Die Melodie der Villa Winter - Anett Diell - E-Book
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Die Melodie der Villa Winter E-Book

Anett Diell

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Beschreibung

Eine tragische Liebesgeschichte in einer Zeit des Umbruchs, im zwiegespaltenen Berlin der 20er-Jahre. Für alle LeserInnen von Claine Winter und Bettina Storks »Fragte man Emilia, glich Berlin einem Chamäleon, das es vermochte, sein Kleid beliebig von schick zu schäbig zu wechseln.« Auf dem alten Landsitz Villa Winter erblüht eine der renommiertesten Musikakademien weltweit. Elodie Wagner verliebt sich vom ersten Augenblick an in das alte Haus. In das Geheimnisvolle, das es umgibt. In die Musik, die es erfüllt. Und in den jungen Charlie Flimmer, der ihrem ehrgeizigen Vater allerdings ein Dorn im Auge ist. Ehe er eine Verbindung verhindern kann, ereignet sich auf dem Landsitz jedoch eine furchtbare Tragödie. Elodies Großmutter und Gründerin der Akademie verstirbt an einem plötzlichen Herzinfarkt. In der Hand der Toten findet Elodie den Fetzen eines Briefes, der von einer Wahrheit spricht, die innerhalb der Mauern dieses Hauses verborgen liegt. Elodie beschließt, dieser Wahrheit nachzugehen, und kommt schon bald einem Geheimnis auf die Spur, das nicht nur ihre Großmutter betrifft … »Ein emotionaler Roman über eine große Liebe. Emilia Geschichte hat mich im Herzen berührt und war wunderschön erzählt.« ((Leserstimme auf Netgalley)) »Ein Roman voller Musik und Liebe und ganz viel Drama. Eine gute Lektüre, um es sich mit Tee und Schokolade auf der Couch gemütlich zu machen. Lesenswert!« ((Leserstimme auf Netgalley)) 

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© Piper Verlag GmbH, München 2022

Redaktion: Julia Feldbaum

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Inhalt

Inhaltsübersicht

Cover & Impressum

Widmung

Zitat

Villa Winter, Juli 1924

Berlin, August 2004

Villa Winter, Juli 1924

Akademie Winter, August 2004

Villa Winter, Juli 1924

Akademie Winter, September 2004

Berlin, August 1924

Akademie Winter, September 2004

Berlin, September 1924

Akademie Winter, September 2004

Villa Winter, Oktober 1924

Berlin, Oktober 2004

Villa Winter, Dezember 1924

Berlin, Oktober 2004

Berlin, Januar 1925

Akademie Winter, Oktober 2004

Berlin, Oktober 1927

Berlin, Oktober 2004

Berlin, November 1927

Akademie Winter, Oktober 2004

Berlin, November 1927

Akademie Winter, Oktober 2004

Berlin, Dezember 1927

Berlin, Oktober 2004

Berlin, Januar 1928

Berlin, November 2004

Hotel Adlon, März 1928

Berlin, November 2004

Villa Winter, April 1928

Berlin, November 2004

Berlin, 15. August 1928, 20:00 Uhr abends

Berlin, 15. November 2004, 20:00 Uhr abends

Danksagung

Buchnavigation

Inhaltsübersicht

Cover

Textanfang

Impressum

 

Für meine große Liebe

 

Wir sind überall umgeben von Musik. Sie lebt in den Dielen unter unseren Füßen, in den Wänden der hohen Räume, im Lachen, das in den Fluren widerhallt. Wenn wir gut zuhören, wird sie uns führen.

Ich muss sehr genau hinhören, wenn ich ihr Geheimnis ergründen will, weil ich spüre, tief in mir drin, dass es nicht allein ihres ist. Sondern auch meins. Es versteckt sich in dieser Villa, irgendwo. Ich wusste es bereits, als ich sie zum ersten Mal betreten habe. Ich habe es immer gespürt. Sie ist erfüllt von diesem merkwürdigen, wunderbaren Etwas, das wir Liebe nennen. Ich fühle, dass in diesen Räumen, in diesen Hallen und Fluren jemand geliebt wurde. So sehr, wie ich liebe. Die Frage ist, was wurde aus dieser Liebe?

Die Welt mag sich weiterdrehen, sie mag sich verändern und verwandeln, aber sie bleibt, was sie ist. Solange Menschen auf ihr leben und einander verdammen, ist die Liebe ein fragiles Ding, um das wir kämpfen müssen. Ich wünsche mir so sehr, dass sie in diesem Haus nicht gebrochen wurde. Ich werde es herausfinden, das schwöre ich dir, Oma. Ich werde die ganze Wahrheit erfahren.

Nur für den Fall, es würde etwas Unvorhergesehenes geschehen, möchte ich, dass es jemand weiß: dass ich eine Liebende bin. Dass ich liebe, über die Grenzen der Vorstellung hinaus, mit all meinen Sinnen und all meiner Kraft. Ich liebe. So sehr.

Elodie Wagner, Oktober 2004

Villa Winter, Juli 1924

Das Sonnenlicht funkelte durch die Blätter der Birkenallee, ließ sie leise im Wind summen und trug die Melodie bis hinunter auf die Straße, über die ein dunkelblauer Rumpler Tropfenwagen holperte. Der Name schien Programm, die Fahrt war in etwa so komfortabel wie der Ritt auf einem bockigen Esel. Sie konnte sich nicht erinnern, jemals so vehement auf ihrem Hintern auf- und abgehüpft zu sein wie in diesem rumpelnden Gefährt. Es war gleichwohl ihre erste Fahrt in einem Automobil und sie daher nicht in der Lage, einen anständigen Vergleich anzustellen. Nichtsdestotrotz wäre ihr auf ihrem Fahrrad vermutlich weniger flau zumute gewesen. Wie hätte sie das aber anstellen sollen? So weit hinauszufahren, mit einem schweren Koffer und diesem Kleid, das ihr nicht recht am Körper sitzen wollte? Nein, sie durfte sich nicht beschweren, es war sehr nett von Annabelle gewesen, ihr für das Wochenende Kleid und Chauffeur auszuborgen.

Sie war nicht wirklich nervös, im Grunde ahnte sie bereits, den Erwartungen nicht zu entsprechen und noch vor Sonntagabend wieder zurückgeschickt zu werden. Es kümmerte sie kaum, war es doch ihre erste Anstellung. Aus Fehlern lernte man, nicht wahr? Ihre Fingernägel trommelten sachte auf das Sitzpolster. Sie durfte keine allzu hohen Erwartungen haben, gewiss gab es Musiklehrerinnen wie Sand am Meer und weitaus erfahrenere als sie.

Emilia Sommer blickte unter der Krempe ihres Glockenhuts hindurch und hinaus auf die vorbeiruckelnde Landschaft. Die Wiesen zeigten ihr saftig grünes Gras, und auf den Feldern blühten blaue Kornblumen. Das Bild war zum Verlieben und kitzelte in Emilias Kehle leise Summlaute hervor. Die Gegend, in der sie aufgewachsen war, konnte an Farbenpracht nicht mit diesem Bild einer Landschaft mithalten. Ein Braunton war dort in den anderen übergeflossen, und die Sonne hatte um das Friedrichs-Waisenhaus einen großen Bogen gemacht, hatte sich allenfalls am Rummelsburger See einmal gezeigt. Leider hatten sich dort vor allem die Jungen aufhalten dürfen, die waren nicht unter der Fuchtel von Fräulein Nicole gestanden. Emilia war damals froh gewesen, mit sechzehn Jahren endlich dem kalten Blick und dem strichdünnen Mund der gestrengen Frau zu entkommen. Ironischerweise hatte die barsche Heimleiterin zwei Jahre nach Emilias Fortgang ihren Dienst quittiert, als sei ihr ohne sie langweilig geworden.

Seltsam, dass sie gerade jetzt an diese Zeit zurückdachte.

Am Fenster zogen orangegelbe Mädchenaugen vorüber, Blumen die Emilia schon immer fasziniert hatten. Nicht allein wegen ihrer sommerlichen Farbe, sondern wegen des Namens. Sie kannte kein einziges Mädchen mit roten oder orangefarbenen Augen.

Sie lehnte sich zurück gegen das Polster, der Hut rutschte ihr wieder bis tief in die Stirn.

Das ist in Mode, meine Liebe, es betont die Augen und deine besonders. Mochte Annabelle nun mit dieser Einschätzung recht haben oder nicht, Emilia fand trotzdem, dass ihr der Hut zu groß war. Sie bog den vorderen Rand gedankenverloren hoch, fragte sich, wie lange sie noch in diesem Wagen durchgeschüttelt werden würde. Gleichzeitig wurde ihr ein bisschen bang bei der Vorstellung auszusteigen. Sie konnte nur hoffen, einen geraden Stand zu behalten. Wie würde es aussehen, wenn sie bereits bei der Begrüßung zur Seite wegkippte? Oder, noch schlimmer, den Inhalt ihres Magens vor den piekfeinen Füßen des Hausherrn entleerte? In diesem Punkt konnte sie sich selbst beruhigen; es war ja nicht ernsthaft was drin in ihrem Magen.

»Wir erreichen die Villa Winter in etwa fünf Minuten, Fräulein Sommer«, erklärte ihr Chauffeur, als hätte er ihre Gedanken erraten.

