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Kalifornische Sonne, üppige Weinberge und eine junge Frau, die um ihr Erbe kämpft – der große Generationenroman von Bestsellerautorin Barbara Wood. Die Schaller-Weingüter sind legendär im Weinland Kalifornien. Aber jetzt steht Nicole, Urenkelin der Gründer, finanziell unter Druck. Als dann noch in einem Weinkeller ein Skelett entdeckt wird, droht sie alles zu verlieren. Sie macht sich auf Spurensuche in die Vergangenheit... Ein Jahrhundert zuvor: 1912 bauen die Schallers, Winzer aus Deutschland, ihr neues Leben in Kalifornien auf. Schnell sind die Brüder Wilhelm und Johann erfolgreich. Doch als klar wird, dass Wilhelms junge Frau Clara eigentlich Johann liebt, entzweien sich die Brüder in tödlichem Hass. Der Riss, der durch die Familie geht, wird das Schicksal dreier Generationen bestimmen. Ein mitreißender Roman über einen schicksalhaften Familienzwist und die Liebe, die Versöhnung bringt.
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Seitenzahl: 897
Barbara Wood
Das goldene Tal
Roman
Aus dem Amerikanischen von Veronica Cordes
FISCHER E-Books
Für meinen Mann Walt, in Liebe
»Tut mir leid, Daddy.« Liebevoll strich Nicole über die zarten Beeren, die sich zu Trauben an den Rebstöcken ballten. »Aber es muss sein. Ich kann nicht länger hierbleiben. Ich muss weg. Dafür verspreche ich dir, nur an Leute zu verkaufen, die unser Weingut genauso gut bewirtschaften werden wie wir.«
Sie wusste nicht, ob Big Jack sie hören konnte. Er war letztes Jahr gestorben, aber Nicole stellte sich vor, dass sein Geist noch hier weilte, unter diesem blauen Himmel und zwischen diesen grünen Rebstöcken voll praller Trauben. »Der Entschluss ist mir nicht leichtgefallen«, sagte sie, während der Wind mit ihrem schulterlangen Haar spielte. »Aber es muss sein, ich muss meinen eigenen Weg finden. Es fällt mir unendlich schwer, alles hier zurückzulassen, aber ich will selbst etwas schaffen, nicht nur ein Erbe übernehmen. Ich habe mir das lange überlegt, Daddy. Versteh mich bitte nicht falsch. Ich liebe dieses Weingut, und ich liebe dieses Tal. Aber der Wunsch, meinen eigenen Weg zu gehen, ist stärker.«
Bedrückt blickte sie zum Himmel, an dem ein Habicht seine Kreise zog. Wie gern hätte sie sich zu ihm emporgeschwungen. Sie dachte daran, wie ihr der Vater früher, als sie noch klein war, erlaubt hatte, ihm Rasierschaum auf Backen und Kinn zu verteilen, und dann gemeint hatte, sie verstünde sich darauf besser als der beste Barbier. Wie gern hatte sie mit baumelnden Beinen am Rand des Waschbeckens gesessen und dem Vater beim Rasieren zugeschaut!
Vor einem Jahr war er gestorben – dabei schien es erst gestern gewesen zu sein, dass sie zusammen durch die Rebstockreihen geschlendert waren und dabei über die Weinlese gesprochen hatten.
Aus den Trauben der Schallers wurde vor allem Wein gekeltert, aber dieser Weinberg hier trug Tafeltrauben, mit denen Obsthändler beliefert wurden. Die Trauben der Schallers waren begehrt, weil sie besonders süß waren. Käufer schätzten es nicht, wenn im Laden Trauben angeboten wurden, die reif und saftig aussahen, sich zu Hause dann aber als sauer herausstellten. Wie konnte es sein, dass Obsthändler sich so etwas erlaubten? Die Antwort lautete: Die mindere Qualität nahm bereits im Weinberg ihren Anfang.
Viele der kleinen Weinbauern ernteten nämlich ihre Trauben schon, wenn sie nur scheinbar reif waren, und nicht erst dann, wenn sie das Höchstmaß an Süße und Geschmack aufwiesen. Nach dem Motto: Je eher die Trauben abgenommen werden, desto schneller stellt sich Gewinn ein. Dementsprechend ernteten viele Landwirte alle Trauben in einem Arbeitsgang, egal, ob alle auch den gleichen Reifegrad erreicht hatten. Gewiss, um zu erkennen, welche Trauben reif waren und welche noch Zeit brauchten, war ein gutes Gespür nötig. Was wiederum für den Winzer bedeutete, mehr Geld für das Anheuern fachkundiger Arbeiter auszugeben und Zeit dafür aufzuwenden, dieselben Rebstöcke mehrmals zu inspizieren. Es war billiger, alle auf einmal zu pflücken und sich dann anderen Aufgaben zuzuwenden.
Für die Schaller-Trauben galt dies nicht, das war man dem Kunden schuldig. So leichtsinnig Big Jack auch gewesen war und sosehr er dem Glücksspiel und den Frauen gefrönt hatte, dem Ansehen seines Familienunternehmens fühlte er sich doch verpflichtet. Er hätte von Nicole verlangt, dafür zu sorgen, dass auch die neuen Eigentümer den richtigen Zeitpunkt für die Lese respektieren, ohne Rücksicht auf Zeit und Kosten. Da das kanadische Ehepaar wild entschlossen zu sein schien, die Farm und die Weinkellerei zu übernehmen, würde Nicole also von ihnen verlangen, dass sie sich verpflichteten, keine sauren Trauben an Supermärkte zu liefern und arglose Kunden zum Kauf zu verleiten. Schaller war ein Name, dem man vertrauen konnte, ob es um Wein ging, Rosinen, Marmeladen oder Tafeltrauben.
Sie knipste eine dicke violette Beere ab und biss hinein.
Die Trauben auf ihren Reifegrad hin zu prüfen war für Nicole das Schönste. Die feste Beere zwischen Daumen und Zeigefinger hin und her zu rollen, wie Big Jack sie das gelehrt hatte. Sie ins Licht zu halten und durch ihr zartes Purpur, Schwarz, Dunkelblau, Gelb, Grün, Orange und Rosa zu schauen. Und dann dieser erste Biss, um sie auf ihre Süße hin zu überprüfen. Wenn es zu früh war, schmeckte sie sauer. Nicht weiter tragisch. Ihr Vater hatte neben ihr gestanden, die Hand auf ihre Schulter gelegt und gefragt: »Ist sie so weit?« Wenn sie dann das Gesicht verzogen und gesagt hatte: »Noch nicht. Zu sauer«, hatte er ausgerufen: »Ganz mein Mädchen! Das liegt dir im Blut.« Allein um dies zu hören, hätte Nicole gern tausend saure Beeren probiert.
Sie hielt inne und ließ den Blick über das grüne Paradies schweifen. Nichts hält das Wachstum auf, sinnierte sie und blinzelte durch den Schwarm herumfliegender Bienen in die Sonne. Dies ist das Wunder der Natur, das Wunder des Lebens. Nichts stirbt ein für alle Mal, alles geht immer weiter.
Sie warf einen Blick auf ihre Armbanduhr. Zeit, sich für das Treffen mit den potentiellen Käufern zu wappnen. Auf dem Weg zurück zum Haupthaus kam sie am Lagerraum für die Fässer vorbei, in dem zurzeit Renovierungsarbeiten im Gange waren. Als sie den Lärm der Vorschlaghammer und die Zurufe der Arbeiter vernahm, beschloss sie, den Käufern zu versichern, dass die Arbeiten bis zum Abschluss der Verkaufsverhandlungen beendet sein würden.
José Rodriguez, der mit dem Vorschlaghammer auf die alte Steinmauer losging, weilte in Gedanken bereits bei den scharf gewürzten Enchiladas, die ihm seine Maria heute Abend auftischen würde, zusammen mit der Flasche Wein, die ihm als Bonus für seine Überstunden in der Kellerei winkte, und bei seiner dicken, willigen Maria – nicht unbedingt in dieser Reihenfolge –, als sein Hammer unvermittelt eine hohle Stelle in der Mauer traf, ins Leere ging und dazu führte, dass José das Gleichgewicht verlor. Er taumelte und stürzte fast zu Boden.
»Aii!«, schrie er auf, worauf die Arbeiter um ihn herum laut auflachten.
Die Außenmauer des Fasslagers war durch ein leichtes Erdbeben beschädigt worden, und dann war auch noch das Dach plötzlich etwas eingesackt. Die gleichbleibende Temperatur und Feuchtigkeit im Lagerraum waren dadurch nicht mehr gewährleistet. Miss Schaller hatte eine sofortige Überprüfung der Mauer angeordnet, um der Sache auf den Grund zu gehen und den Schaden zu beheben, ehe die hier gelagerten edlen Weine Schaden nahmen.
José, dessen Gedanken noch immer bei der üppigen Fleischlichkeit seiner Maria, den würzigen Enchiladas und dem kräftigen Rotwein weilten, klopfte sich den Staub ab und stimmte in das Gelächter seiner Kumpel ein, ehe er feststellte, dass er in der aus Stein und Lehmziegeln hochgezogenen Mauerwand einen Hohlraum freigelegt hatte.
»Qué es esto?«, fragte Tomás, sein Cousin, und deutete auf das klaffende Loch.
José rieb sich mit verstaubten Knöcheln den Schweiß aus den Augen, beugte sich vor und blinzelte zu dem dunklen Hohlraum in der Wand, aus dem ein so unangenehm muffiger Geruch drang, dass er erschauerte und jedweden Gedanken an gutes Essen, Wein und Liebemachen vergaß. Er sah genauer hin, auch die Männer hinter ihm – mexikanische Wanderarbeiter – beugten sich näher heran, und als ihnen klar wurde, was sie entdeckt hatten, wichen sie erschrocken zurück. »Madre de Dios!«, schrien Tomás und José gleichzeitig auf, und alle bekreuzigten sich und riefen sämtliche Heiligen an, die ihnen einfielen.
