Das Haus am Alsterufer - Micaela Jary - E-Book

Das Haus am Alsterufer E-Book

Micaela Jary

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Beschreibung

Hamburg 1911: Nur widerstrebend stimmt der verwitwete Reeder Victor Dornhain der Heirat seiner Tochter Lavinia mit dem Architekten Konrad Michaelis zu. Niemand in der Familie ahnt, dass Lavinias Schwester, die Malerin Nele, ihren Schwager liebt. Etwa zeitgleich wird die 16-jährige Klara Tießen als Hausmädchen bei Dornhains eingestellt. Nur Victor Dornhain und seine Mutter Charlotte wissen, dass Klara sein illegitimes Kind ist. Drei Jahre später bricht der Große Krieg aus und verändert alles: In der Tragödie erkennt Lavinia ihre wahre Bestimmung, Klara findet auf der Suche nach ihrer unbekannten Mutter den Mann ihres Lebens, und das Schicksal seiner Familie wird für den Reeder zu einer Frage der Ehre ...

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Seitenzahl: 728

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Buch

Der seit langem verwitwete Reeder Victor Dornhain lebt mit seiner Mutter und seinen erwachsenen Töchtern in einer Villa an der Außenalster in Hamburg. Ellinor, die Älteste, wird als seine Nachfolgerin erzogen und interessiert sich mehr für Betriebswirtschaft und Frauenrechte als für eine günstige Ehe. Helene, genannt Nele, ist die Künstlerin in der Familie, sie studiert Malerei und Grafik an der Damenakademie in München. Lavinia, die Jüngste, beschäftigt sich dagegen am liebsten nur mit schönen Kleidern und ihrem Vergnügen. Alle Familienmitglieder führen ein sorgenloses Leben – bis sich Lavinia die Heirat mit einem nicht standesgemäßen Mann in den Kopf setzt und einen Skandal provoziert, für den sie die Hilfe der geschwätzigen Zofe Meta benötigt. Die Folgen dieser Mesalliance drohen die Leben mehrerer Menschen zu zerstören und reichen bis weit in den Ersten Weltkrieg hinein. Und da ist noch das Dienstmädchen Klara, die illegitime Tochter Victor Dornhains, deren Geheimnis für ihn schließlich zu einer ebenso schweren Belastung wird wie der Untergang des deutschen Kaiserreichs.

Informationen zu weiteren Titeln der Autorin finden Sie am Ende des Buches.

Micaela Jary

Das Hausam Alsterufer

Roman

Quellenhinweise:Das Zitat von Else Lasker-Schüler stammt aus:Else Lasker-Schüler: Sämtliche Gedichte© 1998 Jüdischer Verlag im Suhrkamp Verlag, Frankfurt/Main.

Das Zitat von Ricarda Huch stammt aus: Ricarda Huch. Gesammelte Werke. Bd. 5. Hrsg. von Wilhelm Emrich© 1971 Verlag Kiepenheuer & Witsch GmbH & Co. KG, Köln.

1. AuflageTaschenbuchausgabe August 2014Copyright © 2014 by Wilhelm GoldmannVerlag, München,in der Verlagsgruppe Random House GmbHGestaltung des Umschlags und der Umschlaginnenseiten:UNO Werbeagentur MünchenUmschlagfoto: © imagebroker / Alamy; Mohamad Itani /Trevillion ImagesRedaktion: Marion VoigtBH · Herstellung: Str.Satz: DTP Service Apel, HannoverISBN: 978-3-641-13160-9www.goldmann-verlag.deBesuchen Sie den Goldmann Verlag im Netz

Wir sind uns alle einig darin, dass,abgesehen von dem scheußlichen Klima, welches wir haben,Hamburg eine der schönsten Städte der Welt ist.Diese Schönheit verdankt Hamburg fastausschließlich der Alster.Wenn wir nun einen solchen Edelstein … haben,dann sollten wir dort auch die Fassung dieses Edelsteins so gestalten, dass die Schönheit desselben …hervorgehoben wird.

Johann Berenberg-Gossler, Bankier,in einer Rede vor der Hamburger Bürgerschaft 1906

ERSTER TEIL

1911–1912

Wir spielten mit dem glücklichsten Glück,Mit den Früchten des Paradiesmai,Und im wilden Gold Deines wirren HaarsSang meine tiefe Sehnsucht

Aus: »Orgie« von Else Lasker-Schüler

Fräulein Helene DornhainTürkenstraße 106München

Hamburg, den 7. September 1911Mitternacht

Meine liebste Schwester,

wenn Großmutter wüsste, dass ich noch immer nicht schlafe, wäre sie sehr ärgerlich. Ich bin aber noch viel zu aufgeregt und bekomme kein Auge zu. Heute ist so viel geschehen. Ich müsste bis zur Morgendämmerung schreiben, um Dir alles zu erzählen. Deshalb beschränke ich mich auf das Wichtigste.

Ich habe meinen Bekanntenkreis erweitert. Demnächst werde ich mich verloben. Mein künftiger Gemahl hat zwar noch nicht um meine Hand angehalten, aber ich weiß ganz genau, dass ich diesen Mann heiraten werde. Du hast bestimmt noch nie einen attraktiveren Herrn gesehen.

Es ist mir einerlei, dass ich als Jüngste eigentlich warten sollte, bis Ellinor und Du verheiratet seid. Ich kann nicht warten! Keinen Tag, keine Stunde. Außerdem ist nicht abzusehen, wann sich an dieser Situation etwas ändern würde. Unsere älteste Schwester scheint sich nicht für die Ehe zu interessieren, und Du willst ja erst Deine Studien abschließen. Ich weiß, dass gerade Du die Letzte bist, die meinem Glück im Wege stehen würde. Und deshalb vertraue ich auf Deine Unterstützung, liebste Nele!

Großmutter und Vater wünschen sich vermutlich eine andere Partie für mich, aber ich denke nicht daran, mich ihrem Willen zu beugen. Der Meine mag zwar kein geborener Hamburger und nicht standesgemäß sein, aber er hat immerhin an der Fertigstellung des Elbtunnels mitgewirkt, und das war bekanntlich das bedeutsamste Projekt der Stadt in den letzten Jahren. Außerdem sieht er so gut aus und ist so charmant, dass selbst der alte Drachen von ihm angetan sein wird. Wahrscheinlich verdient er auch nicht so viel wie ein Kandidat aus unseren Kreisen, aber das spielt für mich keine Rolle – wofür bekomme ich eine Mitgift, wenn nicht zur Finanzierung meines Glücks?

Es war Schicksal, dass ich unseren Vater heute zur offiziellen Eröffnung des Elbtunnels begleiten sollte. Anfangs betrachtete ich es als lästige Pflicht, denn die Reden über das Jahrhundertbauwerk und so weiter langweilen mich. Natürlich verstehe ich nichts von der Sache, und es interessiert mich eigentlich auch nicht, ob eine Röhre unter der Elbe hindurchführt. Aber ganz Hamburg spricht darüber, sogar die Damen, stell Dir vor! Das liegt wohl daran, dass der Kaiser anlässlich des Durchstoßes kam und auch zur Eröffnung angereist ist. Nun, Wilhelm II. kommt dreimal im Jahr in die Hansestadt, so dass ich die Aufregung diesmal nicht ganz verstehe. Wenn Seine Majestät zum Galopp-Derby kommt oder auf Durchreise zur Kieler Woche hier haltmacht, ist das ein gesellschaftlicher Anlass, aber der Tunnelbau unter dem Hafen?

Ach, ich werde darüber wohl künftig anders denken müssen, da mein Auserwählter, wie gesagt, am Bau beteiligt war. Wir wurden einander am Rande der offiziellen Einweihung vorgestellt, und ich bedauere, dass ich nicht schon früher ein wenig Begeisterung für den Tunnel gezeigt habe – wahrscheinlich wäre ich ihm dann bereits vorher begegnet. Aber ich hatte ja keinen Anlass, mich den vielen Menschen anzuschließen, die bei den probeweisen Eröffnungen zum Tunnel gingen.

Ich möchte mir diesen gut aussehenden Mann keinesfalls von einer anderen vor der Nase wegschnappen lassen, deshalb sollte unsere Verbindung so bald wie möglich offiziell besiegelt werden. Und ich bitte Dich, schnell nach Hause zu kommen. Ich weiß, dass ich mich auf Dich verlassen kann! Du wirst Großmutter und Vater sagen, was richtig für mich ist, und Ellinor vertraut Deinem Urteil ebenso. Falls ich in der Zwischenzeit Vaters Segen erhalten sollte, wäre es ebenfalls sinnvoll, dass Du beizeiten eintriffst, da ich Dich bei meiner Hochzeit als Brautjungfer an meiner Seite wissen möchte. Komm bitte bald!

Fühle Dich umarmt und geliebt von Deiner

Livi

PS: Ich werde meinem Gatten von Anfang an beibringen, mich mit dem Kosenamen zu nennen, den Du für mich als Kind erfunden hast. Mein Taufname Lavinia klingt so furchtbar steif.

