Das Glück, geliebt zu werden - Patricia Vandenberg - E-Book

Das Glück, geliebt zu werden E-Book

Patricia Vandenberg

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Beschreibung

Für Dr. Norden ist kein Mensch nur ein 'Fall', er sieht immer den ganzen Menschen in seinem Patienten. Er gibt nicht auf, wenn er auf schwierige Fälle stößt, bei denen kein sichtbarer Erfolg der Heilung zu erkennen ist. Immer an seiner Seite ist seine Frau Fee, selbst eine großartige Ärztin, die ihn mit feinem, häufig detektivischem Spürsinn unterstützt. Dr. Norden ist die erfolgreichste Arztromanserie Deutschlands, und das schon seit Jahrzehnten. Mehr als 1.000 Romane wurden bereits geschrieben. Die Serie von Patricia Vandenberg befindet sich inzwischen in der zweiten Autoren- und auch Arztgeneration. Veronika Imhoff hatte die Post aus dem Briefkasten geholt und lief schnell ins Haus zurück, denn der Nieselregen war urplötzlich in einen kräftigen Schauer übergegangen, und nun hatte ihre Frisur eine ganz schöne Dusche abbekommen. Sie schüttelte sich und streckte ihrem Spiegelbild die Zunge heraus, aber dann sagte sie: »Hast ja selber schuld, wenn du so rausrennst.« Die Post hatte sie beiseite gelegt und noch gar nicht angeschaut. Schnell ging sie erst ins Bad und stellte den Fön an, um das Haar zu trocknen, denn am Abend wollte sie mit ihrem Mann ein Konzert besuchen. David Delorme war wieder einmal als Gastdirigent in München, und seine Konzerte ließen sich die Imhoffs nie entgehen. Nach ein paar Minuten konnte sie zufrieden sein. Die Frisur hatte kaum gelitten, ihr schönes blauschwarzes Haar schmiegte sich seidig um ihr feines Gesicht, in dem große veilchenblaue Augen leuchteten, die einen aparten Kontrast zu den dunklen Haaren bildeten. Dann holte sie die Post und setzte sich noch einmal an den Frühstückstisch. Sie schenkte sich eine Tasse Kaffee ein und aß das Brötchen, das ihr Mann hatte liegenlassen, weil er es sehr eilig gehabt hatte. Unwillig legte sie die Wurfsendungen beiseite, die manchmal en masse kamen, aber dann weiteten sich ihre Augen, denn sie sah einen Brief, der aus Tübingen kam, von einem Rechtsanwalt Dr. Hagenau. In Tübingen war Veronika zur Welt gekommen und zur Schule gegangen, und dort hatte sie auch Bekannte, mit denen sie hin und wieder korrespondierte, aber ein Dr. Hagenau war ihr nicht bekannt, und da es sich um einen Rechtsanwalt handelte, öffnete sie den Umschlag mit einem Gefühl des Unbehagens. Aber nachdem sie die ersten Zeilen gelesen hatte, schloß sie die Augen und preßte die Lippen aufeinander. Sehr geehrte Frau Imhoff, ich habe die traurige Pflicht, Ihnen die Nachricht vom Ableben meiner Mandantin, Frau Erika Axmann, zu übermitteln und deren letzten Wunsch, daß Sie Thomas vielleicht in einem Heim in der Nähe von München unterbringen könnten, damit er wenigstens eine Bezugsperson hat, der er Vertrauen entgegenbringt. zu äußern. Thomas wurde zwischenzeitlich von Nachbarn aufgenommen, aber eine baldige Entscheidung wäre im Interesse des sensiblen Kindes wünschenswert, und ich hoffe, daß Sie Frau Axmanns Bitte nicht als eine Belästigung betrachten. Das arme Kind, dachte Veronika, nun hat er auch keine Großmutter mehr, aber da sie nicht mit ihrem Mann sprechen konnte, der außerhalb wichtige Besprechungen hatte, fühlte sie sich momentan ziemlich hilflos. Und dann hätte sie fast vergessen, daß sie zu elf Uhr einen Termin bei Dr. Norden hatte.

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Dr. Norden Bestseller – 301 –

Das Glück, geliebt zu werden

Patricia Vandenberg

Veronika Imhoff hatte die Post aus dem Briefkasten geholt und lief schnell ins Haus zurück, denn der Nieselregen war urplötzlich in einen kräftigen Schauer übergegangen, und nun hatte ihre Frisur eine ganz schöne Dusche abbekommen.