»Holt Miss Schaller«, stieß José Rodriguez aus. Und als sich keiner der Männer rührte, drehte er sich zu ihnen um und brüllte: »La Señorita! Pronto!«
Daraufhin liefen sie alle auf einmal los, schon um von dem Ding in der Wand und dem Fluch wegzukommen, der bestimmt über sie kommen würde, und wohl jeder von ihnen überlegte, wann Father Ramón, der Wanderpriester, wieder vorbeikommen würde, um die Messe zu lesen und die heiligen Sakramente zu spenden.
»Unsere Familie war die erste deutsche in diesem Tal«, erklärte Nicole ihren Besuchern auf dem Weg vom Parkplatz zum Haus. »Wir waren die Ersten, die den Riesling, für den wir heute bekannt sind, nach Kalifornien gebracht haben«, fügte sie hinzu und lächelte, um ihre Nervosität zu verbergen.
Sie war mehr als nervös, hatte entsetzliche Angst davor, ihr Zuhause zu verlassen, bemühte sich aber, sich dies nicht anmerken zu lassen. Eine volle Stunde hatte sie gebraucht, um sich für ihre Garderobe zu entscheiden, hatte immer wieder zu was anderem gegriffen, hatte erst ein Minimum an Make-up aufgetragen, dann doch wieder mehr, hatte mit ihrer Frisur gehadert, immer darauf bedacht, adrett und liebenswürdig zu wirken und vor allem wie jemand, dem man ein Weingut abkauft.
Nicole musste verkaufen. Sie musste weg von hier.
Wie auch konnte sie bleiben? Gewiss, sie wohnte in einem großen weißen Haus mit drei Etagen; ein Schwimmbecken, Tennisplätze und ein geräumiger Patio für große Gesellschaften standen ihr zur Verfügung. Aber dieses Tal mit dem nahen Städtchen Lynnville lag am Ende der Welt, war hinterste Provinz, eine verschlafene Gegend. All ihre Schulfreundinnen hatten davon geträumt, aus diesem »Kaff«, wie sie es nannten, herauszukommen. Nach San Francisco, Los Angeles, ganz verwegene sogar nach New York. Niemand, höchstens die Großmutter, blieb auf Dauer in Lynnville. Wie soll man denn hier einen Mann kennenlernen?, hatten sie sich untereinander gefragt. In diesem Tal gab es nur Landwirte, Arbeiter, Bauerntölpel und Hinterwäldler. Sie trugen Cowboy-Hüte und Stiefel mit hohen Absätzen und sprachen nur das Allernötigste. Aber nicht deswegen wollte Nicole weg von hier. Sie liebte dieses Tal, für sie war es nicht hinterste Provinz. Sie war siebenundzwanzig und hier geboren worden, war kaum mal rausgekommen und hatte nichts gegen Feldarbeiter und Landwirte und Männer am Steuer von Kleinlastern. Nein, Nicoles Gründe, das Weingut zu verkaufen, hatten mit einem Haus voller negativer Erinnerungen zu tun, mit dem erstickenden Zusammenleben mit einem dominanten (und dennoch geliebten) Vater und mit der Bürde familiärer Erwartungen, von denen sie sich nur befreien konnte, wenn sie alles verkaufte und ging.
»Hier kannst du der Vergangenheit nicht entkommen«, hatte sie zu ihrer besten Freundin gesagt. »Ich habe das Gefühl, in einer Zeitschleife festzusitzen. Ohne jeden Vorwärtsimpuls.«
Wann war ihr eigentlich bewusstgeworden, dass sie fortgehen musste, dass sie, wenn sie jemals ein eigenständiges Wesen sein und als solches anerkannt werden wollte, einen Schlussstrich ziehen musste unter das, was sie hier festhielt – Big Jack und die Farm und die Weinberge? Zwölf war sie gewesen, als sie mit Grippe zu Hause lag und eines Nachmittags als Gast in einer Talkshow eine Frau erlebte, die ein eigenes Unternehmen aus dem Boden gestampft hatte und nun berühmt war. Als sie dreizehn war, fand in der Schule eine Berufsberatung statt, und eine Ärztin erzählte von Krankenhäusern, die sie in Afrika gegründet hatte. Sie war vierzehn, als ihr ein Lehrer sagte, dass sie, auch wenn sie einer Winzerfamilie entstamme, nicht automatisch Winzerin werden müsse.
Es war keineswegs unvermittelt über sie gekommen, sondern ein schrittweiser Prozess gewesen, der ihr die Augen geöffnet hatte, wie viele Möglichkeiten ihr offenstanden. Und nach dem Tod ihres Vaters sah Nicole ihre Chance gekommen.
Als Traumziel hatte sie sich New York auserkoren. Ein Kontakt über eine Freundin, die eine Freundin kannte, die von einer unbesetzten Position gehört hatte. Die Reise an die Ostküste war höchst erfolgreich gewesen. Dank ihrer Erfahrung war Nicole von einer Kosmetikfirma für die Bereiche Marketing und Vertrieb engagiert worden, außerdem für die Überwachung von Angebot und Nachfrage und den Aufbau eines Markennamens. Ihr Diplom in Betriebswirtschaft war das Sahnehäubchen gewesen. Während des Vorstellungsgesprächs hatte sie Umsicht und Kreativität bewiesen und die Bereitschaft, Kunden anzuhören und mit ihnen zusammenzuarbeiten, anstatt ihnen Vorschriften zu machen. Sie hatte sich aufgeschlossen gezeigt und mehr als kooperationsbereit für die Ideen anderer. Teamfähig. Natürlich fing sie ganz unten an, aber Aufstiegsmöglichkeiten boten sich zur Genüge. Glänzende Aussichten also.
Sie war schon dabei, einige Vorschläge für die Firma auszuarbeiten. Ihrem Gesprächspartner beim Vorstellungstermin waren die Schaller-Weine bekannt; er hatte gesagt, die Weinkellerei habe einen guten Ruf für ihre Innovationen, vor allem in den 1950er und 1960er Jahren, als die kalifornische Weinindustrie weltweit den Markt mit neuen und ausgefallenen Erzeugnissen und Konzepten buchstäblich überschwemmt habe. Er hatte Nicole versichert, dass man ihr zutraue, für seine Firma die gleiche Begeisterung und den gleichen Geschäftssinn unter Beweis zu stellen, durch die sich das Unternehmen ihrer Familie ausgezeichnet habe.
Es waren dieses Vorstellungsgespräch und diese Kommentare über ihre Familie gewesen, die urplötzlich alles hatten deutlich werden lassen: Ja, genau das war es, was ihre ruhelose Seele in den vergangenen Jahren umgetrieben hatte. Nicole wollte nicht in die Fußstapfen anderer treten. Sie wollte sich ihren eigenen Weg bahnen – nicht etwas erben, sondern etwas erschaffen.
Alles, was sie dafür tun musste, war, die Weinberge und die Kellerei verkaufen und in sechs Wochen an ihrem Schreibtisch in New York sitzen.
Wenn sie sich auf dem Anwesen aufhielt und die Arbeiten überwachte, tat sie dies für gewöhnlich in Blue Jeans und T-Shirt. Im Verkostungsraum jedoch, wo sie als Gastgeberin für Touristen auftrat, die leicht beschwipst und ausgelassen in ihren Limousinen von Weingut zu Weingut hoppelten, trug Nicole stets gutgeschnittene Hosen mit Bügelfalte und eine Seidenbluse. Nicht zu elegant, um nicht snobistisch zu wirken, aber doch stilvoll, um zu zeigen, dass das Weingut der Schallers zu den »besseren« gehörte. Wie ihre Mutter und davor ihre Großmutter glaubte sie daran, dass das Auftreten der Familie die Qualität und das Etikett des Weinguts widerspiegelte.
Fest entschlossen, das Familienunternehmen zu verkaufen, unternahm Nicole alles, um sich von ihrer besten Seite zu präsentieren. Sogar auf ihren mit einem einfachen Gummi zusammengehaltenen Pferdeschwanz hatte sie verzichtet und ihr braunes Haar mit modischen goldenen Clips schmeichlerisch hinten zusammengefasst. Dass sie rank und schlank war, hatte sie ihrer Vorliebe für ausgedehnte Wanderungen zu verdanken.
»Ein so altes Anwesen hat sicherlich mit einer abwechslungsreichen Geschichte aufzuwarten«, sagte die höfliche Dame aus Kanada, als sie die Stufen zum Hauseingang hochstiegen. Nicole vermutete, dass die kleine rundliche Frau auf Klatsch und Skandale und Skelette in Schränken erpicht war. Sie hütete sich jedoch, Familiengeheimnisse preiszugeben. Wenn sie das tat, würden diese netten Leute nicht nur das Anwesen nicht erwerben, sondern das Weite suchen. Es waren ja nicht nur die Außenmauern des Hauses und der Kellerei übertüncht worden, sondern auch die Familiengeschichte.
»War der Schaller-Betrieb nicht mal ein riesiges Unternehmen?«, fragte der kanadische Ehegatte, ein hochgewachsener Mann, als er krummbeinig und die Daumen in seinem Gürtel eingehakt durch das Haupthaus schritt. Für Nicole stand fest, dass seine Frage darauf abzielte, in Erfahrung zu bringen, wie es zum Niedergang des einstmals finanzkräftigen landwirtschaftlichen Imperiums gekommen war.
