Das grüne Gesicht Ein Roman - Meyrink, Gustav - kostenlos E-Book

Das grüne Gesicht Ein Roman E-Book

Gustav, Meyrink

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The Project Gutenberg EBook of Das grüne Gesicht, by Gustav MeyrinkThis eBook is for the use of anyone anywhere at no cost and withalmost no restrictions whatsoever.  You may copy it, give it away orre-use it under the terms of the Project Gutenberg License includedwith this eBook or online at www.gutenberg.org/licenseTitle: Das grüne Gesicht       Ein RomanAuthor: Gustav MeyrinkRelease Date: June 11, 2014 [EBook #45936]Language: German*** START OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK DAS GRÜNE GESICHT ***Produced by Jana Srna, Jens Sadowski, mcbax and the OnlineDistributed Proofreading Team at http://www.pgdp.net (Thisfile was produced from images generously made availableby the Gesellschaft der Arno-Schmidt-Leser athttp://www.gasl.org)

Das grüne GesichtEin Roman von Gustav Meyrink

Erstes bis dreißigstes Tausend

Leipzig Kurt Wolff Verlag 1917

Copyright 1916 by Kurt Wolff Verlag, Leipzig Alle Rechte, insbesondere das der Übersetzung, vorbehalten

Erstes Kapitel

Vexiersaloon van Chidher Grün

las der vornehm gekleidete Fremde, der auf dem Fußsteig der Jodenbreestraat unschlüssig stehen geblieben war, auf der schwarzen Ladentafel eines schräg gegenüberliegenden Gebäudes eine kuriose Inschrift aus weißen, auffallend verschnörkelten Buchstaben.

Neugierig geworden, oder um der Menge nicht länger als Zielscheibe zu dienen, die ihn in holländisch bärenhafter Plumpheit umdrängte und ihre Glossen über seinen Gehrock, seinen blanken Zylinder und seine Handschuhe machte, — lauter Dinge, die in diesem Stadtteil Amsterdams zu den Seltenheiten gehörten, — überquerte er zwischen hundebespannten Gemüsekarren hindurch den Fahrdamm, gefolgt von ein paar Gassenbuben, die, die Hände tief in die unförmlich weiten, blauen Leinwandhosen vergraben, mit krummem Rücken, eingezogenem Bauch und gesenktem Hintern, dünne Gipspfeifen durch die roten Halstücherknoten gesteckt, sich in schlurrenden Holzschuhen faul und schweigsam hinter ihm dreinschoben.

Das Haus, in dem der Laden des Chidher Grün in einen gürtelartig rings herumlaufenden, rechts und links bis in zwei parallele Quergäßchen sich hineinziehenden schmalen Glasvorbau mündete, schien, nach den trüben leblosen Fensterscheiben zu schließen, ein Warenspeicher zu sein, dessen Rückseite vermutlich in eine sogenannte Gracht abfiel — eine der zahlreichen, für den Handelsverkehr bestimmten Wasserstraßen.

In niedriger Würfelform aufgeführt, glich es dem oberen Teil eines dunkeln viereckigen Turmes, der im Lauf der Jahre allmählich bis zum Rande seiner steinernen Halskrause — des jetzigen Glasvorbaues — in der weichen Torferde versunken war.

Mitten im Schaufenster des Ladens lag auf einem mit rotem Tuch bespannten Sockel ein dunkelgelber Totenkopf aus Papiermaché von unnatürlichem Aussehen, — der Oberkiefer unter der Nasenöffnung viel zu lang und die Augenhöhlen und Schatten um die Schläfen schwarz getuscht, — und hielt zwischen den Zähnen ein Pique-As.

„Het Delpsche Orakel, of de stemm uit het Geesteryk“, stand darüber geschrieben.

Große Messingringe, ineinandergreifend wie Kettenglieder, hingen von der Decke herab und trugen Girlanden grellbemalter Ansichtskarten, die warzenübersäte Gesichter von Schwiegermüttern mit Vorhängeschlössern an den Lippen darstellten oder bösartige, mit Besen drohende Ehegattinnen; andere Bildchen dazwischen in transparenten Farben: üppige junge Damen im Hemde, den Brustlatz schamhaft festhaltend, und darunter die Erklärung: „Tegen het licht te bekijken. Voor Gourmands.“

Verbrecherhandschellen, als die „berühmte Hamburger Acht“ bezeichnet, daneben ägyptische Traumbücher in Reihen ausgebreitet, künstliche Wanzen und Schwaben (ins Bierglas des Wirtshausnachbars zu werfen), bewegliche Nasenflügel aus Gummi, retortenförmige Glasflaschen mit rötlichem Saft gefüllt: „das köstliche Liebesthermometer oder der unwiderstehliche Schäker in Damengesellschaft“, Würfelbecher, Schüsseln mit Blechgeld, „der Coupéschrecken“ (ein unfehlbares Mittel für die p. p. Herren Handlungsreisenden, während der Eisenbahnfahrt dauernde Bekanntschaften anzuknüpfen), bestehend aus einem Wolfsgebiß, das man unter dem Schnurrbart befestigen konnte, — und über all der Pracht reckte sich aus stumpfschwarzem Hintergrund segnend eine Wachsdamenhand, um das Gelenk eine papierne Spitzenmanschette.

Weniger aus Kauflust, als um der Fischgeruchaura seiner beiden jugendlichen Begleiter zu entrinnen, betrat der Fremde den Laden.

In einem Lehnstuhl in der Ecke, den linken Fuß mit dem arabeskenverzierten Lackschuh über den Schenkel gelegt, studierte ein dunkelhäutiger Kavalier, violett rasiert und mit fettglänzendem Scheitel — der Typus eines Balkangesichtes — die Zeitung und blitzte einen messerscharfen, musternden Blick nach ihm, während gleichzeitig eine Art Waggonfenster in dem mannshohen Verschlag, der den Raum für die Kunden von dem Innern des Geschäftes trennte, prasselnd herabgelassen wurde und in der Öffnung die Büste eines dekolletierten Fräuleins mit hellblauen verführerischen Augen und blonder Pagenfrisur erschien.

Im Handumdrehen hatte sie an der Aussprache und dem stockenden Holländisch: „Kaufen, gleichgültig was, irgend etwas“, erkannt, daß sie einen Landsmann, einen Österreicher, vor sich habe, und begann ihre Erklärung eines Zauberkunststückes an drei rasch ergriffenen Korkpfropfen in deutscher Sprache, wobei sie den ganzen Charme wohlgeübter Weiblichkeit in allen Schattierungen spielen ließ, vom Stechen mit den Brüsten nach dem männlichen Gegenüber angefangen, bis zum fast telepathisch-diskreten Hautduftausstrahlen, das sie durch gelegentliches Achsellüften noch wirksamer zu gestalten verstand.

„Sie sehen hier drei Stöpsel, mein Herr, nicht wahr? Ich lege den ersten in meine rechte Hand; hierauf den zweiten, und schließe die Hand. So. Den dritten stecke ich“ — sie lächelte errötend — „in die Tasche. Wieviel habe ich in der Hand?“

„Zwei.“

„Nein, drei.“

Es stimmte.

„Dieses Kunststück heißt: die fliegenden Korke und kostet nur zwei Gulden, mein Herr.“

„Schön; bitte, zeigen Sie mir den Trick!“

„Wenn ich vorher um das Geld bitten darf, mein Herr? Es ist Geschäftsusance.“

Der Fremde legte zwei Gulden hin, bekam eine Wiederholung des Experimentes zu sehen, das lediglich auf Fingerfertigkeit beruhte, mehrere neuerliche Wellen weiblichen Hautgeruches und schließlich vier Korkstöpsel, die er voll Bewunderung für die kaufmännische Umsicht der Firma Chidher Grün und mit der festen Überzeugung, das Zauberkunststück niemals nachmachen zu können, einsteckte.

„Sie sehen hier drei eiserne Gardinenringe, mein Herr,“ begann die junge Dame abermals, „ich lege den ersten — —“ da wurde ihr Vortrag durch lautes Johlen, gemischt mit schrillen Pfiffen, von der Gasse her unterbrochen und gleichzeitig die Ladentür heftig aufgerissen und klirrend wieder ins Schloß geworfen.

