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Wenn der Reiz des Schönen zur mörderischen Gefahr wird: „Die Tote im weißen Kleid“ von Micaela Jary jetzt als eBook bei dotbooks. Berlin, in den Goldenen Zwanzigern: Von dem Auftrag, eine Titelgeschichte über die skandalumwitterte Millionenerbin Susanne Delius zu schreiben, ist Journalist Wolfgang Loerke gar nicht begeistert – schließlich ist die Klatschspalte nicht sein Ressort. Doch als deren Dienstmädchen tot aufgefunden wird, wittert Loerke eine große Story: Das Mädchen trug ein Abendkleid aus Susannes Garderobe und sah ihr damit zum Verwechseln ähnlich. Galt der Anschlag in Wahrheit der schönen Erbin, zu der er sich immer stärker hingezogen fühlt? Loerke beginnt nachzuforschen und gerät unversehens in einen Strudel aus Lügen, Luxus und Verbrechen in höchsten Kreisen … Jetzt als eBook kaufen und genießen: Der Kriminalroman „Die Tote im weißen Kleid“ von Micaela Jary. Wer liest, hat mehr vom Leben: dotbooks – der eBook-Verlag.
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Seitenzahl: 431
Über dieses Buch:
Berlin, in den Goldenen Zwanzigern: Von dem Auftrag, eine Titelgeschichte über die skandalumwitterte Millionenerbin Susanne Delius zu schreiben, ist Journalist Wolfgang Loerke gar nicht begeistert – schließlich ist die Klatschspalte nicht sein Ressort. Doch als deren Dienstmädchen tot aufgefunden wird, wittert Loerke eine große Story: Das Mädchen trug ein Abendkleid aus Susannes Garderobe und sah ihr damit zum Verwechseln ähnlich. Galt der Anschlag in Wahrheit der schönen Erbin, zu der er sich immer stärker hingezogen fühlt? Loerke beginnt nachzuforschen und gerät unversehens in einen Strudel aus Lügen, Luxus und Verbrechen in höchsten Kreisen …
Über die Autorin:
Die Bestsellerautorin Micaela Jary wurde in Hamburg geboren und wuchs in der Schweiz und in München auf. Nach ihrem Studium arbeitete sie lange als Journalistin für diverse Printmedien, bevor sie sich ganz der Schriftstellerei widmete. Nach einem mehrjährigen Aufenthalt in Paris pendelt sie heute als freie Autorin zwischen Berlin, München und dem Landkreis Rostock. Unter dem Pseudonym Gabriela Galvani veröffentlicht sie zudem erfolgreich historische Romane.
Die Websites der Autorin: www.gabrielagalvani.de/start.html & www.micaelajary.de/
Die Autorin im Internet: www.facebook.com/micaelajary.autorin
Unter dem Pseudonym Gabriela Galvani veröffentlicht die Autorin bei dotbooks auch die historischen Romane »Die Liebe der Duftmischerin«, »Die Seidenhändlerin«, »Die Königin des weißen Goldes«, »Die Liebe der Buchdruckerin« und »Die Malerin von Paris«.
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Überarbeitete eBook-Neuausgabe Februar 2018
Dieses Buch erschien bereits 1999 unter dem Titel »Charleston & van Gogh« bei Ullstein
Copyright © der Originalausgabe 1999 by Ullstein Buchverlage GmbH & Co. KG, Berlin
Copyright © der überarbeiteten Neuausgabe 2018 dotbooks GmbH, München
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.
Titelbildgestaltung: Nele Schütz Design unter Verwendung von shutterstock/Anneka und Flegele
eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (rb)
ISBN 978-3-96148-010-4
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Micaela Jary
Die Tote im weißen Kleid
Roman
dotbooks.
»… fiele ein Engel vom Himmel herunter auf den Kurfürstendamm, er bräche sich nicht nur die Flügel; hier verlöre er Kopf und Unschuld …«
Rudolf Nelson, 1920
In dieser Welt des Luxus duftete es wundervoll nach kostbarem Körperpuder und nach Chanel No 5. Es war alles genau so, wie sie sich den Himmel vorstellte, und sie fühlte sich wie in einem Meer aus Wolken. Vergleichbares hatte sie tatsächlich inszeniert, als sie Berge von Modellkleidern, die so edel waren wie Engelsgewänder, von den Bügeln gerissen und zu ihren Füßen drapiert hatte: Diese Fülle von Seide, Crêpe de Chine und Chiffon sah in ihrer Phantasie ein bißchen aus wie die weißen Schäfchenwolken, die an einem Sommertag über das pralle Blau des Himmels zogen.
