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Samantha hat es schwer im London des Jahres 1860. Der Vater, ein unerbittlicher und bigotter Prediger, verzeiht ihr nicht, dass ihre Mutter bei der Geburt gestorben ist. Ein von der Gesellschaft geächteter Heilkundiger nimmt sie schließlich als Zögling auf. Nach dem Tod des Vaters lernt sie eine der wenigen Ärztinnen kennen. Diese erkennt die Fähigkeiten Samanthas und drängt sie, in New York ein Medizinstudium aufzunehmen. Hier beginnt der dramatische Kampf der jungen Frau in der Männerwelt der Medizin. Mit Energie und ihrem unbändigen Willen setzt sie sich trotz der damals noch ganz selbstverständlichen Dominanz und Arroganz der Männer durch, um Ärztin zu werden. In San Francisco eröffnet Samantha eine Klinik nur für Frauen. Sie will den notleidenden Frauen helfen, indem sie zwielichtigen Arzneimittelhändlern den Kampf ansagt. Obwohl ihr privates Glück immer wieder von Trauer überschattet wird, verhilft sie den Frauen zu einem bis dahin nicht gekannten Selbstbewusstsein.
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Seitenzahl: 741
Barbara Wood
Sturmjahre
Roman
Roman
Aus dem Amerikanischen von Mechtild Sandberg
Fischer e-books
Prolog
Sie hatte einen merkwürdigen Traum gehabt. Sein Inhalt hatte sich verflüchtigt, aufgelöst im morgendlichen Sonnenlicht, das durch das Fenster strömte, aber die düster beklemmende Stimmung wirkte noch nach. Vor irgend etwas hatte sie große Angst gehabt, aber sie konnte sich nicht mehr erinnern, was es gewesen war. Vorahnungen? Ein Blick in die Zukunft?
Ach was, sagte sie sich, Träume sind Schäume. Kopfschüttelnd, wie um sich von den dunklen Schleiern zu befreien, setzte sie sich auf und glitt aus dem Bett. Ehe sie ins Badezimmer lief, trat sie zum Fenster, um einen Blick hinauszuwerfen. Schamhaft im Verborgenen bleibend, schob sie den Chintzvorhang zur Seite. Die Straße war belebt, wie es in dem verschlafenen kleinen Lucerne nur äußerst selten vorkam. Kutschen rollten vorüber, Pferde trabten mit klirrenden Eisen über das Kopfsteinpflaster, Kinder und Hunde jagten umher, ehrwürdige Herren in Gehrock und Zylinder bevölkerten die Bürgersteige.
Aber keine Frauen waren zu sehen.
Stirnrunzelnd zog sich Samantha vom Fenster zurück. Die Frauen würden also nicht kommen …
Bei ihrer Ankunft vor zwei Jahren hatten sich die Frauen von Lucerne gegen sie zusammengeschlossen. Sie hatten ihr Unterkunft verweigert und sie auf der Straße geschnitten. In jenen ersten einsamen Tagen war Samantha für die Frauen des Städtchens ein Objekt kalter Verachtung gewesen, für die Männer der Gegenstand frivoler Spekulation. Welche junge Frau setzte sich schließlich in einen Unterrichtsraum voller junger Männer und hörte sich mit ihnen gemeinsam Vorträge über Dinge an, die für die Ohren anständiger Frauen wahrhaftig nicht geeignet waren? Es war klar, daß Samantha Hargrave eine Bedrohung für die Moral der einheimischen Jugend darstellte.
Samantha hatte gehofft, diese Vorurteile und Ängste hätten sich im Verlauf der vergangenen zwei Jahre gelegt. Wenn aber die Frauen auch der Abschlußfeier an diesem Tag fernblieben, so konnte das nur bedeuten, daß sie an ihrer Mißbilligung Samanthas festhielten.
Tief getroffen, aber entschlossen, sich durch den Boykott den Tag nicht verderben zu lassen, holte Samantha Hargrave einmal tief Atem und begann mit der Morgentoilette.
Nachdem sie Wasser aus dem Porzellankrug in die Schüssel gegossen hatte, hielt sie einen Moment inne und musterte ihr Bild im Spiegel über dem Waschtisch. Es wunderte sie beinahe, daß sie nicht anders aussah als am Tag zuvor, obwohl doch mit dem neuen Tag auch ein neuer Lebensabschnitt für sie begann. Sonst durchaus zufrieden mit ihrem Aussehen, dachte sie jetzt mit einem Anflug von Ironie: zu hübsch. Und nicht alt genug.
Wagte man es als Frau, den Arztberuf zu ergreifen, so mußte man ständig um Anerkennung kämpfen; war die Frau dazu noch jung und hübsch, so hatte sie kaum eine Chance. Während Samantha vor dem Spiegel stand, versuchte sie, sich wie eine Fremde zu betrachten, ihr Gesicht objektiv zu sehen: die hohe, gewölbte Stirn, die schmale Nase, der weiche Mund mit den leicht aufgeworfenen Lippen – lauter Hemmnisse für eine junge Frau, die ihren Weg in einer Männerwelt machen wollte. Wird man mich als Ärztin je ernst nehmen, fragte sie sich zweifelnd.
Ihre Augen, das wußte sie, waren das Ungewöhnlichste und Faszinierendste an ihrem Gesicht. Von langen, dunklen Wimpern umkränzt, lagen sie wie Katzenaugen unter den schön geschwungenen Brauen. Das helle, beinahe durchsichtige Grau der Iris, von einem schwarzen Ring umrandet, erweckte bei vielen Menschen den Eindruck, sie könne klarer und tiefer sehen als die meisten.
Samantha nahm ihre morgendliche Reinigung wie viele Frauen vor. Auf einer Gummimatte stehend, rieb sie ihren Körper mit Seife ein und wusch mit Wasser aus der Schüssel nach. Eine Sitzbadewanne, wie in den Häusern der Wohlhabenden und Fortschrittlichen, gab es hier noch nicht. Nachdem sie sich abgetrocknet hatte, nahm sie ihr Korsett aus Baumwolltwill und schnürte es mit flinken Händen, aber nicht so fest, daß es ihr die Luft nahm. Samantha konnte sich glücklich preisen: von Natur aus schlank und zierlich gebaut, hatte sie es nicht wie viele andere Frauen nötig, sich um der modischen Wespentaille willen so gewaltsam einzuschnüren, daß nachher nur noch eine Dosis Morphium gegen die Schmerzen half.
Als sie in ihre Spitzenhose stieg und sie an den langen, wohlgeformten Beinen emporzog, fiel ihr plötzlich etwas ein, und sie mußte lächeln. Damals allerdings hatte sie nicht gelächelt.
Vor zwei Jahren, an ihrem ersten Tag am Lucerne Medical College, hatten ihre männlichen Kommilitonen sie mit grausamem Gesang empfangen.
Wie lange schien das her zu sein! Zwei kurze Jahre, und so vieles hatte sich verändert. Die größte Veränderung hatte sie selber durchgemacht. Zaghaft und voller Ängste war sie gewesen, als sie an einem Oktobertag des Jahres 1879 zum erstenmal den Hörsaal betreten hatte. Unter den unverschämten Blicken der jungen Männer, die bereits Platz genommen hatten, wäre sie am liebsten in den Boden versunken. Die Grausamkeiten, die sie ihr angetan hatten! In der Rückschau konnte Samantha kaum glauben, daß sich das alles wirklich zugetragen hatte. Ja, es hatte sich viel verändert seither.
Sie begann, ihr Leinenhemd zuzuknöpfen. Wie herrlich wäre dieser Tag, wenn er käme. Sie ließ die Hände sinken und erlaubte sich, einen Moment sein Bild heraufzubeschwören und von ihm zu träumen. Nein, Joshua würde nicht kommen. Ebensogut hätte sie das Paradies herbeiwünschen können.
Ein Kleid, wie das, welches sie an diesem Tag anziehen würde, hatte sie nie zuvor besessen. Sie war ihr Leben lang arm gewesen, hatte, solange sie denken konnte, jeden Penny zweimal umdrehen müssen. Die Hoffnung, daß sich alle ihre Opfer eines Tages lohnen würden, hatte ihr die Kraft und die Zuversicht gegeben, dieses armselige Leben auszuhalten. Und nun war dieser Tag gekommen. Die Schneiderin in Canandaigua hatte ein wahres Traumkleid für sie genäht.
Sie hatten ein zartes Perlgrau gewählt, das mit der Farbe ihrer Augen in Einklang stand, und hatten alle Modejournale nach einem Modell durchgesehen. Schließlich hatten sie sich für eine Kreation Worths entschieden, des derzeit berühmtesten Modeschöpfers, und es beim Zuschnitt so verändert, daß es Samanthas schlanke Anmut voll zur Geltung brachte. Die Turnüre, die in den modisch eleganten Kreisen Europas immer stärker betont wurde, spielten sie etwas herunter; den Rock, den die Damen der Pariser Gesellschaft schockierenderweise inzwischen nur noch knöchellang trugen, hatten sie bodenlang gelassen. Das knapp sitzende Mieder reichte bis zu den Hüften, der füllige Rock darunter war vorn gerafft und hinten über einem Drahtgestell zur Turnüre hochgezogen. Die schmalen Ärmel und der hohe Kragen waren mit gerüschten Valenciennesspitzen besetzt.
Mit Knopfstiefelchen und einem Federhütchen auf dem hochgesteckten schwarzen Haar komplettierte Samantha ihr elegantes Kostüm. Jetzt brauchte sie nur noch die Handschuhe überzustreifen und zur Tür hinauszugehen.
Doch sie blieb noch. Sie faltete die Hände, schloß die Augen und sprach leise ein Methodistengebet ihrer Kindheit. Mit flüchtiger Trauer dachte sie an ihren Vater, bedauerte, daß er diesen Tag nicht erleben konnte, und dankte Gott für seinen Beistand auf ihrem Weg zu diesem Tag.