»Aber ja doch. Früher gehörte meine Familie zu den größten Weinanbauern des Landes«, bemerkte sie eher beiläufig, um das Drama ihrer Vergangenheit auszublenden. Die Macintoshes waren darauf aus, einen kleinen Weinberg mit Kellerei für sich selbst zu erwerben, und genau das bot ihnen Nicole Schaller zum Kauf an: den Grundbesitz mit Haupthaus, Nebengebäuden und der hundert Jahre alten Kellerei, die berühmt war für ihre Rieslinge aus den vor langer Zeit aus Deutschland mitgebrachten Setzlingen. Der Kaufpreis räumte ihnen nicht das Recht ein, in der schmutzigen Wäsche ihrer Familie herumzuwühlen.
»Im Laufe der letzten Jahre beschloss mein Vater, sich zu verkleinern und Land an Leute wie Sie zu verkaufen, die mit eigenen kleinen Kellereien liebäugelten.« Den eigentlichen Grund für diese Verkleinerung zu nennen – Spielschulden und Alkohol und kostspielige Frauen und eine offene Brieftasche für jeden mit einer anrührenden Geschichte –, war nicht nötig. Dies alles gehörte der Vergangenheit an, war mit dem Tod des Vaters begraben worden. »Und ja, ich bin jetzt auf mich allein gestellt«, fügte sie überflüssigerweise hinzu. Auf mich allein gestellt … das hörte sich so traurig und einsam an, dass sie kurz auflachte, wie um diesen Fremden zu verdeutlichen, dass es ihr nichts ausmachte, auf sich allein gestellt zu sein.
»Ist das alles im Verkaufspreis mit inbegriffen?« Sie waren in dem riesigen Wohnzimmer angelangt, das ausgestattet war mit Antiquitäten, Andenken, Erinnerungen – kurzum mit alldem, was vor hundert Jahren aus der Alten Welt hierhergeschafft und seitdem zusätzlich gesammelt worden war.
»Ja«, bestätigte Nicole, auch wenn es ihr weh tat, von diesen vertrauten Dingen Abschied zu nehmen.
»Das auch?« Die Frau aus Alberta, Kanada, deutete auf ein Porträt über dem offenen Kamin.
Nicole blickte auf. »Ja, das auch.«
»Eine schöne Frau. Wer ist sie?«
»Meine Urgroßmutter Clara Schaller.«
»Aber natürlich, die Ähnlichkeit ist nicht zu verkennen.«
Von wegen, widersprach Nicole wortlos. Nach drei Generationen ist jedwedes genetische Erbgut vermischt und verwässert. Falls Clara mir irgendetwas vermacht hat, dann vielleicht den ausgeprägten spitzen Haaransatz an der Stirn, sonst nichts.
Da sie ihre Urgroßmutter nie kennengelernt hatte, empfand Nicole keine besondere Verbundenheit oder Zuneigung zu ihrer im Largo Valley berühmten und legendären Ahnin Clara Schaller. Wenn sie jetzt aber diese von schwarzen Wimpern gesäumten grauen Augen und die schön geschwungenen Brauen betrachtete, konnte man in Clara eine durchaus zielstrebige Geschäftsfrau vermuten. Sie dachte an die Geschichten, die sie über diese respekteinflößende Patriarchin gehört hatte, und auch wenn so manche an den Haaren herbeigezogen und im Laufe der Jahre geschönt worden sein mochten, sagte sie plötzlich: »Wenn ich es mir so recht überlege, steht dieses Porträt nicht zum Verkauf. Es ist persönlich. Es gehört in die Familie.«
In welche Familie denn? Wer sollte dieses Porträt aufbewahren? Nicole war ein Einzelkind, sie hatte gegenwärtig keinen festen Freund, eine unmittelbare Heirat zeichnete sich nicht ab. Sie war drauf und dran, in einer anderen Stadt Karriere zu machen. Würde irgendwann mal Zeit für Männer und Babys sein? Wem sollte sie das Porträt vererben? Wenn sie es aber diesen Leuten hier überließ, schoss es ihr jetzt durch den Kopf, würde es letztendlich unerkannt und vergessen bei irgendeinem Trödler verstauben.
Nicole schüttelte sich innerlich. Nein, das konnte sie Urgroßmutter Clara nicht antun.
Die Kanadier schlenderten durch das Wohnzimmer, bewunderten die Antiquitäten: eine Wanduhr von Gustav Becker aus dem Jahr 1890; Dresdner Porzellan; eine Puppe mit einem Kopf aus Biskuitporzellan; eine Lederjacke mit Hirschhornknöpfen; ein hölzernes Schaukelpferd, handgeschnitzt und bunt lackiert; in einer Vitrine deutscher Christbaumschmuck aus dem 19. Jahrhundert; in einem Goldrahmen eine auf 1890 datierte Original-Landkarte des Deutschen Reichs; Nymphenburger Tassen und Untertassen von 1890; zwei vergoldete, handbemalte Rosenthal-Dosen von 1890; ein Gestell mit geschnitzten Meerschaumpfeifen. Das ausladende Wohnzimmer mit der hohen Decke war in der Tat ein Museum voller Kunstschätze und Antiquitäten, die vor über hundert Jahren vom alten Kontinent hierhergeschafft und liebevoll gehütet und ergänzt worden waren.
Der plötzliche Gedanke, dass all diese Erinnerungsstücke überlebt hatten, so vieles andere aber nicht, traf Nicole wie ein Schock. Ich bin die letzte Schaller …
Sie stand in einem Lichtkeil, den die späte Septembersonne durch das hohe Fenster warf, und eine Welle von Traurigkeit überschwemmte sie. Von Geburt an hatte sie jedes Weihnachtsfest in diesem geräumigen Wohnzimmer gefeiert. Zuvor war Big Jack in die nahegelegenen Wälder gezogen, hatte einen Baum ausgesucht, ihn gefällt und in der Ecke des Zimmers aufgestellt. Immer war es eine ausladende Tanne gewesen, die die Familie dann liebevoll und durch den zwischendurch genossenen Schaller-Wein in ausgelassener Stimmung geschmückt hatte. Und jetzt verkaufte Nicole nicht nur ihr Zuhause und diese Antiquitäten an Fremde, sie trat ihnen darüber hinaus ihre siebenundzwanzig Weihnachten ab.
Eigentlich fand sie dieses kanadische Ehepaar ganz nett. Bei anderen Kaufinteressenten, die vorstellig geworden waren, hatte die Chemie nicht gestimmt. Dieses um die vierzig Jahre alte Paar hingegen, das hier investieren und fernab vom kalten Winter in Alberta ein neues Leben beginnen wollte, sagte ihr zu. Die beiden würden bestimmt gut auf Nicoles Zuhause aufpassen und die Weinberge pflegen. Sie konnte beruhigt von dannen ziehen. Ja, sie waren die Richtigen. Hoffentlich entschlossen sie sich zu kaufen.
Sie öffnete die Mappe, die sie bei sich hatte, und präsentierte einen genauen Lageplan des Anwesens mit Angaben über die landwirtschaftlich genutzten Flächen, die Lage der Gebäude, des Haupthauses, der Parkplätze.
»Was ist das hier?« Mr Macintosh deutete mit einem plumpen Finger auf einen leeren Fleck am westlichen Rand der Farm.
Diesen Streifen Land war Big Jack, Nicoles Vater, als er nach und nach Grundstücke verkauft hatte, um seine Spielschulden abzutragen, einfach nicht losgeworden. »Das ist unwirtliches Gelände«, erklärte Nicole. »Karger Boden. Ihn künstlich zu bewässern lohnt sich nicht. Mein Urgroßvater entschied, ihn brach liegen zu lassen, und dabei ist es geblieben. Paradoxerweise erhebt sich dort ein malerischer Hügel namens Colina Sagrada. Heiliger Berg.«
»Klingt romantisch«, meinte Mrs Macintosh. »Dürfen wir ihn uns mal ansehen?«
»Ich fahre Sie gern hin.«
»Miss Nicole!«, hörte man es von weitem rufen. »Miss Nicole!« Sie warf einen Blick aus dem Fenster und sah mehrere Arbeiter auf das Haus zulaufen. Großer Gott, erschrak sie und hastete zur Haustür. Etwa ein Feuer?
Das Ehepaar aus Alberta tauschte einen Blick, als es an der Haustür zu einem überstürzten Wortwechsel kam.
»Was?!«, fuhr Nicole den mexikanischen Arbeiter an. »Sind Sie sicher?« Und als der Mann nachdrücklich nickte, wandte sie sich, unvermittelt blass geworden, an ihre Besucher. »Tut mir leid«, sagte sie nervös. »Ein Zwischenfall. Ich bin gleich wieder da.«
Verwundert sahen die Besucher, wie sie ihre Mappe ablegte und den Arbeitern über den Rasen zu den aus Lehmziegeln gemauerten Gebäuden der Kellerei nachhetzte. Sie eilte durch den Gärraum, die Halle mit der Presse, durch den Raum für die Verkostung, bis sie dort anlangte, wo die Fässer mit dem Riesling lagerten und wo das Loch in der Mauer klaffte. Ziegel und Gestein und Staub bedeckten den Boden.
Sie riss den Mund auf. »Um Himmels willen«, flüsterte sie, derweil sich die Mexikaner erneut bekreuzigten und im Stillen ein paar Ave Maria beteten.
Langsam und zögernd beugte sich Nicole über das Loch, so als ob das, was da in der Mauer zu erkennen war, plötzlich um sich schlagen würde, was, wie sie sich sagte, nicht sein konnte. Es war ja tot – mehr als tot. Nicht das kleinste Fleisch- oder Hautfitzelchen hing noch an dem Skelett. Völlig verwest war es. Die Kleiderreste waren verrottete Lumpen. Fasziniert starrte sie das knochige Gesicht an, die riesigen leeren Augenhöhlen, den aufgerissenen Mund mit dem hängenden Unterkiefer und den übel zugerichteten Zähnen.