Erschreckt drehte sich der Fremde um und erblickte eine Gestalt, deren wundersamer Aufzug sein höchstes Erstaunen erweckte.

Es war ein riesenhafter Zulukaffer mit schwarzem, krausem Bart und wulstigen Lippen, nur mit einem karrierten Regenmantel bekleidet, einen roten Ring um den Hals und das von Hammeltalg triefende Haar kunstvoll in die Höhe gebürstet, so daß es aussah, als trüge er eine Schüssel aus Ebenholz auf dem Kopfe.

In der Hand hielt er einen Speer.

Sofort sprang das Balkangesicht aus dem Lehnstuhl, machte dem Wilden eine tiefe Verbeugung, nahm ihm dienstbeflissen die Lanze ab, stellte sie in einen Regenschirmständer, und nötigte ihn, mit verbindlicher Handbewegung einen Vorhang zur Seite ziehend, unter höflichem: „als ’t u belieft, Mijnheer; hoe gaat het, Mijnheer?“, in ein Nebengemach einzutreten.

„Bitt’ schön, vielleicht auch weiter zu kommen“, wendete sich die junge Dame wieder an den Fremden und öffnete ihren Verschlag, „und ein wenig Platz zu nehmen, bis sich die Menge beruhigt hat“; dann eilte sie zur Glastür, die abermals aufgeklinkt worden war, stieß einen vierschrötigen Kerl, der breitbeinig auf der Schwelle stand und im Bogen hereinspuckte, mit einer Flut von Verwünschungen: „stik, verrek, god verdomme, fall dood, stek de moord“ zurück und schob den Riegel vor.

Das Innere des Ladens, das der Fremde inzwischen betreten hatte, bestand aus einem durch Schränke und türkische Portièren abgeteilten Raum mit mehreren Sesseln und Taburetts in den Ecken, sowie einem runden Tisch in der Mitte, an dem zwei behäbige alte Herren, anscheinend Hamburger oder holländische Kaufleute, mit gespanntester Aufmerksamkeit beim Lichte einer elektrisch montierten Moschee-Ampel in Guckkästen — kleine kinematographische Apparate, wie das Surren verriet — stierten.

Durch einen dunkeln, aus Warenstellagen gebildeten Gang konnte man in ein kleines Bureau mit auf die Seitengasse mündenden Milchglasfenstern hineinblicken, in dem ein prophetenhaft aussehender alter Jude im Kaftan, mit langem weißem Bart und Schläfenlocken, ein rundes seidenes Käppi auf dem Haupte und das Gesicht im Schatten unsichtbar, regungslos vor einem Pulte stand und Eintragungen in ein Hauptbuch machte.

„Sagen Sie, Fräulein, was war das vorhin für ein merkwürdiger Neger?“ fragte der Fremde, als die Verkäuferin wieder zu ihm trat und die Vorstellung mit den drei Gardinenringen fortsetzen wollte.

„Der? Oh, das ist ein gewisser Mister Usibepu. Er ist eine Attraktion und gehört zu der Zulutruppe, die im Zirkus Carré auftritt. — Ein sehr ein fescher Herr,“ setzte sie mit leuchtenden Augen hinzu. „Er ist in seiner Heimat medicinae doctor — — —“

„Ja, ja, Medizinmann, — ich verstehe.“

„Ja, Medizinmann. Und da lernt er bei uns bessere Sachen, um, wenn er wieder heimkommt, seinen Landsleuten gehörig imponieren zu können und sich gelegentlich auf den Thron zu schwingen. — Der Herr Professor des Pneumatismus, Herr Zitter Arpád aus Preßburg, unterrichtet ihn grad,“ — sie hielt mit den Fingern einen Schlitz im Vorhang auseinander und ließ den Fremden in ein mit Whistkarten austapeziertes Kabinett schauen.

Zwei Dolche kreuzweis durch die Gurgel gestochen, so daß die Spitzen hinten herausragten, und ein blutbeflecktes Beil tief in einer klaffenden Schädelwunde stecken, verschluckte das Balkangesicht soeben ein Hühnerei und zog es dem Zulukaffern, der abgelegt hatte und sprachlos vor Staunen, nur mit einem Leopardenfell bekleidet, vor ihm stand, aus dem Ohr wieder heraus.

Gern hätte der Fremde noch mehr gesehen, aber die junge Dame ließ rasch die Portière fallen, da ihr der Herr Professor einen verweisenden Blick zuwarf und ein schrilles Klingeln sie überdies ans Telephon rief.

„Seltsam bunt wird das Leben, wenn man sich Mühe gibt, es in der Nähe zu betrachten, und den sogenannten wichtigen Dingen den Rücken kehrt, die einem nur Leid und Verdruß bringen,“ dachte der Fremde, nahm von einem Bord, auf dem allerhand billiges Spielzeug lag, eine kleine offene Schachtel herunter und roch zerstreut daran.

Sie war angefüllt mit winzigen, geschnitzten Kühen und Bäumchen, deren Laub aus grün gebeizter Holzwolle bestand.

Der eigentümliche Duft nach Harz und Farbe nahm ihn einen Augenblick ganz gefangen. — Weihnachten! Kinderjahre! Atemloses Warten vor Schlüssellöchern; ein wackliger Stuhl mit rotem Rips überzogen, — ein Ölfleck darin. Der Spitz — Durudeldutt, ja, ja, so hat er geheißen — knurrt unter dem Sofa und beißt der beweglichen Schildwache ein Bein ab, kommt dann, das linke Auge zugekniffen, schwerverstimmt hervorgekrochen: die Feder des Uhrwerkes ist losgegangen und ihm ins Gesicht gesprungen. — Die Tannennadeln knistern, und die brennenden roten Kerzen am Christbaum haben lange Tropfbärte. —

Nichts vermag die Vergangenheit so schnell wieder jung zu machen, wie der Lackgeruch von Nürnberger Spielzeug, — der Fremde schüttelte den Bann ab, „es wächst nichts Gutes aus der Erinnerung: erst läßt sich alles süß an, dann hat das Leben eines Tages plötzlich ein Oberlehrergesicht, um einen schließlich mit blutrünstiger Teufelsfratze — — — nein, nein, ich will nicht!“ — er wandte sich dem drehbaren Büchergestell zu, das neben ihm stand. „Lauter Bände in Goldschnitt?“ — Kopfschüttelnd buchstabierte er die wundersamen, ganz und gar nicht zur übrigen Umgebung passenden, gekerbten Rückentitel: „Leidinger, G., Geschichte des akademischen Gesangvereins Bonn,“ „Aken, Fr., Grundriß der Lehre vom Tempus und Modus im Griechischen,“ „Neunauge, K. W., Die Heilung der Hämorrhoiden im klassischen Altertum“? — „nun, Politik scheint, Gott sei Dank, nicht vertreten zu sein“ — und er nahm: „Aalke Pott, Über den Lebertran und seine steigende Beliebtheit, 3. Band“ vor und blätterte darin.

Der miserable Druck und das elende Papier standen in verblüffendem Gegensatz zu dem kostbaren Einband.

„Sollte ich mich geirrt haben? Handelt es sich vielleicht gar nicht um eine Hymne auf ranziges Öl?“ — der Fremde schlug die erste Seite auf und las erheitert:

„Sodom- und Gomorrhabibliothek“ Ein Sammelwerk für Hagestolze. (Jubiläumsausgabe.)

Bekenntnisse eines lasterhaften Schulmädchens.

[Fortsetzung des berühmten Werkes: Die Purpurschnecke.]

„Wahrhaftig, man glaubt die ‚Grundlage des zwanzigsten Jahrhunderts‘ vor sich zu haben: außen brummliges Gelehrtengetue und innen — der Schrei nach Geld oder Weibern,“ brummte er vergnügt und lachte dann laut hinaus.

