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Seitenzahl: 453
von
Gustav Freytag.
Zehnte Auflage.
Leipzig Verlag von S. Hirzel 1905.
Das Recht der Uebersetzung ist vorbehalten.
Sie haben wesentlichen Antheil an der großen Arbeit gehabt, durch welche Shakespeare dem deutschen Volke in das Herz geschlossen wurde, in der heiteren Muße eines schön gehaltenen Lebens haben Sie unsere Kenntniß früherer Literaturperioden nach mehr als einer Richtung gefördert, mir selbst ist die Freude geworden, mit Ihnen einzelne Kunstregeln und Hilfsmittel dichterischer Arbeit in guter Stunde durchzusprechen. So lassen Sie sich gefallen, daß Ihr Name als günstige Vorbedeutung diesem Buche vorsteht. Ein Einzelner wünscht Ihnen dadurch öffentlichen Dank für Vieles auszusprechen, womit Sie unserem Volke wohlgethan haben.
Was ich Ihnen darbiete, soll kein ästhetisches Handbuch sein, ja es soll vermeiden das zu behandeln, was man Philosophie der Kunst nennt. Zumeist solche Erfahrungen wünschte ich aufzuzeichnen, wie sie der Schaffende während der Arbeit und auf der Bühne erwirbt, oft mit Mühe, auf Umwegen, spät für beglückenden Erfolg. Ich hoffe, auch in dieser Gestalt mag das Buch einigen Nutzen stiften. Denn unsere Lehrbücher der Aesthetik sind sehr umfangreiche Werke und reich an geistvoller Erklärung, aber man empfindet zuweilen als Uebelstand, daß ihre Lehren gerade da aufhören, wo die Unsicherheit des Schaffenden anfängt.
Die folgenden Blätter suchen also zunächst einen praktischen Nutzen, sie überliefern jüngeren Kunstgenossen einige Handwerksregeln in anspruchsloser Form. Die Veranlassung dazu fand ich in gelegentlichen Anfragen einzelner Schaffenden und in den Dramen, welche ich in der Handschrift zu lesen hatte. Wohl Jeder, dem das Vertrauen Anderer ein schriftliches Urtheil über ein neues Stück abfordert, hat erfahren, wie schwer, ja wie unmöglich es ist, eine ehrliche Ueberzeugung im Raum eines Briefes so zu begründen, daß der Dichter, noch warm von der Arbeit und befangen in den beabsichtigten Wirkungen, die Billigkeit des Tadlers und die Berechtigung der fremden Ansicht erkenne. Und nicht immer ist Muße die Handschrift zu lesen und eingehend zu antworten.
Was auf diesen Blättern in Kürze dargestellt wird, ist auch kein Geheimniß, kein neuer Fund. Fast Jeder, der auf unserer Bühne einige Erfahrung erworben hat, handhabt, mehr oder weniger sicher, die folgenden Regeln. Auch nicht die möglichste Vollständigkeit technischer Vorschriften suchte ich zu erreichen. Sie lassen sich sehr häufen, jeder Schaffende besitzt seine besondere Art zu arbeiten und gewisse ihm eigene Mittel zu wirken. Es kam hier darauf an, die Hauptsache herauszuheben und dem jüngeren Dichter den Weg zu weisen, auf dem er sich selbst zu fördern vermag.
Wenn aber der Freund fragen sollte, ob, wer selbst für die Bühne schreibt, nicht vorziehe, die Arbeitsregeln durch eigene Erfindung annehmbar zu machen, so will ich dieses Buch auch entschuldigen. Es werden alljährlich in Deutschland vielleicht hundert Dramen ernsten Stils geschrieben, wohl neunzig davon verschwinden in Handschrift, ohne auf die Bühne, selbst ohne zum Druck zu gelangen. Von den zehn übrigen, welche eine Aufführung durchsetzen, geben vielleicht nicht drei den Darstellern eine würdige und lohnende Aufgabe, den Zuhörern die Empfindung eines Kunstgenusses. Und unter den vielen Werken, welche untergehen, bevor sie lebendig geworden sind, sind allerdings zahlreiche Versuche Unfähiger, aber auch manche Arbeit hochgebildeter und tüchtiger Männer. Das ist doch eine ernste Sache. Hat sich die Talentlosigkeit in Deutschland eingebürgert, und sind wir sechzig Jahre nach Schiller noch so arm an dramatischem Leben?
Und sieht man solche Arbeiten näher an, so wird man die Beobachtung machen, daß hier und da sich allerdings achtungswerthe Kraft regt, aber formlos, zuchtlos, mit seltsamer Unbehilflichkeit im Herausheben der Wirkungen, welche dem Drama eigenthümlich sind.
Noch immer wird den Deutschen sehr schwer, was unsere westlichen Nachbarn leicht erwerben, Verständniß dessen, was auf der Bühne darstellbar ist. Wollte man den treuen Bundesgenossen, der in Karlsruhe mit unermüdlicher Sorgfalt unbrauchbare Stücke beurtheilt, nach seinen Erfahrungen fragen, er würde wahrscheinlich als letzten Grund dieser dramatischen Schwäche hervorheben, daß unsere Dichter nicht selbst auf der Bühne den Ball werfen wie Sophokles, oder geisterhaft im Harnisch schreiten wie Shakespeare.
Dieser Uebelstand läßt sich allerdings nicht beseitigen. Man kann unsere jungen Dichter nicht veranlassen, sich in dem Rollenfach zweiter Liebhaber für die Kunst zu ziehen, man kann unsere Schauspieler, denen ihre schöne Kunst zur anstrengenden Tagesarbeit geworden ist, nicht mit behaglicher Ruhe und Muße umgeben. Aber durch eine genauere Bekanntschaft mit der Bühne und ihren Bedürfnissen läßt sich für die Dichter doch Vieles lernen.
Nur wird diese Bekanntschaft allein, bei der Stillosigkeit, die auch auf unsern Theatern herrscht, nicht Alles bessern. Denn es scheint, daß auch unsere Schauspieler unsicher werden im Gebrauch der Kunstmittel, denen sie ihre besten Wirkungen verdanken. Deshalb, meine ich, ist die Zeit gekommen, wo ernstes Nachdenken über Gesetz und Regel noth thut.
Und noch einen Grund gibt es, der solches Niederschreiben nützlich machen kann. Auch Sie haben sich die schöne Eigenschaft des reifen Alters bewahrt, hoffnungsvoll in die deutsche Zukunft zu blicken. Vielleicht scheint auch Ihnen eine Zeit nicht mehr in unerreichbarer Ferne zu liegen, in welcher der Deutsche mit Selbstgefühl und stolzem Behagen das eigene Leben mustert. Dann mag der Frühling für ein reichliches Blühen des Dramas gekommen sein. Und für diese Periode dem auflebenden Geschlecht die Pfade von einigen Dornen zu säubern, ist immerhin keine erfolglose Arbeit.
Dies Buch handelt nur von dem Drama hohen Stils, das Schauspiel ist nebenbei erwähnt. Die Technik unseres Lustspiels darzustellen ist deshalb bedenklich, weil zwar zwei Arten desselben, Familienstück und Posse, bei uns eine breite und behagliche Ausbildung erhalten haben, die höchste Gattung der Komödie aber überhaupt noch kaum auf der neueren Bühne lebendig geworden ist. Ich meine die launige und humoristische Darstellung des beschränkten Empfindens, Wollens und Thuns, welche über die Anekdote des häuslichen Lebens hinausgeht und weitere Kreise menschlicher Interessen behandelt. Wenn erst Schwäche der Fürsten, politische Spießbürgerei des Städters, Hochmuth des Junkerthums, die zahlreichen socialen Verbildungen unserer Zeit ihre heitere und stilvolle Verwerthung in der Kunst gefunden haben, dann wird es auch eine ausgebildete Technik des Lustspiels geben.
Daß ich unter den Beispielen die Spanier und die Classiker der Franzosen nicht aufgeführt habe, werden Sie billigen. Schönheiten und Fehler des Calderon und Racine sind nicht die unseren, wir haben von ihnen nichts mehr zu lernen und nichts zu fürchten.
Leipzig, 1863.
Gustav Freytag.
