sie unterbrach ihren Redefluss, bemerkte, dass er ihr aufmerksam zuhörte und nichts von dem, was über ihre Lippen gekommen war, belächelte. Stattdessen sah er sie einfach nur an. »Was für eine Aufgabe?«