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Seitenzahl: 535
Anmerkungen zur Transkription:
Der vorliegende Text wurde anhand der 1922 erschienenen Buchausgabe so weit wie möglich originalgetreu wiedergegeben. Zeichensetzung und offensichtliche typographische Fehler wurden stillschweigend korrigiert bzw. ergänzt. Einige altertümliche Wortformen wurden vom Autor offenbar in illustrativer Absicht eingefügt; diese Begriffe wurden nicht verändert. Unterschiedliche Schreibweisen wurden nicht vereinheitlicht.
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Wie bei den meisten Frakturschriften üblich, kann auch im Original zwischen den Großbuchstaben ‚I‘ und ‚J‘ nicht unterschieden werden. Die Zuordnung erfolgte in einigen Fällen gezwungenermaßen rein willkürlich; obwohl beispielsweise die Schreibweisen ‚Iago‘ sowie ‚Jago‘ gleichermaßen bekannt sind, wurde in diesem Text die Form ‚Jago‘ verwendet.
Die Originalausgabe enthält lediglich am Ende des zweiten Bandes ein Inhaltsverzeichnis für beide Bände, welches in der vorliegenden elektronischen Fassung der Übersichtlichkeit halber vom Bearbeiter zusätzlich an den Beginn dieses ersten Teiles gestellt wurde. Die Links zu den entprechenden Seiten sind nur innerhalb des vorliegenden ersten Teiles aktiv.
Gesperrt gedruckte Passagen im Original werden hier in Fettdruck hervorgehoben, Antiquaschrift in der Buchausgabe wird kursiv wiedergegeben.
Gustav Landauer
Erster Band
1922
Literarische Anstalt Rütten & Loening
Frankfurt am Main
Alle Rechte, besonders die der Übersetzung, vorbehalten
Copyright 1920 Literarische AnstaltRütten & Loening, Frankfurt a. M.
Im letztwilligen Auftrag des Verfassers herausgegeben vonMartin Buber
6. bis 10. Tausend
Druck der Spamerschen Buchdruckerei in Leipzig
Erster Band
Seite
Vorwort
V
Romeo und Julia
1
Der Kaufmann von Venedig
42
König Johann
91
Julius Cäsar
139
Hamlet
189
Troilus und Cressida
256
Othello
303
Zweiter Band
Maß für Maß
1
Macbeth
48
König Lear
80
Antonius und Cleopatra
130
Timon
160
Coriolan
189
König Zymbelin und Das Wintermärchen
238
Der Sturm
269
Die Sonette
318
Shakespeares Persönlichkeit
371
Gustav Landauer hat an diesem Werk etwa vom Frühjahr 1917 bis zum November 1918 gearbeitet. Es entstand aus einer Reihe von zwanzig Vorträgen, die er in Berlin gehalten hatte.
Als das entscheidend Neue in diesen Vorträgen und in dem Werk, das sie zusammenfaßt, hat Landauer selbst das Prinzip der Freiheit bezeichnet. „Freilich in keinerlei politischem, auf Zustände abzielendem Sinn“, sagt er davon in einem Brief vom Juni 1917; „nichts liegt Shakespeare ferner; Freiheit vielmehr im Menschlichen, Privaten, zumal in dem Verhältnis, das Shakespeares immerwährendes Problem ist, dem zwischen Trieb und Geist. Freiheit von Formeln, Konventionen theoretischer wie moralischer Art.“
Über das Wesen seiner Betrachtungsart spricht sich Landauer in Briefen an den Verlag so aus:
„Ich gehe an Shakespeare nicht irgend literarhistorisch heran, sondern gerade so wie an philosophische, politische, soziale Probleme unserer Zeit: um der Lebendigkeit und des innersten Kerns unseres menschlichen Lebens willen.
In allen diesen Vorträgen, in denen ich mich so tief, wie es mir möglich ist, in den Dichter und seine jeweilige Welt hinein begebe, ruht im Grunde die Frage nach dem Sinn und der Aufgabe des Lebens...
Man muß das Rätsel der Welt und ihrer Prozesse im tiefsten Innern der Menschen zu suchen gewohnt sein, im Verhältnis des Ichs zu sich selbst. Ich bringe Shakespeare und seine Art, die Menschen nicht bloß in ihrer Beziehung zu den anderen, sondern in ihrem verräterischen Verhältnis zu sich selbst zu erkennen, in allernächste Beziehung zu Spinozas Ethik und — da er sich nicht in Abstraktionen bewegte, sondern in Anschauung — zu Rembrandts Kunst...
Vor allem aber hoffe ich, bei allem, was Jugend und Wachstum in sich hat, das Zentrum des Lebens zu treffen und nicht oberflächlich zu berühren, wo Denken, Fühlen und Wollen so zusammentreffen, daß die ernste ringende Sehnsucht nach der Einheit dieser Lebenskreise aus innerem Gewissen fließt... Denn Wissen und Denken allein tun’s nicht; all unser Leben ist viel zu sehr in Fakultäten und Bezirke geteilt, und auch das öffentliche Leben kann nur im Intimsten Heilung und Erneuerung finden.“
Welche Bedeutung das Shakespeare-Werk in Landauers Leben hatte, geht aus zwei anderen Briefstellen hervor. Am 26. Dezember 1918 schreibt er an den Verlag: „Bleibe ich bei Kräften, so soll trotz allem Aktuellen der Shakespeare bald fertig sein. Denn keiner wie der stärkt mich in dieser Zeit.“ Und am 11. Januar 1919: „Es steht so, daß mir die Revolution wieder die Frische und Arbeitskraft gegeben hat, die ich zu dieser Hauptarbeit brauche; daß mir aber in den letzten zwei Monaten und auch noch für die nächste Zeit die Revolution die Zeit genommen hat, daran zu arbeiten.“
Die Zeit zur Vollendung des Werkes war ihm jedoch nicht gegönnt — er fiel in der Revolution, in München, am 2. Mai 1919.
Von den zwanzig Vorträgen hat er den ersten, der einleitend „Die Zeit“ darstellte, den vierten („Die Lustspiele“), den fünften und sechsten („Die Königsdramen“) — bis auf „König Johann“ — und den Schlußvortrag („Shakespeares Persönlichkeit“) nicht mehr ausgearbeitet. In den Gedankengang des letzteren aber gewähren die Notizen, nach denen er gesprochen wurde und die am Schlusse des Buches mitgeteilt werden, einen Einblick.
Einige Vorträge hat Landauer noch selbst zum Druck vorbereitet. Bei der Korrektur der übrigen mußten mehrere Schreibfehler und Ungenauigkeiten richtiggestellt werden; doch ist keine Änderung erfolgt, von der nicht aus guten Gründen angenommen werden durfte, daß sie der Absicht des Verfassers entsprach.
Herausgeber und Verlag
Romeo und Julia ist Shakespeares populärstes Stück; das Grundthema ist sprichwörtlich geworden und hat andere Fälle ähnlicher Art, wie Hero und Leander, Pyramus und Thisbe, Tristan und Isolde, die zwei Königskinder, von denen das deutsche Volkslied in allen Mundarten singt, zurückgedrängt; kommt im Leben oder in der Dichtung tragische Liebe zwischen Kindern feindlicher Häuser vor, so ist es ein neuer Fall des typischen Erlebnisses von Romeo und Julia. Dabei sind die vielfachen Behandlungen, die der Stoff vor Shakespeare fand, ganz ohne Mitwirkung; sie sind verschollen und interessieren nur noch literarhistorisch in bezug auf Shakespeares Stück; und was nach Shakespeare kam, Werke der Musik vor allem, bezog alle Süßigkeit und Leidenschaftsgewalt von dem Dichter.
Was diese Liebestragödie so jung und lebendig macht und alle Zeiten und Völker, alle Altersstufen und Stände, Mädchen und Knaben, Männer und Frauen, schlichte Handwerker und Weise rühren und erschüttern läßt, hat Lessing mit endgültigen Worten in der Hamburger Dramaturgie ausgesprochen in einer der Bemerkungen, die Shakespeares entscheidenden Einfluß auf die Revolution des Gefühls in Deutschland begründet haben: „Ich kenne nur eine Tragödie, an der die Liebe selbst hat arbeiten helfen; und das ist Romeo und Julie von Shakespeare.“
Die älteste Geschichte, die uns von Romeo und Julia in Verona berichtet, hat den Italiener Luigi da Porta zum Verfasser und ist 1524 erschienen. Weite Verbreitung fand die Erzählung durch die Fassung, die ihr 1554 Bandello in seiner Novellensammlung gab. Wahrscheinlich auf dem Umweg über eine französische Vorlage kam die Geschichte nach England und wurde 1562 in einem epischen Gedicht von Arthur Brooke, 1567 in Paynters Novellensammlung „Palast des Vergnügens“ behandelt. Diese beiden Fassungen sind Shakespeares Quellen, und, wie gewöhnlich, hält er sich, was die äußere Handlung angeht, treu an die Vorlage; was, vom reichen Episodenwerk abgesehen, an der Haupthandlung neu dazu gekommen ist, dreht sich um die eine Gestalt, die so gut wie ganz Shakespeares Erfindung zu sein scheint: Mercutio. Aber von irgend welcher Charakteristik, irgend welchem Versuch, ins Innere der Menschenseele hineinzuleuchten, ist in den Novellen nichts zu finden, und ebensowenig etwas von der Gegenüberstellung gesellschaftlicher Sphären oder gar von Liebesstimmung und romantischem Zauber; es ist, wie es die Art dieser Erzählungen ist, welche Fülle mitteilen, alles Abenteuer, Anekdote, traurige Geschichte, arger Zufall.