Die Technik des Dramas.
DieTechnik des Dramas.
Daß die Technik des Dramas nichts Feststehendes, Unveränderliches sei, bedarf kaum der Erwähnung. Seit Aristoteles einige der höchsten Gesetze dramatischer Wirkung dargestellt hat, ist die Bildung des Menschengeschlechts um mehr als zweitausend Jahre älter geworden; nicht nur die Formen der Kunst, Bühne und Art der Darstellung haben sich gewaltig verändert, sondern, was wichtiger ist, der geistige und sittliche Inhalt der Menschen, das Verhältniß des Einzelnen zu seinem Geschlecht und zu den höchsten Gewalten des Erdenlebens, die Idee der Freiheit und die Vorstellungen von dem Wesen der Gottheit haben große Umwandlungen erfahren; ein weites Gebiet dramatischer Stoffe ist uns verloren, ein neuer größerer Bereich gewonnen. Mit den sittlichen und politischen Grundsätzen, welche unser Leben beherrschen, haben sich auch die Vorstellungen vom Schönen und künstlerisch Wirksamen fortgebildet. Zwischen den höchsten Kunstwirkungen der griechischen Festspiele, der Autos sacramentales und der Dramen zur Zeit Goethes und Ifflands ist der Unterschied nicht weniger groß, als zwischen dem hellenischen Chortheater, dem Mysterienbau und dem geschlossenen Salon der modernen Bühne. Man darf als sicher betrachten, daß einige Grundgesetze des dramatischen Schaffens für alle Zeit Geltung behalten werden; im Ganzen aber sind sowohl die Lebensbedürfnisse des Dramas in einer beständigen Entwickelung begriffen, als auch die Kunstmittel, durch welche Wirkungen ausgeübt werden. Und man meine nicht, daß die Technik der Poesie nur durch die Schöpfungen der größten Dichter gefördert werde, wir dürfen ohne Selbstüberhebung sagen, daß wir gegenwärtig klarer sind über die höchsten Kunstwirkungen im Drama und über den Gebrauch der technischen Zurüstung, als Lessing, Schiller und Goethe.
Der Dichter der Gegenwart ist geneigt, mit Verwunderung auf eine Arbeitsweise hinabzusehen, welche den Bau der Scenen, die Behandlung der Charaktere, die Reihenfolge der Wirkungen nach einem überlieferten Lehrgebäude fester technischer Regeln einrichtete. Leicht dünkt uns solche Beschränkung der Tod eines freien künstlerischen Schaffens. Nie war ein Irrthum größer. Gerade ein ausgebildetes System von Einzelvorschriften, eine sichere, in volksthümlicher Gewohnheit wurzelnde Beschränkung bei Wahl der Stoffe und Bau der Stücke sind zu verschiedenen Zeiten die beste Hilfe der schöpferischen Kraft gewesen. Ja sie sind, so scheint es, nothwendige Vorbedingung jener reichlichen Fruchtbarkeit, welche uns in einigen Zeiträumen der Vergangenheit räthselhaft und unbegreiflich erscheint. Noch erkennen wir, daß die griechische Tragödie eine solche Technik besaß, und daß die größten Dichter nach Handwerksregeln schufen, welche zum Theil allen gemein waren, zum Theil Eigenthum bestimmter Familien und Genossenschaften sein mochten. Viele derselben waren der attischen Kritik wohl bekannt, welche den Werth eines Stückes danach beurtheilte, ob die Peripetiescene an rechter Stelle stand und die Pathosscene die wünschenswerthe Stärke von Mitgefühl erregte. Daß das spanische Mantel- und Degendrama die Fäden seiner Intrigue ebenfalls nach festen Regeln kunstvoll durcheinander schob, darüber belehrt uns freilich keine Poetik eines Castilianers, aber wir vermögen mehre dieser Regeln aus dem gleichförmigen Bau und den immer wiederkehrenden Charakteren sehr wohl zu erkennen, und es würde nicht schwer sein, ein Lehrgebäude der eigenthümlichen Vorschriften aus den Stücken selbst zu errichten.
Natürlich waren diese Regeln und Kunstgriffe auch für die Zeitgenossen, denen sie nützten, nicht etwas Unveränderliches, auch sie erfuhren durch Genie und kluge Erfindung der Einzelnen so lange Ausbildung und Umformung, bis sie erstarrten und nach einer Zeit geistloser Verwendung zugleich mit der Schöpferkraft der Dichter verloren wurden.
Es ist wahr, eine ausgebildete Technik, welche nicht nur die Form, auch viele ästhetische Wirkungen bestimmt, steckt der dramatischen Poesie einer Zeit auch Ziel und Grenze ab, innerhalb welcher die größten Erfolge erreicht werden, welche zu überschreiten selbst dem Genie selten möglich ist. Leicht wird solche Begrenzung in spätern Jahrhunderten als Hinderniß einer vielseitigen Entwickelung aufgefaßt. Aber gerade wir Deutschen könnten uns ein abschätzendes Urtheil der Nachwelt recht gern gefallen lassen, wenn wir nur jetzt die Hilfe einer gemeingiltigen Technik besäßen. Denn wir leiden an dem Gegentheil einer engen Begrenzung, an übergroßer Zuchtlosigkeit und Formlosigkeit, uns fehlt ein volksmäßiger Stil, ein bestimmtes Gebiet dramatischer Stoffe, jede Sicherheit der Handgriffe; unser Schaffen ist fast nach allen Richtungen zufällig und unsicher geworden, noch heut, achtzig Jahre nach Schiller, wird es dem jungen Dichter sehr schwer, sich auf der Bühne vertraut und heimisch zu bewegen.
Wenn wir aber auch darauf verzichten müssen, mit den Vortheilen der sichern und handwerksmäßigen Ueberlieferung zu schaffen, welche der dramatischen Kunst gerade so wie den bildenden Künsten früherer Jahrhunderte eigen war, so sollen wir doch nicht verschmähen, die technischen Regeln aus alter und neuer Zeit, welche auf unserer Bühne künstlerische Wirkungen erleichtern, zu suchen und verständig zu gebrauchen. Es versteht sich, daß diese Regeln nicht durch Willkür eines Einzelnen, auch nicht durch den Einfluß eines großen Denkers oder Dichters auferlegt sein dürfen, sondern daß sie aus den edelsten Wirkungen unserer Bühne gezogen, nur das für uns Nothwendige enthalten müssen, daß sie der Kritik und der schaffenden Kraft nicht als Gewaltherrscher, sondern als ehrliche Helfer zu dienen haben, und daß auch bei ihnen eine Wandlung und Fortbildung nach den Bedürfnissen der Zeit nicht ausgeschlossen wird.
Es ist immerhin auffallend, daß die technischen Hilfsregeln früherer Zeit, nach denen der Schaffende den kunstvollen Bau des Dramas zusammenzufügen hatte, so selten durch Schrift spätern Geschlechtern überliefert sind. Zweitausend zweihundert Jahre sind vergangen, seit Aristoteles den Hellenen einen Theil dieser Gesetze darstellte. Leider ist die Poetik nur unvollständig auf uns gekommen, das Erhaltene ist vielleicht nur Auszug, den ungeschickte Hände gemacht haben, es hat Lücken und verderbten Text, auch scheinen einzelne Kapitel durcheinander geworfen. Trotz dieser Beschaffenheit ist das Erhaltene für uns von höchstem Werth, die Alterthumswissenschaft verdankt ihm einen Einblick in die verschüttete Bühnenwelt der Hellenen, in unsern ästhetischen Lehrbüchern bildet es noch heut die Grundlage für die Theorie der dramatischen Kunst, auch dem arbeitenden Dichter sind einige Kapitel der kleinen Schrift belehrend. Denn das Werk enthält außer einer Theorie der dramatischen Wirkungen, wie sie der größte Denker des Alterthums seinen Zeitgenossen zurecht legte, und außer mehren Grundsätzen einer volksthümlichen Kritik, wie sie der gebildete Athener vor neuen Stücken in Anwendung brachte, auch noch einige feine Handgriffe aus den dramatischen Werkstätten des Alterthums, welche wir für unsere Arbeit sehr vortheilhaft verwenden können. Im Folgenden wird, soweit der praktische Zweck dieses Buches erlaubt, davon die Rede sein.