Nervös fuhr der eine der beiden wohlbeleibten Handelsherren von seinem Guckkasten empor (der andere, der Holländer, ließ sich nicht stören), murmelte verlegen etwas von „wunnerschoenen Sstädteansichten“ und wollte sich schnell entfernen, nach Kräften bestrebt, seinem durch den überstandenen optischen Genuß ein wenig ins Schweinskopfartige zerflossenen Gesichtsausdruck wieder das altgewohnte Gepräge des unentwegt auf geradlinig strenge Lebensauffassung gerichteten Edelkaufmanns zu verleihen, da leistete sich der satanische Versucher aller Schlichtgesinnten in Gestalt eines hämischen Zufalls, aber fraglos in der Absicht, die Seele des Biedermanns nicht länger im Unklaren zu lassen, in welch frivoler Umgebung sie sich befand, einen höchst unziemlichen Scherz:

Durch eine allzueilige Flatterbewegung beim Anziehen des Mantels hatte der Handelsherr mit dem Ärmel das Pendel einer großen Wanduhr in Bewegung gesetzt, und sofort fiel eine mit trauten Familienszenen bemalte Klappe herunter; nur erschien statt des zu erwartenden Kuckucks der wächserne Kopf nebst spärlich bekleidetem Oberleib einer über die Maßen frechblickenden Frauensperson und sang zum feierlichen Glockenklang der zwölften Stunde mit verschleimter Stimme:

„Tischlah sejen

ganz verwejen,

hobeln flott drauf los;

fein und glatt

wird das Blatt — — —“

„Blatt, Blatt, Blatt“ — ging es plötzlich, sich rhythmisch wiederholend, in einen krächzenden Baß über. Entweder hatte der Teufel ein Einsehen oder war ein Haar ins Grammophongetriebe geraten.

Nicht länger gesonnen, neckischen Kobolden zum Opfer zu fallen, suchte der Chef der Meere mit empört gequäktem „aarch anstößich“ fluchtartig das Weite.

Obschon mit der Sittenreinheit nordischer Völkerstämme wohl vertraut, konnte sich der Fremde dennoch die übermäßige Verwirrung des alten Herrn nicht recht erklären, bis ihm langsam der Verdacht dämmerte, er müsse ihn irgendwo kennen gelernt haben, — ihm wahrscheinlich in einer Gesellschaft vorgestellt worden sein. Ein schnell vorübergehendes, damit verknüpftes Erinnerungsbild: eine ältere Dame mit feinen traurigen Zügen und ein schönes junges Mädchen, bestärkte ihn in seiner Annahme, nur konnte er sich des Ortes und der Namen nicht mehr entsinnen.

Auch das Gesicht des Holländers, der soeben aufstand, ihn mit kalten, wasserblauen Augen verächtlich von oben bis unten abschätzte und sich dann träge hinauswälzte, half seinem Gedächtnis nicht nach. Es war ein ihm völlig Unbekannter von brutalem, selbstbewußtem Aussehen.

Immer noch telephonierte die Verkäuferin.

Nach ihren Antworten zu schließen, handelte es sich um große Aufträge für einen Polterabend.

„Eigentlich könnte ich auch gehen,“ überlegte der Fremde; „worauf warte ich denn noch?“

Ein Gefühl der Abspannung überfiel ihn; er gähnte und ließ sich in einen Sessel fallen.

„Daß einem nicht der Kopf zerspringt, oder man sonstwie überschnappt,“ schälte sich ein Gedanke in seinem Hirn los, „bei all dem verrückten Zeug, das das Schicksal um einen herumstellt! Es ist ein Wunder! — Und warum man im Magen Übelkeit empfindet, wenn die Augen häßliche Dinge hineinschlingen?! Was hat denn, um Gottes willen, die Verdauung damit zu tun! — Nein, mit der Häßlichkeit hängt’s nicht zusammen“ grübelte er weiter, „auch bei längerem Verweilen in Gemäldegalerien packt einen unvermutet der Brechreiz. Es muß so etwas wie eine Museumskrankheit geben, von der die Ärzte noch nichts wissen. — Oder sollte es das Tote sein, das von allen Dingen, ob schön oder häßlich, ausgeht, die der Mensch gemacht hat? Ich wüßte nicht, daß mir schon einmal beim Anblick selbst der ödesten Gegend übel geworden wäre, — also wird es wohl so sein. — Ein Geschmack nach Konservenbüchsen haftet allem an, das den Namen „Gegenstand“ trägt; man kriegt den Skorbut davon.“ — Er mußte unwillkürlich lächeln, da ihm eine barocke Äußerung seines Freundes Baron Pfeill, der ihn für Nachmittag ins Café „De vergulde Turk“ bestellt hatte und alles, was mit perspektivischer Malerei zusammenhing, aus tiefster Seele haßte, einfiel: ‚der Sündenfall hat gar nicht mit dem Apfelessen begonnen; das ist wüster Aberglaube. Mit dem Bilderaufhängen in Wohnungen hat’s angefangen! Kaum hat einem der Maurer die vier Wände schön glatt gemacht, schon kommt der Teufel als „Künstler“ verkleidet und malt einem „Löcher mit Fernblick“ hinein. Von da bis zum äußersten Heulen und Zähneklappern ist dann nur noch ein Schritt und man hängt eines Tages in Orden und Frack neben Isidor dem Schönen oder sonst einem gekrönten Idioten mit Birnenschädel und Botokudenschnauze im Speisezimmer und schaut sich selber beim Essen zu.‘ — — „Ja, ja, man sollte wirklich bei allem und jedem ein Lachen bereit haben,“ fuhr der Fremde in seiner Gedankenreihe fort, „so ganz ohne Grund lächeln die Statuen Buddhas nicht und die der christlichen Heiligen sind tränenüberströmt. Wenn die Menschen häufiger lächeln würden, gäb’s vermutlich weniger Kriege. — Da laufe ich nun schon drei Wochen in Amsterdam herum, merke mir absichtlich keine Straßennamen; frage nicht, was ist das oder jenes für ein Gebäude, wohin fährt dieses oder jenes Schiff, oder woher kommt es, lese keine Zeitungen, um nur ja nicht als „Neuestes“ zu erfahren, was schon vor Jahrtausenden in blau genau so passiert ist; ich wohne in einem Hause, in dem jede Sache mir fremd ist, bin schon bald der einzige — Privatmann, den ich kenne; wenn mir ein Ding vor Augen kommt, spioniere ich längst nicht mehr, wozu es dient, — es dient überhaupt nicht, läßt sich nur bedienen! — und warum tue ich das alles? Weil ich es satt habe, den alten Kulturzopf mit zu flechten: erst Frieden, um Kriege vorzubereiten, dann Krieg, um den Frieden wieder zu gewinnen usf.; weil ich wie Kasper Hauser eine neue urfremde Erde vor mir sehen will, — ein neues Staunen kennen lernen will, wie es ein Säugling an sich erfahren müßte, der über Nacht zum erwachsenen Manne heranreift, — weil ich ein Schlußpunkt werden will und nicht ewig ein Komma bleiben. Ich verzichte auf das „geistige Erbe“ meiner Vorfahren zugunsten des Staates und will lieber lernen, alte Formen mit neuen Augen zu sehen, statt, wie bisher, neue Formen mit alten Augen; vielleicht gewinnen sie dann ewige Jugend! — Der Anfang, den ich gemacht habe, war gut; nur muß ich noch lernen, über alles zu lächeln und nicht bloß zu staunen.“

Nichts wirkt so einschläfernd wie geflüsterte Reden, deren Sinn dem Ohre unverständlich bleibt. Die in leisem Ton und großer Hast geführten Gespräche zwischen dem Balkangesicht und dem Zulukaffern hinter dem Vorhang betäubten den Fremden durch ihre hypnotisierend eintönige Unablässigkeit, so daß er einen Moment in tiefen Schlummer fiel.