»Verzeihung, Miss Nicole«, sagte José, der ein recht ordentliches Englisch sprach, und deutete mit zitternder Hand auf das kleine runde Loch oberhalb des Wulsts, wo einstmals die Augenbrauen gewesen waren. »Ist das … ist das nicht …?«
Sie nickte. »Sieht aus wie das Loch von einer Kugel.« Sie blickte zu ihm auf. »Rufen Sie bitte die Polizei«, sagte sie so ruhig wie möglich, wobei sie es vermied, die Kanadier anzusehen, die sich dazugesellt hatten und wahrscheinlich ebenso entsetzt waren. Durchaus möglich, dass sie bereits von ihrem Vorhaben abrückten, eine Kellerei zu übernehmen, in der sich ein Mord und eine grausige Bestattung ereignet hatten.
Als sich alles um sie herum verlangsamte, die Menschen sich wie im Schneckentempo bewegten und so gedehnt redeten, als würde eine Filmrolle in Slow Motion abgespult, stellte sich für sie angesichts des Schädels mit der mörderischen Kugel darin zwingend, ja sogar wütend und vorwurfsvoll wegen der Unannehmlichkeiten, die das Opfer der Schaller-Weinkellerei plötzlich bescherte, die wichtigste Frage überhaupt: Wer bist du …?
Und dann flogen ihre Gedanken zum Haupthaus, zu der eleganten Frau auf dem Porträt über dem offenen Kamin, Clara Heinze Schaller, die vor mehr als hundert Jahren als Jungverheiratete in dieses Tal gekommen war. Was dieses neunzehnjährige Mädchen aus dem deutschen Rheingau mit dem träumerischen Blick und den Setzlingen im Korb wohl davon hielte, wie dieser Traum endete … mit Kanadiern, die ihre Kellerei in eine Yuppie-Boutique zu verwandeln gedachten, und dass in den Mauern ein Mordopfer entdeckt worden war …
Die jungen Einwanderer trafen an einem herrlichen Frühlingstag in Kalifornien ein. Sie waren zu zwölft – fünf Ehepaare und zwei lebenslustige Junggesellen, starke, optimistische junge Deutsche. Sie waren in einem Konvoi von Autos und Wagen gereist und bereit, sich hier ein neues Zuhause zu schaffen.
Im vordersten Auto saßen die beiden Schaller-Brüder Wilhelm und Johann sowie Wilhelms junge Ehefrau Clara.
Von der Küste bei Santa Barbara aus waren sie noch vierzig Meilen nordwärts gefahren, durch hügeliges Land und Wälder, über staubige Straßen und schmale Wege, um sich hier, in diesem grünen Tal, niederzulassen. Dort, wo die Landstraße anstieg, hielt der Konvoi. Clara Schaller, die sich noch nicht ganz von ihrer Grippe erholt hatte und vorne auf dem Beifahrersitz saß, neben dem Mann, den man als Fahrer engagiert hatte, war überwältigt von dem Panorama, das sich ihr bot.
Wortlos sprang einer der Schaller-Brüder aus dem Wagen und stürmte begeistert seiner neuen Welt entgegen. Der andere Bruder wartete noch kurz, dann stieg auch er aus, ging um das Auto herum, hob Clara behutsam hoch und trug sie zu den anderen. Von seinen Armen umfangen, sog sie den Anblick der atemberaubenden Landschaft ein, die sich vor ihr ausbreitete – die grünen Felder und hübschen kleinen Farmen und adretten Häuschen, die vielen Weiden und Eichen. »Hier werden wir glücklich sein«, flüsterte sie und lehnte den Kopf an seine starke Schulter. Unversehens lief ihr eine Träne über die Wange.
Sie schlang den Arm um seinen Hals und schmiegte sich an ihn, schloss die Augen und rief sich die vielen zurückgelegten Meilen ins Gedächtnis zurück, die monatelange Vorbereitung auf diesen Tag, die Wochen voller Mühsal und Kummer, den Vormittag, an dem alles angefangen hatte …
Die Glocke über der Tür bimmelte. Clara hinter dem Ladentisch sah einen Kunden die Apotheke betreten.
Sie amüsierte sich noch immer über eine Geschichte, die ihr Vater beim Frühstück aus der Zeitung vorgelesen hatte, und diese Heiterkeit hatte den ganzen Vormittag über angehalten. Der Anblick des stämmig gebauten Fremden jedoch schüchterte sie unversehens ein.
»Hallo.« Damit kam der Fremde geradewegs auf sie zu. »Ich hätte gern etwas gegen Seekrankheit.«
Wie versteinert starrte Clara diesen Schrank von einem Mann mit der blonden Mähne an, die, als er die Mütze abnahm und höflich um eine Medizin bat, mal hierhin, mal dorthin wogte. Vor allem aber faszinierte sie sein rotgoldener Bart, der ihm das Aussehen einer Sagengestalt verlieh. Clara mit ihren achtzehn Jahren glaubte an die Existenz von Helden.
Da ihr Vater Apotheker war, kannte sie jeden Bewohner im Dorf und in den umliegenden Bauernhöfen. Dieser junge Mann mit dem rotblonden Bart und den blauen Augen war nicht von hier.
Er schien nervös zu sein. Vielleicht weil sie ihn nicht aus den Augen ließ. »Ich bin zu Besuch hier bei Verwandten«, fügte er deshalb hinzu. Wie um sein Auftauchen zu erklären, deutete er in eine unbestimmte Richtung, und Clara merkte, dass er leicht errötete. Ihrer Schätzung nach war er Anfang zwanzig und seinem Äußeren nach Landwirt – zerknitterte Arbeitshosen und Jacke, sauberes, aber nicht gebügeltes Hemd ohne Kragen. Vor allem der Strohhut mit der breiten Krempe deutete auf eine Arbeit im Freien hin. Auch der Dreck unter seinen Fingernägeln. Ehrenhaft erworbener Dreck, sagte sie sich.
Die junge Clara Heinze hatte noch keinen festen Verehrer, aber durchaus gute Aussichten. Ihre Eltern redeten ihr zu, nett zu Hans Zimmermann zu sein. Eine glänzende Partie, hieß es allgemein – der Sohn des Arztes im Dorf, verheiratet mit der Tochter des hiesigen Apothekers. Hans war freundlich und alles, wenn auch ein wenig schlaksig und linkisch, und trotz seiner zwanzig Jahre zierten ihn noch immer Pickel.
Dieser junge Mann hingegen …
Sie riss sich aus ihrer Träumerei, wandte sich um und zog im Schrank hinter sich eine Schublade auf, aus der sie eine Schachtel holte und auf den Ladentisch legte. Er warf einen Blick darauf. »Fragt sich, ob das reicht«, meinte er dann.
»Wie lange werden Sie auf dem Boot sein?«
»Eigentlich ist es ein Schiff. Und die Reise dauert sieben Tage, je nach Wetter.«
»Du meine Güte. Wo fahren Sie denn hin?«
»Nach Amerika«, erwiderte er so beiläufig, als plauderte er über das Wetter. Er schaute sich um, wie auf der Suche nach etwas, was er noch gebrauchen könnte. Als er sich wieder dem jungen Mädchen hinter dem Ladentisch zuwandte, merkte er, dass Clara ihn mit halboffenem Mund anstarrte. »Nach Amerika?«, hauchte sie.
»Mein Vater hat in Kalifornien Land erworben. Er, mein Bruder und ich wollen dort einen Weinberg anlegen und eine Kellerei einrichten.«
»Wirklich?« Ihre weitaufgerissenen Augen funkelten. Amerika, sagte sie sich. So weit weg …
Clara war eine Leseratte. Wenn sie nicht in der Apotheke stand oder ihrer Mutter oben in der Wohnung zur Hand ging, las sie. Vor allem Abenteuergeschichten aus fernen Ländern, Erzählungen, in denen ganz normale Menschen in außergewöhnliche Situationen gerieten, Herausforderungen trotzen mussten und eine Stärke und eine Zivilcourage entwickelten, die sie sich nie und nimmer zugetraut hätten.
»Das ist sehr mutig von Ihnen«, sagte sie mit einem anerkennenden Lächeln.
Er blinzelte. Mutig? Er fuhr doch nur zu seinem Vater, um mit ihm zusammen einen Weinberg anzulegen.
»Und so waghalsig«, fügte sie hinzu, und er sah, wie sie sich mit der Hand an die Kehle griff.
Mit einem Mal fühlte er sich unbehaglich. Noch nie hatte ihn jemand mutig und waghalsig genannt. Vor allem kein junges Mädchen, und schon gar nicht ein hübsches junges Mädchen. Er wusste nicht, was er sagen sollte. Er war doch einer von Tausenden, die in ein fernes Land zogen. War das mutig? Für ihn war es etwas, was man erreichen konnte, wenn man harte Arbeit und Entbehrungen in Kauf nahm.
Wie verloren sah er sich erneut in der Apotheke um. Der vierundzwanzigjährige Wilhelm Schaller kam aus einem männlich geprägten Haushalt, in dem es weder eine Mutter noch Schwestern, sondern nur ihn, seinen Vater und seinen Bruder gab. Ihre Haushälterin, eine dicke ältere Frau, war betulich wie eine Glucke. In Gegenwart eines weiblichen Wesens wie dieses sittsamen jungen Mädchens verschlug es ihm die Sprache. Und sie hielt ihn für mutig?
Er murmelte, dass er sich noch etwas umschauen wolle, um zu sehen, ob er für die lange Reise noch etwas benötige – und konnte sich selbst nicht erklären, warum er nicht gehen wollte. Noch nicht. Nicht solange das hübsche Mädchen hinter dem Ladentisch ihn für mutig und waghalsig hielt.