Ruhiger jetzt, nahm sie die grauen Wildlederhandschuhe und ging zur Tür hinaus.
Professor Jones erwartete sie im Salon. Seit einer halben Stunde marschierte er im Zimmer auf und ab, wie ein aufgeregter Brautvater. Als er endlich Samantha an der offenen Tür stehen sah, strahlte er.
Sie lächelte. Auch für ihn war dies ein großer und besonderer Tag. Aller Aufmerksamkeit war auf diesen stattlichen Mann mit der rosigen Glatze und den Koteletten gerichtet, der den Konventionen seiner Gesellschaft so mutig getrotzt hatte. Zum erstenmal in der Geschichte der Hochschule hatten sich Vertreter der Presse zur Abschlußfeier angesagt. Der Dekan des Lucerne Medical College war in diesem Moment so nervös, daß er keine Worte fand.
Samantha erlöste ihn. »Wollen wir gehen, Doktor?« sagte sie.
Als sie vor das Haus traten, blieb Samantha plötzlich stehen und legte die Hand über die Augen, als wolle sie sie vor der blendenden Sonne schützen. In Wahrheit brauchte sie einen Moment der Besinnung, um sich gegen die neugierigen Blicke der Männer auf der Straße zu wappnen. Aber ihre Geste wirkte durchaus natürlich: Der Canandaigua See jenseits der grünen Hänge über der Main Street lag in gleißendem Licht. Als Samantha die Hand von den Augen zog, sah sie den See und die ihn umgebende Landschaft im Frühlingsglanz vor sich liegen. Lichtgrüne Felder und Weinpflanzungen bedeckten die Hänge der sanft gewellten Hügel, zwischen denen der See eingebettet lag. Einen Moment war Samantha wie verzaubert, dann bemerkte sie die Blicke der Männer, und der Bann war gebrochen.
Ach, wären die Frauen doch auch gekommen, dachte Samantha, während sie am Arm von Professor Jones dem Collegegebäude entgegenging. Warum können sie diesen Tag nicht als unseren gemeinsamen Triumph sehen, einen Sieg aller Frauen?
Es hatte keinen Sinn, sich darüber den Kopf zu zerbrechen. Die Frauen würden nicht kommen; nicht einmal kleine Mädchen waren auf den Straßen zu sehen.
Als sie auf die kleine Holzbrücke trat und in das Wasser des Bachs hinunterschaute, der das Collegegelände vom Ort trennte, überkam sie plötzlich Wehmut. Das letztemal ging sie heute diesen Weg. Während Jones in der versammelten Menge unruhig nach einem Mann Ausschau hielt, den er nirgends entdecken konnte, erinnerte sich Samantha mit leiser Trauer an den Tag, als sie das erstemal hierher gekommen war.
Das imposante Hauptgebäude der Schule, das keine hundert Meilen von der Grenze zum Gebiet der Mohawk-Indianer stand, nahm sich neben den Holzschindelhäusern des Grenzstädtchens deplaciert aus. Es war ein wuchtiger weißer Bau mit einer Giebelfassade über einer tiefen Säulenhalle. Den Mittelpunkt bildete die gewaltige Rotunde, um die sich Hörsäle, Aula, Labors, Bibliothek und Verwaltungsräume gruppierten. Es hieß, Thomas Jefferson, der eine Vorliebe für den massiven Baustil der Römer gehabt hatte, hätte den Bau entworfen. Samantha fand ihn monströs.
Zwei Jahre zuvor hatte sie hier an diesem Ort gestanden und Professor Jones zugehört, der die indianische Sage erzählt hatte. Ein irokesisches Liebespaar, dessen Liebe unter einem Unstern stand, hatte an diesem Ort auf tragische Weise den Tod gefunden. Ihre Geister, so hieß es, irrten bei Nacht durch die Räume, ewig auf der Suche nach Vereinigung.
Es war nichts Merkwürdiges daran, daß sie gerade in diesem Augenblick an Geister denken mußte; sie war ja von ihnen umgeben. Sie waren alle gekommen, diesen Tag des Triumphs mit ihr zu feiern: ihr Vater, Samuel Hargrave, der strenge und unversöhnliche Diener Gottes; ihre Brüder, rastlos und unglücklich; Isaiah Hawksbill; Freddy, der Freund ihrer Kindheit. Und ihre Mutter, war sie auch gekommen?
Sie dachte an Hannah Mallone, und einen Moment lang überfiel sie tiefe Traurigkeit. Das ist für dich, liebste Freundin, das ist unser Erfolg.
Die Studenten, die sich im Schatten der tiefen Säulenhalle vor dem Hauptgebäude versammelt hatten, waren unruhig. Wie junge Pferde, die gerade erst gelernt haben, am Zügel zu gehen. Sie wollten lachen und schreien und in wildem Überschwang ihre Hüte in die Luft werfen, aber die ernste Feierlichkeit des Augenblicks und die Forderungen der Tradition verboten es ihnen.
Nun versammelten sich auch die Dozenten, und einige stutzerhafte Reporter in großkarierten Jacketts mischten sich in die Menge. Professor Jones entschuldigte sich mit einer Bemerkung über einen Mr.Kent, mit dem er etwas zu besprechen habe, und Samantha gesellte sich zu einer Gruppe Studenten, die in ruhigem Gespräch beieinander stand.
Händeringend drängte sich Professor Jones auf der Suche nach Simon Kent durch das Gewühl. Wo konnte der Mann nur geblieben sein?
Samantha war an Professor Jones’ Dilemma schuld, obwohl sie davon keine Ahnung hatte. Einige Wochen zuvor hatte einer der Dozenten den Dekan darauf aufmerksam gemacht, daß die übliche Urkunde, die den Studenten beim erfolgreichen Abschluß ihres Studiums ausgehändigt wurde, für Samantha nicht taugte. Die Urkunden waren in lateinischer Sprache abgefaßt und einzig auf männliche Absolventen bezogen. Der neue Titel der Absolventen lautete Domine, was etwa gleichbedeutend war mit Meister. Müsse man nicht, hatte der Dozent gemeint, einen entsprechenden Titel für Miss Hargrave schaffen? Das gesamte Kollegium hatte sich zur Beratung zusammengesetzt, und man hatte sich schließlich auf den Titel Domina geeinigt.
Das nächste Problem war die Erstellung einer passenden Urkunde gewesen. Üblicherweise wurden die Urkunden serienmäßig hergestellt, so daß man vor der Übergabe nur noch den Namen des jeweiligen Absolventen einzusetzen brauchte. Jetzt mußte dringend einer mit schöner Handschrift her, der eine entsprechende Urkunde mit den nötigen Änderungen abfassen konnte. Man hatte den Auftrag Simon Kent gegeben, einem Bauern aus der Umgebung. Er hätte die Urkunde am Tag vor der Feier liefern sollen, doch aus unerfindlichem Grund war er bis jetzt nicht bei Professor Jones erschienen.
Nicht nur peinlich, verheerend würde es sein, wenn Kent nicht kommen sollte! Das Lucerne Medical College machte an diesem Tag Geschichte. Die Augen der Welt waren auf Professor Henry Jones gerichtet. Sogar aus Michigan war ein Reporter gekommen. Dieser Tag würde über Erfolg oder Mißerfolg seines kühnen und viel kritisierten Experiments – eine Frau an einem Männer-College zuzulassen – entscheiden. Seine Kritiker würden sich diebisch freuen, wenn der Tag mit einer Blamage für ihn enden sollte. In höchster Verzweiflung setzte Professor Jones seine Suche fort.
»Entschuldigen Sie!«
Samantha drehte sich um. Ein großer, bulliger Mann, den Hut auf den Hinterkopf geschoben, drängte sich zu ihr durch.
»Miss Hargrave! Kann ich Sie einen Moment sprechen?« Er hielt einen Stift in der einen und einen Schreibblock in der anderen Hand. »Jack Morley vom Baltimore Sun. Ich hätte Ihnen gern einige Fragen gestellt.«
»Die Prozession fängt gleich an, Mr.Morley.«
»Wie fühlt man sich als erste Medizinerin, die von einem Männercollege abgeht?«
»Ich bin nicht die erste, Sir. Dr.Elizabeth Blackwell war mir dreißig Jahre voraus.«
»Ja, sicher, sie war die allererste, aber seitdem hat es so was nicht mehr gegeben. Dr.Blackwell ist eigentlich nur durch einen glücklichen Zufall ›reingekommen, und nachdem sie ihr Studium abgeschlossen hatte, wurden an diesem College keine Frauen mehr zugelassen. Ich hörte, daß Sie erbittert darum gekämpft haben, in Harvard aufgenommen zu werden.«
»Ich habe mich in Harvard beworben und wurde abgelehnt.«
»Darf ich fragen, warum Sie gerade in ein Männercollege wollten? Es gibt doch genug Frauencolleges.«
Samantha legte einen Finger an ihr Kinn. »Mir lag daran, die bestmögliche medizinische Ausbildung zu bekommen, Sir. Da wir in einer Männerwelt leben, in der das Beste den Männern vorbehalten ist, sagte ich mir, daß ich eine solche Ausbildung nur in einem Männercollege bekommen würde. Vielleicht wird sich das eines Tages ändern.« Sie ging davon.
»Sie reden wie eine Lucy Stoner«, rief der Reporter ihr nach.
Der Zug bildete sich schon; in Zweierreihen sollten sie in die Kirche einziehen. Über Samanthas Position innerhalb des Zuges hatte es viele Diskussionen gegeben. Schließlich war man überein gekommen, daß sie an Professor Jones’ Arm an der Spitze des Zuges gehen sollte. Doch Samantha hatte es abgelehnt, aufgrund ihres Geschlechts in eine Sonderstellung gedrängt zu werden. Sie war drittbeste Absolventin ihres Jahrgangs, also würde sie auch in der Prozession an dritter Stelle gehen.