Als er sich gleich darauf wieder emporriß, hatte er die Empfindung, eine überwältigende Menge innerer Aufschlüsse bekommen zu haben; aber nur ein einziger dürrer Satz war als Quintessenz in seinem Bewußtsein zurückgeblieben, — eine phantastische Verkettung von kürzlich erlebten Eindrücken und fortgesponnenen Gedanken: „Schwerer ist es, das ewige Lächeln zu erringen, als den Totenschädel in den abertausend Gräbern der Erde herauszufinden, den man in einem früheren Leben auf den Schultern getragen; erst muß der Mensch sich die alten Augen aus dem Kopf weinen, bevor er die Welt mit neuen Augen lächelnd zu betrachten vermag.“

„Und wenn es noch so schwer ist, der Totenschädel wird gesucht!“, verbiß sich der Fremde hartnäckig in die Traumidee, felsenfest überzeugt, daß er vollkommen wach sei, während er in Wirklichkeit wieder tief eingenickt war, „ich werde die Dinge schon zwingen, deutsch mit mir zu reden und mir ihren wahren Sinn zu verraten, und zwar in einem neuen Alphabet, statt mir, wie früher, mit wichtigtuerischer Miene alten Kram ins Ohr zu raunen, wie: ‚Siehe, ich bin ein Medikament und mache dich gesund, wenn du dich überfressen hast, oder: ich bin ein Genußmittel, damit du dich überfressen und wieder zum Medikament greifen kannst.‘ — Hinter den Witz, daß sich alles in den Schwanz beißt, wie mein Freund Pfeill sagt, bin ich nachgerade gekommen, und wenn das Leben keine gescheiteren Lektionen aufzugeben weiß, gehe ich in die Wüste, nähre mich von Heuschrecken und kleide mich in wilden Honig.“

„Sie wollen in die Wüste gehen und die höhere Zauberei lernen, — nebbich —, wo Sie noch so dumm sind, einen albernen Trick mit Korkstöpseln bar in Silber zu bezahlen, einen Vexiersalon von der Welt kaum unterscheiden können und nicht einmal ahnen, daß in den Büchern des Lebens etwas anderes steht, als hinten drauf gedruckt ist? — Sie sollten „Grün“ heißen und nicht ich,“ hörte der Fremde plötzlich eine tiefe, bebende Stimme auf seine Reminiszenzen antworten und, als er erstaunt aufblickte, stand der alte Jude, der Inhaber des Ladens, im Raum und starrte ihn an.

Der Fremde entsetzte sich; ein Gesicht, wie das vor ihm, hatte er noch nie gesehen.

Es war faltenlos, mit einer schwarzen Binde über der Stirn, und dennoch tief gefurcht, so, wie das Meer tiefe Wellen hat und doch nie runzlig ist. — Die Augen lagen darin wie finstere Schlünde und waren trotzdem die Augen eines Menschen und keine Höhlen. Die Farbe der Haut spielte ins Olive und war wie aus Erz; so, wie es die Geschlechter der Vorzeit, von denen es heißt, sie wären gleich schwarzgrünem Gold gewesen, ähnlich gehabt haben mögen.

„Seit der Mond, der Wanderer, am Himmel kreist,“ sprach der Jude weiter, „bin ich auf der Erde. Ich habe Menschen gesehen, die waren wie Affen und trugen steinerne Beile in den Händen; sie kamen und gingen von Holz“ — er zögerte eine Sekunde — „zu Holz, von der Wiege zum Sarg. Wie Affen sind sie noch immer — und tragen Beile in den Händen. Es sind Abwärtsstarrer und wollen die Unendlichkeit, die im Kleinen verborgen liegt, ergründen.

Daß im Bauch der Würmer Millionen von winzigen Wesen leben und in diesen wieder Milliarden, haben sie ergründet, aber noch immer wissen sie nicht, daß es auf diese Art kein Ende nimmt. Ich bin ein Abwärtsstarrer und ein Aufwärtsstarrer; das Weinen habe ich vergessen, aber das Lächeln habe ich noch nicht gelernt. — Meine Füße sind naß gewesen von der Sintflut, aber ich habe keinen gekannt, der Grund zum Lächeln gehabt hätte; mag sein, ich habe ihn nicht beachtet und bin an ihm vorübergegangen.

Jetzt spült an meine Füße ein Meer von Blut, und da soll einer kommen, der lächeln darf? Ich glaub’s nicht. — Ich werde wohl warten müssen, bis das Feuer selbst Wogen wirft.“

Der Fremde zog sich den Zylinder über die Augen, um das schreckliche Gesicht, das sich immer tiefer in seine Sinne einfraß und seinen Atem stocken machte, nicht länger zu sehen, und daher bemerkte er nicht, daß der Jude zum Pult zurück ging, die Verkäuferin auf den Zehenspitzen an seine Stelle trat, einen Totenkopf aus Papiermaché, ähnlich dem in der Auslage, aus dem Schrank nahm und geräuschlos auf ein Taburett stellte.

Als dem Fremden plötzlich der Hut vom Kopf rutschte und zu Boden fiel, hob sie ihn blitzschnell auf, noch ehe sein Besitzer danach greifen konnte, und begann gleichzeitig ihren Vortrag:

„Sie sehen hier, mein Herr, das sogenannte Delphische Orakel; durch es sind wir jederzeit in der Lage, einen Blick in die Zukunft zu tun und sogar Antworten auf Fragen, die in unserm Herzen“ — sie schielte aus unbekannten Gründen in ihren Busenausschnitt — „schlummern, zu erhalten. Ich bitte, mein Herr, im Geiste eine Frage zu tun!“

„Ja, ja, schon gut,“ brummte der Fremde, noch ganz verwirrt.

„Sehen Sie, der Schädel bewegt sich bereits!“

Langsam öffnete der Totenkopf das Gebiß, kaute ein paarmal, spuckte eine Papierrolle aus, die die junge Dame hurtig auffing und entrollte, und klapperte dann erleichtert mit den Zähnen; —

„Ob deiner Seele Sehnsucht in

Erfüllung geht? — Fahr drein

mit fester Hand und setz’ das

Wollen an der Wünsche Statt!“

stand mit roter Tinte — oder war es Blut? — auf dem Streifen geschrieben.

„Schade, daß ich mir nicht gemerkt habe, was es für eine Frage war,“ dachte der Fremde. — „Kostet?“

„Zwanzig Gulden, mein Herr.“

„Schön. Bitte —,“ der Fremde überlegte, ob er den Schädel gleich mitnehmen solle, — „nein, es geht nicht, man würde mich auf der Straße für den Hamlet halten,“ sagte er sich, „bitte, schicken Sie ihn mir in meine Wohnung; hier ist das Geld.“

Er warf unwillkürlich einen Blick in das Bureau am Fenster, — mit verdächtiger Unbeweglichkeit stand der alte Jude vor seinem Pult, als hätte er die ganze Zeit über nichts als Eintragungen ins Hauptbuch gemacht, — dann schrieb er auf einen Block, den die Verkäuferin ihm hinhielt, seinen Namen nebst Adresse:

Fortunat Hauberrisser Ingenieur

Hooigracht Nr. 47

und verließ, noch immer ein wenig betäubt, den Vexiersalon.

Zweites Kapitel

Seit Monaten war Holland überschwemmt von Fremden aller Nationen, die, kaum daß der Krieg beendet war und beständig wachsenden inneren politischen Kämpfen den Schauplatz abgetreten hatte, ihre alte Heimat verließen und teils dauernd Zuflucht in den niederländischen Städten suchten, teils sie als vorübergehenden Aufenthalt wählten, um von dort aus einen klaren Überblick zu gewinnen, auf welchem Fleck Erde sie künftighin ihren Wohnsitz aufschlagen könnten.

Die billige Prophezeiung, das Ende des europäischen Krieges werde einen Auswandererstrom der ärmeren Bevölkerungsschichten aus den am härtesten mitgenommenen Gegenden zur Folge haben, hatte gründlich geirrt, und reichten auch die verfügbaren Schiffe, die nach Brasilien und andern als fruchtbar geltenden Erdteilen fuhren, nicht hin, die vielen Zwischendeckspassagiere zu befördern, so stand doch der Abfluß der auf ihrer Hände Arbeit Angewiesenen in keinem Verhältnis zur Zahl derer, die entweder wohlhabend waren und überdrüssig, sich ihre Einkünfte durch den immer unerträglicher werdenden Druck der heimischen Steuerschrauben zusammenpressen zu lassen — also der sogenannten Unidealen — oder zur Zahl derer, die bisher in intellektuellen Berufen tätig gewesen, keine Möglichkeit mehr vor sich sahen, mit ihrem Verdienst den unerhört kostspielig gewordenen Kampf um das auch nur nackte Leben weiter zu führen.