Clara ließ ihn nicht aus den Augen. Hochgewachsen, muskulös und unglaublich maskulin, war er für sie der exotischste Mann der Welt. Sie war in dieser Kleinstadt am Rhein zwischen Koblenz und Mainz aufgewachsen, in der Region, in der sich die Berge des Hunsrücks im Westen und der Taunus im Osten bis hinunter zum Fluss ziehen und ein enges Tal bilden. Das Städtchen war Hunderte von Jahren alt, mit gepflasterten Straßen und hübschen Häuschen, die vor vielen Generationen erbaut worden waren. Bekannt war es für die Weinberge drum herum, die sich vom kalten Rhein hinauf zu sonnigen Terrassen und schier blendend grünen Hügeln erstreckten. Als »malerisch« bezeichneten Touristen Claras Städtchen, und mit seinen Burgen und römischen Ruinen und der Behauptung, hier hätten vor fünfzigtausend Jahren Neandertaler gelebt, wähnte man sich in eine längst vergangene Zeit zurückversetzt. Dabei hatte auch die Moderne hier Einzug gehalten – mit Gaslicht und der Zusage für Elektrifizierung sowie ein bis zwei Telefonanschlüssen. Schließlich befand man sich in Deutschland, dem technisch fortschrittlichsten Land der Welt – eine hochindustrielle Nation, in den Bereichen Wissenschaft, Medizin, Mathematik unübertroffen und im Export von Stahl federführend.
Claras Vater war stolz, die neuesten deutschen Pharmazeutika zu führen, darunter Aspirin und Heroin von Bayer. Die Heinzes waren wohlhabend und bewohnten eine gutausgestattete Etage über der Apotheke. Sie konnten sich nicht nur ansprechende Kleidung und erlesenes Essen leisten, sondern auch eine Köchin und ein Dienstmädchen. Clara Heinze lebte in einem geordneten, angenehmen und respektablen Umfeld, das von ehrbaren Traditionen, Familienbewusstsein und christlicher Moral geprägt war.
Das Städtchen mochte gewiss ganz nett sein, befand Clara jetzt, aber es war weder weit weg noch exotisch. Hier zu leben war kein Abenteuer. War nicht wie ein Sprung ins Unbekannte und über abgrundtiefe Meere zu segeln, um dann einen furchterregenden, kaum befriedeten Kontinent zu durchqueren …
Der junge Mann mit dem flammend roten Bart kam mit leeren Händen an den Ladentisch zurück und griff in seine Tasche, um das Pulver gegen Seekrankheit zu bezahlen. Auch wenn er nur auf der Durchreise war, hielt er es plötzlich für angebracht, Clara seinen Namen zu nennen, die Stadt, aus der er stammte, und die Verwandten, bei denen er sich gegenwärtig aufhielt. Clara war verzaubert. Von so weither kam er! Obwohl er ein Deutscher war, war Wilhelm Schaller gewissermaßen ein Fremder, und Clara gehörte zu jenen jungen Mädchen, die Fremde grundsätzlich faszinierend fanden. Waren sie denn nicht auch faszinierender als die langweiligen Jungs in ihrem Städtchen? Zumal er von Amerika sprach, das auf der anderen Seite der Welt lag …
Bei der Geldübergabe berührten seine rauen Fingerspitzen ihre weiche Handfläche. »Und Ihre Mutter?«, fragte sie, als sie die Ladenkasse öffnete. »Wie steht sie zu diesem großen Schritt?«
»Meine Mutter ist an einer Mandelentzündung gestorben. Ich war damals zehn.«
»Das tut mir leid.«
Sie ist ausnehmend hübsch, befand Wilhelm. Etwa achtzehn Jahre alt, glänzendes, kastanienbraunes langes Haar, das ihr in Ringellocken über die Schulter fiel. Sie trug eine weiße Bluse mit hochgeschlossenem Kragen und langen Ärmeln und einen langen schwarzen Rock, der ihre schmale Taille zur Geltung brachte. Ihr ovales Gesicht verjüngte sich zu einem leicht spitzen Kinn, das die großen Augen und die hohe Stirn betonte. Der spitze Haaransatz in der Mitte der Stirn ließ ihr Gesicht herzförmig erscheinen. Wirklich ungemein hübsch, befand er.
Trotz seiner stockenden Redeweise ergab sich nach und nach Folgendes: Seinem Vater Jakob Schaller, der im Rahmen einer Kooperative von Winzern in einem angestammten kleinen Weinberg ohne Aussicht auf Erweiterung oder ein Vorwärtskommen gearbeitet hatte, war eines dieser Flugblätter in die Hände gefallen, die in ganz Europa kursierten und in denen auf die unbegrenzten Möglichkeiten hingewiesen wurde, die sich kräftigen Männern mit Weitblick boten. Jakob hatte daraufhin seinen kleinen Bestand an Wein und Fässern verkauft und sich nach Kalifornien aufgemacht, um sich dort Land zu sichern und neu anzufangen. Sein Sohn war in Claras Städtchen gekommen, um bei seinen Verwandten die Aufforderung des Vaters, sich auf den Weg zu ihm zu machen, abzuwarten.
Ja, Clara kannte Siegfried und Dagmar Schmidt, einen jungen Schneider und seine ihm frisch angetraute Frau, eine Weißnäherin. Nein, sie wusste noch nicht, dass sie mit den Schallers nach Amerika wollten. Wie schön und wie aufregend, sagte sie, als sie ihm das Wechselgeld abzählte, und sie meinte es auch so. Es war ja auch schön und aufregend, und sie gestand sich ein, dass sie Siegfried und Dagmar beneidete.
Als Wilhelm Schaller sein Pulver an sich nahm und sich zum Gehen anschickte, rief Clara ihm spontan nach: »Wann soll denn die Reise nach Amerika losgehen?«
Er blieb an der Tür stehen. »Wir warten auf die Pässe und Papiere und auf die Billetts für die Überfahrt. Mein Bruder wird sich mir nach Abschluss seines Studiums an der Universität anschließen, und mein Vater wird uns Bescheid geben, sobald die Felder bereit sind – der genaue Termin für unsere Abreise steht noch nicht fest.«
Dies alles war eher im Flüsterton aus ihm herausgesprudelt, woraus Clara schloss, dass Wilhelm Schaller nicht gewohnt war, mit Fremden über sich selbst zu sprechen. Ungemein liebenswert, wie sie befand. Ich werde Mama bitten, nahm sie sich vor, ihn zu einem Nachmittagskaffee mit Kuchen einzuladen. Sie wollte mehr über Amerika erfahren.
Lange brauchte sie nicht zu warten, um die Einladung auszusprechen, der ihre Mutter, die Siegfried und Dagmar kannte, zugestimmt hatte, weil sie sich dem Cousin gegenüber, der ganz allein in ihre kleine Stadt gekommen war, als gastfreundlich erweisen wollte. Bereits tags darauf erschien Wilhelm wieder in der Apotheke, weil seiner Meinung nach, wie er sagte, eine Schachtel Pulver gegen Seekrankheit eher nicht ausreichte.
In Wahrheit konnte er nach seinem gestrigen Besuch in der Apotheke die Tochter des Inhabers einfach nicht vergessen. Clara Heinze war so grazil, so kultiviert. Eine richtige Dame, wie man sie sich in einer hübschen Kutsche vorstellt. Ihre Klasse besaß er nicht. Da gab es Grenzen. Ungeachtet dessen spukte sie in seinen Gedanken herum – wie sie lachte, der zarte Lavendelduft, der von ihr ausging. Die feine Spitze, mit der Manschetten und Kragen eingefasst waren. Anmutige Hinweise auf eine Weiblichkeit, wie man sie auf dem Lande nicht kannte.
Er musste sie wiedersehen. Unter einem Vorwand suchte er erneut die Apotheke auf, in der Hoffnung, am Ladentisch nicht ihren Vater, sondern sie anzutreffen. Er hatte Glück. Und wie sie strahlte, als er eintrat! Nicht das höfliche, eingefrorene Lächeln, das man auf dem Gesicht von Angestellten sah, sondern echte Freude, ihn wiederzusehen. Das verlieh ihm Flügel. Ließ ihn über sich hinauswachsen. Man stelle sich vor, ein Mädchen wie sie nahm einen unbedeutenden Kerl wie ihn zur Kenntnis. Wie ein König kam er sich vor. Er hatte sich immer als mehr oder weniger durchschnittlich betrachtet, und diese junge Frau schien etwas Besonderes an ihm zu finden. Sie gab ihm beinahe das Gefühl, ein Held zu sein und alles andere als gewöhnlich. Ein völlig neues Gefühl, über das es sich lohnte nachzudenken.
»Gestern Abend habe ich mir unseren Atlas vorgenommen«, sagte sie, als sie eine weitere Packung Pulver aus der Schublade holte. »Ich habe mir die Seite mit Kalifornien angesehen. Was ist das doch weit weg! Und derart groß. Wo genau liegt denn das Land, das Ihr Vater erworben hat?«
Wilhelm wusste nicht, was er sagen sollte. Eine solche Begeisterung ließ alles andere vergessen. Wie hieß doch gleich wieder das Tal mit so viel Anbaufläche? Seine Zunge war plötzlich wie gelähmt, wie ein Einfaltspinsel kam er sich vor.
Er versuchte, Zeit zu gewinnen. Ihm fiel nichts ein, was er hätte sagen können, aber hier nur rumstehen ging auch nicht. Sich im Laden umsehen, das hatte er gestern schon gemacht. Zum Glück kam Clara ihm zu Hilfe und überbrückte den peinlichen Moment, indem sie sagte: »Meine Mutter kennt Ihre Verwandten und würde sie gern zusammen mit Ihnen zum Nachmittagskaffee einladen. Würde es morgen passen?«
Er hatte keine Ahnung, ob es morgen passte oder nicht, stotterte aber: »Vielen Dank für die Einladung, wir kommen gern, um wie viel Uhr denn?« Und dann bezahlte er für das Pulver und ging, ohne die Packung mitzunehmen.