Sie schüttelte sich und streckte ihrem Spiegelbild die Zunge heraus, aber dann sagte sie: »Hast ja selber schuld, wenn du so rausrennst.« Die Post hatte sie beiseite gelegt und noch gar nicht angeschaut.

Schnell ging sie erst ins Bad und stellte den Fön an, um das Haar zu trocknen, denn am Abend wollte sie mit ihrem Mann ein Konzert besuchen. David Delorme war wieder einmal als Gastdirigent in München, und seine Konzerte ließen sich die Imhoffs nie entgehen.

Nach ein paar Minuten konnte sie zufrieden sein. Die Frisur hatte kaum gelitten, ihr schönes blauschwarzes Haar schmiegte sich seidig um ihr feines Gesicht, in dem große veilchenblaue Augen leuchteten, die einen aparten Kontrast zu den dunklen Haaren bildeten.

Dann holte sie die Post und setzte sich noch einmal an den Frühstückstisch. Sie schenkte sich eine Tasse Kaffee ein und aß das Brötchen, das ihr Mann hatte liegenlassen, weil er es sehr eilig gehabt hatte.

Unwillig legte sie die Wurfsendungen beiseite, die manchmal en masse kamen, aber dann weiteten sich ihre Augen, denn sie sah einen Brief, der aus Tübingen kam, von einem Rechtsanwalt Dr. Hagenau.

In Tübingen war Veronika zur Welt gekommen und zur Schule gegangen, und dort hatte sie auch Bekannte, mit denen sie hin und wieder korrespondierte, aber ein Dr. Hagenau war ihr nicht bekannt, und da es sich um einen Rechtsanwalt handelte, öffnete sie den Umschlag mit einem Gefühl des Unbehagens.

Aber nachdem sie die ersten Zeilen gelesen hatte, schloß sie die Augen und preßte die Lippen aufeinander.

Sehr geehrte Frau Imhoff, ich habe die traurige Pflicht, Ihnen die Nachricht vom Ableben meiner Mandantin, Frau Erika Axmann, zu übermitteln und deren letzten Wunsch, daß Sie Thomas vielleicht in einem Heim in der Nähe von München unterbringen könnten, damit er wenigstens eine Bezugsperson hat, der er Vertrauen entgegenbringt.

Frau Axmann konnte Ihnen nicht mehr selbst schreiben, da sie einen Schlaganfall erlitten hatte, aber ihre Kraft reichte noch aus, diese Bitte

zu äußern. Thomas wurde zwischenzeitlich von Nachbarn aufgenommen, aber eine baldige Entscheidung wäre im Interesse des sensiblen Kindes wünschenswert, und ich hoffe, daß Sie Frau Axmanns Bitte nicht als eine Belästigung betrachten.

Das arme Kind, dachte Veronika, nun hat er auch keine Großmutter mehr, aber da sie nicht mit ihrem Mann sprechen konnte, der außerhalb wichtige Besprechungen hatte, fühlte sie sich momentan ziemlich hilflos.

Und dann hätte sie fast vergessen, daß sie zu elf Uhr einen Termin bei Dr. Norden hatte. Schnell kleidete sie sich an, steckte den Brief ein und ging zur Garage. Diesmal vergaß sie den Schirm nicht.

Mit zehnminütiger Verspätung traf sie in Dr. Nordens Praxis ein.

»Tut mir leid, Frau Harling«, sagte sie zu Dorthe, »aber mich hat eine unerwartete Todesnachricht durcheinandergebracht.«

Dorthe sah Veronika erschrocken an, und sie erklärte gleich, daß es sich nicht um eine Verwandte handelte.

Veronika war in den letzten Wochen häufig in der Praxis. Sie hatte im Winter an einer ziemlich schweren Virusgrippe gelitten und mußte sich einer Spritzenkur unterziehen, da sie sehr geschwächt gewesen war. Man konnte sie sowieso nicht als robust bezeichnen, wenngleich sie auch keineswegs wehleidig war.

Eigentlich hatte sie nur einen wirklichen Kummer, und das war ihre Kinderlosigkeit nach bereits fünf-jähriger Ehe. Dr. Norden hatte sie zwar immer wieder getröstet, daß sie die Hoffnung nicht aufgeben dürfe, aber manchmal resignierte sie nun doch, und gerade in der Zeit der Krankheit hatte sie seelisch sehr gelitten.