Hatte schon in den verflossenen Zeiten der Friedensgreuel das Einkommen eines Schornsteinfegermeisters oder Schweinemetzgers das Gehalt eines Universitätsprofessors weit überstiegen, so war doch jetzt die europäische Menschheit bereits auf dem Glanzpunkt angelangt, wo der alte Fluch „im Schweiße deines Angesichts sollst du dein Brot essen“ buchstäblich und nicht nur im übertragenen Sinne aufgefaßt werden mußte; — die „innerlich“ Schwitzenden sahen sich dem Elend preisgegeben und gingen aus Mangel an Stoffwechsel zugrunde.

Die Muskel des Armes griff nach dem Szepter der Herrschaft, die Ausscheidungen der menschlichen Denkdrüse sanken täglich tiefer im Kurs, und saß Gott Mammon auch noch auf dem Throne, so war seine Fratze doch recht unsicher geworden: — die Menge schmutziger Papierfetzen, die sich um ihn herum angehäuft hatte, verdroß seinen Schönheitssinn.

Und die Erde war wüst und leer, und es war finster auf der Tiefe, bloß der Geist der Handlungsreisenden konnte nicht, wie früher, auf dem Wasser schweben.

So war es gekommen, daß sich die große Masse der europäischen Intelligenz auf Wanderschaft befand und von den Hafenstädten der vom Kriege mehr oder weniger verschont gebliebenen Länder nach Westen spähte, ähnlich dem Däumling, der auf hohe Bäume kletterte, um nach einem Herdfeuer in der Ferne auszuschauen.

In Amsterdam und Rotterdam waren die alten Hotels bis auf das letzte Zimmer besetzt, und täglich entstanden neue; ein Mischmasch von Sprachen schwirrte durch die besseren Straßen, und stündlich gingen Extrazüge nach dem Haag, gefüllt mit ab- und durchgebrannten Politikern und Politikerinnen aller Rassen, die beim Dauerfriedenskongreß ein immerwährendes Wort mit dreinreden wollten, wie man der endgültig entflohenen Kuh am sichersten die Stalltür verrammeln könnte.

In den feinern Speisehäusern und Kakaostuben saß man Kopf an Kopf und studierte überseeische Zeitungen, — die binnenländischen schwelgten noch immer in den Krämpfen vorgeschriebener Begeisterung über die herrschenden Zustände, — aber auch in ihnen stand nichts, was nicht auf den alten Weisheitssatz herausgekommen wäre: „ich weiß, daß ich nichts weiß, aber auch das weiß ich nicht sicher.“

— — — — — — — —

„Ist denn Baron Pfeill noch immer nicht hier? Ich warte jetzt schon eine volle Stunde,“ fuhr im Café „De vergulde Turk“, einem dunkeln, winkligen und verräucherten Lokal, das versteckt und abseits vom Verkehr in der Cruysgade lag, eine ältere Dame mit spitzen Gesichtszügen, zerkniffenen Lippen und fahrigen, farblosen Augen, — der Typus der gewissen entmannten Frauen mit dem ewig nassen Haar, die mit dem fünfundvierzigsten Jahre ihren galligen Rattlern anfangen ähnlich zu sehen und mit dem fünfzigsten bereits selber die geplagte Menschheit ankläffen — wutentbrannt auf den Kellner los: „’pörend. Pe. Wahrhaftig kein Vergnügen, in der Spelunke zu sitzen und sich als Dame von lauter Kerlen anglotzen zu lassen.“

„Herr Baron Pfeill? — Wie soll er denn aussehen? Ich kenne ihn nicht, Myfrouw,“ fragte der Kellner kühl.

„’türlich bartlos. Vierzig. Fünfundvierzig. Achtundvierzig. Weiß nicht. Hab’ seinen Taufschein nicht gesehen. Groß. Schlank. Scharfe Nase. Strohhut. Braun.“

„Der sitzt doch schon lange da draußen, Myfrouw“ — der Kellner deutete gelassen durch die offene Tür auf den kleinen, durch Efeugitter und berußte Oleanderstauden gebildeten Vorraum zwischen Straße und Kaffeehaus.

— „Garnalen, garnalen,“ dröhnte der Brummbaß eines Krabbenverkäufers an den Fenstern vorüber. „Banaantjes, banaantjes“, quietschte ein Weib dazwischen.

„Pe. Der ist doch blond! Und kurzgeschnittenen Schnurrbart. Zylinder. Pe.“ — Die Dame wurde immer wütender.

„Ich meine den Herrn neben ihm, Myfrouw; Sie können ihn von hier nicht sehen.“

Wie ein Jochgeier stürzte die Dame auf die beiden Herren los und überschüttete den Baron Pfeill, der mit betretener Miene aufstand und seinen Freund Fortunat Hauberrisser vorstellte, mit einem Hagel von Vorwürfen, daß sie ihn mindestens zwölfmal vergebens angeklingelt und schließlich in seiner Wohnung aufgesucht habe, ohne ihn anzutreffen, und das alles bloß, — „pe“ — weil er natürlich wieder mal nicht zu Hause gewesen sei. „Zu einer Zeit, wo jeder Mensch beide Hände voll zu tun hat, um den Frieden zu befestigen, Präsident Taft die nötigen Ratschläge zu geben, den Heimatsflüchtigen zuzureden, wieder an ihre Arbeit zu gehen, die internationale Prostitution zu unterbinden, dem Mädchenhandel zu steuern, Gesinnungsschwachen das moralische Rückgrat zu stählen und — Sammlungen von Flaschenstanniol für die Invaliden aller Völker einzuleiten“, schloß sie, empört ihre Pompadour aufreißend und mit einer seidenen Schnur wieder erdrosselnd, „ich dächte, da hat man zu Hause zu bleiben, statt — statt Schnaps zu trinken“. — Sie schoß einen bösartigen Blick auf die beiden dünnen Glasröhren, die, gefüllt mit einem regenbogenfarbigen Gemisch aus Likören, auf der marmornen Tischplatte standen.

„Frau Consul Germaine Rukstinat interessiert sich nämlich für — Wohltäterei“, erläuterte Baron Pfeill seinem Freunde, den Doppelsinn seiner Worte hinter der Maske scheinbar ungeschickt gewählter deutscher Ausdrücke verbergend; „sie ist der Geist, der stets bejaht und nur das Gute will — — wie Goethe sagt.“

„Na, wenn sie das nicht merkt!“ dachte Hauberrisser und blickte scheu nach der Furie, — zu seiner Überraschung lächelte sie bloß besänftigt — „Pfeill hat leider recht, die Menge kennt Goethe nicht nur nicht, sie verehrt ihn sogar; je falscher man ihn zitiert, desto tiefer fühlen sie sich in seinen Geist eingedrungen.“

„Ich finde, Myfrouw“, wandte sich Pfeill wieder an die Gnädige, „man überschätzt mich in Ihren Kreisen als — Philantropf. Mein Vorrat an Flaschenstanniol, der den Invaliden so mangelt, ist wesentlich geringer, als es den Anschein hat, und wenn ich auch — obwohl, ich versichere, unwissentlich — einmal in einen Mildherzigkeitsklub hineingetreten bin und mir infolgedessen der Geruch eines öffentlichen Samaritercharakters gewissermaßen anhaftet, so gebricht es mir leider doch an ausreichend stählernem Gesinnungsmark, um der internationalen Prostitution die Einnahmsquelle zu verstopfen, und ich möchte mich in dieser Hinsicht des Motto’s bedienen: Yoni soit, qui mal y pense. — Was ferner das Steuer des Mädchenhandels anbelangt, so fehlt es mir gänzlich an Beziehungen zu den leitenden Kapitänen dieser Organisation, denn ich hatte niemals Gelegenheit, die höheren Beamten der Sittenpolizei im Ausland — vertraulich kennen zu lernen.“