Hamburg

1

Staunend blickte Klara Tießen zu dem von Weiden beschatteten Ufer. Die ausladenden Äste neigten sich tief über die von der Brise leicht gekräuselte Wasseroberfläche. Dahinter erstreckten sich sanft ansteigende smaragdgrüne Rasenflächen zu prachtvollen weißen Landhäusern, deren Fassaden im Sonnenlicht glänzten, als würden sie jeden Morgen frisch gewaschen. Es waren die nobelsten Villen, die Klara je gesehen hatte. Sie wusste zwar vom Hörensagen, was sie in Hamburg erwartete, doch auf die Magie der Alster war sie nicht vorbereitet gewesen, und niemand hatte ihr vom Zauber der idyllischen Gartenanlagen erzählt. Um diese herbstliche Jahreszeit leuchteten die Blätter der Eichenalleen, der Kastanienbäume und Linden in allen Gelb- und Rottönen, als wären sie mit Farbe übergossen worden. Ruhe und Harmonie hingen über der Landschaft, die weit entfernt schien von der Betriebsamkeit des berühmten Hafens. Auf einer Weide nahe der Mündung des Alsterlaufs in die Außenalster sah Klara sogar Kühe grasen. Doch die Automobile, die über die Holzbrücke daneben ratterten, veränderten das Bild. Es bestand kein Irrtum und noch weniger Grund zur Wehmut – sie war in der großen, reichen Stadt angekommen.

Klara stand an der Reling eines Alsterdampfers, eines der weißen Schraubendampfer, mit denen ein regelmäßiger Linienbetrieb über die Wasserwege zwischen Jungfernstieg und Eppendorfer Mühle unterhalten wurde. Im Baedeker’s hieß es, dass die Fahrt so praktisch sei wie die mit der Elektrischen, aber Klara fand es viel schöner, sich hier den Wind um die Nase wehen zu lassen, statt den kitzelnden Straßenstaub einzuatmen. Sie genoss den kühlen, schweren Duft des ausklingenden Sommers und hörte, wie die Schiffsglocke die baldige Ankunft an der Anlegestelle Alte Rabenstraße verkündete.

Sie war bereits an ihrem Ziel vorbeigefahren, um die gesamte Rundfahrt zu erleben, was zehn Pfennige extra kostete. Den Fährdamm Harvestehude hatte sie ein weiteres Mal hinter sich gelassen, so dass sie sich eigentlich schon auf der zweiten Tour befand. Am liebsten hätte sie diesen wundervollen See, der das Gesicht der Stadt in einer Weise zum Strahlen brachte wie die funkelnden Augen das Antlitz einer schönen Frau, ein drittes Mal umrundet. Das wäre jedoch Luxus gewesen – und ihr Erspartes wollte sie lieber für den Notfall beisammenhalten.

Gerade sechzehn Jahre alt, besaß Klara nur wenig außer dem Vertrauen in die Göttin Fortuna, die wohlmeinend die Geschicke ihrer Heimat Glückstadt lenkte. Sie hatte versprochen heimzukehren, falls ihr Anliegen erfolglos bliebe, und musste deshalb sparsam mit dem Reisegeld umgehen. Doch das Flair der großen Stadt hatte Klara bereits gefangen genommen. Längst war sie entschlossen, dass sie hier Fuß fassen würde. Nichts konnte sie mehr von ihrem Vorhaben abbringen, denn außer der Karriere als Schankmädchen in einem Hafenlokal und der entbehrungsreichen Ehe mit einem Seemann besaß sie als illegitimes Kind unbekannter Eltern in Glückstadt kaum eine Zukunft.

Dem Rat ihrer Ziehmutter folgend, hatte Klara ihr Zuhause verlassen, um nach Hamburg zu gehen und Arbeit bei einem Mann zu suchen, von dem sie nicht mehr wusste, als dass er wohlhabend und Reeder war. Ein Empfehlungsschreiben an Herrn Victor Dornhain befand sich sorgsam verwahrt in ihrem Beutel. Aber die Patin hatte sie vorsorglich darauf hingewiesen, dass der Mann möglicherweise kein wirklicher Herr war und sie deshalb wieder fortschicken könnte. Diesen Fall zog Klara vorerst jedoch nicht in Betracht – alles zu seiner Zeit, war ihre Devise.

An der Anlegestelle Rabenstraße ragte ein hölzerner Steg in den See, stabil genug für mehrere Gaslaternen. Um diese Nachmittagszeit jedoch war Schatten wichtiger als Licht: Die Damen hatten ihre Sonnenschirme aufgespannt oder schützten ihre Haut mittels riesengroßer Hüte, die Klara an Wagenräder erinnerten. Eine Gruppe Kinder wartete, begleitet von der Gouvernante, auf die Ankunft des Bootes, die Mädchen und Jungen trugen Matrosenanzüge und waren so sauber und adrett, wie Klara nie zuvor Kinder dieses Alters gesehen hatte. Auf den weiß lackierten Bänken am Rande des Kais saßen einige Herren ins Gespräch vertieft, in Geschäftsanzügen und mit runden Filzhüten auf dem Kopf; als die Schiffsglocke ertönte, erhoben sie sich, um in geordneter Reihe dem Verkehrsmittel entgegenzugehen.

»Na, mien Deern, willst du nicht noch an Bord bleiben?«, erkundigte sich der Bootsmann, als Klara schweren Herzens den Weg an Land antrat.

Sie schüttelte den Kopf so heftig, dass die Bänder ihres Strohhutes durch die Luft flogen. »Ein andermal vielleicht, aber jetzt muss ich gehen.« Sie bemühte sich um ein gepflegtes Hochdeutsch und verfiel nicht in das Plattdeutsch des Schiffers, dessen sie durchaus mächtig war.

»Denn man too«, erwiderte er und half ihr beim Aussteigen. Er rief ihr noch ein »Tschüss« hinterher, doch Klara hörte kaum hin.

Aus der Nähe sahen die Häuser am Harvestehuder Weg noch imposanter aus als von Klaras Beobachtungsposten an der Reling des Alsterdampfers. Was hieß hier eigentlich Haus? Es waren Paläste, fand das junge Mädchen, Gebäude wie Schlösser. Nicht, dass Klara sonderlich viel Ahnung von Architektur besaß. Aber sie konnte durchaus das Ausgefallene vom Schlichten unterscheiden und Schönheit erkennen, auch wenn diese nur aus Mauern und Fensterglas bestand.

Auf der dem Ufer gegenüberliegenden Straßenseite reihten sich Bauwerke mit Zinnen und Türmen aneinander, Erker nahmen den Putzbauten die Strenge, Terrassen wurden von Säulen getragen, feinstes Stuckhandwerk verzierte Landhäuser und Villen. Die weiß gekalkten Gebäude standen zurückgesetzt von der ungepflasterten, staubigen Landstraße, die offensichtlich vor allem von Spaziergängern und für Ausritte genutzt wurde. Gepflegte Gärten reihten sich hinter der Eichenallee Hecke an Hecke, zur Außenalster hin setzten sich diese Privatparks fort. Veranden, Pavillons und Sitzplätze luden die Hausherren und deren Gäste zum Verweilen ein, und Klara dachte unwillkürlich an die Worte ihrer Ziehmutter, die sie auf die Hinwendung der Hamburger auf alles Englische aufmerksam gemacht hatte und darauf, dass zu einer bestimmten Nachmittagsstunde der Tee genommen wurde. Nicht getrunken, wie unter Klara und ihresgleichen. Die feinen Leute nahmen ihren Tee.

Das Haus Nummer zwölf war in einem ähnlichen Stil erbaut wie die Nachbarvillen. Der Unterschied bestand hauptsächlich darin, dass der üblicherweise im Erdgeschoss befindliche Erker das erste Stockwerk zierte und turmähnlich bis über den Dachstuhl ragte. Davor befand sich eine von Säulen getragene Terrasse. Eine Freitreppe führte vom Hochparterre in den Garten. Obwohl es in Glückstadt einige ansehnliche Adelshöfe gab, erschien Klara der Wohnsitz von Victor Dornhain weitaus prächtiger als diese. Das Gebäude erinnerte sie an die Schlösser in Preußen, die Klara bisher nur von Fotografien kannte.

Eine schmale Seitenstraße führte am Garten entlang zu dem benachbarten Stallgebäude und anderen, in zweiter Reihe liegenden Wohnhäusern. Es ging leicht bergan, und Klara fragte sich, ob sie deshalb nach Luft schnappte. Tatsächlich lag ihre Atemlosigkeit wohl eher an der Aufregung, die sie erfasste und verwirrte, aber gleichsam vorantrieb.

Ihre Schritte führten sie unter ein Mauerdach und vor die zweiflügelige Haustür an der Rückseite des Hauses. Klara stellte ihren Koffer neben sich ab, strich sich den dunklen Rock glatt und die rotgoldenen Locken hinter die Ohren. Ihre Finger fühlten sich feucht an, als sie den Sitz ihres Strohhutes prüfte …

In diesem Moment wurde geöffnet – und sie sah sich dem überraschten Gesichtsausdruck einer älteren Dame gegenüber.