Dr. Daniel Norden fand es ausgesprochen ungerecht, daß ihr größter Wunsch unerfüllt blieb, denn sonst stimmte zwischen Constantin und Veronika Imhoff wirklich alles. Sie führten eine überaus glückliche Ehe, hatten eine gesicherte Existenz, ein schönes Haus, keine finanziellen Sorgen und liebten Kinder. Constantin hatte auch schon mit Dr. Norden darüber gesprochen, daß sie ja ein Kind adoptieren könnten, wenn Veronika es wirklich wolle. Aber sie wollten dann natürlich ein Baby haben, das von Anfang an zu ihnen gehörte.

Nun saß Veronika Dr. Norden gegenüber und reichte ihm den Brief. Er war verblüfft, aber Veronika sagte hastig, daß ihr Mann momentan nicht erreichbar sei und sie einen Rat brauche.

Während er las, warf sie ein, daß Erika Axmann die Großmutter des Jungen gewesen sei.

»Und wie alt ist er?« fragte der Arzt.

»Sechs Jahre. Beate Axmann, seine Mutter, war eine Schulfreundin von mir. Sie war nicht verheiratet. Sie war herzkrank und starb bei der Geburt des Kindes. Ich habe ein bißchen mit für den Kleinen gesorgt und ihn auch besucht, wenn ich in Tübingen war. Die Großmutter hatte es nicht leicht. Sie war verwitwet, und diese sehr konservativen Bekannten rümpften die Nase, weil Beate ein uneheliches Kind geboren hatte.«

Sie verkrampfte die Hände ineinander. Ein Zucken lief über ihr Gesicht.

»Sie wissen ja, daß wir bereit sind, ein Kind zu adoptieren, aber ein kleines wollten wir haben«, flüsterte sie stockend. »Doch nun… Thommy hat doch niemanden mehr. Meinen Sie, daß mein Mann einverstanden wäre, daß wir ihn zu uns nehmen?«

»Sie könnten ihn doch fragen, Frau Imhoff, aber ich würde es mir schon reiflich überlegen, denn ein sechsjähriges Kind hat schon Verstand. Eigentlich werden Sie ja nur gebeten, den Jungen in einem Heim unterzubringen.«

Sie blickte auf, und ihre Augen schimmerten feucht. »Das bringe ich nicht übers Herz«, sagte sie. »Ich werde mit meinem Mann sprechen.«

»Sie werden gemeinsam bestimmt die beste Lösung finden«, sagte Dr. Norden, »aber nun wollen wir die Spritze nicht vergessen. Sie werden Kraft brauchen in der nächsten Zeit.«

Ihr Blick schweifte in die Ferne. »Beate war dreiundzwanzig, als sie starb«, murmelte sie, »und ihre Mutter kann noch nicht sechzig gewesen sein. Es ist so traurig für das Kind.«

Und es ist ebenso traurig, daß sie vergeblich auf ein Kind wartet, ging es Dr. Norden durch den Sinn. Es ging oft ungerecht im Leben zu.

*

Der kleine Thomas saß indessen auf den Treppenstufen eines kleinen Hauses. Einen Arm hatte er um einen Hund geschlungen und seine Wange an dessen Hals gelegt.

Fips, der Labrador, schnaufte tief auf, aber sonst blieb er regungslos sitzen.

»Weißt du, Fips, vielleicht kommt Tante Roni«, sagte der Junge. »Sie ist sehr nett, daran kann ich mich erinnern. Aber ohne dich gehe ich nirgends hin. Wenn sie dich nicht haben wollen, laufen wir weg, gell, das siehst du ein. Und wenn ich in ein Heim muß, dann mußt du auch ins Tierheim, aber das machen wir nicht mit. Ich verspreche dir, daß wir zusammenbleiben.«

»Kommst du endlich zum Essen, Thommy«, ertönte eine laute Frauenstimme, nicht unfreundlich, doch sehr energisch. »Aber der Hund bleibt draußen. Ich will ihn beim Essen nicht am Tisch haben.«

Frau Wagner war eine resolute Frau. Sie hatte sich nicht geweigert, den Jungen aufzunehmen, als Erika Axmann in die Klinik gebracht wurde, aber Fips paßte ihr doch nicht so recht. Er mußte in dem Häuschen bleiben, das Erika Axmann mit ihrem Enkel bewohnt hatte. Doch den Jungen hatte Frau Wagner nicht drüben lassen wollen.