Auf dem Weg zum Hutschrank stieg sie über einen Kumulus aus zarten Seidendessous. Ihre Zehen spielten mit den dünnen Trägern eines Hemdhöschens, bevor sie das Teil mit einem leisen Kichern unter den Frisiertisch schleuderte. In der Bewegung fing sie ihr Bild in dem dreiteiligen Kristallspiegel auf. Sie sah sehr attraktiv aus. Ihre langen, aber kräftigen, muskulösen Beine wirkten in den hauchzarten schwarzen Seidenstrümpfen viel schlanker und atemberaubend sinnlich. Die Strümpfe hatte sie an den Strapsen des Hüfthalters befestigt, der aus feinsten Brüsseler Spitzen gefertigt war, die in ihren Augen die Verführung schlechthin darstellten. Ein weiteres Requisit bildete der Büstenhalter aus demselben Material, der ihre unmodern üppigen Brüste ein wenig platter formte. Wie junge Äpfel sahen sie jetzt aus, die auf den Bäumen in der Mark Brandenburg wuchsen.
Der Spiegel reflektierte das Licht des Kristallüsters wie ein geschliffener Diamant.
Wenn sie sich jetzt so ansah in ihrer ungewohnten Nacktheit, sinnlich bekleidet mit Spitze und Seidenstrümpfen, fühlte sie sich so herrlich verrucht wie die Filmschauspielerin Anita Berber. Die war vor einigen Jahren der Star sogenannter »Aufklärungsfilme«, die sich ein anständiges junges Mädchen nicht hatte ansehen dürfen, aber sie war gut informiert gewesen, weil sie mit ihren Freundinnen heimlich Zeitungsausschnitte und Fotografien getauscht hatte. Und Anrüchiges hatte natürlich auch für sie eine große Faszination.
Sie war zufrieden mit ihrem mondänen Spiegelbild und wandte sich jetzt dem Schuhschrank zu. Die meisten Schuhe waren schmal geschnitten, mit Bändern und Spangen verziert und mit Absätzen versehen, die wie die Krummdolche arabischer Wüstensöhne aussahen. In diesen Schuhen konnte sie keinen Schritt tun. Schon bei ihrem Anblick knickte sie um, und ihre Knöchel schwollen zu dicken Klößen an. Irgendwo mußte es ein Paar geben, das ihren Ansprüchen genügte, hübsch war und bequem zum Tanzen. Eben gerade so, daß man sich einen netten jungen Mann anlachen konnte, ohne dabei an Blasen oder wunde Ballen denken zu müssen.
Der beste Ort für Männerbekanntschaften sollte das Ballhaus Resi sein. Das hatte sie jedenfalls gehört. Die Tische des Tanzlokals waren mit Telefonapparaten untereinander verbunden, sozusagen zur diskreten Kontaktaufnahme. Da wurde es einem jungen Mädchen wie ihr leichtgemacht zu poussieren. In eines der Etablissements anderer Art nahe der Gedächtniskirche, in denen Gigolos für das Wohlbefinden junger wie älterer Damen sorgten, traute sie sich nicht – und für derartige Extravaganzen fehlte ihr auch das Geld …
Irgendwo schlug eine Uhr. Es wurde Zeit. Sie mußte sich beeilen, wenn sie in dieser Nacht auf ihre Kosten kommen wollte. Vielleicht waren zu später Stunde die besten Männer bereits in festen Händen. Es gab nicht mehr so viele im richtigen Alter. Die meisten hatten damals, im Großen Krieg, ihr Leben verloren, und der Nachwuchs war noch grün hinter den Ohren.