Hundert und zwanzig Jahre sind es, seit Lessing den Deutschen die Geheimschrift der alten Poetik zu entziffern unternahm. Seine hamburgische Dramaturgie wurde der Ausgangspunkt für eine volksmäßige Auffassung des dramatisch Schönen. Und der siegreiche Kampf, welchen er in diesem Werk gegen die Tyrannei des französischen Geschmacks führte, wird demselben die Achtung und Liebe der Deutschen auf immer erhalten. Für unsere Zeit ist der streitende Theil der wichtigste. Wo Lessing den Aristoteles erklärt, erscheint sein Verständniß des Griechen unserer Gegenwart, welche mit reicheren Hilfsmitteln arbeitet, nicht überall genügend; wo er belehrend die Gesetze des Schaffens darlegt, ist sein Urtheil begrenzt durch die enge Auffassung des Schönen und Wirkungsvollen, in welcher er damals noch selbst stand.
Freilich die beste Quelle für den Gewinn technischer Regeln sind die Dramen großer Dichter, welche ihren Zauber auf Leser und Zuschauer noch heut ausüben. Zunächst die griechischen Tragödien. Wer sich gewöhnt von den Besonderheiten der alten Form abzusehen, der findet mit inniger Freude, daß der kunstvollste tragische Dichter der Athener, Sophokles, die Hauptgesetze des dramatischen Aufbaues mit einer beneidenswerthen Sicherheit und Klugheit verwendet. Für Steigerung, Höhenpunkt und Umkehr der Handlung — den zweiten, dritten und vierten Akt unserer Stücke — ist er noch uns ein selten erreichtes Vorbild.
Etwa zweitausend Jahre nach Oedipus auf Kolonos schrieb Shakespeare das Trauerspiel Romeo und Julie, er die zweite geniale Kraft, welche der dramatischen Kunst unsterblichen Ausdruck gegeben hat. Er schuf das Drama der Germanen, seine Behandlung des Tragischen, Anordnung der Handlung, Art und Weise der Charakterbildung, Darstellung der Seelenvorgänge haben für die Einleitung des Dramas und für die erste Hälfte bis zum Höhenpunkt einige technische Gesetze, welche uns noch leiten, festgestellt.
Auf einem Umwege kamen die Deutschen zur Erkenntniß von der Größe und Bedeutung seiner Arbeit für uns. Die großen Dichter der Deutschen, billig die nächsten Muster, an denen wir uns zu bilden haben, lebten in einer Zeit des geistvollen Anstellens von Versuchen mit dem Erbe alter Vergangenheit, deshalb fehlt der Technik, welche sie erwarben, Einiges von der Sicherheit und Folgerichtigkeit der Wirkungen; und gerade weil das Schöne, das sie gefunden, uns in das Blut übergegangen ist, sind wir auch verpflichtet, bei der Arbeit Manches von uns abzuwehren, was bei ihnen auf unfertiger oder unsicherer Grundlage ruht.
Die Beispiele, welche in dem Folgenden herangezogen werden, sind aus Sophokles, Shakespeare, Lessing, Goethe, Schiller geholt. Denn es war wünschenswerth, die Beispiele auf allbekannte Werke zu beschränken.
In der Seele des Dichters gestaltet sich das Drama allmählich aus dem rohen Stoff, dem Bericht über irgend etwas Geschehenes. Zuerst treten einzelne Momente: innerer Kampf und Entschluß eines Menschen, eine folgenschwere That, Zusammenstoß zweier Charaktere, Gegensatz eines Helden gegen seine Umgebung, so lebhaft aus dem Zusammenhange mit anderen Ereignissen heraus, daß sie Veranlassung zur Umbildung des Stoffes werden. Diese Umbildung geht so vor sich, daß die lebhaft empfundene Hauptsache in ihrer die Menschenseele fesselnden, rührenden oder erschütternden Bedeutung aufgefaßt, von allem zufällig daran Hängenden losgelöst und mit einzelnen ergänzenden Erfindungen in einen einheitlichen Zusammenhang von Ursache und Wirkung gebracht wird. Die neue Einheit, welche dadurch entsteht, ist die Idee des Dramas. Sie wird der Mittelpunkt, an welchen weitere freie Erfindung wie in Strahlen anschließt, sie wirkt mit ähnlicher Gewalt, wie die geheimnißvolle Kraft der Krystallbildung, durch sie wird Einheit der Handlung und Bedeutung der Charaktere, zuletzt der gesammte Bau des Dramas hervorgebracht.
Wie der rohe Stoff zu einer poetischen Idee vergeistigt wird, soll das folgende Beispiel zeigen. Ein junger Dichter des vorigen Jahrhunderts liest folgende Zeitungsanzeige: „Stuttgart vom 11. Am gestrigen Tage fand man in der Wohnung des Musikus Kritz dessen älteste Tochter Luise und den herzoglichen Dragoner-Major Blasius von Böller tot auf dem Boden liegen. Der aufgenommene Thatbestand und die ärztliche Untersuchung ergaben, daß beide durch getrunkenes Gift vom Leben gekommen waren. Man spricht von einem Liebesverhältniß, welches der Vater des Majors, der bekannte Präsident von Böller, zu beseitigen versucht habe. Das Schicksal des wegen seiner Sittsamkeit allgemein geachteten Mädchens erregt die Theilnahme aller fühlenden Seelen.”
Ueber diesen gegebenen Stoff bildet, durch Mitgefühl aufgeregt, die Phantasie des Dichters den Charakter eines feurigen und leidenschaftlichen Jünglings, eines unschuldigen, zartfühlenden Mädchens. Der Gegensatz zwischen der Hofluft, aus welcher der Liebende hervorgetreten ist, und dem engen Kreis eines kleinen bürgerlichen Haushalts wird lebhaft empfunden. Der feindliche Vater wird zu einem herzlosen, ränkevollen Hofmann. Zwingend macht sich das Bedürfniß geltend, den furchtbaren Entschluß eines lebensfrischen Jünglings, der bei solchem Verhältniß von ihm ausgegangen scheint, zu erklären. Diesen innern Zusammenhang findet der schaffende Dichter in einer Täuschung, welche durch den Vater in die Seele des Sohnes geworfen wird, in dem Verdachte von der Untreue der Geliebten. Auf solche Weise macht der Dichter den Bericht sich und Andern verständlich, indem er frei erfindend einen innern Zusammenhang hineinträgt. Es sind dem Anschein nach kleine Ergänzungen, aber sie schaffen ein ganz selbständiges Bild, welches der wirklichen Begebenheit als etwas Neues gegenübersteht und etwa folgenden Inhalt hat: Einem jungen Edelmann wird durch den Vater die Eifersucht gegen seine bürgerliche Geliebte so heftig aufgeregt, daß er sie und sich durch Gift tötet. Durch diese Umbildung ist ein Ereigniß der Wirklichkeit zu einer dramatischen Idee geworden. Von jetzt ab ist das wirkliche Ereigniß dem Dichter unwesentlich, der Ort, die Familiennamen fallen ab, ob in der That der Hergang so war, wie der Toten und ihrer Eltern Charakter und Stellung war, bekümmert durchaus nicht mehr; warme Empfindung und die erste Regung schöpferischer Kraft haben der Begebenheit einen allgemein verständlichen Inhalt und eine innere Wahrheit gegeben. Die Voraussetzungen des Stückes sind nicht mehr zufällige und in einem einzelnen Fall vorhandene, sie könnten gerade so hundertmal wieder eintreten, und bei den angenommenen Charakteren und dem gefundenen Zusammenhang würde der Ausgang immer wieder derselbe sein.
Hat der Dichter auf solche Weise den Stoff mit seiner Seele erfüllt, dann nimmt er etwa noch aus dem wirklichen Bericht, was ihm paßt, den Titel des Vaters und Sohnes, Vorname der Braut, Geschäft ihrer Eltern, vielleicht noch Einzelzüge, welche sich ihm für Verwerthung bequem fügen. Und daneben geht die weitere schöpferische Arbeit; die Hauptcharaktere entwickeln sich bis in ihre Einzelheiten und dazu die Nebenfiguren: ein ränkevoller Helfer des Vaters, ein anderes Weib im Gegensatz zu der Geliebten, die Persönlichkeiten der Eltern. Neue Momente der Handlung treten hinzu, alle diese Erfindungen durch die Idee bestimmt und gerichtet.