Er war im Übrigen nicht wirklich ein Chauffeur, eigentlich bloß Annabelles Cousin und als Einziger in der Lage, den Rumpler Tropfenwagen zu fahren, den ihre Freundin von ihrem Glücksgriff eines Ehegatten geschenkt bekommen hatte … ehe dieser auf eine Geschäftsreise verschwunden war, von der er wohl so bald nicht wiederkehren würde. So verhielt es sich immer in Annabelles Leben: Die Dinge entwickelten sich genau so, wie sie es sich vorstellte. Anders als Emilia unterrichtete sie nicht sonderlich gern, besaß lediglich ein gewisses Talent, anderen Wissen zu vermitteln. Aus Mangel an alternativen Ideen hatte sie sich dazu entschieden, genau wie Emilia die Musikschule für angehende Lehrkräfte zu besuchen, doch während Emilia die Schule erfolgreich beendet hatte, hatte Annabelle mit ihrer Stimme einen gut betuchten Unternehmer nach dem anderen angelockt und den schönsten von ihnen geheiratet. Nicht weil sie sich unsterblich in ihn verliebt hätte – sie beteuerte stets, in Männer könne sie sich nicht verlieben –, sondern weil es das Leben so ungemein erleichterte. Ihr sie vergötternder Gatte besaß alles, was sich ein ehemaliges Waisenmädchen wünschen konnte, und hielt sich so selten in Berlin auf, dass sie »all die schönen Sachen« für sich allein haben konnte. Den Wagen zu fahren, das beherrschte sie nicht, aber sie besaß ihn, was ihr ein unglaublich gutes Gefühl verlieh. Überdies konnte sie nach Lust und Laune über ihn verfügen. Ihn einer Freundin übers Wochenende auszuborgen, zum Beispiel, damit sich diese wie eine echte feine Dame fühlen konnte. Emilia bezweifelte, dass Annabelle jemals selbst in diesem Gefährt auf einer unebenen Straße herumkutschiert worden war. Vielleicht war es das Los feiner Damen, sich bei jeder Spazierfahrt blaue Flecken zu holen.

Ludwig, Annabelles Cousin und Emilias heutiger Chauffeur, fuhr mit dem Wagen von der Straße hinunter und in eine mit weißem Kies ausgelegte Einfahrt – ein breiter, langer Weg, der zu beiden Seiten von Buchsbaumhecken abgegrenzt wurde und an den eine fein säuberlich gepflegte Rasenfläche angrenzte. Emilia erkannte Kirsch- und Apfelbäume, Rosenbüsche und weiter hinten, mit dem bloßen Auge kaum mehr zu ermessen, eine wunderschöne, riesengroße Eiche. Emilia war so sehr damit beschäftigt, die Gartenlandschaft zu bewundern, dass ihre Aufmerksamkeit erst recht spät von dem beeindruckenden Bauwerk eingefangen wurde, in dem sie von nun an unterrichten sollte. Allem Anschein nach besaß die Villa Winter nicht nur einen klangvollen Namen, sie genoss obendrein ein überaus stolzes Aussehen.

»Sie wurde von Gustav Lilienthal entworfen. Ziemlich imposant, was?« Ludwig machte seine Sache gut, er sprach wie ein echter Chauffeur und verhielt sich wie ein Gentleman, öffnete ihr vornehm die Tür und lud sogar ihren Koffer aus.

»Ich dachte immer, er sei Flugpionier oder etwas in der Richtung gewesen«, murmelte Emilia und ließ die Augen staunend über die burgartigen Zinnen der Villa wandern.

»Das war sein Bruder, meine Hübsche«, klärte sie Ludwig lachend auf. »Aber ich meine, er hat ihm beim Bau bestimmter Flugapparaturen geholfen. Seine persönliche Errungenschaft bleiben architektonische Meisterleistungen wie diese hier. Wir stehen vor einer sogenannten Burgvilla.« Ludwig musste es wissen, er wollte selbst Architekt werden. »Er hat sich dabei des neugotischen Stils englischer Landhäuser bedient, sehen Sie? Ein bisschen schnörkeliger und mit kleinen Türmchen hie und da.« Er verlor sich lächelnd in der Beschreibung, als verliebte er sich gerade ein wenig.

Kein Wunder, die Villa sah umwerfend aus! Sie war aus hellem Stein gebaut worden, das Dach bedeckt mit grauen und dunkelroten sowie zuweilen gelben Ziegeln, was dem Ganzen eine gewisse Verspieltheit verlieh. Burgenähnliche Erker und Vorbauten machten den Anblick noch erhabener, die großen Fenster hingegen ließen annehmen, dass es drinnen erheblich heller als in einer Burg sein dürfte – und um einiges lichtdurchfluteter als ihr kleines Zimmer in der Berliner Innenstadt. Die große Terrasse im zweiten Stock war spielerisch umzäunt, ideal für feine Damen, wie Annabelle gewiss anmerken würde. Ohne jeden Zweifel übertraf das Vermögen ihres zukünftigen Arbeitgebers Paul Eliot Fairmann das von Annabelles Göttergatten um Längen.

»Fein, Fräulein Sommer, ich werde Sie nun verlassen müssen«, erkannte Ludwig mit einem Blick auf die Uhr. »Sonntagnachmittag hole ich Sie ab und bin schon gespannt auf Ihre Erzählungen.« Er zwinkerte ihr zu und schwang sich zurück auf den Fahrersitz.

Emilia schaffte es, tapfer zu nicken, sie wollte hoffen, seine Dienste nicht früher zu benötigen. Mit klopfendem Herzen näherte sie sich dem formvollendeten Eingangsbereich, einer breiten, halb runden Treppe, die zu einem riesigen Tor führte. Sie zögerte, wusste nicht recht, ob sie den alten Messingtürklopfer oder die Klingel betätigen sollte, und entschied sich schließlich für beides.

Weder dem einen noch dem anderen folgte eine sofortige Reaktion. Verständlich, das Gebäude war riesig und hielt man sich im obersten Stock auf, wie wollte man so schnell zur Tür gelangen? Emilia wagte einen neugierigen Blick durch die Rundbogensprossenfenster, wurde jedoch bereits von den sie verzierenden Ornamenten abgelenkt. Welch Kunstfertigkeit die Menschen beim Bau dieser Villa bewiesen hatten! Entweder Emilia war so versunken in ihre Entdeckung oder die Tür öffnete sich besonders lautlos, denn sie zuckte unwillkürlich zusammen, als sie so plötzlich angesprochen wurde.

»Großer Gott, Kind, mach den Mund zu, ehe du Fliegen fängst!« Die Urheberin dieser Worte stand in einer Mischung aus Belustigung und Strenge im Türrahmen und ließ Emilia kaum Zeit, sich vorzustellen. »Du bist etwas spät dran, Mädchen. Macht nichts, dann zeige ich dir eben alles ein bisschen schneller, hm?«

Sie sah im Grunde genau so aus, wie die Damen dieser Tage eben aussahen. In nahezu jeder Gesellschaftsschicht trug man gerade geschnittene, relativ kurze Kleider mit tief sitzender Taille. So auch sie, wenngleich Emilia sofort wusste, dass es sich bei ihr unmöglich um die Hausherrin handeln konnte. Der Stoff ihres Kleids war grau, keine sonderlich schillernde Farbe, wie sie die edleren Damen trugen, und es saß ihr zudem etwas enger, als für ihre freilich nicht unbedingt grazile Figur ansehnlich gewesen wäre. Ihr grau meliertes Haar versteckte sich unter einer Art Haube, so, wie Wirtschafterinnen es bis vor nicht allzu langer Zeit noch getragen hatten. Als solche stellte sie sich auch prompt vor: Frau Alma Keller. Alma reiche ihr vollkommen, sie sei zwar etwas streng im Tonfall, bevorzuge hier aber flache Hierarchien, dieser Schnickschnack und das Gerede um wichtige und unwichtige Positionen sei ihr wirklich zuwider und würde überschätzt. Sie wolle ihr nur eben alles zeigen, und danach sei es schon Zeit für den Sechzehn-Uhr-Tee.

Alma flitzte trotz ihres beachtlichen Körperumfangs erstaunlich schnell durch den Flur des Erdgeschosses, stieß mal hier eine Tür auf und erklärte, dahinter befinde sich die Küche, und riss mal da an einem Schrankknauf, um klarzustellen, welche Gerätschaften dahinter verborgen seien.

Emilia schwirrte der Kopf von all den viel zu schnell an sie herangetragenen Informationen, mit denen sie nichts anzufangen wusste, und bei denen sie ebenso wenig verstand, weshalb Alma sie überhaupt damit betraute. Als sie allerdings den ersten Stock erreichten, kannte sie bereits Almas halbe Lebensgeschichte, wusste von den drei Kindern, die sie zur Welt gebracht und zwei wieder verloren hatte, von ihrer zweijährigen Anstellung in Paris – »eine wundervolle Stadt, glaub mir, Kind« – von den dunklen Kriegsjahren und dem Verlust ihres geliebten Herberts (hatte sich Emilia nicht verhört, war dies eine stattliche Bulldogge gewesen) sowie den hellen letzten Jahren, die sie hier auf dem Sitz der Familie Fairmann verbracht hatte.

Und spätestens da dämmerte Emilia, dass Alma einfach eine ausgeprägte Erzählkultur lebte. Sie mochte sie, je mehr sie so zwanglos dahinschwatzte.

»Es erging mir nie besser als hier, weißt du? Nicht mal in Paris … so formidable«, sie lachte mit sympathisch wabbelndem Kinn über das Wort, »diese Stadt auch sein mag, ich habe nirgendwo so gern gearbeitet wie bei den Fairmanns. Auch wenn der Herr praktisch nie da ist. Ich denke, es liegt an dem frischen Wind der Zwanziger, da nehmen es alle etwas lockerer. Ist ja keine Schande nach den rauen Jahren des letzten Jahrzehnts, hm?« Sie deutete auf eine verschlossene Doppeltür – weiß mit goldenen Aufschlägen. »Hier geht es hin und wieder fröhlich zu. Dahinter befindet sich das Flügelzimmer. Das brauchen wir jetzt noch nicht zu sehen.«

Sie eilte weiter, plapperte wie ein Wasserfall, sodass Emilia ihre Enttäuschung darüber, das Musikzimmer nicht von innen betrachten zu können, noch nicht einmal im Geiste formulieren konnte.