„Aber unbrauchbare Sachen für Kriegerwaisen werden Sie doch haben, Baron?“

„Ist denn die Nachfrage nach unbrauchbaren Sachen seitens der Kriegerwaisen so groß?“

Die Gnädige überhörte die spöttische Gegenfrage oder wollte sie überhören. „Ein paar Eintrittskarten für die große Redoute, die im Herbst stattfindet, müssen Sie aber zeichnen, Baron! Der vermutliche Nettoerlös, der im nächsten Frühjahr verrechnet wird, soll der Gesamtheit aller Kriegsbeschädigten zugute kommen. Es wird ein Aufsehen erregendes Fest werden, die Damen sämtlich maskiert, und die Herren, die mehr als fünf Eintrittskarten gelöst haben, bekommen den Barmherzigkeitsorden der Herzogin von Lusignan an den Frack.“

„Freilich, eine Redoute dieser Art bietet viel Reiz“, gab Baron Pfeill sinnend zu, „zumal bei derlei maskierten Wohltätigkeitstänzen oft im weit ausgreifenden Sinne der Nächstenliebe die linke Hand nicht weiß, was die rechte tut, und es den Reichen begreiflicherweise ein dauerndes Vergnügen bereiten muß, daß der Arme auf die große Abrechnung zu — warten hat, aber andererseits bin ich nicht Exhibitionist genug, um den Nachweis fünfmal öffentlich betätigten Mitgefühls aus dem Knopfloch heraushängen zu lassen. — Natürlich, wenn Frau Konsul darauf bestehen — — —“

„Kann ich also fünf Karten für Sie bereit halten?“

„Wenn ich bitten darf: nur vier, Myfrouw!“

— — — — — — — —

„Herr, gnädiger Herr, gnä-diger Herr Baron!“ hauchte eine Stimme, und eine winzige schmutzige Hand zupfte Baron Pfeill schüchtern am Ärmel. Als er sich umdrehte, sah er ein kleines, ärmlich gekleidetes Mädchen mit eingefallenen Wangen und weißen Lippen, das sich zwischen den Oleanderkübeln hindurch an ihn herangeschlichen hatte und ihm einen Brief hinhielt, vor sich stehen. Sofort wühlte er in seinen Taschen nach Kleingeld.

„Der Großvater draußen läßt sagen — — —“

„Wer bist du denn, Kind?“ fragte Pfeill halblaut.

„Der Großvater, der Schuster Klinkherbogk, läßt sagen, ich bin sein Kind“, verwirrte das Mädchen die Antwort mit dem Auftrag, den es überbringen sollte, „und der Herr Baron hat sich geirrt. Statt der zehn Gulden für die letzten Paar Schuhe waren tausend — — —“

Pfeill wurde blutrot, klapperte heftig mit seiner silbernen Zigarettendose auf den Tisch, um die Worte der Kleinen zu übertönen, und sagte laut und brüsk: „da hast du zwanzig Cents für den Weg“, mit milderem Ton hinzufügend, es sei schon alles recht — sie solle nur wieder nach Hause gehen und den Brief nicht verlieren.

Gleichsam als Antwort, daß das Kind nicht allein gekommen sei — der Sicherheit wegen von seinem Großvater begleitet, damit es auf dem Wege zum Kaffeehaus das Kuvert mit der Banknote nicht verlöre —, tauchte eine Sekunde lang zwischen den sich teilenden Efeustauden das totenblasse Gesicht eines alten Mannes auf, der augenscheinlich die letzten Sätze gehört hatte und vor Ergriffenheit unfähig, ein Wort hervorzubringen, mit schlotterndem Unterkiefer und gelähmter Zunge ein leises röchelndes Lallen ausstieß. — — —

Ohne den Vorgängen irgend welche Aufmerksamkeit geschenkt zu haben, hatte die wohltätige Dame die Eintragung der vier Ballkarten in eine Rolle vorgenommen und sich nach ein paar kühl verbindlichen Worten empfohlen. — —

Eine Weile saßen die beiden Herren stumm, wichen einander mit den Blicken aus und trommelten gelegentlich mit den Fingern auf den Stuhllehnen.

Hauberrisser kannte seinen Freund zu gut, um nicht genau zu fühlen: er brauche jetzt nur zu fragen, was für eine Bewandtnis es mit dem Schuster Klinkherbogk habe, und Pfeill würde gereizt das Blaue vom Himmel herunterphantasieren, um nur ja nicht den Verdacht aufkommen zu lassen, er hätte einem armen Schuster aus bittrer Not geholfen. Daher sann er, um ein möglichst abseits liegendes Gespräch einzuleiten, nach einem Thema, das — selbstverständlich — nichts mit Wohltätigkeit oder einem Schuster zu tun haben durfte, aber andererseits auch nicht so klingen sollte, als sei es an den Haaren herbeigeholt.

So lächerlich leicht die Aufgabe zu sein schien — sie wurde ihm von Minute zu Minute schwerer.

„Es ist eine verwünschte Sache mit dem ‚Gedankenfassen‘,“ überlegte er, „man glaubt, man bringt sie mit dem Gehirn hervor, aber in Wirklichkeit machen sie mit dem Gehirn, was sie wollen und sind selbständiger als irgendein Lebewesen“. Er gab sich einen Ruck. „Sag’ mal Pfeill“, (das Traumgesicht, das er in dem Vexiersalon gehabt hatte, war ihm plötzlich eingefallen), „sag’ mal, Pfeill, du hast ja so viel im Leben gelesen: ist die Sage vom Ewigen Juden nicht in Holland entstanden?“

Pfeill blickte argwöhnisch auf. — „Du meinst, weil er ein Schuhmacher gewesen ist?“

„Schuhmacher? Wieso?“

„Nun, es heißt doch, der Ewige Jude sei ursprünglich der Schuster Ahaschwerosch in Jerusalem gewesen und habe Jesus, als er auf seinem Weg nach Golgatha — der Schädelstätte — ausruhen wollte, mit Flüchen fortgejagt. Seitdem müsse er selbst wandern und könne nicht sterben, ehe nicht Christus wiedergekommen sei.“ (Als Pfeill bemerkte, daß Hauberrisser ein äußerst verblüfftes Gesicht machte, erzählte er hastig weiter, um auch seinerseits so rasch wie möglich von dem Thema „Schuster“ loszukommen.) „Im dreizehnten Jahrhundert behauptete ein englischer Bischof, in Armenien einen Juden namens Kartaphilos kennen gelernt zu haben, der ihm anvertraut hätte, zu gewissen Mondphasen verjünge sich sein Körper, und er sei dann eine Zeitlang Johannes der Evangelist, von dem Christus bekanntlich gesagt hat, er werde den Tod nicht schmecken. — In Holland heißt der Ewige Jude: Isaac Laquedem; man hat in einem Mann, der diesen Namen trug, den Ahasver vermutet, weil er lange vor einem steinernen Christuskopf stehen geblieben war und ausgerufen hatte: ‚das ist er, das ist er; so hat er ausgesehen!‘ — In den Museen von Basel und Bern wird sogar je ein Schuh gezeigt, ein rechter und ein linker, kuriose Dinger, aus Lederstücken zusammengesetzt, einen Meter lang und zentnerschwer, die an verschiedenen Orten in den Gebirgspässen der italienisch-schweizerischen Grenze gefunden und wegen ihrer Rätselhaftigkeit in unklare Verbindung mit dem Ewigen Juden gebracht wurden. Übrigens — —“

— Pfeill zündete sich eine Zigarette an —

„übrigens merkwürdig, daß du gerade jetzt auf die ausgefallene Idee gekommen bist, nach dem Ewigen Juden zu fragen, wo mir ein paar Minuten früher — und zwar außergewöhnlich lebhaft — ein Bild in der Erinnerung aufgetaucht war, das ich einmal vor vielen Jahren in einer Privatgalerie in Leyden gesehen habe. Es soll von einem unbekannten Meister stammen und stellt den Ahasver dar: ein Gesicht von olivbronzener Farbe, unglaublich schreckhaft, eine schwarze Binde um die Stirn, die Augen ohne Weiß und ohne Pupillen, wie — wie soll ich sagen — fast wie Schlünde. Es hat mich noch lange bis in die Träume verfolgt.“

Hauberrisser fuhr empor, aber Pfeill achtete nicht darauf und erzählte weiter:

„Die schwarze Binde um die Stirn, las ich später irgendwo, gilt im Orient als sicheres Kennzeichen des Ewigen Juden. Angeblich soll er damit ein flammendes Kreuz verhüllen, dessen Licht immer wieder sein Gehirn verzehrt, wenn dieses bis zu einem gewissen Grade der Vollkommenheit nachgewachsen ist. — Die Gelehrten behaupten, es seien das lediglich Anspielungen auf kosmische Vorgänge, die den Mond beträfen, und der Ewige Jude heiße auch deshalb: Chidher, das ist: der „Grüne“, aber das scheint mir Blech zu sein.