Diese Idee, der erste Fund des Dichters, die stille Seele, durch welche er den von außen an ihn tretenden Stoff vergeistigt, tritt ihm selbst nicht leicht als Gedanke gegenüber, sie hat nicht die farblose Klarheit eines abgezogenen Begriffes. Im Gegentheil ist das Eigenthümliche bei solcher Arbeit der Dichterseele, daß die Haupttheile der Handlung, das Wesen der Hauptcharaktere, ja auch etwas von der Farbe des Stückes zugleich mit der Idee in der Seele aufleuchten zu einer untrennbaren Einheit verbunden, und daß sie sofort wie ein Lebendes wirken, nach allen Seiten weitere Bildungen erzeugend. So ist allerdings möglich, daß dem Dichter die Idee seines Stückes, die er doch sehr sicher in der Seele trägt, niemals während dem Schaffen zur Ausbildung in Worten gelangt, und daß er sich erst später durch Nachdenken seine innere Habe in das geprägte Metall der Rede umsetzt und als Grundgedanken seines Dramas begreift. Möglich sogar, daß er als Schaffender die Idee richtiger nach den Gesetzen seiner Kunst empfunden hat, als er sich den Grundgedanken des Werkes in einem Satze zusammenfaßt.
Wenn es für ihn aber auch unbequem, zuweilen schwierig ist, die Idee des werdenden Stückes in eine Formel abzuziehen und in Worten zu beschreiben, so wird er doch gut thun, diese Abkühlung seiner warmen Seele schon im Beginn der Arbeit einmal zuzumuthen und scharf prüfend die gefundene Idee nach den Grundbedingungen des Dramas zu beurtheilen. Auch für den Fremden ist es lehrreich, aus dem fertigen Kunstwerk die verborgene Seele zu suchen und, wie unvollständig das auch immer möglich sei, in eine Formel zu fassen. Es läßt sich Manches daraus erkennen, was für die einzelnen Dichter charakteristisch ist. Es sei z. B. die Grundlage „Maria Stuart”: aufgeregte Eifersucht einer Königin treibt zur Tötung ihrer gefangenen Gegnerin. Und wieder von „Kabale und Liebe”: aufgeregte Eifersucht eines jungen Adligen treibt zur Tötung seiner bürgerlichen Geliebten, so wird diese nackte Formel zwar der ganzen Fülle des farbigen Lebens enthoben sein, welches im Gemüth des Schaffenden an der Idee haftet; trotzdem wird einiges Eigenthümliche an dem Bau beider Stücke schon aus ihr deutlich werden, z. B. daß der Dichter bei solcher Grundlage in die Nothwendigkeit versetzt war, den ersten Theil der Handlung vorzudichten, welcher das Entstehen der Eifersucht erklärt, daß also die treibende Kraft in den Hauptcharakteren selbst erst von der Mitte des Stückes aus wirksam wird, und daß die ersten Akte bis zum Höhenpunkt vorzugsweise die Bestrebungen der Nebenfiguren enthalten, diese tötliche Thätigkeit eines der Hauptcharaktere zu erregen. Er wird ferner bemerken, wie ähnlich im letzten Grunde Motiv und Bau dieser beiden Dramen Schillers ist und wie beide eine überraschende Aehnlichkeit mit Idee und Anlage des gewaltigeren Othello haben.
Der Stoff, welcher durch die dramatische Idee umgebildet wird, ist entweder vom Dichter eigens für sein Drama erfunden, oder er ist eine Anekdote aus dem Leben, welches den Dichter umgibt, oder ein Bericht, den die Geschichte darbietet, oder der Inhalt einer Sage, Novelle, poetischen Erzählung. In jedem dieser Fälle, wo der Dichter Vorhandenes benutzt, ist der Stoff bereits durch das Eindringen einer Idee mehr oder weniger vermenschlicht. Sogar in der oben erdachten Zeitungsanzeige ist die beginnende Umbildung bereits erkennbar. In dem letzten Satze: „Man spricht von einem Liebesverhältniß, welches u. s. w.” macht der Berichterstatter den ersten Versuch, die Thatsachen in eine innerlich zusammenhängende Geschichte zu wandeln, den Unglücksfall zu erklären und den Liebenden dadurch erhöhte Theilnahme zu verleihen, daß ihrem Wesen ein anziehender Inhalt gegeben wird. Dieser Vorgang des Umdeutens, durch welchen wirklichen Ereignissen ein den Bedürfnissen des Gemüths entsprechender Inhalt und Zusammenhang verliehen wird, ist kein Vorrecht des Dichters. Neigung und Fähigkeit dazu sind in allen Menschen und zu allen Zeiten thätig. Jahrtausende lang hat das Menschengeschlecht alles Leben des Himmels und der Erde sich so umgedeutet, es hat seine Vorstellungen von dem göttlichen Wesen mit menschlichen Ideen überreichlich erfüllt. Alle epische Sage ist aus einer solchen Umwandlung religiöser, naturhistorischer und zuweilen geschichtlicher Eindrücke in poetische Ideen hervorgegangen. Noch jetzt, seit die historische Bildung uns beherrscht und die Achtung vor dem thatsächlichen Zusammenhange der Weltbegebenheiten hoch gestiegen ist, erweist sich im Größten wie im Kleinsten dieser Drang die Ereignisse zu erklären. Bei jeder Anekdote, ja in dem unliebsamen Geklätsch der Gesellschaft ist dieselbe Thätigkeit sichtbar, mag nun das Wirkliche durch den Trieb umgewandelt werden, irgend einen Zug des kleinen Lebens heiter und anmuthig darzustellen, oder aus dem Bedürfniß des Erzählers, sich selbst im Gegensatz zu andern Menschen als sicherer und besser zu empfinden.
Auch der geschichtliche Stoff ist durch den Historiker bereits vermittelst einer Idee geordnet, bevor der Dichter sich seiner bemächtigt. Die Ideen des Geschichtschreibers sind allerdings nicht poetische, aber auch sie wirken bestimmend und bildend auf alle Theile des Werkes, welches durch sie hervorgerufen wird. Wer das Leben eines Mannes beschreibt, wer einen Abschnitt der vergangenen Zeit darstellt, auch er muß nach festen Gesichtspunkten die chaotische Stoffmasse ordnen, Unwesentliches ausscheiden, die Hauptsachen hervorheben. Noch mehr: er muß den Inhalt eines Menschenlebens oder einer Zeit zu verstehen suchen, ureigene Grundzüge, einen innern Zusammenhang der Ereignisse zu finden bemüht sein. Aber freilich zunächst einen innern Zusammenhang seines Stoffes mit vielem Andern, außerhalb Liegenden, das er nicht darstellt. Ja, er muß sogar in einzelnen Fällen die Ueberlieferung ergänzen und Unverständliches dadurch deuten, daß er den möglichen und wahrscheinlichen Inhalt desselben findet. Er wird endlich auch bei der Anordnung seines Werkes durch Gesetze des Schaffens bestimmt, welche zahlreiche Uebereinstimmungen mit den Compositionsgesetzen des Dichters haben. Und er vermag durch sein Wissen und seine Kunst aus dem rohen Stoffe ein Bewunderung erregendes Bild zu schaffen, den mächtigsten Eindruck auf die Seele des Lesers hervorzubringen. Aber er unterscheidet sich von dem Dichter dadurch, daß er gewissenhaft das wirklich Geschehene so zu verstehen sucht, wie es thatsächlich in die Erscheinung getreten war, und daß der innere Zusammenhang, den er sucht, durch eine Weltordnung hervorgebracht wird, welche wir als göttlich, unendlich, unfaßlich verehren. Dem Geschichtschreiber ist der Thatbestand selbst und die Bedeutung desselben für den menschlichen Geist der höchste Fund. Dem Dichter ist das Höchste die schöne Wirkung der eigenen Erfindung, ihr zu Liebe wandelt er behaglich spielend den wirklichen Thatbestand. Deshalb ist dem Dichter jedes Werk des Geschichtschreibers, wie vollständig dasselbe auch durch die aus dem Inhalte erkannte geschichtliche Idee belebt sein mag, doch nichts als roher Stoff, gleich einem Tagesereigniß, und die kunstvollste Behandlung durch den Historiker ist ihm nur insoweit brauchbar, als sie ihm das Verständniß einer Begebenheit erleichtert. Hat der Dichter durch die Geschichte Theilnahme an der Person des Kriegsfürsten Wallenstein gewonnen, empfindet er aus dem Bericht lebhaft einen gewissen Zusammenhang zwischen den Thaten und dem Geschick des Mannes, wird er durch auffallende Einzelzüge des wirklichen Lebens gerührt oder erschüttert, so beginnt bei ihm der Vorgang des Umbildens damit, daß er Thaten und Untergang des Helden in vollständig begreiflichen und ergreifenden Zusammenhang bringt, und daß er sich das Wesen des Helden so umbildet, wie es für eine rührende und erschütternde Wirkung der Handlung wünschenswerth ist. Was in dem geschichtlichen Charakter vielleicht nur eine Nebenursache war, wird zur Grundlage seines Wesens, der finstere, schreckliche Bandenführer nimmt etwas von der Natur des Dichters an, er wird ein hochsinniger, träumerisch nachdenklicher Mann. Diesem Charakter gemäß werden die Begebenheiten umgedeutet, alle andern Charaktere bestimmt, Schuld und Schicksale gerichtet. Durch solches Idealisiren ist Schillers Wallenstein entstanden, eine Gestalt, deren fesselnde Züge mit dem Antlitz des geschichtlichen Wallenstein nur wenig gemein haben. Freilich wird der Dichter sich zu hüten haben, daß in seiner Erfindung nicht ein für seine Zeitgenossen empfindlicher Gegensatz zu der historischen Wahrheit hervortrete. Wie sehr der neuere Dichter durch solche Rücksicht eingeengt wird, soll später ausgeführt werden.