Die Frau war hochgewachsen und von schlanker Statur. Ihre Haltung ähnelte der einer aufrechten Marmorskulptur. Ihr blasses Gesicht unter dem Hut war schmal und von Falten durchzogen, sie war jedoch unverkennbar in ihrer Jugend eine Schönheit gewesen. Sie trug ein dunkelblaues Kostüm, besetzt mit cremefarbener Spitze; die einzige Extravaganz ihrer Garderobe schienen die cremeweißen und blauen Federn auf ihrer Kopfbedeckung zu sein. Kaum jemals hatte Klara eine so schlicht gekleidete Frau gesehen, die eine derart natürliche Eleganz ausstrahlte – und ihr gehörigen Respekt einflößte.

Unwillkürlich wich Klara einen Schritt zurück.

»Wir kaufen nichts, und wir spenden auch nichts für Lungenkranke, bedürftige Kinder, Wandervögel und alle anderen«, erklärte die Dame mit einer tiefen, fast rauchigen Stimme.

»Oh, das ist ein Missverständnis«, beeilte sich Klara aufzuklären. Sie knickste höflich und fuhr, sich zur Ruhe mahnend, fort: »Ich komme nicht, um Geld zu sammeln. Ich will mich als Hausmädchen bei Herrn Dornhain vorstellen, wenn’s recht ist. Ich habe auch ein Empfehlungsschreiben.«

»Schickt dich Bruno Sievers?«

»Wer?« Da sie sich an das Verbot der Ziehmutter gehalten hatte, die um den Brief an Herrn Dornhain ein ziemliches Geheimnis machte, wusste sie nichts über einen Bruno Sievers.

»Den Gesindemakler kennst du anscheinend nicht«, resümierte die alte Dame. »Dann wüsste ich nicht, wieso du dich hier um eine Anstellung bewirbst. Geh von der Tür weg, Mädchen, hier bist du an der falschen Adresse.«

Entschlossen griff Klara in ihre Umhängetasche und zog den Brief an »Herrn Victor Dornhain« heraus. Dabei zerdrückte sie den sorgsam aufbewahrten Umschlag. Zerknittertes Papier machte gewiss keinen guten Eindruck, aber das war nun unabänderlich.

»Hier, gnädige Frau, das Empfehlungsschreiben! Es ist an Herrn Dornhain persönlich gerichtet und von … von …«, sie schluckte die aufsteigende Panik hinunter, »von Hermine Siedentop aus Glückstadt.«

Es schien eine Ewigkeit zu verstreichen, bis die Dame einlenkte: »Gut. Ich werde das Schreiben meinem Sohn übergeben – und dann sehen wir weiter. Glücklicherweise ist er zugegen. Du wirst also nicht lange auf Antwort warten müssen.«

»Danke, gnädige Frau«, stieß Klara erleichtert aus.

»Im Übrigen ist dies der Haupteingang. Für Dienstboten und Lieferanten geht es da lang«, der ausgestreckte Finger in einem cremeweißen Spitzenhandschuh wies auf eine schmale Seitentür ein paar Meter weiter. »Man wird dich rufen oder abweisen. Wie heißt du?«

»Mein Name ist Klara Tießen.«

»Soso…«, die für eine alte Frau ungewöhnlich volltönende Stimme wurde leiser, fast brüchig, bis sie nach der kurzen Bemerkung verklang.

Die Mutter des Hausherrn nahm endlich den Brief an sich. Ohne weiteren Kommentar schlug sie die Tür vor Klara zu.

München

2

»Ich fahre morgen nach Hamburg«, verkündete Nele leise und in der Hoffnung, ihre Freundin werde diese Überraschung widerspruchslos akzeptieren.

Doch Zofia Rogowska zuckte wie vom Donner gerührt zusammen.

»Was?!« Die von einem slawischen Akzent gezeichnete Stimme überschlug sich, als Zofia – ohne eine Antwort abzuwarten – ausrief: »Du kannst nicht nach Hamburg fahren! Das geht nicht! Das kannst du nicht machen! Wir sind mitten in den Vorbereitungen für die nächste Ausstellung. Du kannst nicht alle im Stich lassen!«

Die junge Polin hatte so laut und lebhaft gestikulierend gesprochen, dass sich unweigerlich alle Köpfe in Hörweite zu ihr drehten – und das waren viele im großen Saal des Palastcafés.

Eine bunte Mischung an Gästen genoss das Flair im Café Luitpold, das nach dem Prinzregenten benannt war. In das prachtvolle Gebäude mit seinen zwanzig Sälen zog es Vertreter der in der königlichen Haupt- und Residenzstadt ansässigen internationalen Künstlergemeinde ebenso wie die Stützen der Gesellschaft, höhere Beamte und ihre bürgerlichen Damen, Töchter aus adeligen Familien und Dichter, die bei einer Tasse Kaffee – mehr konnten sie sich nicht leisten – romantische Oden über unerreichbare Weibspersonen schrieben, wenn sie denn nicht satirische Schriften verfassten. Der Spielleidenschaft konnte im Billardsaal gefrönt werden, exquisite Speisen wurden im Weinrestaurant gereicht, und ein Stehgeiger nebst kleinem Orchester lockte zum Tanz, doch der besondere Anziehungspunkt war für die Einheimischen wie für Besucher der Hauptsaal. Die bis zu neun Meter hohe, mit Fresken und Stuckarbeiten verzierte, kuppelartige Decke wurde von achtzig Marmorsäulen und Pilastern getragen, die runden Kaffeehaustische mit üblicherweise je drei oder vier Stühlen boten Platz für zweitausend Personen, und der Gang durch das Mittelschiff dieser Kathedrale des Mokka-Genusses kam mindestens dem öffentlichen Flanieren im Hofgarten gleich.

Dass Zofia es schaffte, in dieser Umgebung Aufsehen zu erregen, war Nele peinlich. Zwar hatte sie nichts dagegen, durch ihre äußere Erscheinung oder ihre Werke aufzufallen, laute Töne waren ihre Sache jedoch nicht. Da war sie ganz Hamburgerin geblieben, obwohl sie bereits seit eineinhalb Jahren zu Studienzwecken in Schwabing wohnte.

Als mittlere Tochter des Reeders Victor Dornhain im Landhaus des Vaters an der Alster geboren und in St. Johannis auf den Namen Helene getauft, war Nele zu Bescheidenheit und Zurückhaltung erzogen worden. Obwohl sich der bürgerliche Alltag in Hamburg üblicherweise durch wenig Kunstsinnigkeit auszeichnete, konnte sich Nele glücklich schätzen, in ihrer Mutter eine musische Person zu haben, die einen hervorragenden Blick für Malerei besaß. Zwar war die Mutter früh verstorben, aber glücklicherweise entschied die Großmutter in überraschender Milde, dass weder die Sammlung ihrer Schwiegertochter verkauft noch Neles Zeichentalent unterbunden werden sollte. Als einige Arbeiten aus dem Lehr- und Versuchs-Atelier für angewandte und freie Kunst vor vier Jahren in Hamburg ausgestellt wurden, begann ein Plan in Nele zu reifen, der sogar Charlotte Dornhain überzeugte. Um die Zeit bis zu ihrer Verheiratung sinnvoll auszufüllen, wurde sie zum Studium der Malerei und Grafik an die Debschitz-Schule nach München geschickt.

»Zu unserer Zeit lernten die jungen Mädchen Weben und Sticken«, pflegte die alte Dame sich vor ihren konservativen Freundinnen zu rechtfertigen, »heute zeichnen und malen sie eben, bis ein junger Mann auf der Bildfläche erscheint und sie von der Kunst wegholt. Die Beschäftigung an sich macht keinen Unterschied zu früher. Im Ergebnis ist es auf jeden Fall eine hübsche Handarbeit.«

Nele war es leid, Sätzen wie diesen zu widersprechen. Anfangs hatte sie es noch versucht, aber rasch eingesehen, dass ihre Großmutter niemals verstehen würde, welchen Platz die Kunst in ihrem Leben einnahm. Sie war nicht nur Liebhaberei, sondern Leidenschaft. Nicht Steckenpferd, sondern Berufung. In ihrer Heimat stieß sie mit solchen Ansichten auf wenig Verständnis. Umso angenehmer war es, dass Malweiber ganz selbstverständlich zum Stadtbild von München gehörten, obwohl es Frauen verboten war, an der staatlichen Akademie zu studieren; die privaten Lehranstalten schossen wie Pilze aus dem Boden und boten vielfältige Möglichkeiten, ein Handwerk zu erlernen, das nicht nur aus Talent bestand.