»Die Kleine wird sich freuen, dich kennenzulernen. Du bist ihr im Alter näher als wir anderen, das dürfte erfrischend sein.«

»Ich freue mich gleichfalls, das Fräulein Fairmann zu treffen, und bin sehr gespannt auf die gemeinsame Zeit«, stimmte Emilia ihr zu, ächzte ein wenig unter der Last ihres Koffers, den sie versuchte, so selten wie möglich irgendwo dagegenzuschrammen, während sie Alma im Laufschritt folgte.

»Ach die, ja, ja. Sie kommt gelegentlich zum Naschen in die Küche. Ist ein kleiner Wildfang, nie lange am selben Ort.« Almas Lachen hallte im Flur wider, als sie sich eine etwas schmalere Treppe zurück nach unten ins Erdgeschoss wuchtete. »Der alte Dienstbotengang. Entweder die Leute waren früher schmaler oder mir geht es hier tatsächlich zu gut!« Wieder lachte sie und blieb schließlich vor einer Tür aus dunklem Ebenholz stehen. »Das ist dein Zimmer.« Sie stieß die Tür auf.

Dahinter kam ein enges Räumchen zum Vorschein, in dem ein Bett mit hauchdünner Matratze stand, ein Tischchen mit nicht mehr frischen Blumen und einem Waschbecken in der hinteren Ecke. Darunter eine gedrungene Kommode, in der vielleicht ein Kleidungsstück nebst zwei Paar Strümpfen Platz fand. Das Fenster war so winzig, dass es Emilia von außen nicht aufgefallen war. Ohne Zweifel das schmuckloseste Zimmer des gesamten Palastes. Sie bemühte sich dennoch, ihrem Gesicht keinerlei Regung zu erlauben. Alma sah sie einen Wimpernschlag lang erwartungsvoll an. Plötzlich erzitterten ihre rosigen Wangen, die Mundwinkel zogen sich auseinander, und eine Strähne entglitt ihrer Frisur, als sie lauthals zu lachen anfing.

»Das sollte ein Scherz sein, Kind! Aus dem Zeitalter sind wir raus, dass die Leute hier in halben Kellernischen leben müssen. Nein, nein, ich zeige dir, wo du wirklich unterkommst. Wobei ich zugeben muss, dass es dort im Winter, trotz erheblich mehr Komfort, zugig werden könnte.« Sie eilte weiter.

Emilia winkte ab, ohne gesehen zu werden. »Ach, das muss mich nicht kümmern. Ich bleibe ja bloß übers Wochenende.«

Alma Keller blieb jäh stehen, drehte sich auf ihren Hacken um. »Wie meinst du das?«

Emilia schaute leicht verwirrt. »Nun, dass ich ja eigentlich in der Stadt lebe und unter der Woche immer herfahre.«

Alma machte tellergroße Augen. »Jeden Tag hin- und herfahren willst du? Na, das klingt mir aber anstrengend.«

Emilia lächelte sachte. »Ich besitze ein exzellentes Fahrrad. Außerdem sind es ja nur fünf Tage die Woche.«

Jetzt verengten sich die Augen der Wirtschafterin zu Schlitzen. »Ah ja? Ist mir neu. Und wer hilft mir am Wochenende aus?«

Für gut zehn Sekunden schwiegen sie beide, sahen sich an, von einer perplexen Frau zur anderen, während sich die Idee in beiden Köpfen aufmachte, es könne sich hier um ein seltsames Missverständnis handeln. Emilia ergriff als Erste das Wort, sprach langsam und vorsichtig, um Fehlschlüsse zu vermeiden. »Ich bin hier, um das Fräulein Fairmann in Musik zu unterrichten. Emilia Sommer.« Sie streckte verspätet ihre Hand aus, um sich vorzustellen. Wie aufs Stichwort schrillte die Türglocke.

Alma zog die Nase kraus, betrachtete Emilia ein zweites abschätzendes Mal. »Gute Güte, wirklich? Die Musiklehrerin? Ich dachte, die müsste mindestens an die fünfzig oder sechzig sein!« Ihr entfuhr ein erneutes Lachen, sie klatschte laut in die Hände, das Lachen schwoll an. »Herrje, Kind, und ich dachte, du wirst mein Fräulein in der Küche und zum Servieren. Hatte mich gefreut, dass du was hermachst im Vergleich zu uns anderen.« Ihrem darauffolgenden Blick nach zu urteilen revidierte sie diese Meinung, nun da sie um die wahre Position Emilias wusste. Für eine Musiklehrerin sah sie ihr vermutlich zu bescheiden aus. Sie schüttelte glucksend den Kopf. »Die Musiklehrerin. Ha! Dann steht meine Hilfskraft wahrscheinlich vor der Tür und wird hoffentlich nicht von unserem depressiven Wilhelm als Musiklehrerin begrüßt.« Sie senkte die Stimme. »Er glaubt, er zähle zu einer aussterbenden Art, weil sie seit dem Krieg so viele Butler entlassen haben. Ich habe ihm schon hundert Mal gesagt, die Fairmanns sind viel zu vermögend, um uns fleißiges Personal loswerden zu wollen.« Anschließend klopfte sie Emilia auf die Schultern. »In dem Fall sind wir hier wohl falsch, Kind. Komm, ich bring dich nach oben zu den Fräuleins.«

Emilia konnte nicht von sich behaupten, eine besonders gute Menschenkenntnis zu besitzen – dazu kannte sie entschieden zu wenige ihrer Art. Oder zumindest zu wenige, die außerhalb eines Waisenhauses aufgewachsen waren. Trotzdem spürte sie in den ersten Sekunden eines Kennenlernens die Aura, die ihre neue Bekanntschaft umgab, und damit gleichzeitig die Atmosphäre, die zwischen ihnen entstand. Sie klassifizierte sie in Klängen. Den Augenblick, in dem sie in den cremeweißen Raum geführt wurde, um dort Charlotte Fairmann, Marinas Mutter und ihrer Arbeitgeberin, vorgestellt zu werden, würde sie für immer als Zweiklang – oder harmonisches Intervall – in Erinnerung behalten.

Charlotte Fairmann stand am Fenster, ein Glas mit goldgelber Flüssigkeit, die sanfte Blasen warf, in der Hand. Das Sonnenlicht traf das durchscheinende Material auf malerische Weise, sodass ein Schimmern davon ausging, das die gesamte Gestalt der Hausherrin umgab. Ihr weißes Kleid war absolut in Mode, doch saß es enger und betonte ihre grazile Figur. Das Haar trug sie in künstlich geformten Wellen, hellbraun und knapp bis zum Kinn, ein Flapper-Haarband perfektionierte ihre Erscheinung.

Mit Emilias Eintreten drehte sie sich um, ihr Champagnerglas spielte einen hohen Ton, als sie es auf der Fensterbank absetzte, während sie beim Anblick ihrer Besucherin einen ebenso hohen Laut vernehmen ließ. Ihre Mundwinkel verzogen sich zu einem strahlenden Lächeln, sie machte eine elegante Handbewegung, die nichts zu bedeuten schien, aber hübsch aussah.

»Die Musiklehrerin.«

Diese Feststellung mutete zweifach schön an. Weil sie erstens klang, als freue sie sich darüber, Emilia kennenzulernen, und weil sie dieser Klang zweitens zu einer bemerkenswerten Schönheit machte. Das verriet freilich noch nichts über ihren Charakter. Es sagte Emilia lediglich, dass der erste Eindruck weder gut noch schlecht war, bloß aus ästhetischer und klanglicher Sicht schön. Neben ihr kam sich Emilia wie ein waschechter Bauerntrampel vor, obwohl sie aus der Stadt kam und die Villa Winter außerhalb davon lag.

»Charlotte Fairmann«, stellte sich die Hausherrin breit lächelnd vor. Ihre Augen waren dunkel geschminkt, die Wimpern sahen aus, als seien sie künstlich verlängert. Sie maß Emilia mit einem sehr raschen Blick, wollte vielleicht vermeiden, zu lange auf ihr etwas zu großes und zu grob gewebtes Kleid zu starren. »Ich freue mich, Sie kennenzulernen, Fräulein Sommer. Ich hoffe, wir können sehr bald zu einem bekömmlicheren Du wechseln, wenn wir das ganze Kennenlernen hinter uns haben.« Sie sah sich mit klimpernden Wimpern um. »Wo steckt denn jetzt unsere junge Musikschülerin?«

So, wie sie es sagte, hörte es sich ein wenig sarkastisch an.

»Marina?«, trällerte die Frau Mama in den Flur hinaus. »Sag doch bitte Hallo zu Fräulein Sommer.«

Der Kronleuchter an der Decke schwankte sachte hin und her, Sekunden darauf ertönte Fußgetrappel auf der Treppe, und keine halbe Minute später stolperte ein junges Mädchen in den Raum, hielt schlitternd an und nahm eine bemüht kultivierte Haltung ein.

»Freut mich, Fräulein Sommer, ich hoffe, Ihnen eine wissbegierige, artige und brave Schülerin zu werden.«

Es sah ulkig aus, wie dieses Mädchen im dunkelblauen Prinzesskleid mit zwei gelockten Zöpfen und einem Gesicht, aus dem der Schalk nahezu heraussprang, so allem inneren Empfinden zum Trotz steif dastand. Emilia entfuhr ein leises Lachen, das sie einfach nicht zurückhalten konnte. »Na, ich hoffe besser nicht. Andernfalls werden wir beide weder etwas Spannendes lernen noch Spaß miteinander haben.« Die Worte waren ihr über die Lippen gekommen, ehe sie sich ihrer Rolle als professionelle Lehrerin in einem gut betuchten Haushalt gewahr werden konnte. Ihr Blick glitt sorgenvoll zu Charlotte Fairmann hinüber. Marinas ebenfalls. Ihre Mutter sah mit spitzem Mund von der Schülerin zur Lehrerin, ihre Augen blitzten in einer Manier, die Emilia nicht einzuordnen wusste. Im Geiste sah sie sich schon im Tropfenwagen zurück in die Stadt rumpeln.