Wie sich herausstellte, kam den Verwandten der Termin ungelegen; sie mussten ungeduldige Kunden befriedigen. Deshalb erschien Wilhelm allein, in fraglos seinem besten Anzug, den Hut in der Hand, den Duft von Seife verströmend. Sein Bart sah aus, als sei er mit hundert Bürstenstrichen gestriegelt worden.
Clara trug ein weißes Nachmittagskleid aus Baumwolle, und ihre Mutter hatte den Salon mit frisch aufgegangenen Frühlingsblumen dekoriert. Gerda, das Hausmädchen, trug Kaffee und Schwarzwälder Kirschtorte auf, und Wilhelm, eine Leinenserviette in den Zelluloidkragen gesteckt, saß verkrampft auf dem kleinen Stuhl und balancierte auf den Knien Tasse und Untertasse und Teller und Kuchengabel. Mrs Heinze war eine ältere Version der Tochter, rundlicher um die Taille und mit graumeliertem Haar. Aber man konnte erkennen, wie hübsch sie einst gewesen war.
Als charmante Gastgeberin, die sie außerdem war, verstand sie es rasch, ihm das Gefühl der Befangenheit zu nehmen. »Erzählen Sie uns doch von Amerika, Mr Schaller. Die Cousins meiner Mutter sind vor Jahren nach Nebraska ausgewandert, und soweit ich weiß, geht es ihnen sehr gut.«
Es gelang ihm, den Kaffee zu trinken und die Torte zu essen und gleichzeitig über Amerika zu sprechen und die Schwierigkeit, zarte Setzlinge zu transportieren, ohne einen Tropfen Kaffee zu verschütten oder einen Kuchenkrümel fallen zu lassen. Und als er im Verlauf der Unterhaltung und darum bemüht, nicht ständig Clara anzustarren, damit herausrückte, dass er evangelisch sei, und erfuhr, dass auch sie evangelisch waren, lud Mrs Heinze Wilhelm ein, sie am kommenden Sonntag zum Gottesdienst zu begleiten.
Er sagte gern zu und verbrachte die nächsten drei Tage damit, mehr an Clara als an Gott oder Weintrauben zu denken.
Nach dem Gottesdienst nahmen sie in der Wohnung über der Apotheke das Mittagessen ein, zu dem Claras Mutter einen schmackhaften Braten mit sautierten Kartoffeln und Karotten sowie mit Butter bestrichene heiße Brötchen servierte und zum Nachtisch Apfelkuchen. Claras Vater, ein gedrungener jovialer Mann, wollte alles über Kalifornien und den von Wilhelms Vater geplanten Weinberg hören. Helmut Heinze hatte früher Kontakt zu ein paar Leuten gehabt, die mit ihren Familien nach Amerika ausgewandert waren und sich in deutschen Gemeinden in Pennsylvania und New York niedergelassen hatten. Sich mit dem Hausherrn zu unterhalten, bereitete Wilhelm weit weniger Schwierigkeiten, und zu Claras Erstaunen ging er sehr viel mehr aus sich heraus, als er dies bislang bei ihr getan hatte.
»Das Land, das mein Vater in Kalifornien gekauft hat«, erklärte er den Heinzes, die fasziniert zuhörten, »ist ein aufgelassener Weinberg, der ursprünglich einem Spanier gehörte, dem das Land – eine rancho – von der Spanischen Krone als Belohnung für treue militärische Dienste zum Schutz der Missionen der Franziskaner geschenkt worden war. Die Franziskaner« – langsam kam er in Fahrt – »waren Ende des 17. Jahrhunderts nach Kalifornien gegangen, um Missionen einzurichten und die Indianer zum Christentum zu bekehren. 1833, als Kalifornien Mexiko angegliedert und die Missionen säkularisiert wurden, wurden ihre Ländereien Männern wie Don Francisco Diego als Belohnung für treue Dienste für Spanien geschenkt. Dieser Don Francisco Diego legte auf seinem Land einen Weinberg an und richtete sich eine eigene Kellerei ein, alles auf der Grundlage der Trauben, die 1769 aus Spanien mitgebracht worden waren, normale dunkle Trauben, die man als Missionstrauben bezeichnet.«
Wilhelm räusperte sich verlegen, trank einen Schluck Kaffee und nahm das auffordernde Nicken wahr, mit dem seine Gastgeber ihn zum Weitererzählen drängten. »Mehrere Rückschläge jedoch zwangen Diego, sein Anwesen an einen Amerikaner zu verkaufen, der seinerseits versuchte, die Farm und die Kellerei wieder erfolgreich zu bewirtschaften. Aber Trockenheit und ein Befall der Wurzeln der Rebstöcke zwangen auch ihn, aufzugeben. Zwanzig Jahre lang stand dann das Anwesen beim kalifornischen Staat zum Verkauf, und so kam es, dass mein Vater es günstig erwerben konnte. Vor einem Jahr ist er dort hingefahren. Wie er meinem Bruder und mir schrieb, sind für ihn die mehr als fünfhundert Morgen an vernachlässigtem und von Unkraut überwuchertem Boden kein Missgriff, er hält eine erfolgreiche Wiederbelebung durchaus für möglich.«
»Erstaunlich«, kam es von Helmut Schaller, der sich fragte, ob er selbst einen solchen Weitblick besaß.
Bei Wilhelms mitreißender Schilderung sah Clara wunderschöne Bilder vor sich. Nach Kalifornien zu gehen, wo es Orte wie Dos Lagos (»Zwei Seen«) gab, Los Angeles (»Die Engel«) und Palos Verdes (»Grüne Stäbe«), hörte sich an, wie gleichzeitig nach Spanien und Mexiko zu gehen. Drei exotische Länder in einem! Ihre Zuneigung zu dem Mann, der darüber berichtete, wuchs. Sie erstarrte in Ehrfurcht vor ihm. Wie nur verstand er es, so trefflich ihren eigenen Traum zu beschreiben, die große weite Welt kennenzulernen?
Sie fragte sich, ob sich Verliebtsein so anfühlte. Sie hatte niemanden, mit dem sie über so etwas sprechen konnte. Das war kein Thema, das man bei einem Kaffee anschnitt oder mit der Mutter beredete. Ihre beiden Schwestern hatten sich verliebt, hatten geheiratet und waren weggezogen. Wie schön wäre es, wenn sie sie jetzt fragen könnte, wie es war, wenn man sich verliebte, um deren Erfahrungen mit ihren eigenen zu vergleichen. Als Apotheker verfügte ihr Vater über einen Telefonanschluss, und auch ihre Schwestern hatten Telefon. Allerdings würden sie Zeter und Mordio angesichts der Gebühren schreien, wenn es lediglich darum ging, sich zu einem derart banalen Thema wie Claras Verliebtheit zu äußern! Nein, das würde sie mit sich selbst ausmachen müssen.
Sie musste einfach mehr Zeit mit Wilhelm Schaller verbringen.
Als sie ihre Mutter um Erlaubnis bat, ihm das Städtchen zu zeigen, musste Mrs Heinze erst einmal darüber nachdenken. Schließlich gehörten die Heinzes zu den hiesigen Honoratioren, und es wäre unschicklich, wenn sich ihre Tochter in der Öffentlichkeit mit einem jungen Mann zeigte, den keiner kannte. Andererseits war einem Fremden gegenüber Gastfreundschaft angebracht, vor allem wenn es sich um einen jungen Mann handelte, der von seiner Familie getrennt war. Immerhin hatte er bereits mit ihnen den Gottesdienst besucht. Deshalb wurde vereinbart, dass Gerda, das Hausmädchen, sie begleitete.
Und so kam es, dass Clara mit Wilhelm unter Gerdas diskretem, wiewohl wachsamem Auge hinauf auf den Glockenturm stieg, des atemberaubenden Rundumblicks wegen. Sie besuchten ein Puppenspiel und lauschten einer Blaskapelle. Clara wies ihn auf alte römische Ruinen hin und erzählte ihm die Geschichte der Burg aus dem 14. Jahrhundert, die sich über dem Städtchen erhob. Die kleine Stadt, aus der Wilhelm stammte, mochte ähnlich aussehen, ebenfalls Ruinen aus der Römerzeit aufweisen, mittelalterliche Burgen, Uhrentürme, schmale Straßen und Konditoreien. Aber darum ging es nicht. Clara zeigte ihm ihr Zuhause und damit sich selbst. In einem Café im Freien stärkten sie sich mit Brot und Wurst, bis Gerda schließlich befand, es sei Zeit, nach Hause zu gehen. Wilhelm dankte Clara für den zauberhaften Tag und begab sich auf den Heimweg zu seinen Verwandten, dem Schneider und der Weißnäherin.
Clara hätte sich gewünscht, dass dieser Tag nie zu Ende gehen würde. Als sie Wilhelm hinterherblickte, dachte sie über ein erneutes Treffen nach.
»Fahrrad fahren?«, sagte die Mutter, als sie abends am Feuer saßen und Socken stopften und Hemden ausbesserten.