Ob an der Geschichte irgend etwas Wahres ist, wissen wir nicht; da aber Masuccio schon 1476 einen sehr ähnlichen Vorfall aus Siena berichtet, und da Dante zwar die Capelleti und Montecchi kennt, beide aber als Ghibellinen nennt und von ihrer Feindschaft so wenig etwas weiß wie von dem Liebespaar, ist es nicht eben wahrscheinlich. Daß im Jahre 1595 der Historiker oder Geschichtenerzähler Girolamo della Corte die Sache als wirklichen Vorfall berichtet, beweist so wenig etwas wie Julias Steinsarg, der heute noch in Verona gezeigt wird.
Shakespeares Stück ist zuerst 1597 in einer jener Quartausgaben erschienen, die häufig nicht vom Dichter selbst herrühren werden; sie mögen auf Regiebücher, Rollen der Schauspieler, manchmal etwa auch auf eine Art stenographischen Raub während der Aufführungen zurückgehen. Wie die Verhältnisse des Theaterdichters damals waren, mußte er oft mehr an der Geheimhaltung als am Druck seiner Stücke interessiert sein. So ist dieser erste Druck von Romeo und Julia verstümmelt, der zweite, der ähnlich entstand und 1599 erschien, berichtigt einiges, manchmal kann man nur sagen, er bringt eine andere Fassung, die bald besser, bald schlechter ist. In der von Shakespeares Freunden 1623 veranstalteten Gesamtausgabe, der Folio, findet sich dann der Text im großen ganzen so, wie er uns vertraut ist.
Will man nun, wie mit einem Sprung, in die Seelen des Menschenpaares, das Shakespeare hier darstellt, hinein kommen, will man sie in ihrem eigenen Kern überraschen, so bereite man sich zu dieser schnellen Reise, indem man etwa an eine so ganz andere Julie, an Strindbergs Adelsfräulein, und in dieser modernen Sphäre an Gestalten Dostojewskijs oder auch an die Mädchen und Frauen und Männer in Jean Pauls Titan denkt. Wie zweifelhaft und gespalten, wie innen von den Verhältnissen gefärbt, wie hin und her gerissen und zusammengesetzt sind diese Menschen! Das erste Kennzeichen, eine wesentliche Voraussetzung dieses Gedichts ist die Einfachheit, die Eindeutigkeit, die Seelenfestigkeit des Menschenpaares, dessen Schicksal berichtet wird. Wie die olympischen Götter bei Homer zwar in die mannigfachsten und verworrensten Geschehnisse verstrickt sein können, jeder und jede aber in unverrückbarer Sicherheit, wie ein Sternbild am Himmel, in ihrer repräsentativen Individualität stehen, so lebt der Gotteszwang des Menschlichen, den wir Freiheit nennen, in Romeo und Julia von dem Augenblick an, wo der Zug der Liebe zwischen ihnen waltet. Die Handlung ist kompliziert, die Charaktere sind einfach. Das gilt keineswegs durchweg so für Shakespeare; wer wird einen Hamlet oder Macbeth oder auch Lear, ganz abgesehen von den Parolles, Edmund, Jago, einfache Seelen nennen wollen? So viel wird man zwar sagen dürfen, daß die feste Geradheit und Sicherheit, mit der sich in jedem Moment Art und Richtung des Menschen ausspricht, bei allen Gestalten Shakespeares größer ist als bei den Menschen, die unsre Dichter heute zu schildern haben; Geist, Sprache, Mimik, Gestikulation, der Ausdruck mit einem Wort ist bei seinen Menschen wie ein gewachsenes Stück Natur; triebhaft, leidenschaftlich, wie mit einem Löwensatz deckt sich jedesmal der Ausdruck mit dem Willen; jedesmal, aber die Momente, die Verfassungen und Stimmungen der einzelnen können mannigfach verschieden und untereinander in Mißklang sein. Auch von Gestalten dieses unsres Stückes gilt, daß sie keineswegs ganz selbstsicher und eindeutig sind; Mercutio ist es sein ganzes Leben lang nicht, er hadert mit sich wie mit der Welt; am alten Capulet nagt irgendwo ein Wurm, der ihn nicht zur Ruhe und zur Einheit kommen läßt; wollte man sich den nun zur sanften Stille und Beschaulichkeit gediehenen alten Franziskaner, den Bruder Lorenzo näher ausgestalten, so stieße man gewiß auf mancherlei Zwiespältigkeit; und Romeo selbst, solange er noch als Liebesüchtiger in der Welt irrt, ist das Urbild des Schwankens und der Zerfahrenheit. Sowie aber, beim ersten Blick, die Liebe ihn erfaßt, ist er zu sich gekommen und ganz bei sich und so eins mit sich, wie die Liebe ihn eins mit Julia macht. Und in der Tat: wer sich nicht liebt, wie sollte der lieben können? Und umgekehrt: da Liebe Lust ist, die im geliebten Wesen die Welt freudig umarmt, was sollte sie eher hervorbringen, als die stolze Art, in der der Mensch sich zu sich bekennt und auf sich selber steht?
Ein Schicksal wird dargestellt: das Erlebnis der Liebe in der Welt des Streits.
Die Jugend, die zum Leben erwacht, Mann und Weib, die zusammenfliegen wie getrennte Teile in Sehnsucht zur Erfüllung und Ganzheit, werden getrennt von der widrigen Umgebung.
So wie es hier gesagt ist, liegt Notwendigkeit in diesem Schicksal: „sie konnten zusammen nicht kommen, das Wasser war viel zu breit“ — und die breiten Gewässer, die sie trennen, sind eben das, was sich der Liebe in der Welt entgegensetzt: der Haß und der Streit. Aber ist es denn so in diesem Stück? in dieser Handlung, die der Dichter von der Überlieferung übernommen hat? Ist, was die letzte tragische Wendung herbeiführt, nicht vielmehr ein Zufall? Und ist das Stück also in diesem Sinne ein Schicksalsdrama, daß grausame Verkettungen, für die keinerlei menschliche Leidenschaften und Einrichtungen haftbar gemacht werden können, die Entscheidung bringen? Ja, noch mehr könnte man sagen wollen: weder die Art von Romeos und Julias Liebe trägt die Schuld an dem unglücklichen Ausgang, noch die Umgebung des Hasses, in die diese Liebe gestellt ist; und nicht einmal dürfte man behaupten, daß ein boshaft-teuflisches oder unbegreiflich-göttliches Regiment die Welt so eingerichtet habe, daß es der Liebe im allgemeinen so ergehe; sondern es wäre nur ein abenteuerlicher Unglücksfall von keinerlei typischer Bedeutung. Hätte Lorenzos Bote Romeo rechtzeitig erreicht — — oder hätte Julia ein weniger gewagtes Mittel zur Flucht gewählt — —, so wäre ja in der Tat alles anders gekommen und hätte am Ende — vielleicht — doch glücklicher ausgehn können.
Darauf ist zunächst zu erwidern: der Dichter ist nicht der Erfinder; und Shakespeare ist ganz gewiß kein Erfinder von Fabeln. Im allgemeinen wird man bei Betrachtung der Literatur aller Völker sagen können, daß das die größten Dichtungen sind, bei denen der letzte Former einen fertigen, im Hauptsächlichen unantastbar und heilig gewordenen Stoff vorfindet; der große Dichter erfindet Motive und findet so den Sinn einer überlieferten Fabel; er erfindet nicht das Geschehnis. Dumas Vater wäre, wenn es aufs Erfinden ankäme, einer unsrer gewaltigsten, Dostojewskij einer unsrer kleinsten Dichter; ihm wie Tolstoj genügte ein dürrer Tatsachenbericht in der Gerichtszeitung oder ein Ereignis, das Bekannte berichteten. Ist schließlich Faust eine höhere, weniger aufs Nationale und Zeitliche beschränkte Dichtung als Wilhelm Meister, der im Entscheidenden denselben Sinn birgt, so darum, weil Faust durch Überlieferung zum Mythosstoff geworden, der Roman eine um des Sinns willen individuell erfundene Geschichte ist; und in denselben Zusammenhang gehört, daß die Teile in Goethes Roman die besten sind, die aus dem eigenen Leben des Dichters geflossen sind.