Thomas hatte Hunger, und deshalb ging er auch hinüber. »Ich bringe dir was mit, Fips«, versprach er. »Verhungern läßt sie dich nicht.«

Dazu war Frau Wagner auch zu gutmütig, und außerdem hatte sie auch von Dr. Hagenau Geld bekommen, um den Jungen und den Hund zu verköstigen. Und da ließ sie sich nicht lumpen. Zu hungern brauchten beide wirklich nicht, obgleich Frau Wagner doch sehnsüchtig darauf wartete, daß sich bald jemand anderer um beide kümmern würde. Dr. Hagenau hatte zwar gesagt, daß er für den Hund schon einen Käufer hätte, aber er wollte ihn Thommy nicht schon jetzt wegnehmen.

Von den Zwiegesprächen, die Thommy mit seinem Fips führte, wußte Frau Wagner allerdings nichts.

Die ersten Tage nach dem Tod der Großmutter hatte Frau Wagner Thommy zum Essen direkt zwingen müssen, aber trotzdem hatte er nur an den Speisen genippt. Jetzt meldete sich die Natur und forderte ihr Recht. Man mußte es Frau Wagner lassen, daß sie es doch verstanden hatte, Thommy ein bißchen aufzumuntern, wenngleich sie ihm auch nicht ausreden konnte, jeden Tag zum Friedhof zu gehen.

Also hatte sie ihn begleitet, und Fips mußte draußen warten. Sie brauchten aber nicht besorgt zu sein, daß er weglaufen würde.

Da Frau Wagner selbst unehelich geboren war, brachte sie Verständnis für Thommy auf. Ihre Mutter hatte später allerdings doch noch einen Mann gefunden, aber Herr Wagner war nicht so tolerant wie seine Frau, und er wollte seine Ruhe haben. Kinder machten nur Scherereien, sagte er, und deshalb hatte er selber auch keine haben wollen.

Jedenfalls konnte Thomas seinem Fips wieder eine ganze Tüte Futter bringen, aber der Hund wollte gar nicht so viel haben. Er sah Thommy erwartungsvoll an, als wollte er fragen, ob sie nun gehen würden.

Thommy streichelte ihn. »Vielleicht kommt Tante Roni«, sagte er, »und wenn ich sie ganz lieb bitte, nimmt sie uns beide.«

Tante Roni war für Thomas jetzt der einzige Menseh auf der Welt, dem er so viel Güte zutraute, denn sie hatte er als eine ganz liebe Tante in Erinnerung.

*

Davon hatte Veronika allerdings keine Ahnung. Sie dachte jetzt mit einem Schuldgefühl, daß sie sich doch viel zuwenig um den kleinen Thommy gekümmert habe. Wenn sie ihre Eltern besuchten, die in der Nähe von Tübingen wohnten, waren immer nur kurze Abstecher zu Erika Axmann und Thommy herausgesprungen, aber zweimal hatte sie den Jungen mitgenommen zu ihren Eltern, die jedoch darüber nicht erbaut waren.

Auch sie gehörten zu den ganz Konservativen, die es unmoralisch fanden, uneheliche Kinder in die Welt zu setzen. Und sie lehnten es auch empört ab, ein Kind zu adoptieren, weil man ja nicht wisse, was für eine Laus man sich in den Pelz setze.

Deshalb hatte man die Besuche auch reduziert, denn Constantin fiel es sehr schwer, bei solchen Diskussionen den Mund zu halten.

Von zu Hause aus hatte Veronika Dr. Hagenau angerufen und ihm gesagt, daß sie nach Tübingen kommen würde, um alles persönlich mit ihm zu besprechen, nur müsse sie erst mit ihrem Mann klären, wann er Zeit habe. Ohne ihn wolle sie keine Entscheidungen treffen.

Sie fragte, ob Thommy inzwischen gut versorgt sei, und sagte, daß sie gern bereit sei, für die Kosten aufzukommen.

Dann hörte sie von Dr. Hagenau, daß Frau Axmann ganz gut vorgesorgt habe für das Kind und daß es ihm momentan auch an nichts fehle.

»Und was ist mit dem Hund?« fragte Veronika. »Frau Axmann hat Thommy doch vor zwei Jahren einen Hund geschenkt.«

»Ja, der ist noch bei ihm, aber es wird natürlich Probleme geben, wenn der Junge in ein Heim kommt.«

»Darüber ist noch nicht entschieden«, erklärte Veronika sehr bestimmt, und in diesem Augenblick war sie schon bereit, für Thommys weitere Zukunft selbst Sorge zu tragen.