Ehe es so weit kommen konnte, erzitterten die Mundwinkel der Hausdame, ihr Kopf kippte nach hinten, und ihrer Kehle entwich ein hohes, schallendes Lachen, das in den Ohren klang und klingelte, vor allem deshalb, weil es sich mit Marinas mischte, und selbst Alma gluckste im Takt dazu. Emilia gestattete sich ein feines Lächeln. Das Lachen ihrer Vorgesetzten wich einem samtenen Kichern, ehe sie nach ihrem Champagnerglas griff und sagte: »Hm, ich denke, da haben sich die Richtigen gefunden.«

Das Eis war gebrochen, und Emilia atmete erleichtert auf. Marina lächelte ihr schelmisch zu, wippte mit hinterm Rücken verschränkten Armen auf ihren Fußballen. In diesem Moment, in dem sich ihre Blicke trafen und die Neugier der einen auf den Fürwitz der anderen stieß, in dem Emilia spürte, dass sie beide durchaus Spaß miteinander haben würden, und sich Marina sicher war, sie würde eine Menge lernen, entstand ein zartes Band, von dem sie noch nicht ahnten, wie stark es einmal werden würde. Noch waren sie bloß ein Mädchen aus gutem Hause und eine Waise mit einem Talent für schöne Klänge – Schülerin und Lehrerin, die vieles zu entdecken hatten, in einer Welt, die sich zu verändern begann.

»Tja, ich lasse euch mal allein. Vielleicht kannst du deiner neuen Lehrerin eine Führung geben, Marina? Ich werde mal eben ein paar Anrufe tätigen.« Charlotte Fairmann winkte mit vier Fingern ihrer Hand, die glitzernden Armreifen schlugen klingend gegeneinander, und mit diesem sanften Ton entschwand sie durch eine der unzähligen Türen, die in diesen Raum führten. »Wir sehen uns beim Abendessen.«

»Sofern ich es rechtzeitig zubereiten lasse«, bemerkte Alma mit einem Aufseufzen. »Hoffen wir mal, das Mädel unten stellt sich nicht auch als was anderes heraus als meine angedachte Hilfskraft.« Sie nickte Marina zu. »Das meiste hier kennt sie schon.« Damit schob sie ihren Körper aus der Tür hinaus, durch die sie Emilia geführt hatte.

Marina sah ihr stirnrunzelnd nach.

»Sie hat mich für die neue Hilfskraft gehalten«, klärte Emilia das Mädchen auf, »weshalb ich mit einigen der Räumlichkeiten vertraut gemacht wurde.«

»Den langweiligen, vermute ich«, stellte Marina fest. »Nimm es ihr nicht übel, wir hatten alle eine ältere Frau in einem strengen Kostüm erwartet.« Sie senkte die Stimme: »Ich bin froh, dass du das nicht bist. Hoppla! Jetzt habe ich Du gesagt. Verzeihung!«

Emilia winkte lachend ab. »Ich bitte darum. Nenn mich Emilia. Man kann sich nicht anständig in der Musik verlieren, bleibt man dabei zu steif.«

»Werden wir uns denn in der Musik verlieren?«, erkundigte sich Marina verblüfft.

»Aber sicher«, antwortete Emilia. »Du wirst sie nie begreifen, wenn du dich nicht mindestens einmal ordentlich in ihr verloren hast.«

Die Augen ihrer Schülerin blitzten keck. »Ich kann es kaum erwarten, Emilia.« Sie drehte sich um und marschierte auf eine dritte Tür zu, die aussah, als sei sie Teil der Tapete. »Komm mit, ich zeige dir die schönen Zimmer in diesem Haus.«

Von denen es allerhand gab. Das stellte Emilia staunend fest, während sie in einem wesentlich gediegeneren Tempo als zuvor mit Alma durch die Villa Winter streiften. Marina war ein gesprächiges Mädchen, hielt nicht mit ihrer Meinung hinterm Berg, und so wurde die Hausführung durchaus amüsant.

»Hier hätten wir Mamas Zimmer. Da schauen wir besser nicht so genau rein. Nicht weil es ihr unangenehm wäre, sondern mir. Sie macht sich nicht viel aus Ordnung, noch viel weniger als ich, weißt du? Ich bin sicher, wir würden einen Schlüpfer auf dem Boden finden und wer weiß was sonst noch alles. Nein danke.«

Emilia konnte nicht einordnen, ob es in diesen Kreisen üblich war, als noch nicht mal Zehnjährige bereits wie eine halbe Erwachsene zu sprechen, oder ob Marina ein Sonderfall war. Fest stand, sie mochte es. So wie die Villa, die einen Charme versprühte, dem man sich kaum entziehen konnte. Die Tapeten waren nicht einfach nur weiß, sie drängten sich dem Auge weder auf noch kam man umhin, sie in ihrer dezent verspielten Art, hin und wieder versehen durch goldene Verzierungen, zu übersehen. Hätte Marina sie nicht eines Besseren belehrt, hätte Emilia vermuten mögen, die Fairmanns besäßen eine eigene renommierte Kunstgalerie, jedes Wandstück im Flur war mit einem noblen, goldgerahmten Porträt, Stillleben oder einer eindrücklichen Landschaft behängt. Oder mit einem Spiegel.

»Der Maler ist nicht berühmt. Er ist irgendein Cousin von Mama, und weil sie ihn als Einzige für talentiert hält, hat sie darauf bestanden, all sein Zeug aufzuhängen. Verkannt, nennt sie ihn immer. Und Alma behauptet, die Kunst sei ein hartes Pflaster.« Sie drehte sich zu Emilia um. »Aber Alma sagt über fast alles, dass es ein hartes Pflaster sei, das wirst du noch bemerken. Was denkst du?«

Emilia sah sie fragend an. »Wozu speziell?«

»Ist die Kunst ein hartes Pflaster?«

Emilia dachte an ihre schüchternen Versuche, sich mit ihrer nicht vorhandenen Reputation an Musikschulen und Akademien zu bewerben, an ihre Anfragen bei Etablissements in der Stadt und die ausbleibenden oder gar vernichtenden Antworten. »Ich fürchte, in diesem Fall könnte Alma recht behalten«, antwortete sie wahrheitsgemäß, fügte jedoch mit gesenkter Stimme hinzu: »Was nicht bedeutet, dass wir uns einer pessimistischen Grundhaltung hingeben sollten.« Ihr Blick schweifte ab, traf die Ornamente an den Sprossenfenstern, ehe er weiter hinaus in die Ferne wanderte. »Irgendwann kommt für jede Künstlerseele der große Tag.« Sie kehrte zurück in den Flur, zurück zu Marina. »Und wenn es nur ein einziger ist.«

Marina schien einen Augenblick lang darüber nachzudenken. »Ich glaube, ich bin eigentlich keine Künstlerseele.« Sie stellte es in einer Mischung aus Bedauern und Gleichmut fest.

»Tja, um das festzustellen, bin ich hier, oder? Mach dir keine Sorgen, solltest du es nicht sein, machen wir uns trotzdem eine schöne Zeit.« Emilia zwinkerte. Sie nahm stark an, dass es sich bei Marina um eine solche Seele handelte, fand, dass sie ursprünglich in jedem schlummerte und lediglich die Frage blieb, ob man sie im Laufe seines Lebens erweckte.

Marina erwiderte ihr Zwinkern mit einem breiten Grinsen und ging weiter den Flur entlang. »Um ehrlich zu sein, hatte ich ein bisschen Sorge, dass das eine öde Zeit wird, aber jetzt habe ich ein gutes Gefühl. Ich bin schon richtig gespannt auf unsere erste Musikstunde.«

Im Grunde hat sie längst begonnen, dachte Emilia schmunzelnd und folgte der Neunjährigen in den nächsten Raum. Wenn sie richtig informiert war, nannte sich der Stil, in dem die Villa eingerichtet war, Art déco. Das Mobiliar bestand nicht aus simplem Holz, es war mit Marketerien verziert, mit aufwendig eingearbeiteten Motiven, und scheinbar hielt man sich im ganzen Haushalt strikt an Ebenholz. Jede Lampe, jede Wandleuchte, inklusive sämtlicher Kerzenhalter wirkte verspielt und enorm kostspielig. Sie würde aufpassen müssen, keine zu schnellen Bewegungen zu machen, um nicht versehentlich etwas von dem wertvollen Innenleben zu zerstören.

»Das hier ist einer von vielen Salons, in denen sich die Erwachsenen zum Rauchen und Trinken treffen, und nebenan ist noch einer, sie lassen sich durch eine Verbindungswand zu einem großen zusammenfassen. Wahrscheinlich wirst du das noch sehen, Mama hält hier ständig Feste ab. Bestimmt soll ich eines Tages auf dem Piano vorspielen.« Sie kicherte, wuselte und erzählte weiter, ihre Stimme hallte durch die Räumlichkeiten wie eine g-gestimmte Piccoloflöte – sehr schnell, hoch und fein.

Ein Wohlklang in Emilias Ohren, die die Aufgewecktheit ihrer Schülerin wahrhaft genoss. Nicht auszudenken, wenn sie mit einem scheuen, schweigsamen Persönchen hätte üben müssen. So eines, wie sie selbst es früher gewesen war.