In Romeo und Julia liegt eine bekannte Geschichte vor, die gegeben ist; die sogar als historisch wahr geglaubt wurde. Der Dichter hat das Amt zu deuten; nicht nach dem Was fragen wir ihn; das ist uns wie ihm überliefert und bekannt; er soll uns das Wie sagen. Wie war es eigentlich? Was ging bei diesem wunderbaren Erlebnis in den lebendigen Seelen der Menschenkinder vor, denen es zum Los fiel? Und wie war das Verhältnis dessen, was Zufall, besondere Verkettung und Mißgeschick, was feindliche Umwelt, was Art und Wesen dieser Seelen selbst zu diesem Schicksal beitrugen? War es am Ende so, daß ein Blitzstrahl vom Himmel dieses Paar erschlug und daß doch unser tiefstes Mitwissen sagt: sie mußten in jedem Fall sterben; das Leben in dieser schnöden Welt war ihnen nicht möglich, der Tod, der plötzlich und wie von außen herniederfuhr, war für sie und für unser Mitgefühl wie eine Erlösung?
Das jedenfalls ist das Merkmal dieser Art Dichtung, daß nicht das Gewöhnliche und Übliche, nicht das, was abstrakt logisch aus gegebenen Voraussetzungen zu schließen ist, sondern das Außerordentliche, das Wunderbare die Fabel bildet. Man kann dieses Element in Shakespeares Drama je nach dem Gesichtspunkt das epische, das romantische oder das irrationale nennen; immer geht es darum, daß das Schicksal nicht aus dem Charakter fliegt wie eine Kugel aus dem Lauf oder das Resultat aus der Rechnung; daß die Katastrophe auch nicht aus der Intrige folgt wie der Knall auf die Zündung, sondern daß noch etwas Unvorhergesehenes dazu kommt, daß ein unauflösbarer Rest bleibt, daß es zugeht wie im Leben und in der Natur. Mit ästhetischen Gesetzen abstrakt-mechanischer Art, wie zum Beispiel dem der tragischen Schuld, oder empirisch-gewohnheitsmäßiger Art, daß im letzten Akt etwa kein neues Ereignis mehr plötzlich entscheidend dazu treten darf, kommt man Shakespeare nicht bei. Die Natur ist nicht mechanisch.
Vielleicht aber gibt es ein Naturgesetz, das uns zu der Shakespearischen Tragödie, zur Art dieses Dichters, Charakter, Schicksal und Ungefähr mit einander zu verflechten, eine Analogie bietet. Ist man im Gebirge über eine gewisse Grenze hinaufgestiegen, so trifft man auf Bäume, denen das Leben immer schwerer und schließlich unmöglich gemacht ist. Ihre Wurzeln suchen, da kein Humus mehr haftet, in den Ritzen der Felsen vergebens nach genügender Nahrung; sie sind den tobenden Stürmen ausgesetzt; die Gesamtmenge Wärme, die ihnen im Lauf des Jahres zukommt, ist für ihre Bedürfnisse zu niedrig; sie müssen zugrunde gehn. Sterben sie nun an diesem Verhältnis des Innen zum Außen, ihrer Bedürfnisse zu den Bedingungen, die sich versagen? Sterben sie an dieser Negation, daß ihnen die Lebensbedingungen fehlen? An dem Verdikt, das eine Intelligenz ausspricht: so kann man nicht leben? Ja und nein; denn es kommt in jedem Fall noch etwas dazu. Sie würden sterben müssen; sie sind dem Tod geweiht von der Logik der Tatsachen; aber ehe sie am Ende angelangt sind, machen sich aussaugende Schmarotzer, deren sie sich, wenn sie bei genügenden Kräften wären, erwehren würden, ihre Schwäche zunutze, zehren an ihrem Leben, und nicht am Mangel der rechten Lebensbedingungen, sondern ermordet von der Schar dieser kleinen Feinde gehen sie zugrunde. Man kennt das Moos und die Flechten, die an Stamm und Zweigen dieser letzten Bäume hängen wie greise Bärte; man weiß auch von den kleinen Schädlingen, die das Werk der Vernichtung vollenden. So ist es überall in der Natur; keine Pflanze, kein Tier und kein Mensch stirbt an Alter oder Hunger oder Entkräftung oder gebrochenem Herzen; es kommt immer noch etwas dazu. Wenn sie aber schon an Blinddarm- oder Lungenentzündung oder sonst einer Krankheit, am massenhaft überhand nehmenden Leben kleiner Feinde, kleiner Zufälle zugrunde, zum Ende gingen, so sind sie doch an Alter oder Hunger oder Entkräftung oder gebrochenem Herzen gestorben. Hamlet ist im Zweikampf mit Laërtes zugrunde gegangen, den er in einer Aufwallung tragischer Laune provozierte, es ist wahr; dieser Zweikampf war vom König in einer Intrige angezettelt, es ist auch wahr; und Hamlet mußte im Konflikt zwischen seiner Natur und seiner Umgebung irgendwie zugrunde gehen, das ist gewiß wahr. Irgendwie — aber die Natur und die Geschichte und Shakespeare sind nicht so arm, wie das abstrakt mit ein paar dürftigen Motiven haushaltende und kalkulierende Theatertalent, das den Punkt zur geraden Linie und seine gerade Linie mit dem logischen Schlußpunkt zur Strecke bringt. Das Einfache ist, wie das Sprüchlein sagt, das Siegel der Wahrheit; aber nur insofern, als Wahrheit eben eine vereinfachende Tätigkeit des Menschengeistes, aber nicht Wirklichkeit ist. Und das Gesetz des kleinsten Kraftmaßes gilt allenfalls nur in einer Welt, der man vorher Üppigkeit, Verschwendung und Überfluß, immer neue Einfälle, Auswege und Überraschungen bewilligt hat.
So wird allerdings in dem Drama, das uns zuinnerst ergreifen soll, das besondere Erlebnis, das vorgeführt wird, irgendwie in Einklang stehen mit den besonderen Naturen, an denen es sich vollzieht. Aber es wird keine mechanische, keine logische, keine restlos auf eine Formel zu bringende Übereinstimmung sein. Und es wird in vielen Dramen — nicht in allen —, wird in einer bestimmten Gattung in der Tat so sein, daß eine geheimnisvolle Stimme in uns spricht wie unser eignes Gewissen: das Schicksal dieser Menschen und ihr Charakter stehen in einer sicheren Beziehung. Ja, es ist so; aber nicht so, daß sie beide auf eine Schnur zu reihen sind; daß wir diesen Zusammenhang mit Händen greifen oder verstandesmäßig fassen können. Es bleibt alles in der Ahnung, im Gefühl; und zu alle den Klarheiten, Nüchternheiten und ästhetischen Geboten verhält sich die Dichtung nicht anders, als die thematische Verschlingung und Auflösung in der Musik sich zur Mathematik verhält. In der Musik ist alles und nichts mit Zahlen auszudrücken; und in der Dichtung wie im Leben ist alles und nichts begrifflich zu verstehen.
Romeo und Julia gehört durchaus zu der tragischen Gattung, die wir eben nannten; Schicksal und Charakter dieses Menschenpaares stehen in einem innigen Zusammenhang. Und wenn gesagt wird, alles wäre anders gekommen, wenn Julia ein weniger gewagtes Mittel gewählt hätte, so ist zu erwidern: dann wäre sie eine andere gewesen. Denn mit diesem Wort: Gewagt! haben wir aus der Seele ihrer Menschen heraus das Thema dieser Dichtung: ein schwermütiger, weltschmerzlicher Jüngling, ein spröd knospendes Mädchenkind, beide werden kühn durch die Übergewalt plötzlicher Liebe.
Eine selige Blindheit überfällt sie sofort: in der Welt gibt es nunmehr nur noch sie beide; vorher irrten sie tastend in der Welt; jetzt ist die Welt aufgegangen in ihnen. Sie sehen einander und sind verwandelt in die glühende, blühende Gewalt der Innigkeit; ihre Begrüßung wird zum Gedicht; wie die Strophen und Reime des Sonetts, das sich aus ihrer holden Paarigkeit zusammenfügt, sich mehr als jede andre Form in einander verschlingen, so flechten sich ihre Hände, ihre Blicke, ihre Lippen zusammen. Das Leben wird ihnen sofort zum Spiel des Suchens und Findens, und so kühn wie der Jüngling in der Werbung ist, so kühn ist das Mädchen in der Gewährung. Detorquet ad oscula cervicem, wie Horaz so lieblich graziös dichtet: sie wendet, wie er küssen will, den Hals weg, den Küssen entgegen.
Nur einmal wieder hat die frei sich hingebende, reine, jungfräuliche, kühne Liebe diese Sprache der Unschuld gefunden, in Faust und Gretchen; einmal freilich schon vorher, wenn auch nur aus dem Munde des Mädchens: im Hohen Liede der Hebräer.