Es wird dabei von der Persönlichkeit des Dichters abhängen, ob den ersten Reiz zu seiner poetischen Thätigkeit fesselnde Charakterzüge der Menschen, oder das Schlagende des wirklichen Geschickes, oder vielleicht gar die interessante Zeitfarbe abgibt, welche er schon in dem geschichtlichen Bericht vorfindet. Von dem Augenblick aber, wo ihm der Reiz und die Wärme gekommen sind, deren er zum Schaffen bedarf, verfährt er, wie treu er sich auch scheinbar an den geschichtlichen Stoff anlehne, doch in der That mit unumschränkter Freiheit. Er verwandelt allen für ihn brauchbaren Stoff in dramatische Momente.[1]
Aber auch, wo der Dichter einen Stoff aufnimmt, der bereits nach Gesetzen des epischen Schaffens mehr oder weniger vollständig geordnet ist, als Heldengedicht, Sage, kunstvoll durchgebildete Erzählung, ist ihm das für eine andere Gattung der Poesie Fertige nur Stoff. Und man meine nicht, daß eine Begebenheit und ihre Personen, welche durch so nahe verwandte Kunst bereits verklärt sind, schon deshalb für das Drama bessere Zurichtung haben. Im Gegentheil ist gerade zwischen den großen Gebilden der epischen Poesie, welche Begebenheiten und Helden schildert, wie sie neben einander stehen, und zwischen der dramatischen Kunst, welche Handlungen und Charaktere darstellt, wie sie durch einander werden, ein tiefer Gegensatz, der für den Schaffenden nicht leicht zu bewältigen ist. Sogar der poetische Reiz, den diese zugerichteten Gebilde auf seine Seele ausüben, mag ihm erschweren, dieselben nach den Lebensbedingungen seiner Kunst umzubilden. Das griechische Drama hat ebenso hart mit seinen Stoffen gerungen, welche dem Epos entnommen waren, als die geschichtlichen Dichter unserer Zeit mit der Umwandlung der geschichtlichen Ideen in dramatische.
Einen Stoff nach einheitlicher Idee künstlerisch umbilden heißt ihn idealisiren. Die Personen des Dichters werden, gegenüber ihren Stoffbildern aus der Wirklichkeit, mit einem bequemen Handwerksausdruck Ideale genannt.
Dramatisch sind diejenigen starken Seelenbewegungen, welche sich bis zum Willen und zum Thun verhärten, und diejenigen Seelenbewegungen, welche durch ein Thun aufgeregt werden; also die innern Vorgänge, welche der Mensch vom Aufleuchten einer Empfindung bis zu leidenschaftlichem Begehren und Handeln durchmacht, sowie die Einwirkungen, welche eigenes und fremdes Handeln in der Seele hervorbringt; also das Ausströmen der Willenskraft aus dem tiefen Gemüth nach der Außenwelt und das Einströmen bestimmender Einflüsse aus der Außenwelt in das Innere des Gemüths; also das Werden einer That und ihre Folgen auf das Gemüth.
Nicht dramatisch ist die Action an sich und die leidenschaftliche Bewegung an sich. Nicht die Darstellung einer Leidenschaft an sich, sondern der Leidenschaft, welche zu einem Thun leitet, ist die Aufgabe der dramatischen Kunst; nicht die Darstellung einer Begebenheit an sich, sondern ihrer Einwirkung auf die Menschenseele ist Aufgabe der dramatischen Kunst. Ausführung leidenschaftlicher Seelenbewegungen als solcher ist Sache der Lyrik, Schilderung fesselnder Begebenheiten ist Aufgabe des Epos.
Beide Richtungen, in denen das Dramatische sich äußert, sind allerdings nicht grundverschieden. Auch während der Mensch in der Spannung und Arbeit ist, sein Inneres nach Außen zu wenden, wirkt seine Umgebung fördernd oder hemmend auf seine leidenschaftliche Bewegung. Und wieder, auch während das Gethane auf ihn zurückwirkt, beharrt er nicht aufnehmend, sondern erhält durch die Aufnahme neue Bewegungen und Wandlungen. Dennoch ist ein Unterschied in der Wirkung beider eng verbundenen Vorgänge. Den höchsten Reiz hat immer der erste Vorgang, der innere Kampf des Menschen bis zur That. Der zweite fordert mehr äußerliche Bewegung, ein stärkeres Zusammenwirken verschiedener Kräfte, fast Alles, was die Schaulust vergnügt, gehört ihm an; und doch ist er, wie unentbehrlich er dem Drama sei, vornehmlich ein Befriedigen erregter Spannung, und leicht eilt über ihn hinweg die Ungeduld des nachschaffenden Hörers, eine neue leidenschaftliche Spannung im Innern der Helden suchend. Was wird, nicht, was als ein Gewordenes Staunen erregt, fesselt am meisten.
Da die dramatische Kunst Menschen darstellt, wie ihr Inneres nach Außen wirkt oder durch Einwirkungen von Außen ergriffen wird, so muß sie folgerecht die Mittel benützen, durch welche sie den Zuhörern diese Vorgänge der Menschennatur verständlich machen kann. Diese Mittel sind Rede, Ton, Geberde. Sie muß ihre Menschen vorführen als sprechend, singend, im Geberdenspiel. Die Poesie gebraucht also zu Gehilfen für ihre Darstellung die Musik und Schauspielkunst.
In engem Verbande mit ihren helfenden Künsten, in kräftiger, geselliger Arbeit, sendet sie ihre Bilder in die Seelen der Aufnehmenden, welche zugleich Hörende und Schauende sind. Die Eindrücke, welche sie hervorbringt, werden Wirkungen genannt. Die dramatischen Wirkungen haben eine sehr eigenthümliche Beschaffenheit, sie unterscheiden sich nicht nur von den Wirkungen der bildenden Künste durch nachdrücklichere Kraft und die allmähliche gesetzmäßige Steigerung in bestimmtem Zeitmaß, sondern auch von den mächtigen Wirkungen der Musik dadurch, daß sie durch zwei Sinne zugleich einströmen, und daß sie nicht allein das Empfindungsleben, sondern auch die Denkkraft des Hörers reizvoll spannen.