Da sie es eilig hatte, ging sie nun etwas energischer vor. Ungeduldig schob sie die Schuhe auf den Stangen hin und her, manche von ihnen waren noch nicht einmal getragen, warf eine Ladung auf den Boden zu dem wolkenartigen Aufbau aus Kleidern und Unterwäsche. Ganz hinten im Schrank fand sie, wonach sie gesucht hatte. Das waren endlich mal ordentliche Exemplare: halbhohe Schnürschuhe aus beigefarbenem Leder, deren Spitzen und Fersen aus schwarzem Lack gearbeitet waren. Normalerweise trug man dieses Modell beim Golfspiel, aber das wußte sie nicht.
Das Paar paßte wie angegossen und war wunderbar bequem, als sie es bei einer kleinen Wanderung durch das Ankleidezimmer testete. Jetzt mußte sie nur noch das Abendkleid aus weißem Chiffon überziehen, das sie bereits ausgewählt hatte. Es spannte zwar etwas über ihrem fülligen Busen, und ihre Schultern waren auch breiter als die der eigentlichen Besitzerin der Robe, aber dann ließ sie eben die Knöpfe im Nacken offen. Auf den ersten Blick sah man das nicht. Und es ging ja sowieso nur darum, daß sie meinte, einen Mann viel leichter angeln zu können, wenn sie in ihrer Verkleidung ein wenig aussah wie eine wunderschöne Frau namens Susanne Delius …
Üblicherweise ebbte die Hektik des Tages erst nach Redaktionsschluß allmählich ab. So, wie ein Rennwagen auf der Avus hinter dem Ziel erst einmal ausrollte, bevor der Fahrer das Bremspedal durchdrückte und als Sieger gefeiert wurde. Heute aber war der Feierabend schlagartig eingekehrt. Die Redakteure und Reporter der Berliner Nachtausgabe, die Fotografen, Sekretärinnen, Telefonistinnen, Boten und alle anderen dienstbaren Geister hatten ihre Büros eiligst verlassen. Eigentlich kein Wunder, denn es war ein milder Abend, der zu einem Schäferstündchen in den schlecht beleuchteten Anlagen des Tiergartens einlud. Nur zum Flanieren ging man in Berlin im Herbst 1928 nicht in einen Park; jedenfalls nicht nach Einbruch der Dämmerung.
Wolfgang Loerke stand der Sinn weniger nach einem Amüsement auf einer Parkbank. Das lag hauptsächlich daran, daß der Platz für die zahlreichen Liebespaare ohne Bleibe an lauen Abenden relativ schnell knapp wurde und ihn das »Massenstöhnen«, wie er es heimlich nannte, eher entnervte als anregte. Außerdem lag seine Mansardenwohnung vollends auf einer Linie mit den romantischen Vorstellungen junger Mädchen und war deshalb für die Liebe bestens geeignet. Für seine Arbeit bevorzugte er jedoch die ruhigen Abendstunden in der Redaktion.
Dann saß er an dem alten Schreibtisch mit der zerkratzten Platte, dessen Schubladen sich nur mit viel Mühe öffnen ließen und dessen Türen aus den Angeln zu fallen drohten. Namenlose Kollegen hatten im Laufe der Jahre in die Schreibtischplatte Schriftzeichen geritzt, Fragmente, Wörter, Ideen, die heute nicht mehr nachvollziehbar, aber einmal sicher sehr wichtig gewesen waren, so wie in der Schule der Name der ersten Liebe in das Pult geritzt wird. Die Ränder von unzähligen Tassen Kaffee waren mit der Zeit verblichen und verschmolzen mit der Farbe des Holzes, und die Brandlöcher an einer bestimmten Stelle ließen vermuten, daß hier einmal der Aschenbecher eines unachtsamen Kettenrauchers gestanden hatte. Von den vergilbten Wänden strömte kalter Zigarettenrauch, mischte sich mit dem Geruch nach Moder, Papier, Tinte und abgestandenem Kaffee. Aus dem Erdgeschoß klang das Stampfen der Druckmaschinen herauf, als sei es der Höhepunkt einer Sinfonie, die mit Buchstaben aus Blei gespielt wurde.
Dies war der liebste Ort und die beste Zeit für den Journalisten Loerke, seine Karriere als Schriftsteller voranzutreiben. Diese Umgebung schien ihm am angemessensten für seinen Roman, der sein Durchbruch in die Weltliteratur werden sollte, von dem außer ihm aber kein Mensch eine Ahnung hatte. Die Zeiten waren schlecht für unbekannte Autoren, denn die meisten Verleger zogen es vor, ihr Geld mit wenigen, großen Objekten zu machen. Dabei blieben kleinere Abschlüsse auf der Strecke und mit ihnen die meisten unbekannten Dramatiker und Schriftsteller, die ihr Glück in Berlin versuchten, häufig aber nicht einmal eine einzige Tasse Kaffee im »Literatentempel«, dem weltberühmten Romanischen Café, bezahlen konnten.