»Hier haben wir endlich das Musikzimmer. Ich finde es ein bisschen leer und karg, was vielleicht so sein muss.«

»Oh, wir werden es schon noch füllen.« Emilia sah sich lächelnd um. Sie würden zumindest ausreichend Platz haben. Das Zimmer wirkte höher als alle anderen, ihre Schritte hallten leicht nach, weil die Wände, mit der Ausnahme eines riesigen Familienporträts, ungeziert waren. Eine einzelne Regalwand, natürlich aus Ebenholz, in der sich verschiedene Musikinstrumente und Bildbände fanden, verlief parallel zur Fensterfront, vor der eine kleine Sitzecke eingerichtet worden war. Ohne aufwendige Accessoires und Dekoration – dankenswerterweise. Viel mehr fand sie nicht vor. In der leichten Dachschräge allerdings stand ein schwarzer Bechstein-Salonflügel, der Firmenname funkelte ihr golden entgegen. Sie kannte dieses Modell, hatte gewiss hunderte Male darauf gespielt – damals im Musiksalon der alten Dora, die sie heimlich während der Feiertage unterrichtet hatte. Dann war Madame Nicole nämlich meist abwesend gewesen. Die besten Zeiten für eine Waise, die ihr Leben besser gehört als verstanden hatte …

Emilia fuhr ehrfürchtig mit den Fingern über das Instrument, es fühlte sich glatt und kühl an. Die Rastbalken waren aus hochwertigem Nadelholz gefertigt, Rippen und Resonanzboden aus Tonholz der Bergfichte. Sie zögerte nicht, spielte ein paar Takte. Marina sah ihr gegen einen der Sessel gelehnt zu, weniger interessiert an der Musik, denn an der Spielerin. »Wie klingt er?«

»Er ist verstimmt.«

»Wie der Hausherr.« Sie kicherte. »Nur dass du den Flügel im Handumdrehen umgestimmt haben dürftest, im Gegensatz zur Laune des Herrschers über Land und Leute hier.« Ihr Kichern steigerte sich zum Lachen, ehe sie beim Anblick der erstaunten Emilia innehielt. »Och, keine Sorge, ich darf ihn aufziehen. Er ist ja kein richtiger Papa.«

Eine Bemerkung, die Emilia trotz Almas Aussage, der Herr sei so gut wie nie im Haus, aus dem Mund einer Neunjährigen befremdlich erschien. Marina beraubte sie mit ihren nächsten Worten der Chance, diese interessante Anspielung näher zu hinterfragen.

»Wahrscheinlich ist jetzt der Augenblick, um es dir zu gestehen: Ich glaube, ich bin völlig unmusikalisch. Ich wäre gern musikalisch, und alle hier im Haus würden es gleichfalls begrüßen, aber ich kann weder ein Instrument spielen noch Noten lesen. Oh, und singen kann ich eigentlich auch nicht.«

Was immerhin erklärte, warum man Emilia für täglich mehrere Stunden eingestellt hatte. Die flachse Aufrichtigkeit, mit der ihre Schülerin dies sagte und vor ihr stand, amüsierte Emilia, doch hielt sie sich dieses Mal mit einem Glucksen zurück. »Das glaube ich erst, wenn ich es mit eigenen Ohren gehört habe«, versicherte sie und fügte hinzu: »Außerdem gibt es niemanden auf der Welt, der nicht singen kann. Das ist eine Frage der Einstellung. Oder wie eindringlich einem eingeredet wurde, es nicht zu beherrschen.« Und selbst in letzterem Fall konnte eine Virtuose erblühen.

Marina sah sie an, eine schiere Ewigkeit, und Emilia sah zurück. Ein Blickaustausch, in dem sich beide stillschweigend einig wurden, dass sie von nun an Freundinnen waren.

Marina zeigte Emilia noch ihr Zimmer im Gästetrakt im zweiten Stock, und es machte bei Weitem mehr her als das enge Ding, das ihr Alma scherzhaft gezeigt hatte. Allein das Bett war bereits größer, und ein scheues Probesitzen verriet ihr, dass es komfortabler war als jedes Bett, in dem sie bislang gelegen hatte. Wie angenehm solch ein Leben sein musste, in dem sich einfach alles bequem und hübsch gestaltete.

 

Es stellte sich heraus, dass man in der Villa Winter neben dem ausgiebigen Müßiggang bestimmten Regeln der Annehmlichkeit folgte, die vor allem in der Verköstigung bestanden. Emilia hatte nicht geahnt, wie häufig am Tag sich Menschen einfallen lassen konnten, etwas zu sich zu nehmen. Kaum hatten sie die Hausbesichtigung beendet, hatte irgendwo eine Glocke geläutet, die den Tee ankündigte, den sie mit Marina – entgegen ihrer Erwartung – und ohne deren Mutter einnahm. Dazu aßen sie süße Küchlein, die irgendeinen italienischen Namen trugen, den Emilia sofort vergaß. Anschließend fand sie die Zeit, sich einzurichten und danach einen kurzen Spaziergang durch den Garten der Fairmanns zu unternehmen – ein prächtiger Anblick.

Emilia bemühte sich redlich darum, nicht zu eingeschüchtert zu wirken. Marina unterdessen plauderte schon wieder ohne Unterlass, und als ihr Redefluss versiegte, versuchte sie geschickt, etwas über Emilias Lebensgeschichte zu erfahren. Die sich allerdings nach ein paar Sätzen erschöpfte. Das Leben einer Waise war nun mal nicht sonderlich abwechslungsreich und noch weniger spannend.

Im Anschluss war es Zeit für das Abendessen, eine kleine Bewährungsprobe, denn Emilia war sich gewiss, durch ihre Unkenntnis, was die Etikette anbelangte, negativ aufzufallen. Zu ihrer Überraschung konnte sie der Zusammenkunft aus Marina, Charlotte Fairmann und zwei Damen, die mal eben hereingeschneit waren – und von denen Marina hinter vorgehaltener Hand behauptete, sie schneiten hier häufiger herein als ins eigene Heim – kaum eine besondere Förmlichkeit im Verhalten entnehmen. Sie lachten viel, beluden sich ihre Teller selbstständig, weil jede einen anderen Appetit hatte, und verzichteten darauf, eine Sitzhaltung einzunehmen, die ihnen Rückenschmerzen bereitete. Charlotte saß sogar zeitweilig mit einem Bein über der Stuhllehne, während sie auf den Hauptgang warteten. Sie banden Emilia in ihre Gespräche ein, als sei sie eine ebenso häufige Besucherin. Von gewissen Ausnahmen abgesehen.

»Oh, habt ihr schon das von Anton gehört? Unserem ewigen Katholiken?«

Charlotte umwickelte teilnahmslos eine ihrer kurzen Locken. »Nein, was ist denn mit unserem Langweiler? Er hat drei meiner Partys verpasst, ich weiß nicht, was ich von ihm halten soll.«

»Scheinbar hat er etwas Besseres zu tun, das er vor aller Welt geheim halten muss«, erklärte ihre Freundin verschwörerisch.

Bettie oder Nettie sprach so schnell, dass Emilia Mühe hatte, ihr zu folgen. Prestissimo, würde sie es musikalisch ausdrücken wollen. Denn nicht nur auf den Charakter von Musikstücken wirkte sich das Tempo aus, fand Emilia, sondern auch auf den der Menschen.

»Vor allem vor seiner Frau«, fügte Maria eher allegretto hinzu. Sie war eine spindeldürre Frau, deren Attraktivität entweder nicht vorhanden war oder sich durch etwas sehr Besonderes auszeichnen sollte. Charlotte setzte sich aufrecht hin, sichtbar neugierig. »Sagt dir das Eldorado etwas?«

Charlotte schlug die Hand vor den Mund. »Nein!«, rief sie aus.

»Doch«, flüsterte Bettie bestimmt und spießte eine Erbse auf ihre Gabel.

Keine der drei giggelnden Frauen präzisierte diese spektakuläre Neuigkeit, das Thema wurde fallen gelassen, ehe es wirklich zu einem geworden war. Nicht einmal Marina konnte in diesem Punkt mit ihrer Wunderfitzigkeit auftrumpfen. Zumal direkt danach das Telefon durch den Flur schrillte und alle am Tisch aufschreckte.

Dieses Mal wusste Marina Rat. »Wichtigste Regel in diesem Haus«, raunte sie grinsend, »lass niemals das Telefon unbeantwortet. Es könnte ein Anruf von größter Wichtigkeit sein, den man da verpasst. Also denk daran: Solltest du die Einzige sein, die abheben kann, tu es.«

Emilia konnte beim besten Willen nicht begreifen, weshalb ein Anruf so wichtig sein sollte, dass eine völlig Fremde ihn entgegennehmen durfte, aber sie wollte nicht schon am ersten Abend alles infrage stellen, daher nickte sie.

 

Als sie später in ihr ausnehmend gemütliches Bett sank, lächelte sie. Ihr erster Tag war überstanden, und sie hatte ihn nicht völlig vergeigt. Im Gegenteil. So sonderbar ihr einige der hiesigen Gepflogenheiten erschienen, sie empfand die Familie Fairmann als durchaus sympathisch und die Villa Winter als einen Ort, an dem es sich gut arbeiten ließ. Sie durfte wohl zufrieden sein mit den Entwicklungen ihres Lebens. Nicht jeder Waise war solch ein Glück beschert.