Und in freier Kühnheit, mit dem Wagemut der Nachtwandler tun die jungen Liebenden in Verona weiter, was sie vom allmächtigen Zwang der Liebe unterjocht erleiden: Romeo springt nachts über die Mauer in den Garten des Feinds seines Hauses. Julia, die das volle Bewußtsein der furchtbaren Not dieser Liebe hat — ihr erstes Wort ist: Weh mir! —, vertraut in lautem Hinausreden der Sternennacht ihre Liebe, und diese Sprache der Liebe ist uns so notwendig zu dieser Saat der Gestirne gehörig wie das nimmermüde Sprudeln des Quells oder das Aufrauschen der Bäume.
Und nun, wo sie erfahren haben, wer sie sind, in welche tödliche Feindschaft hinein diese unentrinnbare Liebe sich ihren Platz gesucht hat, wo sie alles wissen und alles ahnen, was kommen muß, wiederholen sie als die, die sie sind, die Werbung und die Hingabe: sehend und doch blind akzeptieren sie, vollstrecken sie ihr Los. Sie haben es einander angetan, sie tun sich ihr Schicksal gemeinsam an; sie wollen ihr Gefühl, sie tun ihr Leiden. Sie sind, als Liebende in einer Welt, die Feindschaft oder Fremdheit zur Bedingung macht, in einer Ausnahmelage, wie Flüchtige, die wissen, den Häschern können sie nicht entrinnen; und darum kann sich ihre Liebe der Zucht der Langsamkeit, dem schmerzlichen Sehnen und gezwungen-freiwilligen Warten, in das sie sich sonst wohl gefunden hätte, nicht bequemen. Julia spricht:
In all dieser die Verwegenheit nicht scheuenden Freiheit ihrer Liebe aber bleibt Julia immer ganz natürlich, ganz holdes Weib; ihre Liebe kennt keine von anderswoher als von der Liebe selbst geholte Freiheit; sie hat nichts irgend Emanzipiertes an sich. Sie weiß ja, wie sich’s gehört:
In allem strengen Ernst, der das Schicksal und die Zukunft weiß, hat sie ganz die leichte frohe Heiterkeit, die zur Liebe gehört. Und das ist der einzige Zauber dieser Szene: das Wissen um die Tragik ist in ihnen, zumal in Julia, und doch dabei die beseligte Freudestimmung; ihre Seelen sind stark genug, daß sie ganz der Liebe und ganz auch zugleich dem sichern Gefühl hingegeben sind,
Gleich nach dieser schäkernden Erinnerung an die Sitte und den Brauch jung keimender Liebe kommt der tiefe Ernst wieder über sie:
Julia Capulet hat in dieser Szene durchaus die Führung, sie umfaßt das Schicksal dieser Liebe ganz in Geist und Gemüt; sie spricht ihr das Motto:
Den stärksten Eindruck von der unausrottbar festgewurzelten Feindschaft, die zwischen den beiden Familien herrscht, bekommt man dadurch, daß es den Liebenden gar nicht in den Sinn kommen kann, an die Möglichkeit einer gütlichen Verständigung, einer Versöhnung ihrer Häuser zu denken. Sofort kommt es ihnen, und Julia spricht es zuerst aus, daß nur ein Weg offen steht: heimliche Vermählung.
Romeo eilt zu seinem väterlichen geistlichen Freund, dem Bruder Lorenzo, und überwindet bei ihm alle Hindernisse; der, weil er Romeo lieb hat, weil ihm der neue Geist, das Feuer, die Echtheit, die nun endlich in dem Jüngling von der Liebe geweckt worden sind, gar wohl gefallen, und noch aus einem Grund, gibt gern nach: er, dem es gelungen ist, Natur und Vernunft mit den äußeren Formen des gläubig-frommen Lebens zu versöhnen, er, der mild gewordene Südländer, dem die leidenschaftliche Geschlechtsliebe, die innige Gattenliebe und die allgemeine gütige Menschenliebe in ein Reich gehören, er hofft, woran das Liebespaar selbst nicht zu glauben und zu denken vermag: auf die Versöhnung der Feinde durch die Liebenden; dazu ist aber nötig, daß die Feinde gar nicht erst in die Lage kommen, Einspruch zu erheben; sie müssen vor die vollendete Tatsache, daß das unzerreißbare Band, das Sakrament der Ehe das junge Paar umschließt, gestellt werden.
Hier zuckt etwas auf, was nun das Schicksal der beiden, vor allem Julias, in allem Ferneren begleitet: tragische Ironie. Es kommt ja in der Tat so, wie der gute, weltkluge und weltfromme Bruder hofft: die feindlichen Familien werden sich um der Liebe Romeos und Julias willen die Hand zur Versöhnung reichen; aber wie anders wird es aussehn, wenn wir am Ende sind, als Lorenzo jetzt wähnt! Das begegnet uns nun das ganze Stück hindurch: ein Doppelsinn der Worte wie der Vorgänge; die Gestalten auf der Bühne meinen recht zu verstehen; wir aber blicken hinter die Geheimnisse und vernehmen verborgenen Sinn.
Julias Gestalt steht darum mehr im Mittelpunkt der Handlung, weil der Dichter in seiner Darstellung der Liebe, die aus Haß und Streit erwächst, alles an die Familie des liebenden Mädchens und die Absichten dieser Familie mit ihr anschließt. Was bei den Montagues vorgeht, bleibt alles unsrer Ahnung überlassen, bis ganz zuletzt am Schluß: da ist es ein genialer Zug des Dichters, wie er uns jetzt, wo alles Licht auf Romeo den Mann gesammelt ist, mit einem raschen Blick seine gramvolle Häuslichkeit erschließt: Romeos Mutter ist vor Kummer über die Verbannung des guten Sohnes, der — so fühlen wir im Augenblick — ihr ein und alles war, gestorben.
Aber die Liebe des Geschlechts ist so ausschließlich wie die Liebe des gotterfüllten Heiligen zu dem Geist, der ihn ganz und ungeteilt fordert; und auch dieser gute Sohn hat von dem Augenblick an, wo in der Welt des Hasses die Liebe zu ihm kam, jeden Gedanken an das Elternhaus von sich gestoßen und irgendwie bei sich zu seiner Mutter gesagt: Weib, was habe ich mit dir zu schaffen! Auch von ihm hören wir, unmittelbar vor der Trauung, Worte, die besagen, wie er dies Liebesglück aufs Äußerste setzt und bereit ist, mit der Weihe der Liebe die Weihe des Todes zu empfangen:
Die Trauung geht so heimlich vor sich, daß auch wir sie nicht mitmachen. Es ist bei der Aufführung Sache der Regie, den Schluß des zweiten Aktes, wie Romeo und Julia sich bereiten, zusammen zum Altar zu gehn, so zu gestalten, daß es sich uns sinnfällig einprägt: von nun an, bei allem, was nun kommt, sind sie vor Gott und ihrem Gewissen Mann und Frau. Shakespeare vermeidet nicht nur kirchliche Szenen, sondern legt auch sonst gern, was dem innerlich schon ganz Vollendeten nur noch den äußeren Abschluß gibt, hinter die Szene; und so viel er sich in den genrehaften Nebenszenen für Milieuschilderung und Späße Zeit läßt, so gerade, knapp und ohne Aufenthalt geht er auf die Hauptszenen los, um denen alle Breite der Entladung zu lassen: zu Dekorativem bleibt keine Zeit, und wir sehen später das feierliche Leichenbegängnis der vermeintlich gestorbenen Julia so wenig wie jetzt ihre Trauung.
Was die Dienerszenen angeht, auf die wir eben geführt wurden, so ist zu sagen: daß das Stück breit und roh mit einem Streit unter diesem Gefolge anhebt, ist vorzüglich, und eine jammervolle Kläglichkeit ist es dagegen, wenn Goethe in seiner Theaterbearbeitung mit der Vorbereitung des Festes beginnen läßt, und in dem dekorativ-opernhaften Stil der Maskenaufzüge, die er für sein Hof- und Offiziantenpublikum mit der linken Hand nur so hinschrieb, singen läßt:
Eine Art Entschuldigung für Goethe ist, daß er nur eine Theaterbearbeitung für sofortige Zwecke machte und dabei wie sonst gegen sein Weimarer Publikum herzliche Verachtung mit einigem Recht bezeigen mochte; daß überdies seine ängstliche und enge Auffassung von dem, was theatermöglich und theaternotwendig sei, auch aus seiner Verhunzung der eignen Stücke, vor allem des Götz hervorgeht. Eine solche Entschuldigung gibt es dagegen, hier sei’s angefügt, für Schillers Bearbeitung des Macbeth nicht. Das ist eine eigne, mit großer Liebe verfertigte Übersetzung nicht nur ins Deutsche, sondern ins Schillerische, und Schiller hatte ohne Frage die Absicht, was Shakespeare schlecht gemacht hatte, zu verbessern und auf die ideale Höhe zu heben. Goethe, der sich selbst solche Greulichkeiten erlaubte, wie die, von der wir hier ausgehen, und der in seiner klassizistischen Zeit über komische Elemente in der Tragödie Gedanken hatte, die sein Egmont und sein Faust uns sofort widerlegen, hat später selbst diese Macbethbehandlung Schillers abscheulich genannt. Und das ist sie auch.