Während Dozenten und Studenten Aufstellung nahmen, hielt Henry Jones noch einmal verzweifelt nach Simon Kent Ausschau, konnte ihn aber nirgends entdecken.
Die Hörner schmetterten, und Henry Jones begab sich eilig an die Spitze des Zugs, um das Zeichen zum Aufbruch zu geben. Die Indianer, Angehörige des Stammes der Senecas in Stammestracht, stimmten auf Trompeten und Posaunen ein blechernes ›America‹ an, und der Zug setzte sich in Bewegung.
Die presbyterianische Kirche, wo alle Gemeindeversammlungen abgehalten wurden, stand am Ortsrand, keine halbe Meile von der Rotunde entfernt. Die Prozession brauchte zehn Minuten, um den Weg zurückzulegen, und in dieser Zeit fand Samantha ihre Ruhe wieder. Doch als die Menge der Männer vor der Kirche in Sicht kam, befiel neue Unsicherheit sie.
Kutschen und Fuhrwerke aller Art hielten auf dem Platz, Pferde schnaubten ungeduldig, Hunde und kleine Kinder tollten herum, Reporter warteten, Fotografen mit ihren großen Stativkameras; es war wie auf dem Rummelplatz. Viele waren nur Samanthas wegen gekommen. Sie war eine Sensation für die Leute. Aus weitem Umkreis waren sie zusammengelaufen, um dieses kuriose Frauenzimmer zu begaffen, das unter lauter Männern Medizin studiert hatte.
Vor der Treppe hielt der Zug an, um den Fotografen Gelegenheit zu geben, ihre Aufnahmen zu machen. Den Kopf unbewegt, das Gesicht nach vorn gerichtet, ließ Samantha den Blick über die Menge schweifen und zuckte plötzlich zusammen. Joshua!
Aber nein – der Mann auf der Treppe drehte sich um, und sie sah, daß es nicht Joshua war; nur ein Mann gleicher Größe und gleicher Haarfarbe. Wie albern von ihr, auch nur einen Moment lang zu glauben, er könnte gekommen sein. Mehr als eineinhalb Jahre waren vergangen, seit sie sich gelobt hatte, ihn nie wiederzusehen.
Samantha straffte die Schultern. Sie hörte, wie das Portal der Kirche geöffnet wurde, und dachte, wenn ich ihn nicht haben kann, will ich überhaupt keinen Mann.
Während sie mit klopfendem Herzen darauf wartete, daß der Zug sich in die Kirche hineinbewegte, dachte sie, daß es so ähnlich sein müsse, wenn man heiratete. Und in gewisser Weise heirate ich ja auch wirklich, sagte sie sich. Als Miss Hargrave gehe ich in die Kirche hinein und als Dr.Hargrave werde ich wieder herauskommen. Dies ist mein Hochzeitstag, einen anderen wird es nicht geben.
Während sie nun dort stand, hatte sie das Gefühl, am Ufer eines weiten, von Nebeln verdunkelten Meeres zu stehen, das zu erreichen sie Hunderte von Meilen gegangen war, nur um zu entdecken, daß sie weiter mußte. Vieles hatte sie erreicht, viele Kämpfe hatte sie gewonnen, viele Hindernisse überwunden, und doch hatte sie noch lange nicht das Ende ihres Wegs erreicht. Wohin würde dieser Weg sie führen?
Wenn nur die Frauen gekommen wären!
Erster Teil
Wohl zum dreißigsten Mal in dieser einen Stunde schrie die Frau laut auf. Ihr Schrei zerriß den feingesponnenen Frieden des Frühlingsabends und drang durch alle Mauern des Hauses. Die Hebamme, eine schwarze Silhouette im trüben Licht, beugte sich über die wimmernde Felicity Hargrave.
»Da stimmt was nicht«, murmelte sie vor sich hin. Sie drückte sich ihre Hand ins Kreuz, richtete sich auf und streckte sich ausgiebig. Dann nahm sie die Flasche mit dem Stärkungsmittel, das sie für Felicity mitgebracht hatte, und nahm einen kräftigen Schluck.
Diese Geburt ließ sich gar nicht gut an, und der Ehemann, der unten saß, war auch keine Hilfe. Man sollte meinen, ein Mann würde seiner leidenden Frau einen Schluck Arznei gönnen, wenn das die Schmerzen linderte. Aber nicht Samuel Hargrave. Der hatte die Anwendung jeglicher Medizin bei der Entbindung ausdrücklich verboten. Jammerschade, wahrhaftig, zumal Mrs.Cadwalladers Köfferchen besser bestückt war als das der meisten Hebammen in London. Sie führte Opium und Belladonna mit sich; Mutterkorn, um die Wehen einzuleiten und die Blutungen zu stillen; ein Sortiment von Kräutern und volkstümlichen Heilmitteln; und dazu eine Flasche starken Wacholderschnaps.
Sie korkte die Flasche wieder zu und stellte sie zu Boden, ehe sie sich wieder vornüber neigte und mit ihren kräftigen Händen über den angeschwollenen Leib strich. »Kommen Sie, Kindchen«, schmeichelte sie. »Kommen Sie, lassen Sie’s los.«
Felicity stöhnte auf und schrie erneut, so markerschütternd, daß Mrs.Cadwallader meinte, man müsse den Schrei bis nach Kent hinunter gehört haben.
Sie richtete sich auf und schnalzte leise mit der Zunge. »Zwanzig Stunden geht das jetzt schon so«, brummte sie. »Und dabei ist es ihr drittes. Da kann was nicht stimmen.« Sie seufzte tief. »Wird wohl nichts anderes übrig bleiben als die Feder.«
Schnaufend hob sie ihr Köfferchen vom Boden auf und nahm eine Feder und ein Fläschchen heraus. Nachdem sie das Fläschchen geöffnet hatte, tauchte sie die Feder ganz in das weiße Niespulver und schob sie dann Felicity tief ins Nasenloch.
»Schön hochziehen, Kindchen. So ist’s gut.«
Mrs.Cadwallader ließ sich zwischen Felicitys gespreizten Beinen wieder auf die Knie sinken und machte sich auf die unvermeidliche Konsequenz ihrer Aktion gefaßt – ein explosives Niesen und die jähe Ausstoßung des Kindes.
Felicity Hargrave stöhnte laut, als die nächste Wehe sich ankündigte. Sie holte einmal tief Atem, hielt einen Moment die Luft an und nieste dann so gewaltsam, daß es ihren Körper in die Höhe schleuderte. Gleichzeitig schoß ein kleines Beinchen aus dem Geburtskanal, den Mrs.Cadwallader eine Stunde zuvor mit Gänseschmalz eingefettet hatte.
Die dicke Hebamme zog die Brauen hoch. »So ist das also. Tja, da kann ich beim besten Willen nichts mehr tun.«
Der Mann und die beiden Jungen saßen mit düsteren Gesichtern um den Eßtisch. Ihre Köpfe waren gesenkt, und die Hände hatten sie vor sich gefaltet. Das Geschirr war abgeräumt; nichts stand auf dem Tisch außer der Öllampe, die die drei Gesichter in gelbliches Licht tauchte. Samuel Hargrave, Felicitys Mann, betete; Matthew, der Sechsjährige, starrte mit kohlschwarzen Augen in das Licht der Lampe; James, der Neunjährige, knetete seine Hände und kaute auf der Unterlippe. Immer wieder sah er seinen Vater hilfesuchend an, doch er bekam keinen Beistand.
Samuel Hargrave, in tiefer Zwiesprache mit Gott, hatte die Hände so fest ineinander gekrampft, daß die Knöchel weiß hervortraten. Seit vier Stunden saß er nun schon so, ohne auch nur ein Anzeichen von Ermüdung zu zeigen. Er war so versunken, daß er nicht einmal Mrs.Cadwallader die Treppe herunterkommen hörte.
»Vater«, flüsterte James, voller Angst beim Anblick des ernsten Gesichts der Hebamme.
Samuel hatte Mühe, aus seiner Versunkenheit herauszufinden. Langsam kehrte sein Blick aus transzendenten Bereichen zurück und richtete sich auf die Hebamme.
»Wir schaffen’s nicht, Sir. Das Kind hat Steißlage, noch dazu die schlimmste. Ein Bein unten, das andere oben beim Kopf.«
»Können Sie das Kind nicht drehen?«
»In dem Fall nicht, Sir. Da muß ich mit der ganzen Hand rauf, und das schaff’ ich nicht, weil Ihre arme Frau sich so verkrampft. Sie braucht einen richtigen Arzt, Sir.«
»Nein«, entgegnete Samuel so rasch und entschieden, daß die Hebamme ihn erschreckt ansah. »Ich erlaube nicht, daß ein Mann meine Frau in ihrer Scham sieht.«
Mrs.Cadwallader fixierte ihn mit scharfem Blick. »Wenn Sie verzeihen, Sir, es ist keine Sünde, Ihre Frau von einem Arzt anschauen zu lassen. Das sind anständige Herren, Sir, die interessieren sich überhaupt nicht für so was, wenn Sie verstehen, was ich meine –«
»Kein Arzt, Mrs.Cadwallader.«
Die Hebamme warf sich in die Brust. »Nehmen Sie’s mir nicht übel, Sir, aber zu langem Hin und Her haben wir jetzt keine Zeit. Ihre Frau und das Baby sind in großer Gefahr. Wir müssen uns beeilen, Mr.Hargrave.«
Samuel stand von seinem Stuhl auf. Seine große Gestalt warf lange Schatten. Matthew und James starrten stumm zu ihm auf. Sein Rükken, seit langem schon gekrümmt von der täglichen Arbeit am Schreibpult auf dem Standesamt, wirkte an diesem Abend noch runder, wie von einer schweren Last gebeugt. Samuel zog ein Taschentuch heraus und tupfte sich die Stirn.