Constantin kam ziemlich spät und recht abgehetzt nach Hause. Die Zeit drängte, wenn sie pünktlich zum Konzert erscheinen wollten. Zwischen Tür und Angel wollte Veronika nicht mit ihrem Mann über Thommy sprechen, dazu war diese Angelegenheit zu wichtig, und sie meinte, daß nach dem Konzert eine bessere Gelegenheit sein würde.

Der Zufall wollte es, daß sie mit Daniel und Fee Norden zusammentrafen, die auch auf den letzten Drücker kamen. Und durch sie erhielten sie immer so gute Plätze, denn David Delorme gehörte zur Familie Norden. Er war mit Fee Nordens Stiefschwester Katja verheiratet, deren Mutter Anne in zweiter Ehe Fees Vater, Dr. Johannes Cornelius geheiratet hatte. Nur wenige wußten davon. Die meisten dachten, daß sie richtige Schwestern seien, wenn sie sich auch nicht ähnlich sahen.

»Ich habe noch nicht mit meinem Mann gesprochen«, raunte Veronika Dr. Norden hastig zu, und er nickte unauffällig.

Dennoch fragte Fee ihren Mann neckend, was er denn mit Veronika zu tuscheln habe.

»Das erzähle ich dir später.« Er hatte nämlich auch noch keine Zeit für eine Unterhaltung mit seiner Frau gehabt.

Aber nun mußten sie der wunderschönen Musik lauschen. Sie saßen nur wenige Plätze auseinander und hatten sich für die Pause verabredet.

David Delorme verstand es meisterhaft, aus einem Orchester alles und das Beste herauszuholen, und besonders die fünfte Tschaikowsky-Sinfonie wollte zu einem überwältigenden Erlebnis werden.

In der Pause stärkten sich die beiden Ehepaare mit einem Glas Sekt, aber es war ein solches Gedränge, daß es überhaupt keinen Spaß machte, dort auch noch ein Häppchen zu essen.

»Vielleicht können wir nach dem Konzert noch mit David eine Kleinigkeit essen und ein Gläschen Wein trinken«, schlug Daniel Norden vor. »Katja ist diesmal nicht mitgekommen, und David muß morgen schon nach London weiterfliegen. Dann lernen Sie ihn auch mal persönlich kennen.«

»Oh, das wäre fein«, sagte Veronika, »oder bist du zu müde, Constantin?«

»Dafür bestimmt nicht. Hoffentlich knurrt mir jetzt aber nicht der Magen. Ich hatte keine Zeit mehr, etwas zu essen.«

»Dann können wir uns die Hand reichen«, lachte Daniel. »Vielleicht machen wir im Duett die Begleitmusik.«

*

Das war nicht geschehen, da sie ebenso fasziniert lauschten wie alle anderen, und als der tosende Beifall dann verklungen war, holten sie ihre Mäntel und warteten auf David Delorme, der durch den Hinterausgang entkommen wollte, aber auch dort von Verehrern mit Autogrammwünschen aufgehalten wurde.

»Auch kein leichtes Los«, sagte Constantin, »aber er ist wirklich phantastisch.«

Und das freute auch einen David Delorme immer noch, vor allem wenn es von Bekannten der Nordens gesagt wurde.

Doch nun wollte er in Ruhe gelassen werden, und in seinem Hotel hatte man auch schon einen Tisch in einem kleinen Nebenraum abgeschirmt.

Es war gut, daß Veronika abgelenkt und auf ganz andere Gedanken gebracht wurde, dadurch war sie später wie auch Constantin in ganz gelockerter Stimmung, die noch von Begeisterung getragen wurde, und Dr. Norden hatte ihr beim Abschied zugeblinzelt und gesagt: »Nur Mut!«

Sie fuhren heim. »Gut, daß wir morgen ausschlafen können«, sagte Constantin, »da können wir noch ein Gläschen trinken. Solch ein Abend braucht noch einen Nachklang, mein Liebes. Das war wirklich eine große Freude, daß wir David Delorme so hautnah erleben durften.«

»Und er hat überhaupt keine Allüren«, sagte Veronika. »Eine faszinierende Persönlichkeit. Kaum vorzustellen, daß er als Waisenkind aufgewachsen ist.«

Es mußte eine Eingebung gewesen sein, und sie war selbst überrascht, weil sich dadurch ein Übergang zu Thommy ergab.