 

Der Tag begann in einem sanften d-Moll-Akkord, er weckte Emilia mit seiner rücksichtsvollen Gediegenheit. Sie öffnete die Augen, blinzelte ins Sonnenlicht und konnte sich für einen kurzen Moment nichts Schöneres vorstellen, als einen halb durchsichtigen weißen Vorhang, der in der Morgenbrise flatterte und ihr so edel und erhaben schien wie nichts sonst in ihrem Leben. Ihr Fenster in der Innenstadt Berlins zierte nicht einmal ein Vorhang, und die Geräuschkulisse einer erwachenden Straße sorgte meist für einen schonungslosen Einstieg in den Tag. Hier hingegen war es ruhig, wenngleich sie spürte, dass etwas in der Luft hing. Etwas, das sie noch nicht benennen konnte und diese Villa dennoch umgab. Mit Friedlichkeit hatte es wenig zu tun. Für den Augenblick schien dieses Etwas zu schlummern. Emilia erahnte es trotzdem, würde es gewiss alsbald kennenlernen. Sie wusch sich, zog sich an und trat in den Flur hinaus, schritt durch ihn hindurch, verträumt den morgendlichen Schatten folgend. Im Eingangsbereich blieb sie stehen und sah den Staubwolken dabei zu, wie sie im runden Treppenaufgang tanzten, dabei sehr leise sangen …

»Guten Morgen, Fräulein Sommer. Stehst ja mit den Spatzen auf.«

Alma machte sich einen Spaß daraus, sie auf der einen Seite Fräulein zu nennen und auf der anderen zu duzen. Sie fand wohl, Emilia stehe irgendwo dazwischen – zwischen den Bediensteten und der Familie. Nicht ganz so nobel wie Letztere, aber auch nicht so weit unten wie ihresgleichen.

»Letzten Endes bin ich eine Angestellte wie du«, widersprach Emilia.

Alma grinste bloß. »Nur mit einem schickeren Hut auf dem Kopp.«

Was den anging: Es war ja nicht mal ihr eigener.

Alma zuckte mit den Schultern. »So oder so, es ist in Ordnung. Um diesen Standesdünkel schert man sich hier nicht so, hab ich ja gesagt.«

Irgendwo über ihnen polterte es laut, was Alma sachte den Kopf schütteln ließ. »Kinder kriegen ist ein hartes Pflaster, sag ich dir, Fräulein Sommer. Die Kleene da oben macht sich noch gut, dafür dass ihre Mutter Feste und Feiern weit über Erziehungsfragen stellt. Na, wer bin ich, das zu kritisieren? Sie sind trotzdem alle schwer in Ordnung, da will ich schön den Mund halten.« Sie deutete nach oben. »Ich hoffe, deine Anwesenheit verschiebt die Art der Geräuschkulisse ein bisschen. Das Einzige, das das Mädel derzeit formvollendet beherrscht, ist Krach.«

 

Eine Behauptung, der zu widersprechen sich Emilia einige Stunden später vehement verpflichtet sah. Davon abgesehen, dass der Ausdruck Krach je nach Definition anders ausgelegt wurde, besaß Marina durchaus ein Gespür für Musik. Allein in ihrer Wahl, welche Instrumente sie zu spielen beabsichtigte.

»Unser Lehrplan sieht bemerkenswert aus. Deine Eltern haben sich viel für dich vorgenommen«, stellte Emilia mit einem Blick in die Mappe fest, die ihr Charlotte Fairmann – gefüllt mit den Wünschen des Hausherrn – am Morgen übergeben hatte.

Marina kicherte leise, derweil sie mit den Augen einer Fliege folgte, die durch das Musikzimmer schwirrte. »Meine Eltern«, schon wieder betonte sie das Wort mit leicht sarkastischem Anschlag, »haben eine sehr klare Vorstellung von Musik, weil sie Musik lieben, aber nur in dem Zusammenhang, der ihr Leben erleichtert. Sie haben noch weniger Ahnung davon als ich. Wage ich zu vermuten.«

Emilia sah sie nachdenklich an, beglückwünschte die Hauslehrerin des Mädchens zu einer solch wortgewandten Schülerin. Neun Jahre, und sie klang beinah eloquenter als Emilia selbst.

»Der ambitionierte Wunsch, richtig gut singen zu können, stammt von mir selbst.«

»Und das Bespielen von mindestens fünf Musikinstrumenten?«

Marina fing die Fliege mit beiden Händen, formte die Finger zu einer Muschel und legte ihr Ohr daran. Das aufgeregte Surren war unüberhörbar. »Mama wollte zehn, aber ihr sind nicht mal zehn Instrumente eingefallen, da haben sie die Anzahl halbiert.«

Wie einsichtig. Das Wörtchen mindestens schloss die zehn ja nicht aus. Allerdings würden sie eine geraume Zeit für die ersten fünf benötigen, zuzüglich des Gesangsunterrichts, damit das Endziel, bei Veranstaltungen eine »gute Figur« zu machen, wie in der Mappe zu lesen war, erfüllt sein würde. Das letzte aufgeführte Ziel klang immerhin fast bescheiden: Die Musik ehren und schätzen lernen. Das dürfte zu schaffen sein.

»Welche fünf hast du dir vorgestellt?«

Marina sah sie mit hochgezogenen Brauen an. »Steht das nicht in der Mappe?«

»Nicht, dass ich wüsste«, log Emilia guten Gewissens, denn wenn sie eines über das Lernen gelernt hatte, dann dass es um ein Vielfaches besser gelang, wenn die Schülerin selbst entschied, was sie zu können beabsichtigte. Überdies war sich Emilia nahezu sicher, Charlotte Fairmann würde es gleichgültig sein, welche fünf Instrumente ihre Tochter beherrschte, da es ihr schon schwerfiel, zehn davon überhaupt nur aufzuzählen.

Marina entließ die Fliege in die Freiheit und strahlte übers ganze Gesicht. »Das ist leicht«, rief sie beglückt. Sie deutete auf den Flügel. »Das«, ihr Finger wanderte weiter hinüber zum Regal, »das, das und das.« Er hüpfte von der Klarinette zu Querflöte und zur Violine. »Und …«, sie sah sich überlegend im Raum um, »die Harfe natürlich.«

Emilia unterdrückte ein Lachen. Der Gesang dürfte das am wenigsten ambitionierte Vorhaben auf dieser Liste werden. Sie nahm es gleichwohl hin, ohne mit der Wimper zu zucken. Die Fairmanns bezahlten sie ausgesprochen gut, daher war es nur rechtens, ausgesprochen gute Arbeit zu leisten. »Womit willst du anfangen?«

»Klavier! Pardon. Mit dem Flügel.« Sie hüpfte zielstrebig darauf zu.

»Ausgezeichnete Wahl«, bestätigte Emilia, hielt sie jedoch zurück. »In dem Fall widmen wir uns diesem Instrument zuerst. Aber noch nicht heute.«

Marina schob leicht die Lippen vor, ein Schmollmund, der rechtzeitig von guten Manieren und Neugierde abgebremst wurde. »Was machen wir stattdessen?«

Emilia schmunzelte. »Wir lernen, selbst ein Instrument zu sein.«

 

Es sollte nicht einmal eine Stunde verstreichen, ehe Emilia überzeugt davon war, ihre Schülerin verkörpere ein besonders edles. Sie hinterfragte Emilias Vorgehen keine Sekunde, quengelte nicht, wann sie denn nun endlich selbst spielen dürfe, sie ließ sich auf das ein, was Emilia ihr anbot. Mit jener kindlichen Freude, die Emilia nie hatte leben können.

»Zum Abschluss lassen wir Seifenblasen singen.« Eine simple Aufwärmübung für die Stimme, die Emilia selbst erfunden hatte – in der Badewanne des Stadtbads Wedding sitzend, das sie an ihrem wöchentlichen Badetag gern aufsuchte. Es war ein Moment kindlichen Staunens gewesen, den sie nie vergessen hatte. »Stell dir vor, du hast gerade ein Bad eingelassen und dir den Luxus mehrerer Seifen gestattet« – was in Marinas Kreisen wahrscheinlich gar kein Luxus war – »und nun steigen aus dem Seifenschaum einige Blasen empor, schimmern regenbogenfarben im Licht. Jede ist von einer anderen Größe, und lässt du sie mit deinem Finger zerplatzen, so«, sie schnippte mit dem Zeigefinger gegen eine imaginäre Seifenblase, »erklingt sie in einem entsprechend anderen Ton. Die großen hören sich tiefer an, die kleinen höher.« Sie schnippte nach einer großen Blase, sang das tiefe C, sie tippte gegen eine kleinere und verhauchte sie mit einem hohen C.

Marina folgte mit leuchtenden Augen ihren Bewegungen, benötigte keine zweite Aufforderung, um in das Spiel einzufallen. Bald schon sausten sie Töne singend durch das Musikzimmer, folgten Seifenblasen, die nur vor ihren inneren Augen aufstiegen, und verfielen in einen Tanz der Sinne, in dem Körper und Stimme, Herz und Geist verschmolzen – und mit ihnen zwei Fräuleins, ein kleines und ein etwas größeres. Marina rutschte, sich eben noch auf der Jagd nach einer winzigen Seifenblase im Kreis drehend, auf dem blank polierten Boden aus und plumpste auf ihren Hintern. Kurz schaute sie verdutzt drein, ehe sie in ein Gelächter ausbrach, in das Emilia kichernd einfiel.

Als später Alma ihren Kopf durch die Tür steckte und sie beide japsend auf dem Boden vorfand, staunte sie nicht schlecht. »Ich hab mich geirrt, jetzt machen sie beide Krach!«, stellte sie kopfschüttelnd fest.

»Mitnichten, Alma, wir bringen lediglich unsere Körper zum Schwingen.«

Die Haushälterin gluckste leise, schüttelte abermals den Kopf und erklärte sie für verrückt.

Emilia rollte sich auf ihren Bauch und grinste Marina schelmisch entgegen. »Wie es aussieht, ist dein Zwerchfell vollkommen in Takt. Das bedeutet, die Chancen stehen gut, dass aus dir eine begnadete Sängerin wird.«

So hatte sich also Marina Fairmanns erste Musikstunde zugetragen. Sie würde sie niemals vergessen, genauso wenig wie den Rest ihres Kennenlernwochenendes, das sie beide überrascht hatte und wie im Flug vergangen war. Emilia hätte niemals angenommen, in einer Neunjährigen eine so aufgeweckte Schülerin zu finden, die sich auf jede noch so unerwartete Übung einließ. Derweil sich Marina nicht hätte träumen lassen, dass Musikunterricht dieserart abwechslungsreich sein könnte.