Mrs.Cadwallader wartete ungeduldig. Sie mochte Samuel Hargrave nicht – kaum jemand mochte ihn; seine strenge Methodistenfrömmigkeit schreckte fast jeden ab. Die Hebamme war nur Felicitys wegen gekommen.
Samuel sprach, als stünde er auf der Kanzel. »Mrs.Cadwallader, es wäre eine tödliche Demütigung für meine Frau, wenn ein Mann ihr christliches Schamgefühl verletzte. Es ist ebensosehr ihr Wunsch wie der meine –«
»Dann fragen Sie sie doch jetzt mal, Mr.Hargrave, ob sie nicht einen Arzt haben will!«
Samuel sandte einen gequälten Blick zur Zimmerdecke und zuckte zusammen, als von oben ein neuerlicher Schmerzensschrei erklang.
Der neunjährige James starrte mit klopfendem Herzen zu seinem ehrfurchtgebietenden Vater auf, der selbst zu Hause noch den schwarzen Gehrock und das weiße Hemd mit der gestärkten weißen Halsbinde trug. Nie zuvor hatte er seinen Vater unschlüssig gesehen.
Während die Hebamme einen Schritt näher trat und sich breitbeinig, die Hände in die ausladenden Hüften gestemmt, vor Samuel Hargrave hinstellte, glitt James lautlos und unbemerkt von seinem Stuhl.
»Sie können’s mir glauben, Mr.Hargrave. Ihre Frau braucht einen Arzt. Ich weiß einen guten, anständigen Mann in der Tottenham Court Road gleich bei der Great Russell Street. Dr.Stone ist ein Ehrenmann, glauben Sie mir. Ich hab’ oft genug gesehen, wie er –«
»Nein, Mrs.Cadwallader.«
Während die Hebamme Samuel Hargrave mit mühsam unterdrückter Empörung anstarrte, schlich sich James leise in den dunklen Flur hinaus.
»Wirklich, Mr.Hargrave, Ihre Frau braucht Hilfe.«
Samuel senkte den Kopf und funkelte die Hebamme so zornig an, daß diese zurückwich. »Dann würde ich vorschlagen, Mrs.Cadwallader, daß Sie wieder auf Ihren Posten gehen und ihr helfen.« Er wandte sich abrupt ab und zog sich seinen Stuhl heran. »Und ich werde beten.«
Mrs.Cadwallader stapfte wütend die Treppe wieder hinauf, und Samuel senkte den Kopf über seine gefalteten Hände. Niemand merkte, daß James verschwunden war.
Als einige Zeit später die Haustür leise geöffnet wurde, und von einem Hauch feuchter Nachtluft begleitet, der kleine James in den Flur schlüpfte, betete Samuel immer noch. James blieb stocksteif stehen und betrachtete ängstlich das schweißnasse, in sich gekehrte Gesicht seines Vaters.
»Vater«, flüsterte er schließlich.
Samuel hob die schweren Lider und zwinkerte mehrmals, ehe er den Blick auf das ungewöhnlich bleiche Gesicht seines Sohnes richtete. James keuchte, denn er war den ganzen Weg gerannt.
»Vater, ich hab’ Hilfe geholt.«
Samuel zwinkerte wieder. »Was hast du gesagt, James?«
»Ich habe den Doktor geholt. Er kommt gleich.«
Als Samuel begriff, was der Junge getan hatte, vergaß er seine ganze christliche Frömmigkeit und geriet in unfaßbare Wut. Langsam stand er von seinem Stuhl auf.
»Du hast einen Arzt geholt?«
James wich zurück. »Ja, Vater. Du hast doch nicht gewußt, was du tun sollst, und –«
Mit einem Riesensprung kam Samuel hinter dem Tisch hervor. James sah noch die große Hand, die zum Schlag ausholte, dann klatschte ihm diese Hand mit solcher Wucht ins Gesicht, daß ihm Hören und Sehen verging. Er schrie auf, mehr vor Schreck als vor Schmerz, und drückte sofort eine Hand auf sein linkes Ohr. Samuel packte ihn beim Arm, riß die schützende Hand weg und verabreichte ihm noch einen Schlag auf die Kopfseite. Vergeblich versuchte James, seinem Vater zu entkommen, während dieser immer wieder auf ihn einschlug, aber er wurde erst erlöst, als von der Tür her jemand sagte: »Bin ich hier richtig bei der Familie Hargrave?«
James hob den schmerzenden Kopf und sah durch Tränen den Arzt, Dr.Stone, im Flur stehen.
»Wir brauchen keinen Arzt, Sir«, erklärte Samuel kurz.
Die scharfen Augen hinter den Brillengläsern blitzten, als Dr.Stone den Blick auf James’ blutendes Ohr richtete. »Mir scheint, ich bin genau im rechten Moment gekommen.«
Samuel sah zu seinem Sohn hinunter und schien einen Moment lang verwirrt. Dann ließ er den Jungen los, der augenblicklich unter den Tisch kroch, und richtete sich kerzengerade auf.
»Das ist Frauensache, Sir. Ich dulde keinen Mann am Wochenbett.«
Ohne auf eine Aufforderung zu warten, trat Dr.Stone in den Wohnraum. Er war ein kleiner, drahtiger Mann von gut sechzig Jahren, mit einer langen, scharfen Nase und einem buschigen Schnauzbart. Er schlug seinen Zylinder gegen seinen Oberschenkel, um die Feuchtigkeit abzuklopfen und sagte: »Der Junge hat mir gesagt, das Kind hätte Steißlage und Mrs.Cadwallader könne nichts tun.«
Die Hebamme, die James’ Geschrei gehört hatte, stand bereits am Fuß der Treppe.
»Gut, daß Sie gekommen sind, Dr.Stone«, sagte sie. »Sie liegt jetzt schon seit fast vierundzwanzig Stunden in den Wehen, und es ist ihr drittes Kind. Das ist nicht normal. Es ist eine Steißlage, und außerdem hat das Kind die Nabelschnur um den Hals. Ich kann’s nicht drehen, weil die arme Frau sich sofort verkrampft, wenn ich zupacken will.«
Der Arzt nickte. »Ich will sehen, was ich tun kann.«
»Einen Augenblick, Sir«, rief Samuel. »Ich möchte nicht, daß Sie meine Frau behandeln.«
»Dann stirbt sie«, sagte die Hebamme.
Die Stimme des Arztes war freundlich. »Ich habe schon vielen Kindern auf die Welt geholfen, Mr.Hargrave. Ich respektiere Ihre Empfindungen, aber –«
»Wir bauen auf den Herrn. Er wird uns helfen.«
»Ich diene dem Herrn, Mr.Hargrave. Hat nicht Jesus die Kranken und Siechen geheilt?«
Samuels Gesicht nahm einen gehetzten Ausdruck an. Das Wimmern und Schreien seiner Frau zerriß ihm fast das Herz.
»Vielleicht«, sagte der Arzt tröstend, »sind Ihre Gebete durch mich erhört worden. Vielleicht hat der Herr mich zu Ihnen gesandt. Lassen Sie mich wenigstens nach Ihrer Frau sehen.«
Samuel holte zitternd Atem. »Also gut«, sagte er widerstrebend. »Mrs.Cadwallader, bitte sehen Sie zu –«
»Aber ja, Mr.Hargrave. Ich bleibe bei Ihrer Frau, keine Sorge.«
Dr.Stone legte Samuel die Hand auf die Schulter. »Es wird schon gutgehen, glauben Sie mir. Heute, wo wir das neue Betäubungsmittel haben, geht es immer gut.« Er wandte sich der Hebamme zu. »Also, Mrs.Cadwallader, gehen wir hinauf.«
Samuels Gesicht verdunkelte sich. »Was sagten Sie da? Ein neues Betäubungsmittel?«
Dr.Stone hob sein schwarzes Lederköfferchen hoch. »Ich gehe mit der Zeit, Mr.Hargrave. Ich verwende Chloroform. Das wird Ihrer Frau allen Schmerz ersparen.«
»Was!« Samuel trat einen Schritt zurück.
Der Arzt erschrak. Er hatte nicht geglaubt, daß es noch Leute dieses Schlags gab, seit selbst die Königin sieben Jahre zuvor bei der Geburt ihres Sohnes sich hatte Chloroform geben lassen.
»Sie brauchen nichts zu fürchten, Mr.Hargrave. Ich gebe das Chloroform, Ihre Frau wird einschlafen und sich entspannen, und dann kann ich das Kind ohne Mühe drehen. So wird das heute überall gemacht.«
»Aber nicht bei meiner Frau!«
»Es ist die einzige Möglichkeit, Mr.Hargrave. Sonst verlieren Sie beide, Ihre Frau und Ihr Kind.«
Samuels Stimme zitterte. »Der Geburtsschmerz ist uns vom Herrn auferlegt. Ihn zu verhindern ist Gotteslästerung, und Ihr Schlafgas, Doktor, ist Machwerk des Teufels. Der Geburtsschmerz ist die Strafe Gottes an der Frau für die Sünde, die sie im Garten Eden begangen hat, und keine gottesfürchtige Frau würde sich dieser gerechten Strafe entziehen, die alle Frauen auf sich genommen haben, seit Eva Adam mit der verbotenen Frucht verlockte.« Er hob einen zitternden Finger himmelwärts. »›Und zum Weibe sprach er: Unter Schmerzen sollst du deine Kinder gebären.‹«
Dr.Stone bemühte sich, seine Ungeduld zu verbergen. Er hatte geglaubt, dieses Argument, das einst wie ein rasendes Feuer London überzogen hatte, sei tot und begraben. Noch vor zehn Jahren hatte es unter den Ärzten heiße Debatten darüber gegeben, ob man das Chloroform bei Entbindungen verwenden dürfe. Eine Zeitlang hatte es ausgesehen, als würde das Alte Testament den Sieg davontragen; dann jedoch hatte John Snow Königin Victoria unter Anwendung von Chloroform von ihrem Sohn Leopold entbunden, und es war ein allgemeiner Sinneswandel eingetreten. Dieser Mann allerdings schien ihn nicht mitgemacht zu haben.