»Warum sollen Waisenkinder nicht auch große Talente sein, Roni? Und vielleicht haben sie auch mehr Ehrgeiz als Kinder, die im Wohlstand aufgewachsen sind, wenn sie für irgend etwas begabt sind und dann auch gefördert werden. Wenn wir ein Kind adoptieren, werden wir es auch in jeder Beziehung fördern.«

»Aber bei einem Baby weiß man doch nicht, ob es überhaupt gefördert werden kann«, sagte Veronika leise.

Er sah sie überrascht an. »Bist du nicht mehr für eine Adoption?«

»Doch, ja, und ich muß etwas mit dir besprechen, Constantin. Ich wollte vor dem Konzert nicht davon anfangen. Es hätte wohl auch den ganzen Abend gestört.«

»Was ist denn, Liebes? Warum schaust du so sorgenvoll drein?« fragte er.

»Ich habe einen Brief aus Tübingen bekommen.«

»Ist etwas mit den Eltern? Beschweren sie sich, weil wir sie so lange nicht besucht haben?«

»Nein, außerdem könnten sie ja auch mal kommen, aber München ist ja für sie ein Sündenbabel«, sagte Veronika ironisch.

Constantin lachte auf. »Mach sie doch nicht schlimmer, als sie sind, Roni. Sie sind nun mal ein bißchen altmodisch.«

»Deine Eltern aber nicht«, sagte sie.

»Hast du etwa Sehnsucht nach meinen Eltern?« fragte er, völlig überrascht. »Sie haben aber mit dem Brief aus Tübingen doch sicher nichts zu tun. Sie rufen an, wenn sie uns vermissen.«

»Ein bißchen hätten sie schon damit zu tun, denn ihre Meinung wäre mir sehr wichtig«, sagte Veronika, und dann gab sie sich einen kräftigen Ruck, bevor sie fortfuhr: »Es geht nämlich um Thommy. Erika Axmann ist gestorben. Bitte, lies den Brief, wenn es auch sehr spät geworden ist.«

Er nahm den Brief, las, und dann blickte er sie minutenlang schweigend an.

»Müssen wir da noch lange überlegen, Roni?« fragte er leise. »Ein Kind braucht Hilfe, und wir werden es doch hoffentlich fertigbringen, ihm ein Zuhause zu geben. Oder willst du ihn wirklich in ein Heim bringen?«

Noch zwei rasche Atemzüge, dann fiel Veronika ihrem Mann um den Hals. »Du bist der allerbeste Mann auf der ganzen Welt«, sagte sie zwischen Weinen und Lachen. »Ich liebe dich, du ahnst ja gar nicht, wie sehr ich dich liebe.«

»Ich spüre es ja, mein Schatz«, sagte er zärtlich. »Und ich liebe dich bestimmt genausosehr.«

*

Und zur gleichen Zeit sagte Dr. Daniel Norden zu seiner Frau Fee: »Ich kann einfach nicht verstehen, daß ein Ehepaar, das so völlig harmonisiert, keine Kinder bekommen sollte. Das wird mir immer ein Rätsel bleiben, und irgendwie scheint es doch Fehler in der Natur zu geben. Aber wenn sie diesen kleinen Jungen zu sich nehmen, wird er ein schönes Zuhause bekommen, Feelein, davon bin ich überzeugt.«

»Und wir können dann nur hoffen, daß er zu ihnen paßt, daß er keinen Wurm in diese Harmonie bringt. Ich bin da sehr zurückhaltend mit meiner Meinung, Daniel. Es wäre schade, wenn ihr Glück dadurch gestört wird, daß sie einem dritten Menschen eine Heimat geben.«

»Ein Kind, Fee, ein einsames Kind.«

»Das sagst du, aber du kennst es nicht, dieses Kind.«

»Warum bist du so skeptisch, Fee?« fragte er irritiert.

»Weil es um zwei Menschen geht, die tatsächlich auch ohne Kind glücklich sein und bleiben könnten.«

»Wenn man da nur ganz sicher sein könnte, auch in zehn oder zwanzig Jahren noch? Wir wissen doch, wie beglückend es ist, mit Kindern zu leben. Oder könntest du dir ein Leben ohne sie vorstellen?«