Im Vergleich zu solchen gänzlich überflüssigen, undramatischen, aufgeklebten Zutaten, wie sie Goethe anbrachte, bekommen die Rüpelszenen, die Wortwitze, die diesmal besonders zahlreichen Zoten, allersaftigste darunter, einen tiefen Sinn. Geben wir von vornherein für dieses bei aller Meisterschaft im wesentlichen doch noch jugendliche Stück ruhig zu: hier sind für die Zwischenszenen der Erholung Zugeständnisse an Mode und Publikumsgeschmack, und sie wuchern etliche Male geil ins Abgeschmackte. Aber wir täten sehr unrecht, dabei stehenzubleiben. Noch mehr als einmal werden wir Gelegenheit haben zu sehen, wie Shakespeare mit ganz einziger Kunst die überlieferte Mode der Ausdrucksmittel für die Ziele seines Dramas verwendet, wie er den Zwischenaktspaß der Clowne mit dem Zentrum und Sinn des Dichtwerks in enge Verbindung setzt. Hier bilden die Dienerszenen das Gegenstück zur Romantik, zur hohen heroischen Liebesgesinnung. Die Liebe erwächst im Milieu nicht nur des Zorns, sondern auch der niedrigen Albernheit. Und wie könnte es denn der Liebe, die das natürlichste Weltprinzip, die der Magnetismus und der Kitt der Welt ist, so übel in dieser Welt ergehen, wenn nicht der Streit der Großen ausgefochten würde von der behaglich und roh mitgehenden Niedrigkeit des Volks! Solche Bedeutung seiner Gegenüberstellungen sagt uns Shakespeare freilich nie mit ausdrücklichen Worten; es ist wunderbar, wie er, der wortgewaltigste und in leidenschaftlicher Entladung so wortreiche Dichter, wortkarg und zugeschlossen in allem ist, was eine schlau hinzugefügte Erklärung zu dem wäre, was er uns sinnfällig zeigt; darum aber hat er auch diese schlafwandlerische Sicherheit, dieses dramatische Tempo, das sich durch nichts aufhalten läßt, diese unzerstörbare Frische, die alles Geistige zu einem Stück Natur macht, zu einem Trieb unsrer Seele, darum wirkt er, wenn er mit dem Allerhöchsten des Geistes zu uns spricht, so fest und rauschend, als ob er ungebildet und unliterarisch, ein Mann aus dem Volk und ein wunderbar tönendes Gottestier aus der Natur wäre.
Im Gegensatz zu der unnatürlichen und ungeistigen Wut, Wildheit und Niedrigkeit, die sie umringt, ist Romeos und Julias Liebe ganz Natur und gar nichts in ihr, was sich gegen die Natur verginge. Es ist eine Atmosphäre um sie, die das Wort aus uns hervorruft, das man schon immer fand, wenn man von Shakespeares romantischer Seite sprach: sweet, süß und hold. Bei diesem jungen Paar und seiner Liebe muß uns die Stimmung umschmiegen, wie sie auch August Wilhelm Schlegel, der als Liebender dies Liebesdrama wonnig übersetzt und kritisch aufbauend erfaßt hat, beschrieben hat: wir sind in einer Stimmung der Blüte und des Dufts; in balsamische Nacht gehüllt und von Vogelsang umgeben; herzhafte Sinnlichkeit und herzinnige Empfindung trägt uns als eine warme Woge dahin; diese Liebe ist Wollust, aber voll inniger, alle Grenzen sprengender Sehnsucht. Die Dichtung ist Rosenduft, der Musik geworden ist, ist Knospe, die zum Lied erblüht, ist Himmelsbläue, die von der ganz Hellen, heiteren Verfärbung des Lichts sich tragisch anspannt bis zum dunkelsten Nachtblau. Italien lebt in diesem Gedicht.
Welches Problem hätte ein moderner Dichter in dem Grundmotiv gefunden: die Kinder feindlicher Familien sind von Jugend auf im Haß gegen einander aufgewachsen; über zwei Feinde kommt nun die Liebe, die sexuelle Begier wie der Dieb in der Nacht; in ihren Seelen ist Kampf und Schwanken zwischen Haß und Liebe; in der Liebe hassen, im Haß lieben sie; der Liebeshaß wird daraus. Nichts von alledem hier bei Shakespeare. Daß der Liebe der Tod benachbart ist, das zittert freilich durch dieses Stück; daß es aber auch eine Sorte Liebe gibt, der die Mordlust verwandt ist, solche Mordlust auch, die sich gegen den begehrten Gegenstand wendet, auch das wird Shakespeare wissen und gestalten; aber die Seelen Romeos und Julias in ihrer Liebe wissen von solchem Greuel nichts. Ihre Liebe ist frei in Spinozas allerhöchstem Sinn; was sonst Besitztrieb ist, ist hier Hingabe; ihre Liebe ist Harmonie und schweift darum in der Nähe der Freiwilligkeit und Einung, die Tod, freier Tod heißt. Aufgehen im Höchsten, Wegfließenlassen alles eignen Wesens; aber von Haß und Mordgier weiß sie nichts, und wenn die Kinder je von Gedanken und Regungen der Feindschaft angesteckt gewesen sein sollten, so haben sie’s jetzt beim ersten Blick auf einander, der Liebe war, abgrundtief vergessen.
Und diese Empfindung stößt nun, wo sie in aller Welt nichts will als da sein, leben, fühlen, einander beglücken, Gemeinschaft und all das Unnennbare, wohin das Geschlecht und das Kindbegehren sich als Seelenfülle und Geistestriumph wandelt und reckt, diese Liebe stößt mit der widrigen Welt zusammen und ihrem Streit, ihren Interessen, Zwecken, Wüten und Strafen.
Ehe Romeo freilich Julien gesehen hat, wie er fast untergetaucht war in dieser Welt und mühsam nach Atem rang, der lechzende, noch nicht zu sich erwachte, traumbefangene Jüngling, jetzt eben noch hat er in Schwermut und wahrem Weltschmerz gemeint: gerade das wäre die Liebe, so ein wild törichtes Ding, das dem Haß, dem Krieg aufs nächste verwandt sei. Er gerät auf den Schauplatz, wo eben wieder einmal der Streit der beiden Parteien gewütet hat, und meint als einer, dem das, was er für Liebe hält, mehr zu schaffen macht als der dumme Mordzank, der ihn von außen zur Teilnahme aufruft:
Und weiter:
So kann er sich nicht genug tun in solcher Zusammenstellung von Gegensätzlichkeiten, die in der Welt nicht beisammen sein sollten, aber tatsächlich beisammen sind; auf dieser Vorstufe kennt er die Haßliebe von seinem Gefühl her und von der Art, wie Rosalinde diesem Gefühl begegnet. Aber was in ihm ist, ist gar nicht die Liebe, sondern das Suchen nach der Liebe, jene allgemeine Liebe des Adoleszenten, die sich an die erste Begegnende anheftet, weil sie Sehnsucht nach einer Liebe, Sehnsucht nach Glück und Befriedigung ist. Liebe ist nur erwiderte, beglückte Liebe; Liebe ist Paar, ist der gegenseitige Zug zwischen Mann und Weib, dessen letztes Geheimnis ist, daß nicht der eine den andern, sondern daß ein nach Dasein begehrendes Drittes sie beide erfassen will. So ist er im Zustand der Unbefriedigung, der Einseitigkeit, zerstreut und bitter, zu ausfallenden und satirischen Betrachtungen, zur Philosophie geneigt. Bei den Freunden steht er im Ruf, kein rechter Mann zu sein, und er ist es auch noch nicht. Mercutio, der Bittere, der nie das Glück gefunden, aber Überlegenheit und Lachen gelernt hat, ein Mann, der im geheimen, von Haus aus ein Träumer und Dichter, vor der Welt aber ein Zyniker ist, hält ihn für einen der modernen Französlinge.