Wolfgang ging es finanziell besser, da er immerhin eine feste Anstellung vorzuweisen hatte. Er war jetzt Anfang Dreißig, also alt genug, um über eine Reihe schlimmer Erinnerungen an den Großen Krieg zu verfügen. Freilich war es ihm nicht so schlecht ergangen wie vielen seiner Kameraden, damals an der Somme, als er seine Berufung entdeckt hatte. Da er nach dem Abitur sofort an die Front gegangen war, hatte er wenig Zeit gehabt, sich über die Möglichkeiten einer Berufswahl Gedanken zu machen. Die Verwundung des Kriegsberichterstatters einer kleinen Berliner Zeitung hatte jedoch aus dem Feldwebel plötzlich den Reporter Loerke gemacht, als dieser für den Kameraden eingesprungen war. Nach dem Krieg hatte er zwar lernen müssen, daß zum Beruf des Journalisten nicht nur die Fähigkeit gehört, eine Nachricht zu erkennen und eine Anzahl von Sätzen relativ fließend zu formulieren, sondern auch die Beherrschung des Handwerks. Also lernte er, biß sich durch und fand nach harten Lehrjahren endlich einen Job als politischer Redakteur bei einer der größten Abendzeitungen Berlins. Man arbeitete hier zwar im wesentlichen nach dem Motto: Was in der Zeitung steht, hat nur deshalb Wert, weil das Blatt eine so hohe Auflage hat, aber genau das förderte Wolfgangs Ambitionen als freischaffender Dichter.
»Was machen Sie denn noch hier?«
Wolfgang fuhr so erschrocken hoch, als hätte man ihn in die Presse einer Rotationsmaschine gesteckt.
Neben seinem Schreibtisch hatte sich klein, massiv und bedrohlich die Gestalt seines Chefredakteurs aufgebaut: Dank seiner nationalistischen Ansichten gehörte Anton Dietrich zu den protegiertesten Männern seines Fachs, ganz sicher aber nicht zu den beliebtesten.
Der unfreundliche Ton des Mannes verwandelte sich in ein bösartiges Knurren: »Na, was machen Sie hier?«
Wolfgang bemühte sich um eine ernste Miene und um Gelassenheit. Der unverschämte Ton seines Chefredakteurs schreckte ihn wenig. Außerdem fühlte er sich in seiner Position ziemlich sicher. Sollte sich Dietrich also ruhig aufregen und ein bißchen bellen, beißen würde er schon nicht. »Überstunden«, erwiderte Wolfgang ruhig. »Ein paar Ideen für das Interview mit Reichskanzler Müller skizzieren, das mir von der Presseabteilung der Reichsregierung in Aussicht gestellt wurde, den Schreibtisch aufräumen … all diese Arbeiten, die man gern vor sich herschiebt.«
»… und warum sind Sie nicht schon längst auf dieser Ausstellungseröffnung, über die Sie schreiben sollen?«
Wolfgang erinnerte sich dunkel an eine Einladungskarte, die ihm eine Sekretärin in die Hand gedrückt hatte. Feinster Papierdruck, in blauen Pastelltönen gehaltene Seerosen, die sich um eine schlichte Schrift rankten. Irgendeine Galerie gab sich die Ehre und so weiter und so fort. Es gingen täglich Dutzende derartiger Einladungen ein, ohne daß die meisten sonderlich viel Beachtung fanden. In einer bis zur Atemlosigkeit pulsierenden Stadt wie Berlin war es unmöglich, sämtliche Partys zu besuchen. Vor allem war dies nicht die hervorstechendste berufliche Aufgabe eines Reporters, der sich auf Nachrichtensuche hauptsächlich im Palais Friedrich Leopold, der Presseabteilung der Reichsregierung, oder in der Halle des Hotel Adlon herumtrieb, dem »Zweitbüro« von Politikern, Diplomaten und Journalisten.