Die Großzügigkeit der Münchner Gesellschaft hatte dazu geführt, dass sich Nele dem Stil ihrer neuen Künstler-Freunde anpasste. Die hüftlangen, blonden Engelslocken hatte sie zu einem Kurzhaarschnitt gestutzt, ihre vornehme Blässe war während des Sommerunterrichts am Ammersee einer leichten Sonnenbräune gewichen. Sie trug einen dunkelblauen Hosenrock und eine Matrosenbluse mit blauen Bändern – eine überaus modische Garderobe, die sie besser in ihrem Schrank in München zurückließ, wenn sie für die Heimreise packte. Im Gegenzug erschien es ratsam, für den Besuch an der Alster das Korsett herauszusuchen, das sie während des Aufenthalts an der Isar in eine Kommode verbannt hatte.

Nele wartete, bis sich die Neugier der Gäste an den Nebentischen legte oder die Leute es zumindest leid waren, ihre Aufmerksamkeit an Zofia und sie zu verschwenden. »Ich fahre zur Hochzeit meiner kleinen Schwester nach Hamburg«, erklärte sie schließlich.

»Oh, wie schön!« Zofias Stimmlage ließ alle Feinheiten der Theatralik zu – sie reichte von Erschrecken über Sentimentalität bis zu unbändiger Begeisterung. »Warum hast du nicht früher davon erzählt? Wann heiratet sie? Wird es ein großes Fest?«

»Ich weiß es nicht. Bisher ist Livi offenbar nur heimlich verlobt …«

Grenzenlose Verwunderung gehörte ebenfalls zu Zofias Repertoire: »Wie bitte? Es gibt gar kein Datum für die Hochzeit? Jesus, Maria, warum willst du denn dann schon morgen nach Hamburg reisen?« In reinster Verzweiflung rief sie nicht nur himmlische Mächte zu Hilfe, sondern schlug auch noch die Hände über ihrem hübschen Kopf zusammen.

»Nun ja …«, Nele seufzte, weil sich Lavinias Zukunftspläne selbst mit den fortschrittlichsten Ansichten nicht so ohne Weiteres verstehen ließen. Dann begann sie, ihrer Freundin mit gesenkter Stimme zu erzählen: »Vor einigen Wochen erhielt ich einen Brief, in dem mir Livi schwärmerisch von einem Mann erzählte, den sie an einer Baustelle getroffen habe …«

»An einer Baustelle?«, unterbrach Zofia verblüfft. »Was ist er? Ein Arbeiter?«

»Das steht zu befürchten. Anfangs hielt ich diese Schwärmerei nur für überspannt. Deshalb schrieb ich Livi zurück, dass ich nicht so einfach nach Hamburg fahren könne. Gestern nun erhielt ich eine Nachricht meiner älteren Schwester Ellinor, die mich bittet, dringend nach Hause zu kommen. Wenn die von einer ernsten Angelegenheit spricht, ist es eine ernste Angelegenheit.«

»Es gibt keinen Grund, einen Arbeiter …«, hob Zofia an.

Nele fiel ihr unwirsch ins Wort: »Nicht, wenn er ein Ehrenmann ist. Andernfalls steht uns ein Skandal bevor, der der Gesundheit meiner Großmutter nicht zuträglich ist. Und wie mein Vater diese Affäre verkraftet, möchte ich auch lieber aus erster Hand erfahren.«

»Deine Leute verstehen nichts von der Revolution. Aber ich dachte, du hättest begriffen, dass das einfache Volk nicht minderwertig ist und …«

»Es spielt keine Rolle, wie ich die Sache sehe«, unterbrach Nele. »Livi war immer diejenige von uns dreien, die sich widerspruchslos in die Regeln fügte. Wenn wir als Kinder herumtollten, bereitete es Ellinor und mir einen unbändigen Spaß, uns schmutzig zu machen und irgendwelche Verbote zu übertreten. Livi blieb immer brav. Sie war die Hoffnung unserer Großmutter und unseres Vaters, verstehst du?«

Zofia schüttelte verständnislos den Kopf.

Jetzt rang Nele die Hände. »Ich habe dir nicht viel von meinem Elternhaus erzählt. Das war vielleicht ein Fehler, denn du weißt nicht, wie wichtig die Tradition bei uns ist und dass wir angehalten wurden, immer die Form zu wahren.« Sie legte eine Gedankenpause ein und fuhr dann niedergeschlagen fort: »Falls er nicht vorher mit Livis Mitgift durchbrennt, ist ein Arbeiter als Schwiegersohn in Vaters Haus ebenso unvorstellbar wie ein Bauer!«

»Ist dein Vater ein Fürst oder so etwas in der Art?«

Unwillkürlich huschte ein Lächeln über Neles angespannte Züge. »Nein. In eine fürstliche Familie wurde ich nicht geboren, adelig sind wir nicht.«

Zofia stieß den angehaltenen Atem erleichtert aus, doch Nele beschloss, ihre Herkunft jetzt ein für alle Mal zu offenbaren: »Das fehlende Prädikat sagt nichts über unseren Stand aus. Die Hamburger Kaufmannschaft ist dem Kaiser eng verbunden, aber es gibt da diese schon ziemlich alte Auflage, dass die Mitglieder der Bürgerschaft keine Titel annehmen dürfen.«

Ihre Freundin klappte den Mund auf, sagte aber nichts.

»Das ändert nichts daran, dass die Stadtverwaltung funktioniert wie anderswo ein Königreich. Ein paar Familien haben das Sagen, und wir sind irgendwie alle miteinander verschwägert. Deshalb ist mein Vater wohl eher … so etwas in der Art …«, bei den letzten Worten imitierte sie Zofias Stimme, als handle es sich um die Szene in einem Theaterschwank und nicht um eine ziemlich ernste Mitteilung.

Überraschenderweise reagierte Zofia auf die Beichte mehr ehrfürchtig als entsetzt. »Wohnt deine Familie in einem Schloss?«, fragte sie.

»Nur in einem Haus … einem ziemlich großen Haus. Mit einem schönen Garten, der bis ans Ufer der Alster reicht. Das ist ein Fluss in Hamburg, der sich an einer bestimmten Stelle zu einem See verbreitert. Dort ist mein Zuhause.«

»Sind deine Leute reich?«

»Ich weiß es nicht«, behauptete Nele, besann sich nach einem Blick in Zofias bernsteinbraune Augen jedoch eines Besseren und antwortete aufrichtig: »Wahrscheinlich schon. Ich weiß allerdings wirklich nicht, wie viel mein Vater verdient. Das Kontor hat mich nie interessiert, ich bin im Gegensatz zu meiner Schwester Ellinor nicht einmal gut in Mathematik. Unser Vater ist Reeder.«

»Wie? Er besitzt Schiffe? Richtige Dampfschiffe?«

Allmählich begannen die bohrenden Fragen der Freundin Nele auf die Nerven zu gehen. »Ja. Natürlich. So ist das in Hamburg. Es gibt dort viele Reeder und Schiffsmakler. Wie in anderen Hafenstädten auch. Aber das hat mit mir überhaupt nichts zu tun. Ich will eine gute Malerin wer…«

»Jesus, Maria!« Zofias Stimme schwoll wieder an, als befände sie sich auf der Bühne des Hof- und Nationaltheaters und nicht in einem Kaffeehaus. »Warum tut er dann nichts für dich und deine Freunde? Wenn dein Vater Geld hat, kann er eine Ausstellung bezahlen. Und er wird andere reiche Leute kennen, die Bilder kaufen wollen.«

»Ich glaube nicht, dass …«

»Er ist dein Vater! Was würde ich alles tun, wenn meine Familie reich wäre …?! Wir müssten uns keine Gedanken mehr über Ausstellungen und diese Halsabschneider von Galeristen machen und …«

»Zofia, bitte nicht so laut!« Nele warf rasche Seitenblicke nach rechts und links.

Ihre Freundin hatte sich dermaßen entrüstet, dass die Köpfe an den Nachbartischen sich wieder interessiert zu ihnen beiden neigten.

Nele beugte sich ein wenig vor, um leise zu antworten: »Mein Vater bezahlt mein Studium, und ich erhalte ein Taschengeld, aber er wird nicht auch noch die gesamte Neue Künstlervereinigung unterstützen. Er ist eher … wie soll ich sagen? Er ist ein konservativer Geschäftsmann und kein Mäzen.«

»Jesus, Maria, dein alter Herr besitzt richtige Schiffe!«

Wäre sie doch einfach nur nach Hamburg gefahren und hätte ihrer Freundin von dort einen Brief geschrieben, um ihre Abwesenheit zu erklären!

Nele ärgerte sich über die eigene Geschwätzigkeit. Seit eineinhalb Jahren lebte sie in München, ohne dass sich irgendjemand für ihren Hintergrund interessierte. In den Künstlerkreisen, in denen sie verkehrte, zählte ihr Talent mehr als ihre Herkunft. Nicht auszudenken, wie ihre Malerfreunde reagierten, wenn Zofia herumposaunte, dass Helene Dornhain womöglich eine reiche Erbin war. Die meisten ihrer Freunde kamen aus bürgerlichen Familien, manche aus einfachen Verhältnissen. Bis auf die russische Malerin Marianne von Werefkin kannte Nele in München niemanden näher, der gesellschaftlich dem strengen Blick ihrer Großmutter standgehalten hätte. Die republikanisch gesinnte Polin an Neles Seite hätte Charlotte Dornhain wohl nicht einmal amüsant gefunden. Insofern standen sich beide Welten in nichts nach – Nele fühlte sich gerade hier wie dort fehl am Platz.