Und nun ist die echte, die erwiderte Liebe gekommen, und er wird süß und reif. Und stand er vorher, in einer Umgebung, der der Schwerterkampf alles ist, im Ruf der feigherzigen, girrenden Wort- und Modespielerei, so ist jetzt erst recht und in Wahrheit der Geist des Friedens über ihn gekommen. Indem er ein Mann geworden ist, der, wenn’s sein muß, bis zum Letzten für sich einsteht, der an sich halten kann und der Leidenschaft des Augenblicks die Zügel schießen lassen darf, ist mit dem Geist der Liebe auch die Vernunft und überlegene Ruhe über ihn gekommen. Feinde? Er hat keine; hat gegen die, die vor der Konvention des Hasses dafür gelten, so wenig wie gegen alle Welt, zu der er sich jetzt in freundwillig-liebenswürdiger Stimmung neigt; im Gegenteil, ein besonderes Band soll ihn jetzt zu den angeblichen Feinden hinziehen: sie sind ja Juliens nächste Verwandte, seine neue Familie!
Da entwickelt sich denn diese prachtvoll aufgebaute Szene, wo alles so bis zum Feinsten und Letzten motiviert ist, daß keine Frage aufkommen kann.
Tybalt, der Neffe des Grafen Capulet, der Ruhm der Familie, ein starker, rauher Mann, „kein papierner Held“, wie Mercutio ihn im Gegensatz zu Romeos verzärteltem Wesen gepriesen hat, kommt des Wegs, schon vorher aufs äußerste gereizt — es gehört nicht viel dazu, etwas in ihm will sich reizen lassen —, weil er auf dem Ball seines Oheims den Feind Romeo an der Stimme erkannt hat.
Und da ist Mercutio, einer, wie er sich selber beschreibt, „den der Teufel plagt, um andre zu plagen“, dazu noch durch Romeos seltsam unbegreifliches Wesen — er weiß ja nicht, welch wundersames Erlebnis den jungen Freund zauberhaft verwandelt hat — und durch die Hitze besonders gereizt, nah am Gipfel der Streitlust. Und nun muß er hören, wie Romeo auf die groben, frechen Herausforderungen Tybalts nichts als gute, liebevolle Worte zurückgibt, er, der Parteigänger der Montagues, soll so jämmerliche Feigheit, denn dafür muß er’s nehmen, von dem Sohn des Hauses mitanhören? Und so rasseln Tybalt der Kriegsmann und Mercutio der Weltwütige aneinander, und durch Romeos, des Friedfertigen, zur Liebe Erwachten, Dazwischentreten fällt Mercutio, sein Freund, der für ihn und seine Ehre den Kampf aufgenommen hatte.
Er muß sterben und eilt sich, ehe er dahingeht, mit seinem letzten Atemzug den Fluch über die Sinnlosigkeit dieses Lebens und Sterbens hinauszubrüllen: „Hol’ der Henker eure beiden Häuser!“ Was? Ist denn das eine Wirklichkeit? euer Streit? euer Wüten und Morden? Und dafür soll ein lebendiger Mensch sein Leben lassen?!
Nun aber, wo Tybalt ihm den Freund, der um seinetwillen sich zum Kampf reizen ließ, umgebracht hat, ist der Augenblick gekommen, wo Romeo der Mann sich die Erlaubnis gibt, alle Überlegung zu lassen und momentweise der Leidenschaft, dem Erbe der Geschlechter, der Rache Raum zu geben. Er muß, er will Mercutios Tod rächen, will im Alten stehen und diesmal Besinnung und Beherrschung nicht aufkommen lassen; wenn’s ans Letzte geht, gilt das wilde Bluterbe mehr als alle Vernunft; er muß es in dieser Sekunde tun, obwohl er mit einem Blick, rund und nett zusammengefaßt, alles, alles, was nun anhebt, voraus schaut:
Es folgen hintereinander vier Szenen, deren Zusammenhang, Komposition, Ausdrucksgewalt, Stimmung und Steigerung zum ganz Meisterhaften des Meisters gehört; drei große, und zwischen der zweiten und dritten noch eine ganz kurze: Julia erfährt Romeos Verbannung; Romeo — bei Lorenzo — erfährt seine Verbannung, — und dann das erste und letzte, das einzige Liebesbeisammensein der beiden, die nun Vermählte sind; vorher aber für uns schnell die Ankündigung des neuen Konflikts, eine ungeheure Steigerung; wir bedurften nichts mehr zur Tragik und erwarteten nichts mehr, obwohl auch das sorgsam vorbereitet war: der Vater will die Tochter sofort verheiraten.
Welch ein Crescendo der Handlung! Ihm aber entspricht das Crescendo der Gefühle, wie nun alles, was herausführt aus dieser Welt der Wut und der bedrückenden Willkür, sei’s auch am Rande des Todes vorbei, zum Selbstverständlichen wird.
Die erste dieser Szenen führt uns in Julias Zimmer. Es ist erst später Nachmittag, dieselbe Sonne brennt noch herab, unter der der arme Mercutio, der eben erst so unter dem Leben litt und nun tot ist, gestöhnt hat. Julia hat nur eines im Sinn: sie lechzt nach der Nacht. Da soll ihr Mann zum ersten Mal zu ihr kommen, heimlich auf der Strickleiter zu ihr steigen. In dem, was sie spricht, hat der Dichter, noch stark unter dem Einfluß der euphuistischen Modesprache stehend, wilde, kühne und gesuchte Gleichnisse aufeinander getürmt; aber es kommen so gewaltig innige Naturtöne daraus hervor, daß es ist, als ob seelenvollste, sehnsüchtigste Wollust und Brunst wie ein quellend emporspritzender Strahl den Schuttberg der Konvention durchbräche. Und wie dient diese reiche, üppige Sprache dazu, dem darstellenden Künstler das Material in den Mund zu geben, mit dem er verteilen, schattieren, abtönen kann; wie nötigen ihn diese fernher geholten Bilder, da bei Shakespeare nichts verstandesmäßig geziert, alles leidenschaftlich triebhaft gebracht wird, die erstaunliche Rede nicht aufzusagen, sondern aus dem Schweigen, dem Ringen, dem Zittern und Versuchen zu gebären! Und wie wahr, wie schön ist das, was diese Sprache zum Ausdruck bringt! Julia kann gar nicht anders, sie muß das Wirkliche in Bilder verwandeln. Sie tut, was der brünstige Hirsch, was die leidenschaftlich singende Nachtigall tut, in Menschenart. Diesem Mädchen brennen Sinne und Leib nach dem Beischlaf; aber sie hat ihr Naturverlangen in der Phantasieform der Seelenekstase. Da es brennender Tag in ihr und um sie ist, ruft ihre verlangende Schwärmerei die erlösende Nacht herauf; schon sieht sie sich wohlig von ihr eingehüllt; ihr wildes Begehren wandelt sich in anbetende Vision und Ahnung: schon sieht sie den Lauf ihres Liebeslebens vollendet, Romeo tot: in der unsäglichen Saat der Gestirne am Nachthimmel schaut sie sein Unsterbliches leuchtend zerteilt. Und immer neue Bilder der Nacht will sie schauen und festhalten und in ihnen die Innigkeit befriedigten Verlangens, auf das sie wartet. Es ist, wie wenn Kinder vor der Tür stehen, hinter der ihnen eine strahlende Bescherung bereitet wird; um das Warten zu ertragen, malen sie sich den Glanz und den Jubel aus, der kommen soll.
Und nun öffnet sich die Tür, und die Amme stürzt herein. Die Strickleiter trägt sie in der Hand; man brauchte sie zwar noch gar nicht, aber es war ihr wohl ein schmatzendes Vergnügen gewesen, dieses Werkzeug der Liebe durch ihre fetten Hände zu ziehen und es lüstern zu beäugeln. Und da hat die schauderhafte Nachricht sie überrascht; mit den Stricken in den Händen bricht sie plötzlich in Julias Sehnsuchtsträume ein mit dem Schreckensruf: Er ist tot! er ist tot, er ist tot!
Welch ein Typus, diese Amme! Welch ein Gegenstück zu Julia! Wir kennen sie schon lange gut, so daß wir jetzt im Augenblick ihres Auftretens zu all dem Scharfen, Schweren, das die Handlung nun bringt, dieses Gegenüber zweier Formen der Verbindung von Wollust und Menschenseele ins Gefühl bekommen. Saftig, zum Greifen echt steht sie vor uns da. Dumm, gutmütig, schwatzhaft, charakterlos, kupplerisch, schmeichlerisch, feig und also vor allem: komisch! Ein Weib, das ganz gemein am Leben hängt; immerzu schweifen ihr die Gedanken um das Fleischliche der Liebe; aber nichts ist ihr irgend erreichbar von der Seele, der Tapferkeit oder gar der Todesnähe der Liebe.
Die also bringt jetzt die Botschaft. Und bringt sie so dumm, daß Julia zuerst glauben muß, Romeo sei tot. Dann kommt’s endlich heraus: er lebt schon, aber er hat den Repräsentanten von Julias Familie, hat Tybalt erschlagen.
Gestehen wir’s nur: Julia erlebt einen Augenblick des Zweifels. Das hat er tun können? jetzt? heute? schnell zwischen Vermählung und Brautnacht?