Schon aus dem Gesagten ist klar, daß die nach den Bedürfnissen dramatischer Kunst zugerichteten Personen einiges Besondere in ihrem Wesen haben müssen, was sie nicht nur von den unendlich mannigfaltigeren und complicirteren Menschenbildern, welche uns das wirkliche Leben in die Seele drückt, unterscheidet, sondern auch von den poetischen Gebilden, welche durch andere Gattungen der Kunst, das Epos und den Roman oder die Lyrik, wirksam gemacht werden. Die dramatische Person soll menschliche Natur darstellen, nicht wie sie sich thätig und gefühlvoll in ihrer Umgebung regt und spiegelt, sondern ein großartig und leidenschaftlich bewegtes Innere, welches danach ringt, sich in die That umzusetzen, Wesen und Thun Anderer umgestaltend zu leiten. Der Mensch des Dramas soll in starker Befangenheit, Spannung und Wandlung erscheinen; vorzugsweise die Eigenschaften werden bei ihm in Thätigkeit dargestellt, welche im Kampf mit anderen Menschen zur Geltung kommen, Energie der Empfindung, Wucht der Willenskraft, Beschränktheit durch leidenschaftliches Begehren, gerade die Eigenschaften, welche den Charakter bilden und durch den Charakter verständlich werden. Es geschieht also nicht ohne Grund, daß die Kunstsprache kurzweg die Personen des Dramas Charaktere nennt.
Aber die Charaktere, welche durch die Poesie und ihre helfenden Künste vorgeführt werden, vermögen ihr inneres Leben nur zu bethätigen an einem Geschehenden, als Theilnehmer an einer Begebenheit, deren Verlauf und innerer Zusammenhang durch die dramatischen Vorgänge in der Seele der Helden dem Zuhörer deutlich wird. Diese Begebenheit, wenn sie nach den Bedürfnissen der Kunst zugerichtet ist, heißt die Handlung.[2]
Jeder Theilnehmer an der dramatischen Handlung hat eine bestimmte Stellung zum Ganzen, für jeden ist eine genau umschriebene Persönlichkeit nothwendig, welche so beschaffen sein muß, daß das Zweckvolle derselben vom Zuhörer mit Behagen empfunden, das Menschliche und Eigenthümliche von dem Schauspieler durch die Mittel seiner Kunst wirksam dargestellt werden kann.
Jene Seelenvorgänge, welche oben als die dramatischen bezeichnet wurden, werden allerdings nicht an jeder der dargestellten Personen vollständig sichtbar, zumal nicht auf der neuern Bühne, welche liebt, eine größere Anzahl von Menschen als Träger ihrer Handlung aufzuführen. Aber die Hauptpersonen müssen davon erfüllt sein, nur wenn diese ihr Wesen in der angegebenen Weise kräftig, reichlich und bis zu den geheimsten Falten des Innern darlegen, vermag das Drama große Wirkungen hervorzubringen. Wird an den Hauptpersonen dies letzte Dramatische nicht sichtbar und nicht dem Aufnehmenden eindringlich, so fehlt dem Drama das Leben, es wird eine gekünstelte leere Form ohne den entsprechenden Inhalt, das anspruchsvolle Zusammenwirken mehrer verbundener Künste macht diese Leere doppelt peinlich.
Neben den Hauptpersonen erhalten ihre Gehilfen, je nach dem Raum, welchen sie im Stück einnehmen, mehr oder weniger Antheil an diesem dramatischen Leben. Und völlig schwindet es auch in den kleinsten Rollen nicht, selbst bei den Personen, welche nur durch wenige Worte ihre Theilnahme erweisen können; bei dem Begleiter, dem Anmeldenden wird wenigstens der Schauspielkunst die Pflicht, durch Tracht, Sprechweise, Haltung, Geberde, Aufstellung der eintretenden Person den für das Stück zweckmäßigen Inhalt derselben äußerlich darzustellen, wenn auch knapp und bescheiden.
Da aber die Darstellung derjenigen Seelenvorgänge, welche Vorrecht und Bedürfniß des Dramas sind, Zeit in Anspruch nimmt, und dem Dichter je nach der Gewohnheit seines Volkes auch das Zeitmaß für seine Wirkungen begrenzt ist, so folgt schon hieraus, daß die dargestellte Begebenheit die Hauptpersonen weit stärker hervorheben muß, als bei einem Ereigniß der Wirklichkeit, welches durch gemeinsame Thätigkeit mehrer Menschen hervorgebracht wird, nothwendig ist.
Die Fähigkeit, dramatische Wirkungen durch die Kunst hervorzubringen, ist dem Menschengeschlecht nicht in jedem Zeitraum seines Daseins verliehen. Die dramatische Poesie erscheint später als Epos und Lyrik; ihre Blüthe in einem Volke hängt allerdings von dem glücklichen Zusammentreffen vieler hervortreibender Kräfte ab, zunächst aber davon, daß in dem wirklichen Leben der Volksgenossen die entsprechenden Seelenvorgänge bereits häufig und reichlich sichtbar werden. Und dies ist erst möglich, wenn das Volk eine gewisse Höhe der Entwickelung erreicht hat, wenn die Menschen gewöhnt sind, sich selbst und andere vor den Momenten einer That scharfsichtig zu beobachten, wenn die Sprache einen hohen Grad von Beweglichkeit und gewandter Dialektik ausgebildet hat, wenn der Einzelne nicht mehr durch den epischen Bann alter Ueberlieferung und äußerer Gewalt, durch hergebrachte Formel und volksgemäße Gewohnheit gefesselt wird, sondern sich freier das eigene Leben zu formen vermag. Wir unterscheiden zwei Zeiträume, in denen das Dramatische dem Geschlecht der Erde gekommen ist. Zum ersten Mal trat diese Vertiefung der Menschenseele in die antike Welt etwa um das Jahr 500 v. Chr., als sich das jugendliche Selbstgefühl der freien hellenischen Stadtgemeinden mit der Blüthe des Handels, der öffentlichen Reden und der Theilnahme des Bürgers am Staat erhob. Das zweite Mal trat das Dramatische in die neuere Völkerfamilie Europas nach der Reformation zugleich mit der Vertiefung des Gemüthes und Geistes, welche durch das sechzehnte Jahrhundert sowohl bei den Germanen als bei den Romanen — in sehr verschiedener Weise — hervorgebracht wurde. Allerdings hatten schon Jahrhunderte vor dem Eintritt dieser kräftigen Seelenarbeit sowohl die Hellenen als die Stämme der Völkerwanderung sich die ersten Anfänge einer Redeweise und Kunst des Geberdenspiels entwickelt, welche das Dramatische suchte. Dort wie hier hatten große Götterfeste einen Gesang in feierlicher Tracht und das Spiel volksthümlicher Masken veranlaßt. Aber das Eintreten der dramatischen Kraft in diese lyrischen oder epischen Schaustellungen war doch beide Male ein wunderbar schnelles, fast plötzliches. Beide Male entfaltete sich das Dramatische von dem Augenblick, in dem es lebendig wurde, mit großer Kraft zu einer Schönheit, welche durch die spätern Jahrhunderte nicht leicht erreicht wurde. Unmittelbar nach den Perserkriegen kamen Aeschylos, Sophokles, Euripides dicht hinter einander herauf. Kurz nach der Reformation erwuchs in der Völkerfamilie Europas zuerst bei den Engländern und Spaniern, dann bei den Franzosen, endlich bei den zurückgebliebenen Deutschen aus unbehilflicher Schwäche die höchste volksgemäße Blüthe der seltenen Kunst.
Aber darin unterscheidet sich jener ältere Eintritt des Dramatischen in die alte Welt, daß das Drama des Alterthums aus lyrischem Chorgesang hervorwuchs, während das neuere auf der epischen Freude an Vorführung wichtiger Begebenheiten beruht. Dort war im ersten Anfange die leidenschaftliche Aufregung des Gefühls, hier das Schauen eines Ereignisses reizvoll gewesen. Diese Verschiedenheit des Ursprungs hat auch nach der kunstvollen Ausbildung Form und Inhalt des Dramas mächtig beeinflußt, und wie erhaben die besten Leistungen der Kunst in beiden Zeiträumen wurden, sie behielten etwas wesentlich Verschiedenes.