»Was soll ich auf einer Vernissage? Ich bin doch nicht Ihr Klatschkolumnist! Warum ist Hanser nicht dort?«
Dietrichs Gesicht lief beängstigend rot an. »Weil Hanser bei der Einweihung des neuen Universum-Lichtspielhauses am Lehniner Platz ist und ich entschieden habe, daß Sie über die Ausstellungseröffnung schreiben, Loerke, und nicht Hanser …!«
Er knallte den Papierstoß, den er in den Händen gehalten hatte, auf den Schreibtisch.
»Wissen Sie, wie viele Zeitungen es in Berlin gibt? Hundertundfünfzig! Und wissen Sie auch, Sie Klugscheißer, was das bedeutet? Praktisch alle zehn Minuten erscheint eine neue Ausgabe, und in jeder dieser Ausgaben muß – ich sage: muß – eine Neuigkeit stehen, sonst sind wir ganz schnell weg vom Fenster. Und Sie sitzen da auf Ihrem hohen Roß, drehen Däumchen und räumen den Schreibtisch auf. Haben Sie das Wort Konkurrenzkampf schon mal gehört?«
Wolfgang hatte nicht die geringste Ahnung, worüber sich Dietrich eigentlich so aufregte. Außerdem war er müde, wollte nichts lieber, als in irgendeine Kneipe auf ein Bier einkehren und vor allem dieses unerfreuliche Geschrei beenden. Deshalb entschloß er sich zur Kapitulation.
»Wenn Ihnen soviel daran liegt, gehe ich zu dieser Ausstellungseröffnung. Das ist doch kein Problem.« – Oder doch? Teufel auch, wo liegt die verdammte Einladung?
Dietrich blätterte hektisch in den Papieren, die er eben auf den Schreibtisch geworfen hatte. Als er fündig geworden war, hielt er Wolfgang ein Foto unter die Nase. »Nun behaupten Sie nur noch, Sie wissen nicht, wer das ist.«
Die Szene auf der Fotografie erinnerte Wolfgang an ein berühmtes klassizistisches Gemälde, dessen Reproduktion er einmal in einem Haus in Frankreich gesehen hatte: Madame Récamier von Jacques-Louis David. Ausgestreckt, nein, hingegossen, lag eine junge Frau auf eben jenem Möbelstück, dem Madame Récamier vor fast 130 Jahren den Namen gegeben hatte. Wie in der klassizistischen Malerei üblich, verharrte die Dame auf dem Foto in einer Halbdrehung: Sie hatte mit dem Rücken zum Fotografen auf der Bank gelegen, drehte sich jetzt aber halb zur Kamera um und wandte den Kopf zum Objektiv.
Offenbar war die Dame ein ganz besonderes Exemplar, denn der liebe Gott schien sie mit all dem gesegnet zu haben, was ER einer Frau ihrer Generation nur mitgeben konnte: eine schlanke Figur, der die Kurven ihrer wilhelminischen Vorfahren fehlten und die deshalb ideal für die gegenwärtige Garçonne-Mode war, lange Beine, eine zarte, blasse Haut und ein wunderschönes, fein geschnittenes Gesicht mit dramatischen Augen, die von dichten, langen Wimpern umrahmt wurden, und verheißungsvollen Lippen. Sie trug – ebenso wie Madame Récamier auf dem berühmten Bild – ein Stirnband um den hellen, kurzgeschnittenen Bubikopf und ein weißes Abendkleid. Letzteres war aus einem dünnen, fließenden Material und derart geschickt verarbeitet, daß der Betrachter im ungewissen blieb, ob er durch den durchscheinenden Stoff gesehen hatte, was er zu sehen erhoffte, oder ob dies lediglich sein Wunschdenken war. Zweifellos hatte sie etwas von einem Engel, und ganz sicher beschleunigte ihr Anblick den Herzschlag jedes Mannes.