»Bitte«, beschwor sie die Freundin, »erzähl niemandem von meinem Elternhaus. Ich verspreche dir, dass ich meinen Vater fragen werde, ob er irgendetwas für unsere Künstlervereinigung tun kann.« Unter dem Tisch kreuzte sie die Finger ihrer Hand. »Und ich verspreche, dass ich zurück bin, um bei der nächsten Ausstellung zu helfen. Aber das muss vorläufig alles unter uns bleiben.«

Sie schämte sich ein bisschen, weil sie bereits in diesem Moment vermutete, dass sie nichts von dem würde halten können, was sie gerade zugesagt hatte.

3

Vor dem Café Luitpold wandte sich Nele zunächst in Richtung Odeonsplatz, um von dort die Pferdetrambahn nach Schwabing zu nehmen. Sie war dankbar, dass Zofia einer anderen Verabredung nachkommen musste, die bohrenden Fragen ein Ende gefunden hatten und sie selbst zur Ruhe kommen konnte.

Es war einer dieser milden Septembertage, an denen der Föhnwind Schäfchenwolken über einen fast kitschig blauen Himmel trieb und die Luft zu prickeln schien wie Champagner, allerdings auch so trunken machte, was nicht bei jedem ein angenehmes Gefühl hervorrief. In Neles Schläfen hämmerte eine leichte Migräne, die von dem eben genossenen Kaffee noch begünstigt wurde. In der Annahme, dass ein Spaziergang hilfreicher sei als ein Aspirin, beschloss sie, noch ein wenig umherzulaufen.

Der Kopfschmerz verschleierte ihren Blick, als ginge sie durch Nebel. Dabei nahm sie die vertraute Fassade der griechisch-orthodoxen Salvatorkirche ebenso wenig wahr wie die Konventgebäude des ehemaligen Klosters St. Kajetan, die über Jahrzehnte die kurfürstlichen Departements für Finanzen, Justiz und Kirchliche Sachen beherbergten. Auch die im klassizistischen Stil errichteten Geschäftshäuser der Theatinerstraße entlockten ihr nicht die gewohnte Bewunderung. Wie eine Marionette bewegte sie sich an den vielen Menschen vorbei, die um diese Tageszeit die Straßen bereits auf dem Weg zum diesjährigen Oktoberfest bevölkerten. Als zöge eine unsichtbare Hand an den Fäden, wurde Nele zum Arco-Palais gelenkt.

In dem Eckgeschäft mit der langen Schaufensterfront an der Theatiner- und der Maffeistraße befanden sich die Räume der Modernen Galerie von Heinrich Thannhauser. Die Vernunft warnte Nele davor, in den Auslagen nach der eigenen Tuschezeichnung zu suchen, die sie neulich an den Kunsthändler verkauft hatte. Sie konnte wohl kaum erwarten, als Anfängerin neben den Werken berühmterer Münchner Studenten wie etwa Wassily Kandinsky präsentiert zu werden. Allerdings: Warum eigentlich nicht?

Thannhauser hatte ihr Blatt nun einmal erworben. Sie nahm nicht an, dass er damit nur sein Depot vervollständigen wollte. Kunsthändler lebten schließlich vom Verkauf und nicht vom Sammeln. Selbst wenn sie Sammler waren, zeigten sie ihre Schätze und versteckten sie nicht. Der Erwerb von Neles Liebespaar im Englischen Garten, für das der Galerist eine Mark und fünfzig Pfennige bezahlt hatte, war schon etwas anderes als die halbherzige Freundlichkeit, mit der ihre Großmutter ein ungeliebtes Bild in das heimische Morgenzimmer hängte. Jenen Raum, in dem der ganze Trödel untergebracht wurde, der in den Salons störte.

Von ihrer Zeichnung war in den Schaufenstern jedoch weit und breit nichts zu sehen.

Niedergeschlagen wanderte Nele die gesamte Straßenfront des Geschäftshauses ab. Möglicherweise hing ihr Bild in einem der hinteren Ausstellungsräume, gar in den oberen Etagen, die ebenfalls zu der Galerie gehörten. Doch ihr fehlte der Mut, durch die Tür zu treten und sich auf die Suche nach ihrem Werk zu machen. So blieb ihr wenigstens die Hoffnung, dass es dort irgendwo war. Wenn sie sich erst davon überzeugt hätte, dass ihre Zeichnung nicht der Öffentlichkeit präsentiert wurde, wäre die Enttäuschung noch größer, endgültiger.

Ach, wie gerne hätte sie ihrer Familie von diesem Erfolgserlebnis berichtet. Es war doch ihr erster Handel als Künstlerin!

Der Migräneschmerz griff mit eiserner Kralle nach ihrem Kopf. Nele schloss die Augen und lehnte die Stirn gegen das kühle Glas der Scheibe. Dass dabei ihre Hutkrempe zerdrückt wurde, störte sie nicht.

»Unbelievable!«

Erschrocken wich Nele zurück. Meinte der Mann mit seinem Ausruf etwa sie? So unglaublich war es nun nicht, dass sie sich an dem Schaufenster von ihrem Kopfweh erholte. Nicht unbedingt damenhaft – ihre Großmutter würde die Augenbrauen hochziehen –, aber auch nicht absolut unschicklich.

Der sich so lautstark in englischer Sprache Empörende erwies sich als ein junger Herr. Offensichtlich kam er gerade aus der Galerie. Er stand noch fast in der Tür und war damit beschäftigt, lose Blätter in einem großen, in schwarzes Leder gebundenen Zeichenkoffer zu ordnen. Eine ungewöhnliche Person. Er war glatt rasiert und trug ein hellblaues Hemd zum weißen Kragen und zur nachtblauen Krawatte, dazu einen kurzen Blazer wie zu einer Regatta und lange weiße Hosen. Der mürrische Blick unter dem unpassenden breitkrempigen Panamahut war auf seine Tätigkeit konzentriert. Dennoch glitt ihm ein Papier aus der Hand und segelte in der um das Eckgebäude auffrischenden Brise dahin.

Nele griff, ohne nachzudenken, nach dem Blatt, bevor es in den Straßenstaub fallen konnte. Unwillkürlich schaute sie genauer hin. Es zeigte ein Bild, das aussah wie eine Fotografie, aber tatsächlich eine atemberaubend authentische, mit farbiger Kohle ausgeführte Zeichnung war: Über einem Biertisch hingen drei sichtlich betrunkene Männer, vor sich fast leere Maßkrüge, im Hintergrund hatten zwei andere eine Stellung eingenommen, als wollten sie gleich einen Boxkampf ausfechten. Der Schriftzug »Bräurosl« wies darauf hin, dass die Szene im größten und bekanntesten Bierzelt der Wiesn eingefangen worden war …

»Geben Sie mir das zurück«, forderte der Fremde auf Deutsch. Seine Stimme klang nur unwesentlich freundlicher und war stark gefärbt von einem Akzent.

Zögernd kam sie seinem Wunsch nach. »Das ist ein interessanter Stil«, konstatierte sie. Dabei war sie sich selbst nicht ganz klar darüber, ob sie eigentlich seine Garderobe oder doch seine Maltechnik meinte.

»Gefällt er Ihnen?«, gab er grimmig zurück. »Dann stehen Sie ziemlich alleine da, Miss. Dem Galeristen gefällt er nämlich nicht. Der ist blind von den Farbklecksen der Neuen Künstlervereinigung und dieser anderen Gruppe, die sich Blauer Reiter nennt!« Der Fremde schnaubte wie ein Pferd kurz vor dem Durchgehen.

»Nun … ja …«, murmelte Nele. Was sollte sie auch sagen?

»Bei uns in New York ist die Ashcan School richtungweisend. Warum wird das in München als Genremalerei des achtzehnten Jahrhunderts abgetan? Verstehen Sie das, Miss?«

Sie schüttelte den Kopf.

Was tat sie hier? Warum ließ sie sich auf ein Gespräch mit einem unmöglich gekleideten jungen Mann ein, der sich über irgendetwas aufregte, das sie nichts anging und sich letztlich auch ihrer Kenntnis entzog? Sie sollte sich lieber trollen, anstatt dem erregten Palaver zuzuhören.

»Sie verstehen wohl nicht viel von Malerei?!«

Die Worte trafen sie mit unerwarteter Härte. Es war keine Frage, sondern eine Feststellung, die eindeutig als Beleidigung gemeint war. Mit seiner Arroganz stellte der unbekannte Maler Nele in diffamierender Weise bloß, als sei sie ein hirnloses, dummes Weibsstück. In seiner Abfälligkeit lag die Abscheu eines frustrierten Künstlers, der seinen Zorn über der erstbesten Person ausschüttete. Nele kannte derartige Ausbrüche von ihren Freunden und Kommilitoninnen – niemals aber redete man so mit einer Passantin, die einem zufällig über den Weg lief.