Aber selbst nachdem das dramatische Leben in dem Volke aufgegangen war, blieben die höchsten Kunstwirkungen der Poesie ein Vorrecht Weniger, auch seit dieser Zeit wird die dramatische Kraft nicht jedem Dichter zu Theil; ja sie füllt nicht jedes Werk, auch der größten Dichter, mit genügender Gewalt. Wir dürfen schließen, daß schon zur Zeit des Aristoteles jene prunkvollen Schaustücke mit einfacher Handlung, ohne charakteristisches Begehren der Hauptfiguren, mit lose eingehängten Chören, wie er sie beschreibt, vielleicht lyrische Schönheiten hatten, aber keine dramatischen. Und unter den geschichtlichen Dramen, welche jetzt in Deutschland jährlich geschrieben werden, enthält die größere Hälfte wenig mehr als dialogisirte und verstümmelte Geschichte, etwa epischen Stoff in scenischer Form, ebenfalls nicht dramatischen Inhalt. Ja auch einzelne Werke großer Dichter kranken an demselben Mangel. Nur zwei berühmte Dramen seien hier genannt. Die Hekabe des Euripides zeigt bis gegen das Ende nur kleine durchaus ungenügende Fortschritte aus der bewegten Stimmung zu einem Thun: erst im Schlußkampf gegen Polymestor erweist Hekabe eine Leidenschaft, die zum Willen wird, erst da beginnt eine dramatische Spannung, bis dahin floß aus kurz skizzirten leidenvollen Zuständen der Hauptpersonen nur lyrische Klage. Und wieder in Shakespeare's Heinrich V., in dem der Dichter ein vaterländisches Volksstück nach den alten epischen Gewohnheiten seiner Bühne dichten wollte, mit kriegerischen Aufzügen, Gefechten, kleinen Episoden, ist weder an dem Hauptcharakter noch den Nebenfiguren eine tiefe Begründung ihres Thuns aus dramatisch darstellbaren Motiven sichtbar. In kurzen Wellen kräuselt sich Wunsch und Forderung, die Handlungen selbst sind die Hauptsache. Die Vaterlandsliebe muß warme Theilnahme an der Handlung aufregen, was sie allerdings in Shakespeare's Zeit und Volk reichlich gethan hat. Für uns ist das Drama weniger darstellbar, als die Theile Heinrich's VI. — Dagegen enthält, um nur einige Stücke desselben Dichters zu nennen, Macbeth bis zur Banketscene, der ganze Coriolan, Othello, Romeo und Julie, Julius Cäsar, Lear bis zur Hüttenscene, Richard III. das machtvollste Dramatische, welches je von einem Germanen geschaffen worden.
Nach der starken Spannung der Hauptpersonen aber schätzt in der Regel schon die Mitwelt, in jedem Fall die Folgezeit die Bedeutung eines Dramas. Wo dies Leben fehlt, vermag keine Kunst der Behandlung, kein günstiger Stoff das Werk lebendig zu erhalten. Wo dies dramatische Leben vorhanden ist, betrachtet auch noch späte Folgezeit ein Dichterwerk mit lebhafter Achtung und übersieht ihm gern große Mängel.
Die Handlung des Dramas ist die nach einer Idee angeordnete Begebenheit, deren Inhalt durch die Charaktere vorgeführt wird.
Sie ist aus vielen Einzelheiten zusammengesetzt und besteht aus einer Anzahl dramatischer Momente, welche nach einander in gesetzlicher Gliederung wirksam werden.
Die Handlung des ernsten Dramas muß folgende Eigenschaften haben:
Sie muß eine festgeschlossene Einheit bilden.
Dies berühmte Gesetz hat bei Griechen und Römern, bei Spaniern und Franzosen, bei Shakespeare und den Deutschen sehr verschiedene Anwendung erfahren, welche zum Theil durch die Kunstgelehrten, zum Theil durch die Beschaffenheit der Bühnen veranlaßt wurde. Das Verengen seiner Forderung durch die französischen Classiker und der gegen die drei Einheiten von Ort, Zeit, Begebenheit geführte Kampf der Deutschen haben für uns nur noch ein literarhistorisches Interesse.[3]
Kein Stoff ist ohne Voraussetzungen, wie vollständig er aus dem Zusammenhange mit andern Ereignissen herausgelöst werde. Diese unentbehrlichen Voraussetzungen müssen dem Hörer in den Eröffnungsscenen so weit dargestellt werden, daß er die Grundlagen des Stückes übersieht, nicht weitläufiger, damit nicht der Raum für die Handlung selbst beengt werde. Also zunächst Zeit, Volk, Ort, Stellung der auftretenden Hauptpersonen zu einander, dabei die unvermeidlichen Fäden, welche von Allem, was außerhalb der Handlung geblieben ist, sich in diese selbst hineinziehen. Wenn z. B. in Kabale und Liebe ein bestehendes Liebesverhältniß zu Grunde liegt, so muß dem Hörer sogleich ein scharf beleuchtender Einblick in diese Beziehung der beiden Hauptpersonen und in das Familienleben gewährt werden, aus welchem sich das Trauerspiel entwickeln soll. Vollends bei geschichtlichem Stoff, der aus dem ungeheuren und unendlichen Zusammenhange der Weltereignisse herausgehoben wird, ist die Darlegung seiner Voraussetzungen keine leichte Sache und der Dichter hat sehr darauf zu achten, daß er dieselben so viel als möglich vereinfache.
Von dieser unentbehrlichen Einleitung muß sich aber der Anfang der bewegten Handlung kräftig abheben, wie eine beginnende Melodie von einleitenden Accorden. Dies erste Moment der Bewegung — das aufregende Moment — ist von großer Wichtigkeit für die Wirkung des Dramas; es wird weiter unten davon die Rede sein.
Ebenso muß das Ende der Handlung als allgemein verständliches Ergebniß des Gesammtverlaufs erscheinen, gerade hier muß die innere Nothwendigkeit lebhaft empfunden werden; der Ausgang aber muß die vollständige Beendigung des Kampfes und der aufgeregten Conflicte darstellen.
Innerhalb dieser Grenzen soll sich die Handlung in einheitlichem Zusammenhange fortbewegen. Dieser innere Zusammenhang wird im Drama dadurch hervorgebracht, daß jedes Folgende aus dem Vorhergehenden abgeleitet wird als Wirkung einer dargestellten Ursache. Mag das Veranlassende nun der folgerechte Zwang der Begebenheiten sein, und das neu Eintretende als wahrscheinliches und allgemein verständliches Ergebniß früherer Handlungen begriffen werden; oder mag das Bewirkende eine allgemein verständliche Eigenthümlichkeit des bereits dargelegten Charakters sein. Auch wenn unvermeidlich ist, daß im Verlauf neue Ereignisse hinzutreten, sogar solche, welche dem Hörer unerwartet und überraschend kommen, müssen diese unmerklich, aber vollständig durch Vorhergegangenes erklärt sein. Dies Begründen der Ereignisse im Drama heißt Motiviren. Durch die Motive werden die Einzelheiten der Handlung zu einem künstlerisch wohlgefügten Ganzen verbunden. Das Zusammenfesseln der Ereignisse durch das freie Schaffen einer ursächlichen Verbindung ist die unterscheidende Eigenthümlichkeit dieser Kunstgattung, durch dies Zusammenfesseln wird das dramatische Idealisiren des Stoffes bewirkt.