»›Da ließ Gott der Herr‹«, sagte Dr.Stone ruhig, »›einen tiefen Schlaf fallen auf den Menschen, und er schlief ein. Und er nahm eine seiner Rippen und schloß die Stelle mit Fleisch.‹«
»Wie können Sie es wagen, in meinem Haus derartige Gottlosigkeiten zu äußern, Doktor! Jehova zum stümperhaften Chirurgen zu degradieren, der Chlorofom braucht, um einen Menschen in Schlaf zu versenken. Der Vergleich ist absurd. Außerdem vergessen Sie, Doktor, daß die wunderbare Erschaffung der Frau aus Adams Rippe geschah, noch ehe Gott den Schmerz in die Welt gebracht hatte; in der Zeit der reinen Unschuld.«
Wieder zerriß ein markerschüttender Schrei aus dem oberen Stockwerk die Stille der Nacht.
»Die Schreie einer Gebärenden«, fuhr Samuel bitterernst fort, »sind Musik in den Ohren des Herrn. Sie erfüllen sein Herz mit Freude. Sie sind die Schreie des Lebens und des christlichen Willens zum Leben. Mein Kind wird nicht in dieses Leben eintreten, während seine Mutter schläft und sich der heiligen Handlung, die sie vollzogen hat, nicht bewußt ist. Damit ist die Sache für mich erledigt, Dr.Stone.«
Neville Stone betrachtete einen Moment lang den Mann, der ihm gegenüberstand, taxierte ihn und kam zu dem Schluß, daß es ihm niemals gelingen würde, die versteinerten Überzeugungen dieses Erzmethodisten ins Wanken zu bringen. »Nun gut«, sagte er darum nur und wandte sich mit brüsker Bewegung zur Treppe.
Was er oben sah, ließ ihn einen Augenblick innehalten: Keuchend vor Erschöpfung und stöhnend vor Schmerz lag die Frau auf dem Bett, der gewölbte Leib in zuckender Bewegung, die Beine blutverschmiert. Hastig zog Dr.Stone seinen Gehrock aus und krempelte die Hemdsärmel auf.
Nachdem er sich zwischen die Beine der Gebärenden aufs Bett gekniet hatte, schob er behutsam zwei Finger in die Vagina und folgte mit ihnen dem Verlauf des dünnen Beinchens, das aus dem Gebärmutterhals herabhing. Nach einer raschen Untersuchung setzte er sich zurück. »Es ist so, wie Sie gesagt haben, Mrs.Cadwallader.«
Neville Stone öffnete sein Köfferchen, nahm die Instrumente heraus und legte sie aufs Bett: die Geburtszange, die dazu vorgesehen war, den Kopf des Kindes zu umfassen; ein lange, gebogene Spritze aus Metall, die er von Mrs.Cadwallader mit Wasser füllen ließ, für den Fall, daß er gezwungen sein sollte, das Kind in utero zu taufen; mehrere scharfe Skalpelle falls er – was Gott verhüten möge! – gezwungen sein sollte, einen Kaiserschnitt durchzuführen; und schließlich ein hakenförmiges Instrument, das dazu bestimmt war, den Fötus im Mutterleib zu töten und aus dem Geburtskanal zu entfernen.
Vom keuchenden Atmen der Gebärenden begleitet, arbeitete Neville Stone rasch und konzentriert. Seine Besorgnis und sein Unbehagen vertieften sich. Schon die erste Untersuchung hatte ihm gezeigt, daß das Kind nicht ohne weiteres gedreht werden konnte. Da Samuel Hargrave jedoch die Verwendung von Chloroform ausdrücklich verboten hatte, sah er sich nun vor eine Entscheidung gestellt, vor der er zurückschreckte. Es gab nur zwei Möglichkeiten: Mit einem Kaiserschnitt konnte er das Kind retten, doch die Mutter würde sterben; wollte er die Mutter retten, so mußte er das Kind töten.
Er spürte die ängstliche Besorgnis der dicken Hebamme, die erregt atmend neben ihm stand. Er hörte die röchelnden Atemstöße der Gebärenden und fühlte ihren flatternden Puls. Er dachte an den Mann, der unten saß und betete, und er dachte an seine eigene Schwachheit und Vergänglichkeit.
Sein Blick wanderte zu dem schwarzen Köfferchen.
Vor zehn Jahren hätte es keine Möglichkeit gegeben, dem Konflikt auszuweichen; da hätte er einen der gleichermaßen schrecklichen Wege einschlagen müssen und hätte es mit der stoischen Ruhe getan, die er sich in langen Jahren medizinischer Praxis angeeignet hatte. Unzählige Frauen waren im Kindbett gestorben, ehe es das Chloroform gegeben hatte. Jetzt aber, an diesem Tag, gab es eine einfache, lebensrettende Lösung, die ihn von der bedrückenden Last der grausamen Entscheidung befreien konnte. Wenige Tropfen des Wundermittels genügten, und beide, Mutter wie Kind, konnten leben …
Kurzentschlossen griff Neville Stone in sein Köfferchen und entnahm ihm eine Flasche. Während sich die Hebamme näher zu ihm neigte, zog er ein Taschentuch heraus und rollte es zu Trichterform.
»Sie nehmen das Chloroform, Sir?« flüsterte die Hebamme, als er die Flasche aufschraubte.
Er nickte entschlossen. Dann stieg er vom Bett und trat neben die stöhnende Frau. Behutsam legte er das breite Ende des trichterförmig gerollten Taschentuchs über Mund und Nase seiner Patientin und gab einige Tropfen Chloroform darauf.
»Und wie wirkt das?« flüsterte die Hebamme fasziniert, während ein ekelhaft süßlicher Geruch sich im Zimmer ausbreitete.
»Die Flüssigkeit verdampft schon bei Körpertemperatur, und wenn Mrs.Hargrave die Dämpfe einatmet, fällt sie in einen tiefen Schlaf.«
»Und wie nennt man so was?«
Neville Stones Stimme war sanft und beruhigend. Seine Worte galten mehr der Beschwichtigung der Patientin als der Belehrung der Hebamme.
»Vor vier Jahren lieferte uns ein Amerikaner namens Oliver Wendell Holmes das Wort, das wir brauchten, um diesen Tiefschlaf zu beschreiben. Er nannte es Anästhesie.«
»Ach, ein Yankee?« Mrs.Cadwallader schniefte mit einiger Geringschätzung. »Also, ich weiß nicht, Sir –«
»Pst!« Er richtete sich auf, ohne das Taschentuch von Felicitys Gesicht zu nehmen. »Sie schläft jetzt ein. Sobald sie tief schläft, hole ich das Kind.«
Der Schweiß fiel in schweren Tropfen von seiner Stirn auf die Tischplatte; seine Hände waren so fest ineinander gekrampft, daß sie zitterten. Mit aller Kraft und Konzentration, die ihm zu Gebote standen, mühte er sich, alles körperliche Empfinden hinter sich zu lassen, um einzig als geistiges Wesen zu existieren. Er spürte nicht das harte Holz des Stuhls auf dem er saß; er dachte nicht an den kleinen Jungen, der unter dem Tisch hockte und die Hand auf sein blutendes Ohr drückte; er nahm nicht einmal wahr, daß oben im Schlafzimmer plötzlich alle Geräusche verstummt waren. Er konzentrierte sich ausschließlich auf die Zwiesprache mit dem Herrn.
Doch Samuels Konzentration war nicht so stark wie sein Wille. Immer wieder schweiften seine Gedanken vom Gebet ab: wie schwierig würde es sein, noch ein drittes Kind durchzubringen; wo sollte er eine vertrauenswürdige Haushälterin finden, die während Felicitys Rekonvaleszenz die Familie versorgen konnte; woher sollte er das Geld für die Grundsteuer auf das Haus nehmen, die demnächst fällig war.
Er schluckte krampfhaft. Das Undenkbare: Wenn Felicity sterben sollte …
Er schluchzte laut auf und brach plötzlich über dem Tisch zusammen. Die Arme seitlich ausgestreckt wie der Gekreuzigte, eine Wange auf die Tischplatte gedrückt, die Augen geschlossen, blieb er liegen. Seine Gedanken schweiften in alle Richtungen. Er ließ sie fliehen, zu schwach, sie weiter in Fesseln zu halten. Sie flogen, kaum verwunderlich, direkt zum Ursprung seiner Qual. Er hatte sich dagegen gewehrt, der unerträglichen Wahrheit ins Auge zu sehen. Er hatte sich, das war ihm wohl bewußt, weniger um Felicitys Rettung als um seines eigenen Seelenheils willen ins Gebet gestürzt. Das, was er jetzt klar und deutlich sah, war die nackte, unausweichliche Tatsache, daß er, Samuel Hargrave, allein die Schuld trug an dieser Unglücksnacht.
Er versuchte jetzt nicht mehr, vor der Wahrheit davonzulaufen. Er stellte sich der Erinnerung an jene Nacht vor neun Monaten, durch die er sich und Felicity zu dieser heutigen Nacht, die die Hölle war, verdammt hatte.