 

Der Sonntagnachmittag kam viel zu schnell, Emilias Abreise stand unmittelbar bevor, und beinah stimmte sie das traurig. Die Villa Winter war ein heller Ort, den die Musik zwar noch nicht beherrschte, sich aber auf dem Weg dorthin befand. Ihr Zimmer in Berlin mochte erfüllt davon sein, allein, was nutzte es, wenn jeder Ton dort eingesperrt bleiben musste oder im Straßenlärm verpuffte, sobald man ihn durchs Fenster entließ?

So schlenderte Emilia in einer Mischung aus guter Laune und Abschiedsschmerz durch den Flur, um gleich einen letzten Tee mit Marina und Charlotte einzunehmen und im Anschluss von Ludwig abgeholt zu werden, als plötzlich das Telefon, unmittelbar vor ihr auf einem Holztischchen stehend, aufheulte. Den Klang dieser Apparaturen mochte sie nicht, konnte sich aber nicht erklären, weshalb.

Sie zögerte, sah sich um, lauschte auf herannahende Schritte. Niemand schien auf dem Weg, um abzuheben, kein Fußgetrappel kündigte Marina an, noch hörte sie das Klirren von den gegeneinanderschlagenden Armreifen der Hausherrin. Von den Bediensteten gleichfalls keine Spur. Emilia spürte die Unruhe in sich, erinnerte sich an Marinas Worte, kein Anruf dürfe unbeantwortet bleiben, und scheute sich doch davor, dem als Fremde in diesem Haushalt nachzukommen.

Jetzt mach schon, der Apparat wird dich nicht beißen.

Schließlich, als das Läuten eine ganze Weile anhielt, ohne dass es jemand zur Kenntnis genommen hätte, fasste sich Emilia ein Herz und hob ab.

»Ah, endlich bequemt sich jemand dazu, das Telefon auch zu benutzen«, ertönte eine schlecht gelaunte männliche Stimme, noch ehe sich Emilia hätte melden können. Sie wirkte noch jung, jungenhaft beinah, obschon sie zu einem Menschen gehören musste, der es gewohnt war, zu delegieren. »Wofür bezahle ich Sie eigentlich? Fürs Nichtstun?«

Emilia erkannte in Sekundenschnelle, um welchen Menschen es sich handeln musste, antwortete, wie so manches Mal, ohne nachzudenken, ihrem Arbeitgeber: »Fürs Musizieren.« Keinesfalls wollte sie damit provokant klingen, noch frech oder respektlos. Sie hielt sich schlicht an die Wahrheit, die rein rhetorische Frage zu spät als solche erkennend.

»Wie bitte?« Es schwang Irritation in dem aufkommenden Ärger mit.

»Emilia Sommer, freut mich, Sie kennenzulernen. Ich bin die Musiklehrerin.«

»Die Musiklehrerin?«, echote Herr Fairmann, als würde er sich fragen, wann und ob er eine solche Person eingestellt hatte.

»Ja, ich habe mich dieses Wochenende …«

»Schon gut, schon gut!«, unterbrach er sie mit dieser Stimme, die zu jung für Strenge klang, Emilia nichtsdestotrotz durch Mark und Bein ging. »Ich weiß Bescheid. Warum spreche ich mit Ihnen?«

Emilia wurde unsicher, verfluchte sich dafür, auf Marina gehört zu haben. »Ach, weil … weil nur ich in der Nähe war und man mich bat …«

»Ja, das sieht ihr ähnlich. Je mehr Leute im Haus sind, desto weniger muss sie selbst tun, was?«

Emilia wusste nicht, was sie darauf entgegnen sollte, schwieg daher. Ihr Arbeitgeber seufzte tief. »Nun denn, Fräulein Musiklehrerin, würde es Ihnen etwas ausmachen, die Dame des Hauses ans Telefon zu bitten?«

Emilia nickte höflich, blickte einen Moment unsicher auf den Hörer in ihrer Hand, sich fragend, ob sie laut rufen sollte.

»Legen Sie den Hörer beiseite und holen Sie Charlotte«, hörte sie die gedämpfte Stimme aus der Muschel erklingen.

Sie nickte erneut, wisperte ein »Selbstverständlich und guten Tag« in den Hörer und machte sich auf die Suche nach der Dame des Hauses.

Das war Emilias erste Bekanntschaft mit Paul Eliot Fairmann. Nicht unbedingt vielversprechend. Und das, wo das Kennenlernwochenende sie doch eigentlich ermutigt hatte.

 

»Mach dir nichts draus. Du wirst nicht ihn, sondern seine Tochter unterrichten und mit ihr war es ja doch vielversprechend.« Annabelle hielt es grundsätzlich für unnötig, sich zu viele Sorgen zu machen. Sie häufte Emilia einen großzügigen Berg Kartoffeln auf den Teller und betonte im fortlaufenden Gespräch so häufig, wie erfreulich Emilias Wochenende aus ihrer Sicht gewesen sei, bis diese es selbst wieder glaubte. »Du musst mit denen klarkommen, die anwesend sind, oder? Was momentan nur ich bin, und deshalb sollten wir uns schleunigst mit den Annehmlichkeiten des Lebens beschäftigen.« Sie sprang vom Stuhl auf, wuselte in Strümpfen hinüber zu ihrer Anrichte. »Sieh mal, was ich erstanden habe. Es ist das neuste Modell und unfassbar praktikabel!«

Unfassbar war Annabelles Lieblingswort, vor allem, wenn sie etwas Neues gekauft hatte. Jeder gekaufte Gegenstand erhielt sodann Bezeichnungen wie unfassbar schön, unfassbar preiswert oder eben unfassbar praktikabel. In diesem Fall handelte es sich um ein sogenanntes Koffergrammofon, und selbst Emilia musste zugeben, dass es ein faszinierendes Gerät war. Es passte mit seiner stehenden Regulatorspindel und dem Metalltrichter haargenau in den etwa dreißig Zentimeter breiten Vulkanfiberkoffer, der sich bequem verschließen und wie Handgepäck mitführen ließ.

»Es gibt nichts Schöneres als Musik zum Abendessen. Aber von nun an können wir auch beim Picknicken welche hören, ist das nicht großartig?« Annabelle bewegte sich mit grazilem Trippelschritt zurück zum Esstisch, wuschelte sich über den kurzen blonden Bubikopf.

Bei ihr sah es reizend und sehr weiblich aus, Emilia hingegen scheute sich noch davor, sich von ihren langen Locken zu trennen. Obschon der Zeitgeist es verlangte und die Druckschriften bald täglich Frauen haben die Hosen an und Weg mit den Mädchenzöpfen! oder Dies ist die Zeit für starke Weiber! proklamierten, so mochte Emilia ihr langes Haar. Sie arbeitete schließlich wie die meisten Frauen, fuhr Fahrrad und trug zuweilen Hosen; sie verhielt sich wie eine moderne Frau. Wieso sollte ihre Frisur ihr Aushängeschild sein, wo es ihr Verhalten ebenso konnte? Würde sie es irgendwann schön oder praktisch finden, konnte Annabelle ihr diesen unfassbar talentierten Friseur gern vorstellen. Jetzt nicht. »Jetzt nicht, jetzt nicht«, seufzte Annabelle immer, wenn Emilia sie dieserart vertröstete.

»Es würde dir stehen, so viel steht fest.«

Es schien eines von Annabelles besonderen Anliegen zu sein, Emilias Leben zu perfektionieren, selbst wenn diese es auch ohne die Hilfe ihrer Freundin recht passabel fand.

»Die Männer würden auf dich fliegen, würdest du es nur mal zulassen. Was mich zu der Frage bringt, nein, eigentlich eher zu der Aufforderung, mit mir später noch auszugehen. Lass uns ein bisschen tanzen, du bist um zehn zu Hause, das verspreche ich dir, nur vorher – bitte, bitte, bitte – gönnen wir uns noch ein bisschen Spaß!« Sie redete bereits auf Emilia ein, als kenne sie deren ablehnende Antwort, versuchte, sie mit flehentlich gefalteten Händen zu überzeugen.

»Hast du noch nicht genug getanzt?«

»Sicher, bloß du nicht, und ich muss dir unbedingt diesen neuen Tanz zeigen – er heißt Turkey trot, übersetzt Truthahn-Trab, ist das nicht lustig?«

Emilia ließ sie noch einen Augenblick länger mit den Wimpern klimpern, ehe sie lachend nachgab. »Na gut, weil du es bist.« Sie hatte nichts gegen einen gelegentlichen Tanzabend, erschreckend fand sie, dass die Menschen dieser Tage aus einem gelegentlich ein täglich machten. Selbst Emilia ließ sich gern treiben, blieb aber stets auf dem Boden der Tatsachen, der besagte, dass sie im Leben etwas erreichen wollte. Ausschweifende Partys mit Gedächtnisverlust würden sie gewiss nicht an ihr Ziel bringen, genauso wenig wie Annabelles Weg der Verführung, der in ihrem Fall bestimmt nicht glückte. Was nicht hieß, dass sie nicht vorhatte, die nächsten Stunden zu genießen.

 

Die Bar war zum Bersten gefüllt mit Tanzwütigen, die Musik klang laut, die meisten Besucher schienen nicht mehr nüchtern oder trunken von etwas, das sie Freiheit nannten. Überall giggelte und johlte es, Mädchen saßen auf Schößen von sowohl Männern als auch Frauen, ihr Kichern begleitete jeden Schritt wie ein Klingeln in den Ohren. Die Lichtstimmung lag irgendwo zwischen gedämpft und grell, in dem die überschminkten Gesichter der Damenwelt wie verrückte Fratzen wirkten. Emilia hielt inmitten des Treibens inne, schloss die Augen. Eine ganze Symphonie ergoss sich über sie, während die Eindrücke dieses Abends sie umfingen, mal wohlklingend, mal abstoßend.