Das ist Shakespeares Größtes, und damit vor allem ist er der Einzige, daß er in die Menschen, die er gestaltet, mit einer Liebe ohnegleichen eingeht, daß er ihr heilig Innigstes, ihr süßestes Geheimnis erfaßt und daß auch noch seine verehrende Liebe zu diesen Kostbarkeiten der verborgensten Seele mitschwingt; daß aber all dieses Erkennen des unbefleckbar Guten im Menschen ihn nicht abhält, zugleich mit einer unerbittlichen Grausamkeit ohnegleichen die bösesten Geheimnisse in der Menschenbrust aufzudecken, wobei auch noch seine ganze Verzweiflung, seine tiefe Melancholie mitschwingt.
Julia liebt ja Romeo nur — kennt sie ihn denn? Kennen einander denn die Menschen? weiß einer vom andern? hat denn die Liebe, zugleich die beste und die gefährlichste Art der Erkenntnis, feste Zuversicht in sich? die Ruhe der Unerschütterlichkeit? Werden wir nicht einem adligen Naturkind, einem gereiften Manne begegnen, der von seiner innig Geliebten das Schlimmste zu glauben imstande ist: Othello? Aber Julias erkennender Liebe hat Schreck, Angst, der Schlag, der unmittelbar auf den höchsten Aufschwung ihrer Einsamkeit gefolgt war, nur einen Augenblick lang das Gleichgewicht geraubt. Sowie die Amme einstimmen will — welch ein Thema für ihre alte Sklavinnenseele: die Männer sind alle gemein! — hat sie wieder gläubige Gewißheit: Nein, er ist ein Mann von Ehre. Und der Magdranküne der Alten stellt sich die hingegebene Unterwerfung der liebenden Frau und das stolze Gefühl des Mädchens entgegen, das fast vergessen hatte, daß es schon eine Ehefrau ist: er ist ja mein Gemahl. Und wie denn, mehr und mehr kommt die Erleichterung der Tränen über sie: um Tybalts Tod soll sie weinen, wenn Romeo lebt?
Das aber währt nur einen Augenblick. Jetzt erst werden ihr die Worte zur Vorstellung, jetzt erblickt sie ihr wahres Elend: Romeo, ihr angetrauter Gemahl, auf den ihre Seele wartet, ist verbannt.
Man gewahre die Situation. Der Haß der beiden Familien ist so überliefert, so feststehende Einrichtung, daß sie nichts andres vor sich hat sehen können als heimliche Ehe, heimliche, gestohlene Stunden der Liebe. Sie ist in der väterlichen Gewalt, und sie kennt ihren Vater, und nun Verbannung des Gemahls durch den Machtspruch des Fürsten um einer Schreckenstat willen, die den Haß aufs äußerste verschärfte. Sie sieht nichts vor sich als ein Leben, getrennt von ihm. Auf eine freie, öffentliche Ehe wäre ja höchstens, und dann kaum, zu hoffen, wenn der Vater, wenn die Eltern nicht mehr lebten. Ihr Weh, ihre Empörung, ihre durchgreifende, kühne Liebe gewahrt das sofort und macht vor solchen Gedanken nicht Halt:
Die Sonne neigt sich nun hinab; was soll sie noch aufbleiben? was soll sie noch am Leben? Sie will zu Bett, — was hatte ihrer da gewartet, — und nun? Die Leere, die verzweifelte Öde, den Tod wird sie umarmen. Da weiß die Amme — ihre Finger spielen ja immer noch mit den Stricken — aber bessern Rat. Zum Abschied wenigstens soll Romeo noch kommen. Sie weiß ihn schon zu finden; gewiß ist er bei Bruder Lorenzo geborgen. Und dahin trottet sie jetzt, um den Gebannten ins Brautbett zu rufen.
Während sie auf dem Weg ist, wir werden immer noch vor ihr bei Romeo sein — aus einer früheren köstlichen Szene kennen wir ja ihren gespreizt watschelnden Gang, sie wird sich nicht überstürzen, und soweit ihre eifrige Teilnahme, die aus Gutmütigkeit und Lüsternheit stammt, sie antreibt, wird sie, die ohne fortwährende äußere sinnliche Anregung leer wäre wie ein Sack, von allerlei interessanten Begegnungen aufgehalten werden — indessen mögen uns Gedanken und Fragen im Kopf herumgehen, die nie hochkommen können, solange die Gewalt des Vorgangs uns umfängt. So zu lieben, so mit Leib und Seele, wahrhaft mit dem Leben an einem andern zu hängen, der Mann am Weibe, das Weib am Manne, einzelner Mensch an einzelnem Menschen, ist es denn so wichtig? ist es denn nicht etwas schaurig Verstiegenes, was da die Ära der christlichen Seele gebracht, das Mittelalter ausgebildet, die Renaissance mit der Freiheit ihres Individualismus noch gesteigert hat und was von Shakespeare aus noch mehr die Seelen umklammern wird, zu Rousseau, zu Werther, zu Jean Paul und Kleist hin? Daß diese romantische, heroische, mystische Liebe wirklich ist, wissen wir alle, und insofern hat auch der kühl ernüchterte Teil unsres Geistes mit Shakespeare nicht zu rechten, wie wir freilich auch wissen dürfen, daß es zu dieser Wirklichkeit nie gekommen wäre ohne die Phantasiekraft des Triebs, welche die Dichter so erzeugt hat, wie die Dichter wiederum diese Naturkraft der Verklärung heben, ausbilden, steigern. Aber wenn es auch wirklich ist, soll es uns so ergreifen, daß es in uns übergeht, in uns immerzu wächst? Es ist die Frage nach dem Recht des Dunklen, Unbewußten, Unvernünftigen, sprachlos Unsäglichen; nach dem Recht des Triebs nicht nur, sondern auch seiner Vermählung mit dem Allerhöchsten des Geistes. Immer werden die Stunden der Klarheit und Zweckhaftigkeit kommen, wo der Gott in uns, der aus Trieb und Geschlecht geboren ist, sich gegen seinen Vater empört und nichts sein will als schlacken- und flammenloser, abgeklärter, lichter Geist. Und vielleicht kommt einst — mir scheint sie aus allerlei Zeichen der Zeit zu drohen — die Stunde der Menschheit, wo die Besinnung die Sinnlichkeit, wo der Geist den Trieb, wo der Gott das Tier, wo der Mensch sich selbst ums Leben bringt. Hier ist diese Frage hochgelassen worden, nicht um sie im Vorübergehen, zwischen zwei Szenen Shakespeares zu lösen, sondern um zu sagen: dies ist eine Frage, die auch Shakespeare nicht fremd ist, die an den Kern seines Wesens rührt, die ihm nie Ruhe lassen wird, und wir werden noch genug hören von seinen mannigfaltigen Fassungen dieser Frage, von seiner Qual und seinem Spiel, seinem Zorn und seiner Freiheit um diese Frage herum. Einstweilen mag noch einmal Julias Monolog zu uns sprechen, mag dem stechenden Bohren unsres Intellekts das Dunkel bringen, das uns not und wohl tut, und mag uns erinnern, warum wohl, was sich gar nicht klar von selbst versteht, der Liebesakt Beischlaf, die Nacht die göttliche Freundin der Liebe ist.
Und nun zu Romeo! Er hat sich in der Tat, wie die Amme gewittert hat, bei Lorenzo in der Zelle verborgen und soll nun in dem Augenblick, wo die Szene einsetzt, erfahren, was wir schon wissen, wessen Wirkung auf ihn wir nun miterleben sollen: der Spruch des Fürsten lautet Verbannung.
So fahrig er vordem war, jetzt fällt an ihm vor allem die eindeutige Bestimmtheit der Leidenschaft auf. Jeden Einwand schneidet er ab:
Und drum wäre es besser tot sein als ohne Julia, in der Fremde, leben. Denn mit ihm lebt seine Phantasie, er ist ein Dichter, jedes Kleinste stellt sich ihm vor, um den Schmerz zu erhöhen: jeder Hund, jede Katze, jede Maus, jede Fliege darf sie sehen, sie berühren — — nur Romeo nicht!
Dazu kommt die Amme. Und wie sie nun in männlicher Gestalt dasselbe Elend trifft, das sie zu Hause verlassen, ist sie doch wie aufs Herz und auf den Mund geschlagen; sie wird ganz menschlich, ganz knapp und beinahe vernünftig. Wenn’s die Darstellerin recht macht, ist das ein köstlicher Zug, um uns aus tiefster Seele die Teilnahme heraufzuholen; denn der Abglanz, den etwas wirft, wirft einen ganz besonders tiefen Glanz darauf zurück. Vernünftig ist sie freilich nur beinahe, ganz kann sie ja nicht. Juliens Zustand schildert sie so verkehrt, daß Romeo meinen muß, wie es nur einen verschwindenden Augenblick lang war, was die Phantasie seines Gewissens aber für das Recht der Gattin erklärt: sie zürne ihm als Tybalts Mörder.