Niemals hatte Samuel in den Jahren, seit er ein Mann geworden war, Lust und Begierde nachgegeben. Als Junge hatte ihm sein erster und einziger Versuch der Selbstbefriedigung eine äußerst schmerzhafte Tracht Prügel von seinem Vater eingetragen. Als Halbwüchsiger und junger Angestellter auf dem Standesamt hatte er unwillkürlichem Erguß während der Nacht vorgebeugt, indem er allabendlich seinen Penis abgebunden hatte; wenn sein lüsternes Fleisch ihn dann des Nachts verraten wollte, weckte ihn der Schmerz der eng gebundenen Schnur, die in sein Glied einschnitt, und er konnte sich mit kalten Güssen ernüchtern.
Die Hochzeitsnacht mit Felicity hatte ihm höchstes Maß an Selbstkontrolle abverlangt, doch er hatte auch diese Prüfung bestanden. Er hatte seinen ehelichen Pflichten schnell und automatisch Genüge geleistet. Nicht einen einzigen Moment lang hatte er die Freuden des Fleisches genossen, Freude allein in dem Wissen gefunden, daß durch diesen Akt ein neuer Mensch geschaffen wurde, dem Herrn zu dienen. Felicity, die Fügsame, war ihm – Gott sei gelobt – niemals Versuchung gewesen. Nur zweimal hatten sie den Akt vollzogen, und beidemale war sie danach guter Hoffnung gewesen. So einfach erschien Samuel die Enthaltsamkeit, daß er die fleischlichen Begierden anderer nicht verstehen und nicht tolerieren konnte.
Doch nach neun Jahren gottesfürchtigen und keuschen ehelichen Lebens war die Katastrophe hereingebrochen.
Felicity veränderte sich besorgniserregend. Sie wurde teilnahmslos, entwickelte einen Hang, vor sich hin zu träumen, vernachlässigte ihre Pflichten. Nachts warf sie sich rastlos im Bett hin und her und weckte Samuel mehr als einmal mit ihrem Seufzen und Stöhnen. Nach einer Weile entschloß er sich, die Kosten auf sich zu nehmen und einen Arzt zu konsultieren. Der Spezialist in der Harley Street jedoch schüttelte nur ratlos den Kopf, unfähig, für Felicitys Mattigkeit eine Erklärung zu finden.
Wenig später riß ihn eines Nachts unerklärliche Erregung aus dem Schlaf. Als er die Augen öffnete, sah er über sich das wie trunken lächelnde Gesicht Felicitys. Ihr Atem roch nach Laudanum. Er wollte etwas sagen, doch sie legte ihm die Fingerspitzen auf die Lippen, während sie mit der anderen Hand seine nackte Brust streichelte. Samuel wehrte sich gegen die Versuchung, schüttelte Felicity, um sie wieder zu Verstand zu bringen, doch die berauschende Kraft des Opiumtrunks hatte von ihr Besitz ergriffen, und der betörende Anblick ihres weißen Busens, auf den dunkel die schwarzen Locken herabfielen, raubte ihm die Sinne.
An das, was dann geschah, erinnerte sich Samuel nur bruchstückhaft: die Feuchtigkeit ihrer weichen Lippen, der süße Geschmack ihres Mundes, die Hitze ihres anschmiegsamen Körpers, die erregenden Berührungen ihrer Hände, dann ein schwarzer Strudel der Leidenschaft und der Ekstase.
Am nächsten Morgen war Felicity wieder die, die er neun Jahre gekannt hatte. Es war, als sei der Teufel ausgetrieben worden. Ruhig und zufrieden ging sie ihrer täglichen Arbeit nach, widmete sich geduldig ihren beiden kleinen Söhnen, saß am Abend züchtig mit ihrem Gebetbuch am Kamin. Doch Samuel hatte sich verändert. Entsetzt über seine Schwachheit, sich mit dem unglückseligen Adam vergleichend, der unwillentlich von Eva zur Sünde verführt worden war, suchte er Rettung in der Hingabe an seinen Glauben. Jeden Abend ging er zu den Versammlungen, hielt häufig auch Predigten. Er begann, Traktate zu schreiben und verteilte sie unter die Armen: Abhandlungen über die Übel des Alkohols, des Glücksspiels und der Fleischeslust. Er wurde seinen Söhnen gegenüber unerbittlich streng in dem Bemühen, sie gegen alle teuflische Versuchung zu stählen. Als Felicity ihm einige Wochen nach jener gottlosen Nacht eröffnete, daß sie guter Hoffnung sei, war Samuel bis ins Innerste entsetzt.
Jetzt also strafte ihn der Herr. Es hätte eine leichte Geburt werden müssen; nach dem ersten Kind waren weitere Geburten im allgemeinen kaum mehr als eine Unbequemlichkeit. Dieser Alptraum ließ sich nur mit der rächenden Hand Gottes erklären. In jener Nacht vor neun Monaten hatte der Herr seinen Diener Samuel Hargrave einer Prüfung unterzogen, an der dieser jämmerlich gescheitert war. Nun folgte die Strafe.
Schwerfällig und mit unendlicher Mühe richtete sich Samuel vom Tisch auf und rieb sich das tränennasse Gesicht. Und da wurde ihm plötzlich bewußt, daß es im Haus völlig still geworden war.
Mit ungläubigem Staunen hatte die Hebamme Neville Stone bei seiner Arbeit zugesehen. Ohne Mühe hatte er, nachdem Felicity sich endlich entspannt, die Vagina sich geöffnet hatte, das Kind gedreht und ans Licht der Welt befördert. Nun lag das Neugeborene rot und feucht zwischen Felicitys Beinen.
Seltsamerweise schrie das Kind nicht.
Nachdem Stone die Nabelschnur abgeklemmt und durchtrennt hatte, hob die Hebamme das Kind vom Bett. Gerade, als sie sich abwenden wollte, hörte sie die erstickte Stimme des Arztes. »Oh, mein Gott!«
Sie riß entsetzt die Augen auf, als sie das Blut sah, das hellrot und klar aus dem Schoß der Bewußtlosen strömte.
Stone griff hastig zu seinem Köfferchen und kramte eine Klemme heraus, während er mit der anderen Hand ein Tuch in den blutenden Schoß stopfte. »Es ist der Mutterkuchen, Mrs.Cadwallader. Er liegt falsch.«
»Gott im Himmel!« Unwillkürlich drückte die Hebamme das Kind wie schützend an die Brust. »Dann verblutet sie uns.«
»Nicht, wenn’s nach mir geht.« Neville Stone schob eine Hand in den Geburtskanal und drückte die andere in den Unterleib seiner Patientin, um die Gebärmutter zu massieren.
Der Klang schwerer Schritte auf der Treppe riß Samuel aus dem Strudel seiner wirbelnden Gedanken. Tief verzweifelt stand er auf.
Neville Stone trat in die Stube und blieb vor Samuel stehen. »Wir haben das Menschenmögliche getan.«
Das Kind ist tot, schoß es Samuel durch den Kopf.
»Es tut mir leid, Mr.Hargrave, aber Ihre Frau war nicht zu retten.«
Samuel starrte den Arzt in dumpfem Unverständnis an, während dieser weitersprach. »Der Mutterkuchen befand sich in unnatürlicher Lage und dadurch wurden starke Blutungen ausgelöst. Aber –« Er legte Samuel die Hand auf den Arm – »das Kind konnten wir retten.«
Samuel zwinkerte wie ein langsam Erwachender. »Meine Felicity – ist tot?«
»Sehen Sie es nicht als Unglück, Mr.Hargrave. Der Tod Ihrer Frau war nicht umsonst. Sie haben immer noch das Kind.«
Mit heftiger Bewegung schlug Samuel die Hand des Arztes von seinem Arm und rannte an ihm vorbei die Treppe hinauf. Im Schlafzimmer fiel er neben Felicitys Bett auf die Knie.
Sie sah aus, als schliefe sie nur, das Gesicht still und unschuldig wie das eines Engels. Dunkel lagen die Wimpern auf den schönen grauen Augen, die sich für immer geschlossen hatten. Das Weiß des Kissens leuchtete wie ein Heiligenschein um das rabenschwarze Haar. Sie sah so friedlich aus und so unglaublich jung.
Samuel stöhnte auf vor Qual und hob hastig die Hand, um sich die Tränen aus den Augen zu wischen. Um wieder Fassung zu gewinnen, holte er tief Atem und fühlte sich einen Moment lang wie berauscht. Dann nahm er einen merkwürdigen Geruch im Zimmer wahr, den er nicht identifizieren konnte. Mit gerunzelter Stirn sah er zum Nachttisch und versuchte im dünnen Licht der Öllampe die Gegenstände zu erkennen, die dort lagen. Plötzlich sah er sie ganz klar; eine Flasche mit einer Flüssigkeit und ein Taschentuch.
Mit einem Sprung war er auf den Beinen. Er zitterte am ganzen Leib.
»Es war die einzige Möglichkeit, das Kind zu retten, Mr.Hargrave«, sagte Neville Stone hastig. »Hätten wir nicht das Chloroform gehabt, so hätten beide sterben müssen. Der Trost des Kindes wäre Ihnen versagt geblieben.«
»Sie haben sie getötet!«
»Das habe ich bestimmt nicht getan, Sir. Ihre Frau war nicht zu retten. Und ohne das Betäubungsmittel müßten Sie jetzt auch das Kind zu Grabe tragen.«
Samuels Gesicht verzerrte sich. Röte überflutete sein Gesicht bis zum Haaransatz, und die Venen traten dick aufgeschwollen hervor. Neville Stone erschrak; Samuel Hargrave sah aus, als stünde er kurz vor einem Schlaganfall. Aber dann verblich die Röte, das Zittern hörte auf, Samuel Hargrave schien in sich zusammenzusinken.