Wolfgang legte das Foto zurück auf den Tisch. »Ich würde sagen, dies ist eine Schauspielerin, die das Zeug zum Star hat. So, wie die aussieht, will sie wahrscheinlich Kaiserin Josephine in einer Verfilmung über Napoleons Leben spielen. Ich tippe auf eine ziemliche Konkurrenz für die anderen Damen vom Kintopp.«
»Das ist doch nicht zu fassen! Sie Narr!« stieß Dietrich, nach Luft japsend, hervor. »Das ist keine Schauspielerin. Das ist Susanne Delius, verheiratete Contessa de Michelangeli. Die Millionenerbin, Sie Esel. Schönheit, Geld, Hochzeit, Trennung, Skandal. Die hat alles, was ein richtiger Aufmacher braucht. Und Sie Klugscheißer wissen noch nicht einmal, wer die Hauptperson unserer Titelgeschichte ist.«
»Doch, doch«, beeilte sich Wolfgang hinzuzufügen, »den Namen kenne ich.«
Das stimmte zwar nur ansatzweise, aber er brauchte seinem Chefredakteur ja nicht anzuvertrauen, daß er den Namen nur kannte, weil sein Kollege Hanser, der Klatschberichterstatter, mit dem er öfter ein Bier trinken ging, ihn kürzlich erwähnt hatte. Für Wolfgang bedeutete Zeitungsarbeit nicht die Beschreibung irgendwelcher Partyereignisse oder Interviews mit verwöhnten Mädchen, die über zuviel Geld verfügten und dringend einen Ehemann suchten oder sich gerade von diesem erholten. Seine Arbeit befaßte sich mit politischen Skandalen wie dem Bau des Panzerkreuzers A und gesellschaftlichen oder sozialen Problemen wie den Streiks auf den Werften und in der Stahlindustrie. Aufklärung und Aufdeckung betrachtete er als oberste Pflicht eines Reporters, vielleicht noch Interviews mit Kulturschaffenden, die meist den Kollegen vom Feuilleton vorbehalten blieben, ganz sicher aber nicht Reportagen über Menschen wie Susanne Delius, Emporkömmlinge, von denen es im Berlin der Post-Inflations-Ära mehr als genug gab und die nichts anderes zu bieten hatten als eine Menge Geld, soziale Ungerechtigkeit, geistige Leere und gähnende Langeweile.
»Nach jahrelanger Abwesenheit und einer millionenschweren Erbschaft tritt Susanne Delius heute erstmals wieder in Berlin auf, und Sie Penner verschlafen ein solches Gesellschaftsereignis …«
Allmählich verlor Wolfgang die Geduld. Er hatte zwar die Hoffnung noch nicht aufgegeben, daß einmal der Tag kommen würde, an dem er Dietrich sagen konnte, was er wirklich von ihm hielt, aber dieser Tag würde erst nahen, wenn er ein berühmter Schriftsteller und nicht mehr auf die Gehaltszahlung als Redakteur des Hugenberg-Konzerns angewiesen war.
»Ich geh’ ja zu dieser Vernissage. Sagen Sie mir, was Sie wollen, und …«
»Ich will ein Interview. Exklusiv. Ich will eine Titelgeschichte. Besorgen Sie sich den Hammer, Mann …«
Wolfgang fragte sich, welchen Hammer ihm eine Person wie Susanne Delius wohl bringen könnte. Vielleicht war sie schwanger. Möglicherweise von Bertolt Brecht. Der linke Schürzenjäger und die Millionenerbin. Eine geniale Kombination. Wolfgang grinste. Leider war diese Idee zu schön, um wahr zu sein.
»… und wenn Sie mir hier keine Exklusivgeschichte bringen, dann hat es sich aus-ge-reportert, dann können Sie erst mal Urlaub machen«, schloß Dietrich seinen Monolog. »Wissen Sie, wie der Film heißt, mit dem das Kino am Lehniner Platz eingeweiht wird? Die Todesschleife. Kommt aus Amerika. Und wenn Sie sich nicht vorsehen, drehen Sie bei der Journaille ’ne Todesschleife!«
Wolfgang starrte seinen Chefredakteur an. Das Lächeln wich aus seinem Gesicht. Dietrich meinte es ernst. Er hatte geknurrt, gebellt und – zugebissen. In wenigen Minuten hatte sich Wolfgangs Dasein von dem eines relativ gut situierten politischen Redakteurs in das eines potentiellen Arbeitslosen verwandelt. Sein Überleben hing plötzlich von den Launen einer jungen Frau ab, die es ohne eigenes Zutun zu einem riesigen Vermögen und durch Naivität zu einem Gesellschaftsskandal gebracht hatte.