Nele funkelte den Amerikaner an. »Ashcan heißt Ascheimer, nicht wahr? Wissen Sie was, Sie sollten sich damit abfinden, dass Ihr Bild in den Mülleimer gehört!«

Sprach’s, drehte sich abrupt um und marschierte blicklos davon. Einerlei wohin. Nur fort von diesem unglücklichen, unverstandenen, unfreundlichen Menschen.

Es war ihr völlig egal, ob sie sich deshalb mit den anderen Stadtbesuchern ins Getümmel am Marienplatz stürzen musste, wo es heute besonders voll zu sein schien. Auffällig vornehm gekleidete Spaziergänger rempelten Nele ebenso an wie Leute in Tracht. Touristen standen im Weg, die das im neugotischen Stil erbaute und wie ein Zuckerbäckerpalast wirkende Neue Rathaus mit seinem Glockenspiel bestaunten. Der Kutscher eines Heuwagens versuchte, sich den Weg durch die Menge zu bahnen, ein Bauer trieb eine Kuh an einem noblen Geschäft für Lederwaren vorbei. Und Nele fiel ein, dass heute Markttag in der Sendlinger Straße war, der die Gassen der Altstadt stets in ein Dorf verwandelte.

Atemlos drängte sie sich durch die Menschen. Ihr Herz trommelte gegen ihre Brust, in ihren Ohren klirrten und sausten Geräusche, die sie sonst nicht hörte und die nichts mit dem Straßenlärm zu tun hatten.

Nele ärgerte sich, weil sie sich zu einem derart undamenhaften Benehmen hatte hinreißen lassen. Wobei nicht einmal gesichert war, ob die Tatsache, dass sie mit einem Fremden auf der Straße gestritten hatte, schwerer wog als ihre freche Behauptung, über deren Wahrheitsgehalt sie erst recht nicht nachzudenken wünschte. Wie war sie nur in diese gänzlich inakzeptable Situation geraten?

Eine Hand legte sich auf ihre Schulter.

Nele erstarrte. Obwohl es eine sanfte Berührung war, fühlte sie sich, als wäre sie brutal angegriffen worden. Ein unterdrückter Schrei entfuhr ihr. Dann kreischte sie: »Was erlauben Sie sich?!«

»Miss … sorry, Miss … Verzeihen Sie …«, stammelte der Amerikaner nun ausgesprochen kleinlaut. »Ich wollte nicht unhöflich sein. Bitte, entschuldigen Sie.«

Sie fasste sich ans Herz, von dem sie meinte, es habe für einen Moment ausgesetzt zu schlagen. Sie schnappte nach Luft. Ihre Blicke flogen wild umher. »Wenn Sie auch nur einen Funken Anstand besitzen, lassen Sie mich in Ruhe«, keuchte sie. »Sofort!«

Ein Hündchen, durch eine lange Leine mit einer älteren Dame verbunden, drängte sich unvermittelt zwischen Nele und den jungen Mann. Leises Knurren drang durch den allgemeinen Geräuschpegel, der über der Weinstraße hing, wo diese in den Marienplatz führte.

Doch hatte die Szene nicht nur die Aufmerksamkeit des kleinen Wachhundes geweckt, sondern war offenbar auch von einem Polizisten beobachtet worden. Ein vierschrötiger Gendarm in blau-roter Uniform trat neben Nele, den Blick unter der mit den bayerischen Löwen reich verzierten Pickelhaube finster auf ihren Verfolger gerichtet.

»Werden S’ belästigt, Fräulein?«, erkundigte sich der Wachmann.

Schon wieder wurde sie zum Objekt der Neugier von Fremden. Interessiert wandten sich einige der vorbeiströmenden Passanten zu ihr um. Das war für Nele ebenso unangenehm wie die Zuhörer an den Nebentischen im Café Luitpold. Am liebsten wäre sie im Boden versunken.

Unvorstellbar, dass der Amerikaner in ihrem Beisein vielleicht verhaftet würde. Oder man sie als Zeugin auf ein Revier lud!

Letztendlich war ihr ja auch wirklich nichts geschehen. Die Hand war längst von ihrer Schulter gefallen – und wenn sie jetzt zu dem unverstandenen Künstler hinsah, stand er da wie der sprichwörtliche begossene Pudel. Er tat ihr fast leid.

»Es ist alles in Ordnung«, behauptete sie.

Der Gendarm blieb skeptisch: »San S’ sicher?«

»Wir proben für ein Theaterstück«, improvisierte sie rasch. »Die Debschitz-Schule veranstaltet immer wieder Aufführungen mit den Studenten. Davon haben Sie sicher schon gehört. Und wir sind Kommilitonen. Verstehen Sie?«

»Dann gehen S’ auf die Bühne zum Üben und nicht vors Rathaus. I könnt Sie anzeign wegen Unruhestiftung, aber für a hübsches Mädel wie Eaner drück i beide Augn zu. Aber geben S’ jetzt a Ruh mit Ihrer Spielerei, bitt schön.«

Nele strahlte ihn an. »Natürlich. Vielen Dank für Ihr Verständnis, Herr Gendarm.«

Sie sah dem Wachmann zu, wie er den Kreis Neugieriger, der sich um sie und den Amerikaner inzwischen gebildet hatte, mit energischen Handbewegungen aufzulösen begann. Erst als die meisten Leute wieder ihren eigenen Angelegenheiten nachgingen, drehte sie sich um. Eigentlich hatte sie erwartet – oder sogar gehofft –, dass ihr Verfolger die Flucht ergriffen hatte. Doch er stand hinter ihr, seine Mappe an sich gedrückt, ein Schmunzeln im Gesicht.

»Wow!«, war sein einziger Kommentar.

»Ich wollte Ihnen eine Anzeige ersparen«, erwiderte sie. »Aufdringlichkeit ist ein Mangel an Erziehung, aber nichts, womit sich die Polizei beschäftigen sollte. Meinen Sie nicht auch?«

»Oh ja, Miss. Unbedingt«, pflichtete er ihr lächelnd bei.

»Dann werden Sie mich nicht mehr verfolgen, wenn ich jetzt meines Weges gehe?«

Sein Grinsen wurde breiter. »Ich bin nicht so gut erzogen. Tut mir leid.« Er zuckte mit den Achseln und fügte lässig hinzu: »Ich bin Amerikaner, wir sind lockerer.«

»Was …« fällt Ihnen ein?, lag Nele auf der Zunge, aber sie besann sich eines Besseren, schluckte die ursprüngliche Bemerkung hinunter und holte tief Luft. Mit deutlich gesenkter Stimme fuhr sie fort: »Was wollen Sie von mir?«

»Dass Sie mir verzeihen«, gab er unumwunden zu und wirkte wieder äußerst zerknirscht. »Ich habe Sie beleidigt. Das tut mir sehr leid …«

»Sie sagten es bereits!«

»Ich wusste vorhin noch nicht, dass Sie Studentin der Debschitz-Schule sind.«

»Aha. Und woher wissen Sie das jetzt?«

»Niemand würde das Institut als Ausflucht benutzen, der keine direkte Verbindung hat. Sind Sie Kunsthandwerkerin oder Malerin?«

Was war denn nur heute los? Erst bestürmte sie ihre Freundin Zofia mit Fragen, jetzt dieser wildfremde junge Mann. Nele schüttelte unwillig den Kopf. »Ich denke, das geht Sie nichts an. Guten Tag, mein Herr!«

Zum zweiten Mal schickte sie sich an, vor ihm davonzulaufen, doch wieder hielt er sie auf. Diesmal mit seiner Stimme: »Warten Sie …!«, rief er ihr nach, und Nele hielt mitten in der Bewegung inne.

»Mein Name ist Francis Bellows. Ich komme aus New York in den Vereinigten Staaten von Amerika und studiere an der Kunstakademie Malerei. Wenn Sie erlauben, Miss, würde ich Sie gerne ein Stück begleiten. Ich schwöre Ihnen, dass ich doch sehr gut erzogen bin.«

Ihr erster Gedanke galt ihrer Großmutter. Charlotte Dornhain wäre entsetzt, wenn sie wüsste, dass eine ihrer Enkeltöchter sich auf offener Straße ansprechen ließ und dann auch noch einen Spaziergang mit dem Betreffenden unternahm. Das gehörte sich nicht. Junge Damen machten Bekanntschaften nur in ihren eigenen Kreisen, auf Gartenfesten, bei Sommerkonzerten, Hausmusikabenden, Empfängen, Bootsausflügen, beim Schlittschuhlaufen oder dergleichen …

Einen Herzschlag später fiel ihr die Amour fou ihrer kleinen Schwester ein. Wahrscheinlich hatte auch die sich in der Öffentlichkeit ansprechen lassen. Auf einer Baustelle! Und mit Sicherheit hatte sie sich aus demselben Grund, aus dem Nele den egozentrischen, selbstvergessenen Monologen ihrer Künstlerfreunde lauschte, auf den fremden Mann eingelassen. Er war – ebenso wie die Maler und Bildhauer in München – anders als die jungen Herren auf Goldfischfang in Hamburg – schlichtweg interessanter.