»Ich glaube, Wilhelm würde gern eine Radtour durch den Wald unternehmen«, legte Clara nach. »Wie du weißt, arbeitet er viel. Er geht sämtliche Weinberge ab, auf der Suche nach den besten Setzlingen für Amerika. Selbst Papa nimmt sich doch zuweilen einen Tag frei und schließt die Apotheke.«
Sie merkte, dass ihre Mutter sich bei aller Skepsis für das Vorhaben erwärmte. Jetzt kam der knifflige Teil. »Ohne Gerda.«
Eva Heinze fuhr hoch. »Was? Ohne Anstandsdame?«
»Mama, bitte. Wir werden auf öffentlichen Wegen bleiben, viele Leute werden sich dort aufhalten. Und … und … er reist doch bald ab.«
Eva Heinze legte ihr Stopfei beiseite. Seit jeher hatte sie aufmerksam über ihre Töchter gewacht, und Clara war die letzte. Das Küken. Eva machte sich Sorgen. Sie konnte sehen, dass ihre Tochter in den jungen Mann vernarrt war. War es klug, dieser Schwärmerei Vorschub zu leisten, zumal der Junge nur vorübergehend hier war? Seine Abreise würde Clara das Herz brechen.
Vielleicht hätte sie nicht zulassen sollen, dass sich das Verhältnis zwischen den beiden so entwickelte, wie es sich entwickelt hatte. Vielleicht hätte sie es von Anfang an im Keim ersticken und den jungen Mann nicht zu Kaffee und Kuchen einladen sollen. Aber aus eigener Erfahrung wusste Mrs Heinze, dass man einem Herzen nicht vorschreiben konnte, zu wem es sich hingezogen fühlen soll und zu wem nicht. Hatte sie nicht selbst ihre Eltern angefleht, Helmut Heinze heiraten zu dürfen, einen mittellosen Studenten der Pharmazie, der von einer eigenen Apotheke träumte? Ihr Vater hatte darauf bestanden, einen Mann zu heiraten, der bereits fest im Sattel saß. Worauf sie damals wütend mit dem Fuß aufgestampft und geschworen hatte durchzubrennen, wenn sie Helmut nicht heiraten dürfte. Und jetzt, dreißig Jahre später, drohte ein ähnliches Dilemma. Wenn sie nein sagte, würde sie damit nicht ein schreckliches Drama heraufbeschwören?
Und eigentlich schien Wilhelm Schaller ja ein anständiger und ehrenwerter junger Mann zu sein, der nur von Amerika und Weinanbau sprach. Deshalb gab sie ihre Erlaubnis, ließ sich aber von Clara versprechen, dass sie ausschließlich auf öffentlichen Fahrradwegen bleiben würden.
Ihr Vater gab ihr einen Tag frei, der Frühling wartete mit Sonnenschein auf. Sie luden Siegfried und Dagmar zum Mitkommen ein, aber das junge Ehepaar war zu sehr darauf bedacht, bis zum Aufbruch nach Amerika noch so viel Geld wie möglich zu verdienen. Deshalb fuhren Clara und Wilhelm auf zwei gemieteten Rädern allein los.
Auf einem sonnigen Fleckchen unweit des Städtchens mit einem Blick auf den Verlauf des Flusses genossen Wilhelm und Clara einen seltenen Augenblick der Freiheit. Wilhelm, der auf Nachricht von seinem Vater wartete und darauf, dass sein Bruder in Köln sein Studium abschloss, war während seines Aufenthalts hier im Städtchen nicht untätig geblieben. Er hatte in der Umgebung die für ihren exzellenten Riesling bekannten Weinberge besucht, sich mit den Winzern unterhalten, Weine verkostet und Vereinbarungen für den Kauf von Setzlingen zum Zeitpunkt der Abreise getroffen – sorgfältig ausgewählte einjährige Rebstöcke, die, wie sich gezeigt hatte, bei der Verpflanzung eine höhere Erfolgsquote aufwiesen als zwei- oder dreijährige. Auch ihr Transport und ihre Pflege während der langen Reise wurden lang und breit diskutiert und arrangiert, denn entscheidend war, dass die Wurzeln nicht austrockneten.
Als dann aber Clara damit angekommen war, dass sie die Erlaubnis erhalten hatte, den Tag mit ihm zu verbringen, hatte er beschlossen, sich ebenfalls freizunehmen, um mit ihr zusammen zu sein. Er war es nicht gewohnt, seine Gefühle zu analysieren. Bei ihren Gesprächen ging es stets um Kalifornien und die Pläne, die er zusammen mit dem Vater und dem Bruder zu verwirklichen gedachte. Wenn er aber wüsste, was Clara für ihn empfand, könnte er sich vielleicht über seine eigenen Gefühle klarwerden.
»Ich beneide Sie, dass Sie nach Kalifornien gehen«, sagte Clara jetzt, als sie ihren Hut abnahm und ihr Gesicht der Sonne entgegenreckte. Der Boden war vom Regen feucht, und der leichte Wind verhieß weitere Schauer. Aber noch schien die Sonne. »Ich liebe Romane, in denen es um starke und mutige Frauen geht, die aus ihrem sorgenfreien Leben ausscheren und sich allen möglichen Herausforderungen und Abenteuern stellen. Wie gern würde ich beweisen, wie mutig ich sein könnte.« Sie schaute ihn an. »Klingt das lächerlich?«
Er sah, wie ihr Haar in der Sonne leuchtete. »Keineswegs.«
»Ich möchte es mir selbst beweisen. Verkaufspreise in die Ladenkasse einzutippen, ist keine große Sache. Wann werde ich je Gelegenheit haben, meinen Mut unter Beweis zu stellen? Ich war noch nie weiter als zwanzig Meilen von zu Hause entfernt. Vielleicht, so stelle ich mir das vor, werde ich mal mit meinem Ehemann irgendwo, wo es exotisch ist, Ferien machen. Zum Beispiel in Griechenland. Aber dazu müsste ich erst einmal heiraten …«
Sie wollte ihm noch mehr über sich erzählen, aber es fiel ihr schwer, dies alles in Worte zu fassen. Dass sie sich ihrer Meinung nach von anderen Gleichaltrigen unterschied. Dass sie entlegene Länder aufsuchen, Abenteuer erleben wollte. Auch dass sie in einer katholischen Gegend evangelisch war, trug zu ihrem Gefühl bei, »anders« zu sein. Und dieser junge Mann, der ihr auf seinem Weg nach Kalifornien begegnet war, war ebenfalls evangelisch! Es war beinahe so, als ob hier das Schicksal oder was auch immer die Weichen stellte.
»Eigentlich sollte ich mich nicht beklagen«, sagte sie hastig, um nicht zu dreist oder zu aufdringlich zu wirken. Männer hatten für jammernde Mädchen nichts übrig. »Wenn man in einer Apotheke arbeitet, erfährt man viel über das Leben, das allein schon ist ein Abenteuer.« Sie sahen den Fähren auf dem Rhein nach, die kabbelnde Wellen hinter sich herzogen. »Jedenfalls mehr als zum Beispiel in einem Buchladen oder in einem Kurzwarengeschäft. Die Kunden, die wegen einer Medizin gegen ihre Schmerzen und Gebrechen zu uns kommen, beschönigen jedenfalls nichts. Sie möchten Tabletten und Salben und Lotionen und Pulver, und wenn sie meinem Vater dann ihre Wehwehchen schildern, sprechen sie nebenbei auch von einem faulen Schwiegersohn, von einem undankbaren Sohn, von einem Dickkopf von Tochter, von einem treulosen Ehemann. Gerade so, als hielte sie nichts mehr zurück, wenn sie erst einmal ihre körperlichen Beschwerden vorgebracht haben.«
Sie brach ab, fand sich zu altklug, weil sie über Dinge Bescheid wusste, die ein Mädchen ihres Alters nicht wissen sollte. Warum nur konnte man mit manchen jungen Burschen so unbeschwert plaudern und mit anderen nicht? Wenn sie doch nur in Erfahrung bringen könnte, was Wilhelm über sie dachte!
»Ja«, sagte er unbeholfen, weil er nicht wusste, was er darauf antworten sollte. Er war Mädchen wie Clara nicht gewöhnt. Er hatte nur Mädchen vom Lande kennengelernt, darunter die vier Schwestern vom Bauernhof nebenan. Hochgewachsene Mädchen mit kräftigen Knochen, die Kühe molken und butterten. Er hatte sich vorgestellt, eines Tages eine von ihnen oder eine wie sie zu heiraten. Clara Heinze war ein Stadtmädchen, zart, gebildet, sehr damenhaft. Zu Hause hatte er nur selten weibliche Verkäuferinnen angetroffen; bei seiner Arbeit hatte er ausschließlich mit Männern zu tun.
Grundsätzlich bereitete es ihm Schwierigkeiten, sich mit Mädchen zu unterhalten. Sie waren ihm ein Rätsel. Stets befürchtete er, etwas Falsches zu sagen und sie entweder zu kränken oder sie fälschlicherweise in dem Glauben zu wiegen, er hätte es auf sie abgesehen. Bei Frauen, so fand er, musste man entweder offen und ehrlich sein oder Süßholz raspeln, und da er nie wusste, was gerade gefragt war, schwieg er.
Aber jetzt wollte er etwas sagen, etwas Wichtiges. Er wollte ihr etwas ermöglichen – das Abenteuer, nach dem sie sich so sehnte, die Gelegenheit, ihren Mut unter Beweis zu stellen. Er wollte ihr Kalifornien anbieten.
Clara, die neben ihm saß, spürte, dass er etwas auf dem Herzen hatte und nur nicht wusste, wie er es formulieren sollte. Dass er Mädchen gegenüber gehemmt war, hatte sie fast von Anfang an geahnt. Es fiel ihm schwer, seine Gefühle auszudrücken. So viel wusste sie inzwischen. Deshalb sagte sie: »Ich bin eine schreckliche Plaudertasche, stimmt’s? Ich gebe anderen so gut wie keine Gelegenheit, auch mal was zu sagen. Aber jetzt werde ich meinen Mund halten und Sie reden lassen. Und wenn Ihnen nichts einfällt, sagen Sie einfach irgendwas.« Und als leise Warnung fügte sie hinzu: »Sonst könnte Ihr Schweigen glatt missverstanden werden.«
Sie lächelte ihn aufmunternd an, während fröhliche Fahrradfahrer oder Spaziergänger mit großen und kleinen Hunden vorbeikamen und die Sonne genossen. Schließlich sah Wilhelm sie an und sagte: »Du bist das schönste Mädchen, dem ich je begegnet bin.«
Sie starrte ihn mit halbgeöffneten Lippen an.