Er war schon ohnedies in verzweifelter Raserei; das tut das Letzte. Das alles nur, weil er ein Montague ist! Um eines Namens willen soll das höchste, lieblichste Glück, das einzige seines Lebens schwinden, jetzt eben, wo die Erfüllung gewinkt hat. Den Namen will er mit dem Degen aus seinen Eingeweiden wühlen; in Liebesverzweiflung und Tollheit der Phantasie ist er daran, sich zu töten.
Da hält ihn Bruder Lorenzo, der das Wort nimmt und es nicht so schnell wieder hergibt und stark in Herz und Vernunft hinein zu ihm redet, zurück. Er begegnet ihm mit dem herrlichen Appell an die Männlichkeit.
Dieser Franziskaner der Hochrenaissance ist eine von Shakespeares schönsten, bezeichnendsten Gestalten. Er ist ein Weltweiser und Weltpriester, der einen starken und süßen Erquickungs- und Heiltrank gegen jede, ja gegen jede Trübsal kennt: Philosophie. Er ist ganz weltlich; Erde und Himmel, Sinnenliebe und Vernunft und Höheres als Vernunft, alles gehört ihm zusammen und trifft sich im Innern des rechten, des beherrschten und maßvollen Menschen. Er ist ein seelenvoller Rationalist, voller Humanität; wie er ein Kenner der Natur und ihrer Heilkräfte ist, so ist er ein Seelenkenner und Seelenbändiger.
Wie schön und wie selten ist’s, wenn ein Mensch auf den andern, wenn Besonnenheit des Freundes auf den leidenschaftlich Rasenden wahrhaft wirken kann! Hier erleben wir’s: Lorenzo hat in weise aufgebauter Rede, wie’s die Wärme der Teilnahme ihm eingab, alles zusammengetragen, was Romeo an Glück und an Aufgabe im Leben noch hat; der Jüngling besänftigt sich. Er darf noch einmal, gleich jetzt, zu Julien; er darf auf die Zeit hoffen.
Wir begleiten ihn mit unsrer Hoffnung und Furcht; denn wär’s nicht auch so genug der Gefahr? Aber da fällt, für uns, noch nicht für die Liebenden, in der kurzen Zwischenszene, der neue, der schwere Schlag. Wie wir eben Lorenzos Zelle verließen, war die Sonne gerade gegangen; jetzt ist es tiefe Nacht, die Kerzen brennen im Gemach des Grafen Capulet; heute ist einmal nur ein einziger Gast da, Graf Paris, der Verwandte des Fürsten. Wir wissen schon von früher, daß er sich um Julia bewirbt; früher hat Capulet ihn vertröstet, das Kind ist noch so jung, noch nicht vierzehn Jahre; jetzt aber auf einmal hat er’s selber eilig. Ja, sie soll ihn nehmen; sie soll heiraten, jetzt gleich, sofort.
Diese Nebengestalt des alten Capulet ist mit ein paar Meisterstrichen, die auf vier Szenen verteilt sind, völlig rund gezeichnet; nehmen wir die Stellen so zusammen, wie sie in jeder Miene und jedem Ton des rechten Darstellers immerzu beisammen sind, so gewahren wir nicht bloß die Person, sondern auch ihre wichtige Stelle in der innern wie äußern Handlung des Stücks. In seiner Jugend war er ein flotter Bursch; jetzt ist er ein Philister, dem nichts Unangenehmes in den Weg kommen soll, der irgend etwas Nagendes mit Festen und Schmäusen zur Ruhe bringen und nicht spüren will und der sich um alles kümmert und in alle Töpfchen guckt. Aus dem Schlaf macht er sich so wenig wie aus dem Alleinsein; er braucht Übertäubung, Geschäftigkeit, Gesellschaft; bei alledem ist er ein Hauspascha, der keinerlei Widerspruch verträgt. Daß die Tochter — wie er meint — so leidenschaftlich um Tybalt trauert, ist ihm lästig; solchen Schmerz begreift er nicht:
Weg mit der traurigen Geschichte; frohe Mienen will er um sich haben, keine Leichenbittergesichter; zur guten Stunde meldet sich der treffliche Freiersmann wieder, heiraten soll sie, schnell, gleich, sofort.
Und sofort soll sie’s erfahren. Es ist zwar schon tief in der Nacht,
aber die Gräfin, ehe sie nach all den Erregungen dieses wilden Tages endlich zu Bett gehen darf, soll der Tochter doch schnell noch ihr bevorstehendes Glück melden, und wenn sie sie aus dem Schlafe stören müßte.
Aber, wir wissen’s im voraus, Julia braucht nicht geweckt zu werden. Wir empfinden in diesen beiden Szenen, wie der tyrannische Vater die Tochter zur raschen Heirat verspricht, und wie Julia mit ihrem Gemahl, Tybalts Mörder, in selig schmerzlicher Liebe ruht, die tragische Ironie der Gleichzeitigkeit. Ist ja doch auch sonst in diesem Stück alles ein einziger zeitlicher Zusammenhang stürmischen Tempos: der Streit; das Dazwischentreten des Fürsten und sein Gespräch mit Capulet am Vormittag des ersten Tages; der Entschluß zum Fest, die Vorbereitungen und Einladungen am Nachmittag; das Fest selbst, Romeo erblickt Julia zur Nacht; späte Nacht nach dem Fest, Romeo im Garten, Julia auf dem Balkon; am frühen Morgen des zweiten Tages ist Romeo bei Lorenzo; im Anschluß daran die Verabredung mit der Amme; am Nachmittag geht Julia angeblich zur Beichte, in Wahrheit zur Trauung; noch am selben Nachmittag erfolgt der Zusammenstoß mit Tybalt; gegen Abend sind wir bei den verzweifelten Ausbrüchen erst Julias, dann Romeos, und nun ist wieder tiefe Nacht: erst vierundzwanzig Stunden sind vergangen, seit Romeo und Julia einander ihre Liebe gestanden haben, und was hat die Liebe inzwischen erlebt! Wir kennen sogar die Wochentage, an denen diese Handlung vor sich geht, da der Wichtigtuer Capulet sie aufzählt: Am Sonntag war der Streit, die Bedrohung jedes neuen Streites mit Todesstrafe und die Begegnung der Liebenden; am Montag die Trauung und Tybalts Tod; am Donnerstag soll Juliens Hochzeit mit Graf Paris sein, da findet man sie am frühesten Morgen tot und trägt sie alsbald in die Gruft; Freitag zur Nacht ist die Tragödie zu Ende: Lorenzo, der vorausgesagt hat, daß Julia nach zweiundvierzig Stunden aufwachen wird, täuscht sich nicht.
So kommen wir denn also, während die Gräfin als unterwürfige Frau sich auf den Weg zur Tochter macht, in das Ende der Liebesnacht hinein, zum allerschwersten Abschied der Liebenden für lange, unbestimmte Zeit. Liebe und Weh wird ihnen zum Wechselgesang; ihr Abschied zum Tagelied. In dieser Nacht haben die Liebenden, was die Welt ihnen angetan, was die Liebe ihnen bereitet, in Harmonie gebracht und wie in Poesie verwandelt; schon aber ahnen wir draußen die Schritte neuer, heftigster Wirklichkeit der Eingriffe der Gewalt und des Streites.
Sie will ihn noch nicht lassen —
er drängt, Eile tut grimmig not,
Und dann kann-will er nicht gehn, obwohl er klar sieht und sich über nichts täuscht; der Wahnsinn des Liebesheroismus kommt über ihn:
Und nun drängt sie, fort, nur fort:
Welch ein Liebesduett! Für sie ist alles Unheil, alles Trennende mit dem Licht des Tages, alle Seligkeit mit der Nacht verbunden; heller und heller wird’s, das bedeutet ihnen und sie sprechen es aus: Dunkler und dunkler!
Und nun — in diesen Abschied hinein — meldet die Amme, daß die Gräfin zu solcher Stunde, zwischen Nacht und Morgengrauen, zur Tochter kommt. Was bevorsteht, welche Gestalt das Schicksal annimmt, ahnen sie nicht; aber sie ahnen das Schicksal.
Und Romeo erwidert:
Und sofort, nachdem Romeo gegangen, atemlos, ohne Pause kommt die Wendung: Julia, die jetzt eben von dem Mann ihrer Liebe, der sie eilends verlassen mußte, zur Frau Geschaffene, erfährt, daß die Konvention und die väterliche Gewalt sie zur Ehe bestimmt.
Indem sie sich nun im Gespräch mit der Mutter verstellen muß, folgen für uns hintereinander die Wendungen des Doppelsinns, der tragischen Ironie. Die Gräfin redet von Juliens Schmerz um den Freund und meint Tybalt damit; wie glücklich ist Julia, die nun von Liebe und Leid auf