Die Manie, alles, was man am Altertum nicht begreifen kann, als Lesart für Himmelszeichen zu deuten, ist heute wieder sehr beliebt, — eine Zeitlang hat sie gestockt, als ein witziger Franzose eine satirische Abhandlung schrieb: Napoleon hätte nie gelebt, auch er wäre ein Astralmythos, hieße eigentlich Apollon, der Sonnengott, und seine zwölf Generäle bedeuteten die zwölf Tierkreiszeichen.

Ich glaube, die alten Mysterien haben viel gefährlicheres Wissen verborgen als das Wissen von Sonnenfinsternissen und Mondgezeiten, nämlich Dinge, die wirklich verborgen werden mußten; — Dinge, die man heute nicht mehr zu verbergen braucht, weil die dumme Menge sie, Gott sei Dank, sowieso nicht glauben würde und darüber lacht, — Dinge, die gleichen harmonischen Gesetzen gehorchen wie die Sternenwelt und dieser daher ähnlich sind. Nun, sei es wie es mag, vorläufig schlagen die Gelehrten den Sack, ohne daß der Esel damit gemeint wäre.“

Hauberrisser war in tiefes Nachdenken versunken.

„Was hältst du von den Juden überhaupt?“ fragte er nach längerem Stillschweigen.

„Hm. Was ich von ihnen halte? Durchschnittlich sind sie wie Raben ohne Federn. Unglaublich listig, schwarz, krummer Schnabel, und können nicht fliegen. Aber zuweilen kommen Adler unter ihnen vor, das ist keine Frage. Zum Beispiel Spinoza.“

„Du bist also nicht Antisemit?“

„Fällt mir nicht im Schlaf ein. Schon deshalb nicht, weil ich die Christen für zu wenig wertvoll halte. Man wirft den Juden vor, sie hätten keine Ideale. Jedenfalls haben die Christen nur falsche. Die Juden übertreiben alles: Gesetze halten und Gesetze brechen, Frömmigkeit und Gottlosigkeit, Arbeiten und Faulenzen, bloß das Bergeklettern und das Wettrudern, das sie „Gojjim naches“ nennen, übertreiben sie nicht, und vom Pathos halten sie nicht viel; die Christen übertreiben das Pathos und — hintertreiben so ziemlich den Rest. In Glaubenssachen sind mir die Juden zu viel Talmud, die Christen zu sehr Talmi.“

„Glaubst du, die Juden haben eine Mission?“

„Freilich! Die Mission, sich selbst zu überwinden. Alles hat die Mission, sich selbst zu überwinden. Wer von andern überwunden wird, hat seine Mission verfehlt; wer seine Mission verfehlt, wird von andern überwunden. Wenn einer sich selbst überwindet, merken die andern nichts davon; wenn aber einer die andern überwindet, wird der Himmel — rot. Der Laie nennt diese „Licht“erscheinung: Fortschritt. Ein Trottel hält ja auch bei einer Explosion das Feuerwerk für das Wesentliche. — Aber verzeih, ich muß jetzt abbrechen,“ schloß Pfeill und sah auf die Uhr, „erstens muß ich schleunigst nach Hause, und zweitens könnte ich auf die Dauer soviel Gescheitheit vor dir nicht verantworten. Also: „Servus“ — wie die Österreicher sagen, wenn sie das Gegenteil meinen — und falls du Lust hast, besuch mich recht bald in Hilversum.“

Er legte ein Geldstück auf den Tisch für den Kellner, winkte seinem Freunde lächelnd einen Gruß zu und schritt hinaus.

Hauberrisser bemühte sich, seine Gedanken in Ordnung zu bringen.

„Träume ich denn noch immer?“ fragte er sich voll Erstaunen. „Was war das? Zieht sich durch jedes Menschenleben ein solcher roter Faden merkwürdiger Zufälle, oder bin ich der einzige, dem derartige Dinge passieren? Greifen die Ringe der Geschehnisse vielleicht erst dann ineinander und bilden eine Kette, wenn man ihre Zusammenhänge nicht dadurch stört, daß man sich Pläne schafft, denen man tölpelhaft nachjagt und infolgedessen das Schicksal in einzelne Stücke reißt, die sonst ein fortlaufendes, wundersam gewebtes Band gebildet hätten?“ —

Aus alter ererbter Gewohnheit und den Erfahrungen gemäß, die er bisher im Leben für — scheinbar richtig befunden hatte, versuchte er, das gleichzeitige Auftauchen ein und desselben Bildes in seinem Gehirn und dem seines Freundes auf Gedankenübertragung zurückzuführen und damit zu erklären, aber die Theorie wollte sich diesmal nicht mit der Wirklichkeit decken wie sonst, wo er derlei Dinge auf die leichte Achsel genommen und sie möglichst rasch wieder zu vergessen getrachtet hatte. Pfeill’s Erinnerung an das olivgrünschimmernde Gesicht mit der schwarzen Binde über der Stirn hatte eine greifbare Grundlage gehabt: ein Porträt, das angeblich in Leyden hing, — aber woraus war die Traumvision, ebenfalls von einem olivgrünschimmernden Gesicht mit einer schwarzen Binde über der Stirn, die er kurz vorher im Laden des Chidher Grün gehabt hatte, entsprossen?

„Die Wiederkehr des seltsamen Namens „Chidher“ in dem kurzen Zeitraum von einer Stunde, — einmal als Firmenschild, dann als sagenhafte Bezeichnung für die Figur des Ewigen Juden, wunderbar genug ist es ja“, sagte sich Hauberrisser, „aber es gibt wohl wenig Menschen, die nicht derartige Beobachtungen in Menge gemacht hätten. Woher es kommen mag, daß Namen, die man früher nie gehört hat, plötzlich serienweise auf einen losprasseln, daß ferner die Leute auf der Gasse, wie das so häufig geschieht, einem Bekannten, den man Jahre lang nicht mehr getroffen hat, immer ähnlicher und ähnlicher sehen, bis er selbst gleich darauf um die Ecke biegt — ähnlich, nicht nur in der Einbildung, nein: photographierbar ähnlich, so ähnlich, daß man an den Betreffenden denken muß, ob man will oder nicht, — woher das alles kommen mag? Ob Menschen, die einander ähnlich sehen, nicht auch ein ähnliches Schicksal haben? Wie oft habe ich es schon bestätigt gefunden. Das Schicksal scheint so etwas wie eine unvermeidliche Begleiterscheinung der Körperbildung und Gesichtsform zu sein, an ein bis ins kleinste greifendes Gesetz der Übereinstimmung gebunden. Eine Kugel kann nur rollen, ein Würfel nur kollern, warum sollte ein Lebewesen mit seinem tausendfach komplizierteren Dasein nicht mit ebenso gesetzmäßigen, aber nur tausendfach komplizierteren Erlebnisvorausbestimmungen vor eine Deichsel gespannt sein! — Ich kann es sehr wohl verstehen, daß die alte Astrologie nicht aussterben kann und heute vielleicht mehr Anhänger zählt, als jemals früher, und daß jeder zehnte sich ein Horoskop stellen läßt; nur sind die Menschen offenbar auf dem Holzweg, wenn sie glauben, die sichtbaren Sterne am Himmel bestimmten den Schicksalsweg. Es wird sich da um andere ‚Planeten‘ handeln, um solche, die im Blut um das Herz kreisen und andere Umlaufszeiten haben als die Himmelskörper: Jupiter, Saturn usw. — Wenn gleicher Geburtsort, gleiche Geburtsstunde und Geburtsminute allein das Entscheidende wären, wie könnte es dann sein, daß Monstrositäten wie die zusammengewachsenen Schwestern Blaschek, die doch in derselben Sekunde geboren wurden, ein so verschiedenes Schicksal hatten, daß die eine Mutter wurde und die andere Jungfrau blieb?“

Ein Herr in weißem Flanellanzug, roter Krawatte, einen Panamahut ein wenig schief aufgesetzt, die Finger überladen mit protzigen Ringen und ein Monokel ins dunkel glühende Auge geklemmt, war bereits vor längerer Zeit an einem entfernten Tische hinter einer großen ungarischen Zeitung aufgetaucht und hatte sich nach mehrmaligem Platzwechsel — als störe ihn überall die Zugluft — bis dicht an Hauberrisser herangepirscht, ohne daß ihn dieser in seinem Grübeln bemerkt hätte.