»Nein«, sagte er tonlos, »es ist nicht Ihre Schuld, Doktor. Ich allein trage die Schuld am Tod meiner Frau. Sie, Doktor, haben sich nur eines Verstoßes gegen das Gebot des Herrn schuldig gemacht. Sie haben dem Willen Gottes getrotzt. Beide hätten sie sterben sollen. Das hatte Er mir als Strafe zugemessen. Das Kind ist die Ausgeburt meiner Sündhaftigkeit. Sie, Doktor, haben einem Kind das Leben gerettet, das kein Recht hat zu leben.«
»Einen Augenblick, Sir!« begann der Arzt heftig, doch die Hebamme brachte ihn mit einer warnenden Geste zum Schweigen.
»Ohne Ihr eigenmächtiges Eingreifen, Doktor, wären meine Sünden getilgt gewesen. So aber wird mich, dank Ihrer Eigenmächtigkeit und Ihrem teuflischen Chloroform, für immer die lebendige Erinnerung an jene Nacht begleiten …«
Einen Moment lang starrte Neville Stone den Mann entsetzt an, dann wandte er sich dem kleinen Bündel zu, das die Hebamme in den Armen hielt. Ahnte das Kind, in was für eine Unglückswelt es gekommen war? War das der Grund, weshalb es bis jetzt noch nicht einen Laut von sich gegeben hatte?
»Verzeihen Sie, Mr.Hargrave«, sagte der Arzt ruhiger, »aber wir müssen dem Kind noch seinen Namen geben. Es war der letzte Wunsch Ihrer Frau, daß das Kind Ihren Namen erhält. Meine Pflicht als Arzt und als Mensch gebietet mir, dafür zu sorgen, daß ihr Wunsch erfüllt wird, ehe ich heute nacht dieses Haus verlasse.«
Samuel wandte sich ab und blickte auf das stille weiße Gesicht seiner toten Frau.
»Gut, dann soll das Kind Samuel heißen.«
»Aber genau da liegt das Problem, Mr.Hargrave. Ihre Frau glaubte, das Kind wäre ein Junge.«
Als Samuel Hargrave sich wieder umdrehte, sah Neville Stone mit Schrecken den Haß und den Abscheu in seinen dunklen Augen. Aber wem galten diese Gefühle?
»Dann wird sie eben meinen Namen tragen, Doktor.«
»Das kann nicht Ihr Ernst sein, Sir!«
Mit einem Aufschrei fuhr Samuel herum und fiel wieder neben dem Bett auf die Knie. Er warf die Arme über Felicitys Oberkörper und drückte seinen Kopf an ihre Brust. Sein gekrümmter Rücken zuckte in lautlosem Schluchzen.
Der Arzt und die Hebamme zogen sich in eine dunkle Ecke des Zimmers zurück. »Das arme kleine Wurm«, murmelte die Hebamme. »Erst verliert es die Mutter und nun auch noch den Vater.«
»Er wird sich schon wieder fassen. Ich habe schon oft in der Stunde des Schmerzes Verwünschungen gehört, die bald danach vergessen waren. Unsere Pflicht ist es jetzt, dem armen Mann zu helfen, den letzten Wunsch seiner Frau zu erfüllen.«
»Aber was kann man denn tun, Sir? Der Mann ist besinnungslos vor Schmerz, und wer weiß, wie lang es dauert, ehe er wieder zu Verstand kommt. Und inzwischen hat das arme kleine Seelchen nicht mal einen Namen.«
Neville Stone zupfte geistesabwesend an seinem weißen Schnauzbart, während er den schluchzenden Mann betrachtete. Dann war ihm, wie durch eine Erleuchtung, plötzlich klar, was er zu tun hatte.
»Wir werden unsere Christenpflicht tun, Mrs.Cadwallader. Bitte holen Sie mir frisches Wasser, damit ich das Kind taufen kann.«
Er ging aus dem Zimmer, die Treppe hinunter in die Wohnstube, wo die zwei vergessenen kleinen Jungen warteten. Der eine stand mit großen Augen beim Kamin, in dem das Feuer fast erloschen war, der andere kauerte noch immer wie ein geschlagener Hund unter dem Tisch.
Neville Stone nahm die Familienbibel, die auf dem Tisch lag, und schlug sie auf. Als er die mit goldenen Schnörkeln verzierte Seite gefunden hatte, die das Familienregister enthielt, griff er zur Feder. Unter die Eintragung vom 14. Juni 1854, die die Geburt Matthew Christopher Hargraves bezeugte, schrieb er: ›Geboren am 4. Mai 1860, Samantha Hargrave, Tochter des Samuel Hargrave und seiner seligen Frau Felicity (Am selben Tag verschieden) …‹
Als der vierte Geburtstag der kleinen Samantha herankam, hatte sie noch immer kein einziges Wort gesprochen.
Sie war in ein düsteres Haus ohne Fröhlichkeit und ohne Lachen hineingeboren worden. Einzige Begleiter ihrer Kindheit waren der strenge, immer schwarz gekleidete Vater, der morgens in aller Frühe aus dem Haus ging und abends erst spät heimkehrte, ihre beiden geduckten, immer mürrischen Brüder und eine griesgrämige Haushälterin. Der war das kleine Mädchen nicht geheuer, das dauernd irgendwo in einer schattigen Ecke zu stehen schien und sie mit großen Katzenaugen anstarrte. Sie hielt das Kind für zurückgeblieben und meinte, es verdiene nicht die gleiche Fürsorge wie ein normales Mädchen. Um es aus dem Weg zu haben, pflegte sie es auf den Treppenabsatz vor dem Haus zu setzen und kümmerte sich nicht weiter um das Kind.
Der St. Agnes Crescent war eine häßliche, halbmondförmig gebogene Straße zwischen Charing Cross und High Holborn. Als Samuel Hargrave sich vor Jahren mit seiner jungen Frau hier niedergelassen hatte, war es ein anständiges Viertel der unteren Mittelklasse gewesen, mit kleinen Reihenhäusern, in denen fleißige und rechtschaffene Protestanten wie die Hargraves wohnten. Die Einwandererwellen aus dem hungernden Irland jedoch, die später ganz London überschwemmten, hatten bewirkt, daß sich die Einwohnerzahl im St. Agnes Crescent innerhalb weniger Jahre verfünffacht hatten. Die Folge war, daß aus dem adretten Kleinbürgerviertel schnell ein von Armen und Arbeitslosen wimmelndes Elendsquartier geworden war.
Zu beiden Enden der Straße standen Gasthäuser, das King’s Coach und das Iron Lion. Im Erkerfenster des den Hargraves benachbarten Hauses hing ein Schild mit der Aufschrift ›Wäschemangel – Zwei Pence pro Stück‹, aber die Leute, denen die Mangel gehört hatte, waren längst weggezogen, und niemand hatte sich die Mühe gemacht, das Schild aus dem Fenster zu entfernen. Auf der anderen Straßenseite war eine verräucherte Imbißstube, wo sich Erdarbeiter und Prostituierte herumtrieben, und straßauf, straßab wimmelte es zwischen Gemüsekarren und fliegenden Händlern von Bettlern und Horden von Gassenjungen.
Die Haushälterin, deren liebste Tageszeit der späte Nachmittag war, wenn sie mit einer Waschfrau aus der Nachbarschaft ihren Tee trank, pflegte sich in vorwurfsvollem Ton darüber zu wundern, daß Mr.Hargrave, der doch beim Standesamt ein anständiges Gehalt bekam, in diesem heruntergekommenen Viertel blieb, anstatt wie viele seiner alten Nachbarn das Haus zu verkaufen und in eines der hübschen neuen Häuser in der Brixton Road zu ziehen. Das war nur eine Klage, die sie zu führen hatte; die zweite bezog sich auf das Kind.
»Halten Sie die Kleine sauber, sagt er zu mir«, berichtete sie eines Tages bei Tee und Butterbrötchen. »Ausgerechnet er, der er sich benimmt, als wär’ sie überhaupt nicht vorhanden. Als ich vor fast vier Jahren bei ihm anfing, sagte er, ihm käm’s vor allem auf zwei Dinge an: daß ich dafür sorge, daß die Kleine ruhig ist und ihm nicht in die Quere kommt, und daß ich sie sauberhalte. Ruhig halten kann ich sie leicht; sie redet ja sowieso keinen Ton. Die ist nicht ganz richtig im Kopf, wenn Sie mich fragen. Ein richtiges unheimliches kleines Ding ist die. Schleicht dauernd irgendwo im Dunklen rum, ohne daß man’s merkt. Soundsooft ist mir’s passiert, daß ich mich ganz ahnungslos umgedreht hab’, und da stand sie direkt hinter mir und starrte mich an, als hätte sie mich noch nie gesehen. So richtig durchdringend, wissen Sie. Unheimlich, wirklich. Und ich frag’ Sie, wie ich die Kleine sauberhalten soll, wenn der Herr so sparsam ist, daß er mir nicht mal erlaubt, ihr neue Sachen zu kaufen. Sie hat genau zwei Kleider, und die muß ich dauernd flicken und rauslassen, weil sie so schnell wächst. Ich hab’ ihn schon ein paarmal um Geld gefragt, damit ich Stoff kaufen und ihr was Neues machen kann, aber der Mann rückt keinen Penny raus.«
Die Freundin schnalzte teilnahmsvoll mit der Zunge.