Hinter ihren Schläfen begann wieder der Kopfschmerz zu pochen, doch Nele achtete nicht darauf. Sie musterte Francis Bellows und fand, dass er zwar ungewöhnlich, aber recht manierlich aussah; er wäre sogar gut angezogen, wenn sie sich auf einem Bootsausflug und nicht in einem Häusermeer befinden würden. Vielleicht würde er sogar vor den Augen ihrer Großmutter bestehen. Doch nicht nur das. Er war definitiv ebenfalls Künstler, dessen Werke durchaus nicht in den Müll gehörten, wie sie eingangs behauptet hatte. Talentierten Kollegen gegenüber gehörte sich eine gewisse Freundlichkeit. Das war absolut vertretbar. Außerdem regte sich Neugier in ihr. Wie kam ein Maler darauf, sich einer Richtung anzuschließen, die Ascheimer-Schule hieß?

»Gut«, entschied Nele und lächelte ihn zum ersten Mal gewinnend an. »Sie dürfen mich zur Pferdetram bringen.«

Hamburg

4

Victor Dornhain war ein großer, hagerer Mann, der sich leicht gebückt hielt, weil er sich beim Gehen und Stehen auf einen Stock stützte. Der Reeder wirkte ebenso einschüchternd wie seine Mutter, und er war nicht minder attraktiv und elegant. Sein dunkelblondes Haar war von grauen Strähnen durchzogen, der gepflegte Vollbart fast weiß, doch seine blaugrauen Augen hinter der Hornbrille blickten so aufmerksam, als wäre er ein viel jüngerer, noch zutiefst neugieriger Mann.

Die Abendsonne warf lange Schatten in das holzgetäfelte Arbeitszimmer, und vor dem Mobiliar aus poliertem Mahagoni und olivgrünem Leder kam er Klara vor wie ein Patriarch in seinem Reich. Ein König, vor dem sich Klara unendlich klein, unwichtig und hilflos fühlte, zumal sie nicht wusste, ob er gut oder böse war.

Stumm blickte er sie lange und nachdenklich an. Sein Blick schien so tief in sie zu dringen, als wollte er ihr Innerstes nach außen kehren. Klara stand neben der Tür und wartete mit weichen Knien auf eine Antwort – zu der Nachricht aus Glückstadt, sie selbst hatte keine Gelegenheit gehabt, eine Frage zu stellen.

Man hatte sie am Nebeneingang der Villa so lange stehen lassen, bis sie unverrichteter Dinge beinahe wieder gegangen wäre. Lediglich der Gedanke an den Brief ließ Klara weiter ausharren. Sie wollte ihre Ziehmutter nicht enttäuschen. Und wenn sie es würde tun müssen, dann wenigstens in Kenntnis des Inhalts jenes Schreibens, welches ihr die Tür zu diesem Haus öffnen sollte. Sie würde den Brief zurückverlangen und lesen, das war längst beschlossene Sache. Also übte sie sich in Geduld. Irgendwann war es aber dann doch eine Überraschung, als Sesam sich öffnete. Ein junges Mädchen, das sicher kaum älter als Klara war und die übliche Uniform einer Zofe trug, bat sie herein.

»Bitte!«, sagte die Hausangestellte nur. Ohne ein weiteres Wort wies sie der Besucherin den Weg.

Klara blieb nicht einmal Zeit, sich umzusehen; die Eindrücke huschten an ihr vorbei wie flüchtige Erinnerungen, die man registrierte, aber ebenso schnell wieder vergaß. Als sie in der prächtigen Eingangshalle zögerte, wurde Klara von dem schweigsamen Dienstmädchen energisch in das Arbeitszimmer geschoben. Mit einem dumpfen Klicken fiel die Tür ins Schloss, und Klara fühlte sich für einen Moment seltsam eingesperrt. Eine unbekannte Panik wallte in ihr hoch.

Victor Dornhains Augen hinter der Brille waren so etwas wie ein Rettungsring, an dem sich Schiffbrüchige festhielten. Und Klara kam sich gerade vor, als suchte sie Halt auf stürmischer See. Sie versank förmlich in seinem aufmerksamen Blick. Sie starrte ihn stumm mit dem Ausdruck des sprichwörtlichen Kaninchens an, das vor der Schlange steht.

»Du bist also Klara Tießen«, stellte der Hausherr schließlich mit einer volltönenden Stimme fest. »Nun, du bist zum rechten Zeitpunkt gekommen. Es fügt sich, dass gerade eine Stellung frei ist: Du kannst als drittes Hausmädchen bei uns anfangen …«

Ein Wunder geschah!

Klara konnte nicht fassen, was sie hörte: Victor Dornhain hatte sie eingestellt. Einfach so. Ohne Nachfragen. Ohne Referenzen.

Doch Freude darüber spürte sie keine. Angst vor dem Ungewissen, Verwunderung und Neugier stellten ein ziemliches Gefühlschaos in ihrem Innenleben her, das über alle anderen Empfindungen triumphierte.

»Zunächst arbeitest du auf Probe, aber wenn du dich gut beträgst, kannst du bleiben. Für den Anfang bekommst du sieben Mark im Monat, Kost und Logis sind frei, und eine Gehaltserhöhung von monatlich fünfzig Pfennigen sei dir in Aussicht gestellt.«

Sollte der Brief aus Glückstadt als Empfehlung so bedeutsam sein, dass Herr Dornhain auf Anhieb überzeugt wurde? Welche Worte hatte die Ziehmutter dafür gewählt? Andererseits sollte Klara sich darüber eigentlich nicht den Kopf zerbrechen, denn es war wundervoll, in einem Haushalt wie diesem leben und arbeiten zu dürfen. Das Warum spielte keine Rolle. Hauptsache, sie war hier und konnte bleiben. Dennoch bohrten sich die Fragen in Klaras Hirn.

Die Welle der Verwirrung brach sich nun endgültig über ihr. Sie war so durcheinander, dass ihr die Worte für eine Erwiderung fehlten. Sie starrte den Hausherrn nur verwundert an.

»Dem Mädchen scheint es die Sprache verschlagen zu haben«, meldete sich die raue Stimme der alten Dame aus dem Hintergrund. Sie thronte in einem Sessel nahe dem Erkerfenster, ihre Anwesenheit war Klara nur am Rande aufgefallen. »Gut«, konstatierte Charlotte Dornhain. »Das ist gut. Ich mag keine geschwätzigen Dienstboten.«

Ein amüsiertes Zucken hob die Mundwinkel ihres Sohnes. Bevor er jedoch zu einer Antwort ansetzen konnte, erklang ein energisches Klopfen, und nicht einmal einen Atemzug später schwang die Zimmertür auf.

Klara, die mit dem Rücken zum Eingang stand, fuhr automatisch herum.

»Vater …«, die Eintretende hielt angesichts der fremden Person erstaunt inne.

Die Mitglieder der Familie Dornhain waren einander sehr ähnlich. Wieder war da dieser eindringliche Blick, der Klara traf. Die junge Frau mit der dunkelblonden, etwas altmodisch anmutenden Hochsteckfrisur schien eine jüngere Version von Charlotte Dornhain zu sein: Sie war hochgewachsen, schmal und von natürlicher Eleganz, dabei wenig prätentiös. Die feinen Linien in ihrem Gesicht trogen, denn hinter dieser Zartheit steckte sicherlich viel Kraft. Klara stellte überrascht fest, dass diese Person die leibhaftige Erfüllung ihrer Wunschvorstellung von sich selbst war.

Eisblaue Augen maßen sie von Kopf bis Fuß, die Augenbrauen hoben sich, dann sah die andere zu Victor Dornhain. »Entschuldige bitte die Störung, Vater, ich wusste nicht, dass du Besuch hast. Frieda hatte mir gesagt, dass du mich sprechen möchtest. Ich komme dann später wieder.«

»Das ist kein Gast«, antwortete ihre Großmutter und erhob sich aus dem Sessel, indem sie sich mit beiden Händen auf die Lehnen stützte und dann hochstemmte. »Das ist unser neues Hausmädchen. Sie heißt Klara.«

»Unser neues Hausmädchen? Wieso das? Wir brauchen doch niemanden.«

»Du irrst, Ellinor. Wir brauchen dringend mehr Personal«, stellte Victor Dornhain entschieden fest. »Das zu diskutieren habe ich dich allerdings nicht hergebeten.« Er wandte sich zu seinem Schreibtisch um, wo er mit der freien Hand nach einer Kladde griff. »Ich wollte dich wegen der Werbeanzeigen für die Ostseekreuzfahrt konsultieren, die in den Hamburger Nachrichten veröffentlicht werden sollen.«

»Aber …« Ellinor Dornhain schnappte nach Luft, warf ihrer Großmutter einen fragenden Blick zu, den diese jedoch zu ignorieren schien.