Er war ebenso erschrocken wie sie über seine unerwartete Erklärung. Und jetzt war es Clara, der es die Sprache verschlug.
Urplötzlich verlegen und flammend errötend, blinzelte Wilhelm in die im Westen stehende Sonne. »Ich sollte dich jetzt wohl nach Hause bringen. Deine Mutter macht sich sonst Sorgen.«
Sie strampelten wortlos auf ihren Rädern zurück, und er lieferte sie unbeschadet an der Tür der Apotheke ab. »Danke für den Tag«, sagte sie artig, und er tippte an seine Schirmmütze.
Beide waren sich bewusst, dass ab jetzt alles anders war.
In den folgenden Tagen sahen sich Clara und Wilhelm häufiger: Sie gingen zusammen in die Kirche; Eva Heinze lud ihn sonntags zum Abendessen ein; Wilhelm tauchte in der Apotheke auf, um für Siegfried und Dagmar als Gegenleistung für deren Gastfreundschaft Rasiercreme zu kaufen, parfümiertes Toilettenwasser, Aspirin, Tonika und sonstige Dinge, die sie in Kalifornien gut gebrauchen konnten. Er wurde gesprächiger, erzählte Clara aus seiner Jugend, wie er sich nach dem Tod der Mutter nach ihr gesehnt habe; dass er eine Beschäftigung im Freien der Tätigkeit am Schreibtisch vorziehe; er zählte seine liebsten Geschichten und Lieder auf und dass er gern handwerklich arbeite. Was dazu führte, dass sich nach und nach ein genaueres Bild von dem jungen Mann abzeichnete.
Gleichzeitig bekam er mit, wie Clara sich den Kunden in der väterlichen Apotheke gegenüber verhielt, wie sie deren Bestellungen nachkam, wie sie Geld entgegennahm und Wechselgeld herausgab. Sie ist tüchtig, befand er. Und sie ist gehorsam, wie sie »Ja, Papa«, sagte, wenn ihr Vater ihr etwas zu tun auftrug. Außerdem war sie hübsch und sanft und freundlich. Sie verstand sich aufs Sticken und Häkeln, spielte hinreißend Klavier, wusste die Haushaltskonten zu führen, mit Geld umzugehen und gute Dienstboten von schlechten zu unterscheiden.
Aber da war noch mehr. Clara hatte Wilhelm dazu gebracht, über sich selbst und seine Gefühle zu sprechen. Sie hatte ihm eine neue Welt aufgetan. Und mehr noch – sie hatte Gefühle in ihm geweckt, von denen er nichts gewusst hatte: heldenhafte Gefühle und den leidenschaftlichen Wunsch, sie zu beschützen. Clara war seine Ergänzung, er wollte sie zu seiner Frau machen.
Sie bediente gerade einen Kunden, als Wilhelm in die Apotheke stürmte, mit hochroten Wangen und strahlenden Augen. Derart erregt wirkte er, dass sie ahnte, dies sei der Tag, an dem sich alles änderte. Als der Kunde gegangen war und sie mit Wilhelm allein zurückblieb, trat sie zu ihm ans Fenster, durch das die Aprilsonne fiel. »Ein Brief von meinem Vater«, sprudelte es ungewohnt aus ihm heraus. »Er schreibt, dass alles geregelt ist, und sobald Johann aus Köln hier eintrifft, sollen wir zu ihm nach Kalifornien kommen.« Von seinem jüngeren Bruder Johann, der Agrarwirtschaft studierte, hatte Wilhelm häufig gesprochen, stets liebevoll und in den höchsten Tönen, und jetzt spürte Clara, dass Wilhelm es kaum erwarten konnte, seinen Bruder endlich wiederzusehen.
»Sobald er hier ist«, sagte er, »fahren wir alle zusammen in den Norden und treffen dort mit anderen zusammen, die ihr Vertrauen in meinen Vater gesetzt haben. Wir reisen als Gruppe, das ist sicherer.«
Clara stockte der Atem. Sie wartete auf mehr.
Und auch er wartete ab.
Als nichts von ihr kam, sagte Wilhelm mit leicht gerunzelter Stirn: »Das war’s, Clara. Noch in diesem Monat fahren wir los.«
Sie war verwirrt. Bezog sich dieses »wir« auch auf sie oder nur auf ihn und die anderen? Ihn einfach fragen konnte sie nicht, das wäre unverschämt gewesen. Ohne den Eindruck zu erwecken, enttäuscht zu sein, versuchte sie, über einen Umweg Genaueres zu erfahren. »Was soll ich meinen Eltern sagen?«
Seine Stirn kräuselte sich noch mehr. Was hatte sie denn von dem, was er ihr eben eröffnet hatte, nicht verstanden? Es war doch alles ganz einfach. »Sag ihnen, dass wir noch in diesem Monat abreisen.«
»Du wirst mir fehlen«, hauchte sie schließlich. Zu mehr reichte es nicht.
Die Stirnfalte blieb. »Aber Clara! Du kommst doch mit!«
»Wirklich?«
»Du hast gesagt, wie schön das klingt: Kalifornien. Du hast gesagt, es müsste herrlich sein, eine neue Farm einzurichten, sich ein neues Zuhause in einer neuen Umgebung zu schaffen. Hast du das etwa gar nicht so gemeint?«
»Ja, doch, aber …«
Er griff nach ihren weichen Händen und umschloss sie mit seinen schwieligen Pranken. »Verzeih, liebe Clara, aber ich habe nicht gelernt, wie man sich in solch einer delikaten Situation zu verhalten hat. Ich bitte dich, meine Frau zu werden. Ja, ich hätte dich fragen sollen. Ich hab’s einfach angenommen! Sag mir, dass ich mich nicht täusche! Sag mir nicht, ich hätte einen schrecklichen Fehler gemacht und alles durcheinandergebracht, nur weil ich mich nicht klar genug ausgedrückt habe!«
Seine Stimme war eindringlich und verzweifelt zugleich, und er drückte ihre Hände so fest, dass Clara fast meinte, ohnmächtig zu werden. Das Schaufenster der Apotheke, hinter dem sie standen, die Passanten draußen, das Klippklapp von Pferdehufen auf dem Kopfsteinpflaster und die wärmenden Sonnenstrahlen – für Clara gab es keine romantischere Kulisse. Noch nie hatte ein junges Mädchen einen so wunderbaren und leidenschaftlichen Heiratsantrag erhalten. »Oh«, japste sie. Und dann: »Ja, Wilhelm, ich möchte deine Frau werden.«
In seinem Gesicht ging gleichsam die Sonne auf. »Ich danke dir, meine schöne Clara! Du machst mich zum glücklichsten Mann auf Erden. Unsere Zukunft liegt in Kalifornien. Wart’s nur ab. Und weil ich weiß, dass du praktisch denkst und verstehst, dass es sinnvoller ist, unser Geld für Amerika zu sparen, anstatt es hier auszugeben, wirst du bestimmt nicht böse sein, wenn ich dir keinen Verlobungsring schenke.«
»Natürlich nicht«, lachte sie. Wozu brauchte sie einen Ring, wenn sie Wilhelm und Kalifornien bekam?
Schwierig wurde es dann abends, als sie ihre Eltern einweihte. Beide verzogen das Gesicht. Claras Mut sank.
»Was für ein übereilter Schritt! Außerdem bist du viel zu jung, eine derartige Entscheidung zu treffen«, sagte Eva Heinze mit zitternder Stimme. Sie hatte befürchtet, dass es so kommen würde. Etwas war außer Kontrolle geraten, und jetzt wusste sie nicht, wie das aufzuhalten war.
»Du warst neunzehn, als du Papa geheiratet hast«, antwortete Clara sachlich, entschlossen, keinen Eklat heraufzubeschwören. Die Heinzes stritten nur selten, argumentierten stets vernünftig und höflich, im Gegensatz zu den Eltern ihrer Freundin Anna, deren Kommunikation ausschließlich aus Anschreien und Vorwürfen zu bestehen schien. Dennoch war die Atmosphäre im Hause des Apothekers gespannt, und das Gesicht des Vaters verdüsterte sich zusehends. »Ja, deine Mutter war neunzehn, als sie heiratete, aber ich habe ein Jahr lang um sie geworben, fast immer in Gegenwart einer Anstandsdame.«
»Diesen Luxus können Wilhelm und ich uns nicht leisten, Papa«, erwiderte Clara und versuchte, nicht wehleidig zu klingen. Sie mussten ihr die Erlaubnis geben. Begriffen sie denn nicht, dass dies kein gewöhnlicher Heiratsantrag war? Keine traditionelle Verbindung? Es ging doch nicht nur um einen Ehemann, sondern um zusätzlich fünfhundert Morgen einer einstmals spanischen rancho! Und sie würde die Frau eines erfolgreichen Winzers sein. Freuen sollten sie sich!
»Es ist nun mal eine kurze Werbung«, beharrte die Mutter. Was sollten die Leute im Städtchen denken? Dass die junge Clara Heinze, kaum dass sie Bekanntschaft mit einem Fremden geschlossen hatte, Hals über Kopf heiraten musste? Drohte sich eine Wolke der Schande über ihre Eheschließung zu senken? Vor allem da das junge Paar Deutschland verlassen würde, noch ehe sich ein Beweis vorehelichen Treibens abzeichnete.