Als Beispiel diene die Umwandlung einer Erzählung in eine dramatische Handlung. Die Erzählung berichtet Folgendes: Zu Verona lebten zwei edle Familien in alter Feindschaft und Fehde. Da will der Zufall, daß einst der Sohn des einen Geschlechts mit seinen Begleitern den übermüthigen Streich ausführt, verkleidet in ein Maskenfest einzudringen, das der Häuptling des anderen Geschlechtes veranstaltet. Auf diesem Maskenfest sieht der Eindringling die Tochter seines Feindes, in beiden entsteht eine rücksichtslose Leidenschaft, sie beschließen heimliche Vermählung und werden von dem Beichtvater des Mädchens getraut. Da will wieder der Zufall, daß der Neuvermählte mit einem Vetter seiner Braut in Streit geräth und, weil er diesen im Zweikampf getötet hat, von dem Fürsten des Landes bei Todesstrafe verbannt wird. Unterdeß hat ein vornehmer Freier bei den Eltern der Neuvermählten um sie angehalten, der Vater achtet nicht das verzweifelte Flehen der Tochter und setzt den Tag der Vermählung fest. Die junge Frau erhält in dieser schrecklichen Lage von ihrem Beichtvater einen Schlaftrunk, der ihr den Schein des Todes geben soll, der Beichtvater unternimmt, sie heimlich aus dem Sarge zu lösen und ihren entfernten Gatten von dem Sachverhältniß zu unterrichten. Aber wieder bewirkt ein unglücklicher Zufall, daß der Gatte in der Fremde, bevor ihn der Bote des Paters trifft, die Nachricht erhält, daß seine Geliebte gestorben sei. Er eilt heimlich in die Vaterstadt zurück und dringt bei Nacht in ihr Grabgewölbe; unglücklicher Weise trifft er dort mit dem von den Eltern bestimmten Bräutigam zusammen, er tötet ihn und trinkt an dem Sarge der Geliebten Gift. Die Geliebte erwacht, sieht den sterbenden Gemahl und ersticht sich mit seinem Dolche.[4]
Diese Erzählung ist einfacher Bericht über ein auffallendes Ereigniß. Daß Alles so gekommen, wird gesagt; wie und warum es so gekommen, kümmert nicht. Die Reihenfolge der berichteten Ereignisse hat sehr lose Verbindung, Zufall, Laune des Schicksals, ein unberechenbares Zusammentreffen unglücklicher Momente veranlaßt Verlauf und Katastrophe. Ja, gerade das auffällige Spiel des Zufalls ist das Reizvolle. Ein solcher Stoff scheint vorzüglich ungünstig für das Drama. Und doch hat ein großer Dichter eines seiner schönsten Dramen daraus geschaffen.
Die Thatsachen sind sämmtlich unverändert geblieben, nur ihre Verbindung ist eine andere geworden. Denn die Aufgabe des Dichters war nicht, uns die Thatsachen auf der Bühne vorzuführen, sondern dieselben aus dem Empfinden, Begehren, Handeln seiner Personen herzuleiten, zu erklären, glaublich und vernunftgemäß zu entwickeln. Er hatte im Anfang die Voraussetzungen der Handlung darzulegen: die Händel in einer italienischen Stadt zur Zeit, wo Schwerter getragen wurden und die Rauflust schnell mit der Hand an die Waffen griff, die Führer beider Parteien, die regierende Macht, welche mit Mühe die Unruhigen im Zaum hält. Dann den Entschluß des Capulet ein Gastmahl zu geben. Darauf mußte die Darstellung des lustigen Einfalls kommen, welcher Romeo und seine Begleiter in das Haus des Capulet bringt. Dies erregende Moment, der Anfang der Handlung durfte aber nicht als ein Zufall auftreten, es mußte aus den Charakteren erklärt werden. Daher war nöthig vorher die Genossenschaft des Romeo einzuführen, übermüthig, frisch, in ungebändigter Jugendkraft mit dem Leben spielend. Diesem Bedürfniß der Begründung verdankt Mercutio sein Dasein. Im Gegensatz zu den tollen Genossen wurde der schwermüthige Held Romeo geformt, dessen Wesen schon vor seinem Eintritt in die bewegte Handlung die liebesuchende Leidenschaftlichkeit auszudrücken hat. Daher die Träumerei um Rosalinde. Darauf galt es die entstehende Zuneigung der Liebenden glaublich zu machen. Dafür die Masken- und Balkonscene. Aller Zauber der Poesie ist hier höchst zweckvoll verwendet, um als begreiflich und selbstverständlich zu zeigen, daß die süße Leidenschaft beiden Liebenden fortan das Leben bestimmt.
Die Nebenfigur, welche von da in das Stück eintrat, sollte durch ihren Charakter die Verwickelung und den traurigen Ausgang motiviren helfen. Für die Erzählung war die Thatsache genügend, daß ein Priester traute und die unglückliche Intrigue leitete, es haben sich immer solche Helfer gefunden. Sobald er aber selbst auftrat und in die Handlung hineinsprach, mußte er eine Persönlichkeit erhalten, welche alles Folgende erklärte, er mußte gutherzig und theilnehmend sein und durch sein Herz so großes Vertrauen verdienen, er mußte unpraktisch und zu stillen Ränken geneigt sein, wie nicht selten die besseren Priester der italienischen Kirche sind, um später für sein Beichtkind das verwegene Spiel mit dem Tode zu wagen. So entstand Lorenzo.
Nach der Vermählung fiel in die Erzählung der unglückliche Zufall mit Tybalt. Hier hatte der dramatische Dichter besondere Veranlassung, dem plötzlich Eintretenden das Zufällige zu nehmen. Ihm konnte nicht genügen, den Tybalt als hitzköpfigen Raufer einzuführen, er mußte, ohne daß der Zuschauer die Absicht merkte, schon im Vorhergehenden den besonderen Haß gegen Romeo und seine Genossen begründen. Daher die kleine Zwischenscene beim Maskenfest, in welcher Tybalt's Zorn über das Eindringen des Romeo aufbrennt. Und in der Scene selbst hatte der Dichter die stärksten Motive aufzuspannen, um Romeo zum Zweikampf zu zwingen. Deshalb mußte vorher Mercutio fallen. Auch deshalb, um das Gewicht dieser tragischen Scene zu steigern und den Zorn des Fürsten zu erklären.
Romeo sofort in die Verbannung zu senden, wie die Erzählung thut, war dem Drama unmöglich. Ihm war zwingende Nothwendigkeit, der aufgeregten Leidenschaft ihre höchste Steigerung zu geben, dem Zuschauer die Untrennbarkeit der beiden Liebenden zu beweisen. Wie das dem Dichter gelungen, weiß jeder. Die Scene der Brautnacht ist der höchste Punkt der Handlung und auch durch die poetische Ausführung, die uns hier nicht kümmert, in höchster Schönheit herausgehoben. Aber auch aus anderen Gründen war diese Scene nothwendig. Der Charakter Julia's macht eine Steigerung in das Edle nöthig; daß das liebevolle Mädchen auch großartiger Bewegungen, der kräftigsten Leidenschaft fähig ist, das muß gelehrt werden, damit man ihren späteren verzweifelten Entschluß ihrem Wesen angemessen finde. Der wundervolle Kampf in ihr um Tybalt's Tod und Romeo's Verbannung muß der Brautnacht vorausgehen, um der bräutlichen Sehnsucht die schön pathetische Zugabe zu ertheilen, welche die Theilnahme an der immerhin delikaten Scene steigert. Aber auch die Möglichkeit dieser Scene mußte erklärt werden, die kleinen Hilfsmotive derselben, Pater Lorenzo und die Amme als Vermittler, sind wieder bedeutsam. Der Charakter der Amme, eine der unübertrefflichen Erfindungen Shakespeare's, ist ebenfalls nicht zufällig so gebildet, gerade wie sie ist, paßt sie als Helferin und macht sie die innere Trennung Julia's von ihr und die Katastrophe erklärlich.
Unmittelbar nach der Brautnacht kommt an Julia der Befehl, sich dem Paris zu vermählen. Daß die schöne Tochter des reichen Capulet einen vornehmen Freier findet, und daß der Vater — dessen rauhe Hitze schon vorher genügend motivirt ist — dabei harten Zwang ausübt, würde auch ohne weitere Vorbereitung als wahrscheinlich und selbstverständlich vom Hörer zugegeben werden. Aber dem Dramatiker lag sehr daran, dies wichtige Ereigniß schon vorher zu begründen. Schon vor der Brautnacht läßt er den Paris das Versprechen des Vaters erhalten, auch diesen dunkeln Schatten wollte er noch über die große Liebesscene werfen, und er wollte das einbrechende Verhängniß recht deutlich und gemeinverständlich erklären.