Klaras Gefühlsschwankungen wurden durch Ellinor Dornhains Widerwillen gegen ihre Einstellung verstärkt. Sie haderte mit der Sympathie, die sie für die junge Frau empfand. Es nagte an ihr, dass ausgerechnet eine Person, die so war, wie sie selbst gerne gewesen wäre, eine so offensichtliche Abneigung gegen sie hegte. Als sie noch einmal von dem aufmerksamen Blick der anderen getroffen wurde, senkte sie jedoch verschämt die Lider. Klara spürte, wie sie errötete.

»Natürlich, Vater«, ergab sich Ellinor Dornhain in ihre Pflichten. »Soll ich … ehmmm… Klara, nicht wahr? Soll ich Klara nach unten zu den Dienstbotenzimmern bringen? Ich meine, da muss sie ja wohl hin, wenn wir nun neues Personal brauchen.«

»Das übernehme ich«, erwiderte ihre Großmutter.

»Oh!«

Du musst etwas sagen, wurde Klara von einer inneren Stimme ermahnt, du musst endlich den Mund aufbringen und nicht herumstehen, als wärst du stumm wie ein Fisch.

Sie räusperte sich. »Danke«, krächzte sie in Richtung des Hausherrn. Mehr fiel ihr nicht ein.

»Ich habe nicht viel Zeit, Ellinor«, erklärte Victor Dornhain eine Spur ungehalten. »Sieh dir bitte die Unterlagen an, die Herr Richter aus dem Büro gebracht hat.«

Flüchtig dachte Klara, wie ungewöhnlich es war, dass ein Vater seine Tochter in geschäftliche Belange einbezog. Sie überlegte, ob sie sich an Ellinors Stelle wünschte. Doch darüber nachzudenken musste sie verschieben.

Die Hausherrin schritt in wahrhaft königlicher Haltung an ihr vorbei zu der Tür, die Ellinor zuvor geschlossen hatte. Dort blieb Charlotte Dornhain erwartungsvoll stehen.

Es dauerte eine peinliche Minute, bis Klara begriff, was von ihr erwartet wurde. Sie stürzte herbei. Schweißperlen traten auf ihre Stirn und liefen ihren Nacken hinab, als sie für die alte Dame öffnete. Am liebsten hätte sie die Hacken zusammengeschlagen. Doch stattdessen versank sie in einen fast höfischen Knicks.

5

»Ich dachte immer, ein drittes Dienstmädchen gibt’s gar nicht«, meinte die junge Hausangestellte, die Klara vorhin vom Nebeneingang zum Arbeitszimmer gebracht hatte. Sie hieß Meta, war das zweite Mädchen und von dem ersten Mädchen, das Klara als Frieda vorgestellt wurde, dazu auserwählt, die Neue einzuführen.

Die Besichtigung begann im Souterrain, wo sich das Reich der Köchin Ida, die Waschküche, das Nähzimmer, das gleichzeitig der Aufenthaltsraum für das Personal war, die Dienstbotenräume und die Abstellkammern befanden. Klara sollte sich vorläufig mit den anderen beiden Hausmädchen das Schlafzimmer teilen, doch der schmale Schrank, darauf wies Meta gleich hin, gehörte ihr und Frieda, da gab’s kein Pardon. Klara sollte ihre Sachen in ihrer Tasche aufbewahren und diese unter das Bett schieben, weil sonst kein Platz dafür war.

Klara verzog keine Miene, obwohl sie befürchtete, dass ihr eine schwierige Eingewöhnungsphase bevorstand. Um ihr Eigentum war ihr nicht bang. Sie trieb vielmehr die Angst um, in der Nacht kein Auge zuzutun. Nie zuvor hatte sie mit einem anderen Menschen das Lager geteilt, geschweige denn, mit zwei fremden Frauen.

»Für die Arbeiten, die wir nicht schaffen oder die zu schwer sind, werden Aushilfen geholt«, plapperte Meta. »Regelmäßig kommen Scheuerfrauen, Küchenhilfen, Kochfrauen und Lohndiener ins Haus. Aber von einem dritten Dienstmädchen habe ich noch nie etwas gehört.«

Klara zuckte gleichmütig mit den Achseln. Von Menschen ihres Standes ließ sie sich weit weniger leicht einschüchtern als von den Herrschaften. »Nun bin ich aber da!« Außerdem wusste sie ja selbst nicht genau, welchem Umstand sie diese glückliche Fügung zu verdanken hatte.

Ohne einen weiteren Kommentar legte sie das schwarze Kleid, eine gestärkte weiße Schürze und die weiße Haube auf das Bett. Ihre neue Arbeitskleidung, die Meta vorhin aus einem Wäscheschrank genommen und ihr mit dem Hinweis in den Arm gedrückt hatte, dass sie die Nähte einfach auftrennen oder zusammenfassen könne, falls die Größe nicht passte.

»Ich sehe, dass du da bist«, gab Meta jetzt zurück und ließ sich in die durchgelegenen Kissen auf ihrem Bett fallen. Dabei achtete sie darauf, dass ihr Rock nicht zerdrückte. »Was hat sich der Sievers nur dabei gedacht, dich herzuschicken? Er hat mir nichts davon erzählt!«

»Wer ist der Sievers?«, fragte Klara, während sie langsam ihre Bluse aufknöpfte. Sie erinnerte sich, dass die alte Frau Dornhain diesen Namen eingangs erwähnt hatte.

Meta richtete sich auf. »Wie? Du kennst den Bruno Sievers nicht?«

»Nein. Kenne ich nicht.«

»Das gibt’s nicht. Familien wie die Dornhains stellen niemanden ein, ohne den Gesindemakler vorher zu fragen. Der Sievers ist eine wichtige Person und sehr tüchtig. Die Frau, die den mal kriegt, hat ausgesorgt.« Meta grinste vielsagend und fügte dann hinzu: »Er verdient eine Menge Geld, denn natürlich bekommt er Prozente vom ausgemachten Lohn. Die Herrschaften wissen, dass er nur gute Leute vermittelt. Es gibt fast nie Ärger und irgendwelche Strafen, die er bezahlen müsste, weil die von ihm empfohlene Dienerschaft nichts taugt. Jedenfalls … soviel man hört …«, in beredtem Schweigen unterbrach sie sich.

Ihr Strahlen wurde noch ein bisschen breiter. Offensichtlich interessierte sich Meta unbändig für diesen Mann. Nach einer Weile fügte sie hinzu: »Erzähl also keine Märchen, Klara. Du kannst gar nicht ohne den Sievers eingestellt worden sein! Und ich warne dich«, plötzlich wurde ihre Stimme schneidend, »wenn du ein Auge auf den Bruno geworfen hast, kannst du was erleben. Der gehört mir!«

Klara stöhnte entnervt auf. »Ich bin diesem Bruno Sievers noch nie begegnet. Ich kenne überhaupt niemanden in Hamburg. Herr und Frau Dornhain haben mich auf eine Empfehlung aus Glückstadt hin eingestellt.« Kaum war dieser Satz draußen, bereute sie ihn auch schon.

»Was für eine Empfehlung? Von wem stammt die?«, fragte Meta prompt.

Ihre innere Stimme, die seit ihrem Betreten der Villa ungewöhnlich laut wurde, warnte Klara davor, Meta allzu viel von sich zu erzählen. Wahrscheinlich hatte die alte Frau Dornhain Recht, Geschwätzigkeit unter Dienstboten verhieß nichts Gutes. Und letztlich wusste Klara ja selbst nichts über ihre Herkunft und ebenso wenig über den Inhalt des Briefes, den ihre Ziehmutter geschrieben hatte.

Deshalb griff sie zu einer Lüge. Sie behauptete, bei einer dänischen Familie in Glückstadt gearbeitet zu haben, die eng mit dem Königshaus in Kopenhagen verwandt war und ihr das beste Zeugnis ausgestellt habe. Das war gar nicht so weit hergeholt, denn einst hatte der König von Dänemark über die Stadt an der Elbe geherrscht, und es erschien Klara im Moment ziemlich unwichtig, dass dieses Kapitel der Geschichte schon lange vorüber war. Immerhin lebten noch viele Dänen dort. Sie redete sich in Fahrt und schmückte ihren Bericht mit allerlei Beschreibungen der Adelspaläste und Kaufmannshäuser in ihrer Heimat aus.

Gerade begann sie über die Bewohner des einstigen Handelshafens lautstark zu sinnieren, als ihr etwas einfiel, was sie das Thema wechseln ließ: »Ich sehe nur weibliches Personal. Gibt es keine Diener in diesem Haus? Wer hilft dem Herrn beim Ankleiden?«

»Was bist du nur für ein ahnungsloses Wesen, Klara Tießen. Du kennst dich wohl tatsächlich nicht aus in Hamburg?! Hier tun zwar alle feinen Leute, als wären sie englische Lords und Ladys, aber es gibt keine Butler wie in London. Jedenfalls hat mir das der Sievers erklärt. Ich war ja noch nie in England. Aber der Bruno hat mir versprochen, die Fähre zu nehmen und mir die Britischen Inseln zu zeigen, wenn … ach, egal!«

ENDE DER LESEPROBE