»Die Kleine hat noch so eine Marotte«, fuhr die Haushälterin fort, des Interesses ihrer Zuhörerin gewiß. »Sie läßt mich um keinen Preis an ihre Haare. Ich brauch’ nur den Kamm zu nehmen, und schon fängt sie an zu brüllen wie eine Wilde. Es ist fast so, als ob sie weiß, daß mit ihrem Kopf was nicht in Ordnung ist, und nicht will, daß jemand ihn anrührt. Also kämm’ ich sie eben nicht. Aber ich frag’ Sie, wie ich das Kind unter diesen Umständen sauberhalten soll!«
Sie schaffte es nicht. Für Samantha war das von Vorteil: Als sie unternehmungslustig und mutig genug geworden war, sich den Straßenkindern anzuschließen, wurde sie dank ihrem verlotterten Äußeren sofort in die Horde aufgenommen. Vom Vater und den Brüdern, die den ganzen Tag zur Schule gingen und abends mit dem Vater über ihren Schulbüchern oder der Bibel saßen, alleingelassen, fand Samantha ihre Familie auf der Straße. Sie lernte schnell. In das Rudel eingegliedert, erforschte sie unter der Führung der älteren, pfiffigeren Kinder Hinterhöfe und Abfalltonnen, kletterte auf Bäume, machte Klimmzüge an Wäscheleinen, spielte Fangen und Verstecken. Sie lernte ungezügelte Freiheit kennen, entwickelte sich zu einem wahrhaften kleinen Haudegen und flinken Kletterer und erwarb sich, obwohl niemand ihren Namen wußte, da sie nicht sprach, rasch die Anerkennung ihrer wilden Gefährten.
Ihr bester Freund und treuer Beschützer war ein neunjähriger Junge namens Freddy, den seine Mutter gleich nach seiner Geburt in eine Zeitung gewickelt in einer Abfalltonne deponiert hatte. Ein alter Katzenschinder, der das Wimmern des Säuglings hörte und meinte, auf einen guten Fang gestoßen zu sein, fand das ausgesetzte Kind, hatte Mitleid und nahm es zu sich. Der Alte, der sein mageres Leben mit dem Verkauf der Felle der von ihm gefangenen Katzen fristete, zog den Findling auf und lehrte ihn sein Gewerbe. Er starb an Lungenentzündung, als Freddy sieben Jahre alt war. Auf sich selbst gestellt, fand Freddy Unterschlupf in einem verlassenen, alten Schuppen und ernährte sich, so gut es ging, mit Betteln und Stehlen sowie vom Katzenfang. Fast jeden Abend ging er mit Stock und Sack bewaffnet auf Beute und zog den Katzen, wie der Alte es ihn gelehrt hatte, dann bei lebendigem Leib das Fell ab, da für solche Felle das meiste Geld zu bekommen war. Oft prahlte er damit, daß er eines Tages sein eigenes Gasthaus eröffnen würde.
Freddy war es, der die vierjährige Samantha endlich zum Sprechen brachte.
Als die Kinder eines Tages gegen Abend vom benachbarten Markt zurückkehrten, wo sie Zwiebeln und Würste gestohlen hatten, blieb Freddy so plötzlich stehen, daß Samantha gegen ihn prallte.
»Horch!« flüsterte er und drehte den Kopf erst in die eine, dann in die andere Richtung.
Samantha spitzte die Ohren und hörte von irgendwoher leises Wimmern.
»Das ist eine Katz!« rief Freddy. »Komm, die fangen wir uns und häuten sie und verkaufen das Fell. Für das Geld kauf ich dir ein paar Schweinsfüße. Na, wär’ das was?«
Verwundert folgte ihm Samantha, als er vorsichtig zu einem Loch in der Umzäunung schlich. Er kroch auf alle Viere und spähte hinein.
»Recht hab’ ich gehabt. Eine Katze. Und verletzt ist sie auch. Da erwischen wir sie mit Leichtigkeit und können ihr gleich das Fell abziehen.«
Während er an seinen Gürtel griff, um das Messer herauszuholen, kniete auch Samantha nieder und spähte durch das Loch im Zaun. Eine rotscheckige alte Katze lag dort leise klagend auf der Seite, in einem Bein eine große Wunde.
Als Freddy den Arm ausstrecken wollte, um zuzupacken, faßte Samantha ihn hastig am Handgelenk. Überrascht von der Kraft ihres Zugriffs, hielt er inne. »Was ist denn los?«
Samantha schüttelte den Kopf so heftig, daß die Locken flogen.
Er wollte sich losreißen. »Ach, komm schon. Für das Geld können wir uns was Richtiges zu essen kaufen.«
Sie öffnete den Mund und stieß einen heiseren Laut aus.
»Was sagst du?«
»Krank.« Es war nur ein kratziges Flüstern.
Freddy sah sie erstaunt an. »Du kannst ja reden!«
»Krank!« sagte sie wieder, immer noch die Hand an seinem Arm.
»Ja, ich weiß, daß die Katze krank ist. Das ist ja gerade das Gute. Da können wir sie leicht –«
»Helfen, Freddy! Helfen!«
Er riß die Augen auf. »Was? Ich soll der ollen Katze helfen?«
Sie nickte heftig.
»Du spinnst ja!«
Sie fing an zu weinen. »Hilf der Katze. Bitte!«
Er starrte ihr in das schmutzige kleine Gesicht und merkte, wie er weich wurde. »Ach, ich weiß nicht. Ich wollt’ nur schnell reinlangen und ihr eins mit dem Messer verpassen. Aber anfassen läßt die sich von uns bestimmt nicht. Die kratzt uns höchstens. Das ist bei kranken Tieren immer so.«
Wieder schüttelte Samantha den Kopf und beugte sich tiefer. Sie sah lächelnd in die leuchtenden gelben Augen der Katze und streckte langsam den Arm nach ihr aus. Die alte Katze ließ sich ruhig von ihr streicheln.
Freddy war baff. »Also da kriegst du wirklich die Motten.«
Sie brauchten eine Woche, um die Katze gesundzupflegen. Jeden Morgen, nachdem Samanthas Vater aus dem Haus gegangen war, trafen sie sich und rannten zu dem Hinterhof, um die Katze zu versorgen. Samantha stahl Milch aus der Speisekammer und fütterte das Tier damit, und sie nahm mehrmals etwas von dem grünen Brotschimmel mit, den die Haushälterin in einer Dose in der Küche verwahrte, um das verletzte Bein der Katze damit zu betupfen. Wozu das gut war, wußte sie nicht, aber sie hatte gesehen, wie die Haushälterin Matthew einmal das grüne Zeug aufgelegt hatte, als dieser mit einer tiefen Rißwunde am Arm nach Hause gekommen war. Freddy, von dem die Katze sich nicht anrühren ließ – sie hatte ihn gekratzt, als er es einmal versuchte –, pflegte an den Zaun gelehnt ungeduldig zu warten, während seine kleine Freundin das Tier streichelte und versorgte. So ging das acht Tage lang, dann war die Katze eines Morgens spurlos verschwunden.
Freddy war es auch, der Samantha als erster vor Isaiah Hawksbill warnte.
Nicht weit von der Straßenecke stand ein dunkles, stilles Haus, gruslig und geheimnisvoll. Mehrere seiner Fenster waren mit Brettern vernagelt, doch es war bewohnt. Ein alter Mann lebte dort, ganz allein, der sich niemals auf der Straße zeigte. Seine Lebensmittel ließ er sich wöchentlich liefern; die Lieferanten mußten die Pakete auf der Treppe ablegen, wo die Bezahlung in einer Blechdose bereitstand. Ein paar ganz Mutige hatten es sich nicht nehmen lassen, im Verborgenen zu warten, um den alten Hawksbill doch einmal zu Gesicht zu bekommen, und was sie darüber zu erzählen wußten, klang wahrhaft abschreckend: Schlohweiß und bucklig wäre er, und sein Gesicht so häßlich, daß einem die Augen stehenblieben, wenn man ihn direkt ansähe. Während der Name Hawksbill bei den Kindern vom St. Agnes Crescent Grusel und Angst auslöste – sie gingen immer auf die andere Straßenseite hinüber, wenn sie an seinem Haus vorbei mußten –, war er den Erwachsenen Anlaß zu Argwohn und Mißtrauen. Es kursierte das Gerücht, daß der alte Hawksbill vor Jahren ein schreckliches Verbrechen an einem kleinen Mädchen begangen hatte.
Oft stand Samantha, von Freddys schützendem Arm umfangen, auf der Straße und starrte zu dem Haus mit den blinden Fenstern hinüber.
Als Samantha sechs Jahre alt war, trat ihr Vater in ihr Leben. Sie hockte in einem schmutzigen Kleid, das ihr zu eng und viel zu kurz war, mit nackten, schmutzverkrusteten Füßen und zerzaustem Haar auf der Treppe vor dem Haus und zeichnete mit dem Finger ein Muster in den Staub an der Haustür, als Samuel, wegen der Geburtstagsfeierlichkeiten früher als sonst aus dem Büro zurück, die Treppe heraufkam. Er fuhr Samantha, die er für ein Nachbarskind hielt, barsch an und wollte sie mit dem Fuß aus dem Weg stoßen, als sie plötzlich den Kopf hob und ihm direkt in die Augen sah. Beide erstarrten einen Moment, er groß und finster, die Hand schon am Türknauf, sie zusammengekauert und schmutzig zu seinen Füßen. Reglos starrten sie einander an, so als sähe jeder den anderen zum erstenmal. Ein Schwall jahrelang aufgestauter Emotionen überschwemmte Samuel. Er sah direkt in das Gesicht seiner unvergessenen Felicity.
Schwankend zwischen Schmerz und Abscheu sah Samuel, wie das Kind mit kleiner schmutziger Hand nach seinem Hosenbein greifen wollte, und wich unwillkürlich einen Schritt zurück. Dann fuhr er herum, stürzte so hastig ins Haus, daß er über die Türschwelle stolperte, und brüllte nach der Haushälterin. Es folgte eine wütende Auseinandersetzung.
»Sie ist so verdreckt wie der schlimmste Straßenbengel.«
»Wieso kümmert Sie das plötzlich? Sie achten doch sowieso nicht auf sie.«
»Ich bezahle Sie dafür, daß Sie sich um sie kümmern.«
»Für fünf lumpige Schilling die Woche können Sie von mir nicht erwarten, daß ich –«
Die Haushälterin wurde noch am selben Tag entlassen.