»Was machst du denn? Na, komm!« Annabelle schlang lachend ihre Federboa um Emilias Hals und zog sie mit sich. »Ich verwandle dich jetzt in einen Truthahn!«

In der Tat eine zutreffende Beschreibung für diesen Tanz, bei dem man mit seitlichen Sprungschritten und übertrieben weit auseinanderstehenden Füßen, den Hintern herausstreckend und die Arme wie Flügel flatternd, übers Parkett trabte – entweder allein oder als Paar. Emilia verfiel bald in dasselbe gackernde Gekicher wie all die anderen, tanzte und lachte, die Welt drehte sich im Lichtglanz Hunderter funkelnder Sterne, doch ihr Geist blieb klar. Wie immer schrieb sie Note für Note mit, würde eine weitere Komposition aus diesem Abend machen, festgehalten in ihrem Hinterkopf und bereit, eines Tages den Weg aufs Papier zu finden.

Berlin, August 2004

Das war der Augenblick. Der, auf den sie gewartet hatte, den sie genießen würde, und nichts konnte sie davon abhalten. Weder Lampenfieber noch der erwartungsvolle Blick ihres Vaters oder das selige Lächeln ihrer Großmütter und schon gar nicht die unwirsche Kuh von der Presse, die immer aussah, als würde sie einen in ihrer Kritik verreißen, um letztlich doch ganz nettes Zeug zu schreiben. Dieser Moment gehörte ihr, ihr ganz allein. Sie spielte nicht für eine große Karriere, nicht, um ihren Vater glücklich oder ihre Dankbarkeit gegenüber ihren großmütterlichen Mentorinnen geltend zu machen, sie spielte nicht für die Zuschauer und die Pressemitteilung. Sie spielte für sich. Und für die Musik selbst. Für das Erfüllende, das sie gemeinsam erlebten. Weil sie es liebte und sie für diesen Auftritt einen langen, anstrengenden und wunderschönen Weg zurückgelegt hatte.

Sie spürte sämtliche Blicke auf sich, mehr als zweitausend Menschen, die gespannt darauf warteten, ihren ersten Ton zu hören. Das Scheinwerferlicht, das einzig auf sie gerichtet war, verhinderte, dass sie die Gesichter der Menschenmasse sehen konnte, denn das wäre ziemlich sicher der Moment gewesen, in dem die Nervosität sie so weit gehabt hätte, unter ihr zu erzittern. So aber stand sie völlig ruhig da – ein junges Ding von zwanzig Jahren in einem hübschen roten Abendkleid und einer Stradivari-Violine in der Hand. Zaghaft klemmte sie ihre Gefährtin zwischen Kinn und Schulter, schloss die Augen und hob den Bogen an. Sie konnte beinah hören, wie in der gesamten Berliner Philharmonie der Atem angehalten wurde.

Ganz ruhig.

Und dann legte Elodie Wagner los, und alles um sie herum verschwand, sie versank in jenem Zustand, den sie den goldenen Rausch nannte. Es existierten nur sie, ihre Violine und das, was sie zusammen erschufen.

Sie erwachte erst wieder aus ihm, als sie das Meeresrauschen hörte, das sich in das Geprassel aufeinanderschlagender Hände und trampelnder Füße verwandelte. Sie schlug die Augen auf und sah sich inmitten von ihnen. Inmitten der Zuschauer (die meisten davon hatten sich von ihren Plätzen erhoben), inmitten ihrer Mitspieler (die meisten davon alte Hasen, die wussten, wie man dem Applaus entgegentrat) und am Anfang ihrer Karriere. Scheinbar hatte sie einen erfreulichen Auftakt hingelegt.

Ihr Vater sah das anders, seiner Meinung nach war sie längst über das Anfangsgeplänkel hinaus und rangierte unter den besten Newcomern dieses Jahrzehnts – allein dieser Abend sei der Beweis dafür. Elodie wusste es besser. Sie war zwanzig Jahre alt, unerfahren und musikvernarrt, das machte noch keinen Weltstar aus ihr. Was nicht bedeutete, dass es sie nicht mit Stolz erfüllte, heute Abend hier zu stehen und die Violinromanze Nr. 1 G-Dur von Beethoven ohne Orchesterbegleitung eingeleitet zu haben. Das Stück zählte immerhin zu einem der schwierigsten für die Violine, und gewiss gab es nicht viele Zwanzigjährige, die diesen Part spielen konnten.

Es stimmte auch, dass sie nicht zum ersten Mal hier auftrat. Ihre Bühnenkarriere hatte bereits im Alter von vierzehn Jahren begonnen, damals auf der Parkbühne Wuhlheide. Wahrscheinlich hatte sie schon auf fast jeder Bühne Berlins gestanden, angetrieben von einem Ehrgeiz, der nicht immer ihr eigener war, aber hier in der Berliner Philharmonie fühlte sie sich am wohlsten. Sie mochte die subtile Asymmetrie der Architektur, die terrassenartige, in fünf Blöcken unterteilte Zuschauerloge – und dass die Bühne mittendrin war und damit kaum eine Trennung zu den Zuschauern bestand. Sie alle wurden durch die Aufführung eins – umfangen von der Schönheit der Musik.

Elodie gestattete sich ein Lächeln, verbeugte sich mit den anderen und verließ mit einem Gefühl der Glückseligkeit den Saal. Dies war der Anfang. Hieran würde sie sich noch lange erinnern.

 

»Du warst unglaublich!«

»Dein erster Soloauftritt und gleich so souverän!«

»Der Hammer!«

»Warst du nervös?«

»Du standest da, als hättest du nie etwas anderes gemacht. Ich bin so stolz auf dich!«

Elodie nahm das Geplapper ihrer Freundinnen wie durch einen Schleier wahr, beteiligte sich stumm am Gespräch, nickte hier, lächelte da. Sie benötigte immer etwas Zeit, um nach einem Auftritt wieder zu sich zu kommen, zurück in die reale Welt. An diesem Abend allerdings befand sie sich nach dem nur sehr kurzen Moment für sich allein in der Künstlergarderobe immer noch in diesem nebulösen Zustand, der alles um sie herum leicht entsättigte. Stimmen klangen dumpfer, Farben wirkten wie in einem vergilbten Fotobuch. Sie hielt ein Glas in der Hand, ohne zu wissen, wie es da hingekommen war. Sie selbst hatte es sich bestimmt nicht geholt, mochte den Geschmack von Alkohol nicht. Und nervig war es außerdem, denn es stellte sich als unpraktisch heraus, so häufig, wie ihr bekannte und unbekannte Menschen gratulierten und dafür die Hand schüttelten.

»Genau genommen hat sie ja schon etwas Übung, hm?« Die Stimme ihres Vaters, nicht überheblich, lediglich dezent blasiert – wie stolze Väter eben so sind, die zudem einen wichtigen Posten in der Gesellschaft bekleideten.

Emmi und Becca verstummten bei seinem Anblick, Becca aus Höflichkeit, Emmi, weil sie sich das Lachen verkneifen musste. Sie gehörte zu jener Sorte junger Erwachsener, die einer älteren Person nur Respekt zollten, wenn es auch umgekehrt der Fall war, und da Johannes Wagner in Elodies Freundinnen lästige Wesen sah, die seine Tochter davon abhielten, eine virtuose Künstlerin zu werden, fehlte es beiden Parteien an jenem Respekt. Dazu kam, dass sich Emmi schon immer über seinen Beamtenschnauzer lustig gemacht hatte – nicht verbeamteter Beamtenschnauzbartträger nannte sie ihn. Becca warf ihr einen tadelnden Blick zu, den Emmi ignorierte, während Elodie immer noch damit beschäftigt war, eine Möglichkeit zu finden, ihr überflüssiges Glas loszuwerden.

Der nicht verbeamtete Beamtenschnauzbartträger schritt mit einem breiten Lächeln auf den schmalen Lippen zu Elodie hinüber, um ihr ein Küsschen auf die Stirn zu hauchen – sein Zeichen der Anerkennung. »Sehr gut, Liebes.«

Elodie lächelte abwesend.

»Es macht sich bezahlt, früh genug Bühnenluft zu schnuppern«, merkte er an und erntete dafür ein zynisches Lächeln von Emmi.

Sowohl Elodie als auch Becca ahnten, was sie jeden Augenblick äußern würde, und Becca legte vorsorglich eine Hand auf ihre Schulter. Es war nicht der Zeitpunkt für Streitgespräche, vor denen Emmi so gut wie nie zurückschreckte. Selbst dann nicht, wenn sie einem angesehenen Richter und Politiker gegenüberstand, dem man besser nicht unter die Nase rieb, dass es seiner Tochter ja wohl leichter als normalsterblichen Töchtern fallen dürfte, auf den Berliner Bühnen herumzuschnuppern.

»Absolut, und heute hat sie sich selbst übertroffen«, stimmte Becca in ihrem angepassten Konversationston zu und krallte ihre Finger in Emmis Schulterblatt.

»O ja, das Üben hat sich bezahlt gemacht.«

Emmi öffnete wieder den Mund, doch Becca kam ihr zuvor. »Sie sagen es, Elodie ist so fleißig.«

»Ohne Fleiß, kein Preis.«

Emmi kochte sichtlich, Becca lächelte freundlich, Elodie hatte das Gefühl, einer Langspielplatte zu lauschen, die einen Sprung hatte und immer wieder dieselben Sätze verlauten ließ.

»Ah, Richter Wagner, was für ein herrlicher Abend, Ihr Fräulein Töchterchen ist ja wirklich eine Augenweide und eine Künstlerin der Meisterklasse!«