Erst, als der Fremde sich mit auffallend lauter Stimme beim Kellner nach Amsterdamer Vergnügungslokalen und sonstigen Sehenswürdigkeiten erkundigte, wurde Hauberrisser aufmerksam, und der Eindruck der Außenwelt scheuchte sofort seine tiefsinnigen Betrachtungen in das Dunkel zurück, aus dem sie aufgestiegen waren.

Ein schneller Blick überzeugte ihn, daß es der Herr „Professor“ Zitter Arpád aus dem Vexiersalon war, der da so sichtlich bestrebt schien, den gänzlich unorientierten, soeben erst der Eisenbahn entschlüpften Neuankömmling zu spielen.

Wohl fehlte der Schnurrbart, und die Pomade war in ein neues Strombett geleitet worden, aber die Gaunervisage des unverkennbaren „Preßburger Hähndelfangers“ hatte dadurch nicht das mindeste an Ursprünglichkeit eingebüßt.

Hauberrisser war viel zu gut erzogen, um auch nur mit einem Wimperzucken zu verraten, daß er sich erinnere, wen er vor sich habe; überdies machte es ihm Spaß, die feinere List des Gebildeten der grobdrähtigen des Ungebildeten entgegenzustellen, der immer und überall glaubt, eine Verkleidung sei gelungen, bloß weil der, dem die Täuschung gelten soll, nicht sofort in komödiantenhaft plumpes Gebärdenspiel und Stirnrunzeln verfällt.

Daß der „Professor“ ihm heimlich bis ins Café nachgegangen war und irgendeine balkanesische Halunkerei im Schilde führte, stand für Hauberrisser außer Zweifel; um jedoch ganz sicher zu sein, daß ihm und nicht noch Anderen der Mummenschanz galt, machte er eine Bewegung, als wolle er zahlen und gehen. Sofort malte sich ärgerliche Bestürzung in den Mienen des Herrn Zitter.

Hauberrisser schmunzelte befriedigt in sich hinein; „die Firma Chidher Grün — angenommen, der Herr Professor ist tätiger Teilhaber — scheint ja über die mannigfaltigsten Hilfsmittel zu verfügen, wenn es gilt, ihre Kunden im Auge zu behalten: — duftende Damen mit Pagenfrisur, fliegende Korke, gespenstige alte Juden, prophetische Totenköpfe und weißgekleidete talentlose Spione! Allerhand Hochachtung!“

„Irgendeine Bank gibt es wohl hier in der Nähe nicht, Kellner, in der man ein paar englische Tausendpfundnoten in holländisches Geld umwechseln lassen könnte, wie?“ fragte der Professor nachlässig, aber wieder mit sehr lauter Stimme und tat sehr ärgerlich, als er eine verneinende Antwort bekam. „In Amsterdam ist es scheinbar recht schljecht mit dem Kljeingeld bestellt,“ brach er, halb zu Hauberrisser gewendet, ein Anknüpfungsgespräch vom Zaun. „Schon im Hotel hatte ich Schwjierigkeiten damit.“

Hauberrisser schwieg.

„Ja, hm, recht vjiel Schwjierigkeiten.“

Hauberrisser ließ sich nicht erweichen.

„Zum Glück kannte der Hotelbesitzer meinen Stammsitz. — — — Graf Ciechoñski, wenn ich mich vorstellen darf. Graf Wlodzimierz Ciechoñski.“

Hauberrisser verbeugte sich kaum merklich und murmelte seinen Namen so unverständlich wie nur möglich, der Graf schien jedoch ein ungemein feines Ohr zu haben, denn er sprang freudig erregt auf, eilte zum Tisch, nahm sofort in Pfeill’s leerem Sessel Platz und rief jubelnd: „Hauberrisser? Der berühmte Torpedoingenieur Hauberrisser? Graf Ciechoñski mein Name, Graf Wlodzimierz Ciechoñski, Sie gestatten doch?“

Hauberrisser schüttelte lächelnd den Kopf. „Sie irren, ich war niemals Torpedoingenieur.“ („Ein dummes Luder das“, setzte er innerlich hinzu, „schade, daß er den polnischen Grafen mimt; als Professor Zitter Arpád aus Preßburg wäre er mir lieber gewesen; ich hätte ihn dann im Lauf der Zeit wenigstens über seinen Kompagnon Chidher Grün ausholen können.“)

„Njicht? Schade. Aber das macht nichts. Schon der Name Hauberrisser erweckt in mir, oh, so liebe Erinnerungen“, die Stimme des Grafen zitterte vor Rührung, — „er und der Name Eugène Louis Jean Joseph sind eng mit unserer Familie verknjüpft.“

„Jetzt will er, daß ich frage, wer dieser Louis Eugène Joseph ist. Just nicht,“ dachte sich Hauberrisser und sog stumm an seiner Zigarette.

„Eugène Louis Jean Joseph war nämlich mein Taufpate. Gleich darauf ging er nach Afrika in den Tod.“

„Wahrscheinlich aus Gewissensbissen,“ brummte Hauberrisser in sich hinein. „So, hm, in den Tod, sehr bedauerlich.“

„Ja leider, leider, leider. Eugène Louis Jean Joseph! Er hätte Kaiser von Frankreich sein können.“

„Was hätte er?“ — Hauberrisser glaubte falsch gehört zu haben — „Kaiser von Frankreich hätt’ er sein können?“

„Sicherlich!“ Stolz spielte Zitter Arpád seinen Trumpf aus: „Prinz Eugène Louis Jean Joseph Napoleon IV. Er fiel am 1. Juni 1879 im Kampf gegen die Zulus. Ich besitze sogar eine Locke von ihm“, er zog eine goldene Taschenuhr von Beefsteakgröße und geradezu teuflischer Geschmacklosigkeit hervor, öffnete den Deckel und deutete auf ein Büschel schwarzer Pinselhaare. „Die Uhr ist auch von ihm. Ein Taufgeschenk. Ein Wunderwerk.“ Er erläuterte: „Wenn man hier drückt, schlägt sie Stunden, Minuten und Sekunden und gleichzeitig erscheint auf der Rückseite ein bewegliches Liebespaar. Dieser Knopf löst die Rennzeiger aus; dieser stoppt sie; wenn man ihn weiter hinunterdrückt, erscheint das jeweilige Mondviertel; noch tiefer hinein und das Datum klappt auf. Dieser Hebel nach links, und ein Tropfen Moschusparfüm spritzt hervor, — nach rechts, und es ertönt die Marseillaise. Es ist ein wahrhaft königliches Geschenk. Es existieren im ganzen nur zwei Stück davon.“

„Immerhin ein Trost,“ gab Hauberrisser höflich und doppeldeutig zu. Das Gemisch von bodenloser Frechheit und gänzlicher Unkenntnis weltmännischer Umgangsformen belustigte ihn auf das höchste.

Graf Ciechoñski, ermutigt durch die freundliche Miene des Ingenieurs, wurde immer zutraulicher, erzählte von seinen immensen Gütern in Russisch-Polen, die leider durch den Krieg verwüstet