Während Dietrich wutschnaubend aus dem Büro trampelte, beschloß Wolfgang, sich nicht durch Klatsch oder eine alberne Ziege um seine Reputation bringen zu lassen. Was könnte man mit einer Frau wie Susanne Delius machen? Sicher, die Mitglieder der höchsten gesellschaftlichen Kreise hielten sich meist im verborgenen; Berlin war die Stadt des aufstrebenden Mittelstandes, von Menschen, die ihr Leben auskosten und genießen wollten. Deshalb konnte es für manche Zeitungen ganz interessant sein, eine Skandalnudel aus der Oberschicht an die Öffentlichkeit zu zerren. Dennoch waren Wolfgang Stichworte wie Schönheit, Hochzeit, Trennung, Skandal zuwenig, um daraus ein vernünftiges Interview zu machen. Es mußte noch etwas anderes mit der Dame anzufangen sein als ein albernes Gespräch über ihre Ehe mit irgendeinem italienischen Grafen. Wolfgang brauchte eine Lösung, die weder seinen Ruf als ernsthaften Reporter noch seine Anstellung gefährdete. Und zwar sofort.
Das ist wirklich ganz erstaunlich, fuhr es Susanne Delius durch den Kopf, als sie die Ausstellung einer näheren Betrachtung unterzog.
Die Begrüßungsküsse und -floskeln mit alten Freunden oder solchen, die es werden wollten, waren ausgiebig gewechselt worden. Sie hatte hofgehalten und sich den prüfenden Blicken ausgesetzt, wobei sie die meisten anderen weiblichen Gäste ebenso einem heimlichen, aber genauen Studium unterzog und sich zur Wahl ihrer Garderobe gratulierte. Das Kleine Schwarze von Coco Chanel war nicht nur in Paris der letzte Schrei. Es war eine Art Hemd aus feinstem Crêpe de Chine, das taillenlos ihre Figur umspielte und oberhalb des Knies endete. Die Ärmel waren sehr eng und reichten bis zum Handgelenk; das Kleid war vorne schlicht und hoch geschlossen, aber dafür besaß es ein atemberaubendes Rückendekolleté, über das mehrere Perlenschnüre baumelten. Dazu trug sie hauchdünne Nahtstrümpfe, die von Mademoiselle Chanel »Nachtschatten« genannt wurden, und ausgeschnittene Spangenschuhe mit hohen Absätzen. Susanne entsprach auf diese Weise einer Mischung aus Extravaganz, Boheme und Eleganz – also genau dem Image, das ihr die Leute aufdrückten wie ein Postbeamter einen Stempel auf eine wertvolle Briefmarke. Als junges Mädchen hatte sie derartige Eleganz nur in Illustrierten bestaunen können, vor allem natürlich in der Dame. Heute genoß sie es ohne das geringste Schamgefühl, ihr Geld mit vollen Händen für Mode auszugeben. Doch war es nicht nur wundervoll, sich leisten zu können, wovon die meisten Frauen in Berlin und der Provinz nur träumten; ihre Garderobe war eine von vielen Maskeraden, die sie sich ausdachte, um andere zu blenden oder auf eine falsche Fährte zu führen, zumal sie den Beweis antreten wollte, daß – entgegen der landläufigen Meinung – Schönheit und Intelligenz durchaus zu vereinen waren. In jedem Fall aber bedeutete der goldene Schein Schutz vor innerer Verletzung. Das war ihr gerade in diesen Tagen sehr wichtig. Und nicht nur, weil ihre Seele unter ihrer hastig geschlossenen Ehe und dem langsamen, nervenaufzehrenden Prozeß der Trennung litt. Es war nicht einfach, Freund und Feind zu unterscheiden – dafür war sie durch Tante Amalies Hinterlassenschaft einfach zu reich.
Jetzt ließ Susanne die beeindruckende Vielzahl impressionistischer Gemälde auf sich wirken, die die Ausstellung der Galerie Wacker krönten. Sie verstand viel von Kunst. Schöne Dinge, einerlei welcher Art, hatten sie schon immer fasziniert, und im Grunde war es nur eine logische Folge ihrer privaten Studien im Schulzimmer des elterlichen Gutes, die sie an die Kunsthochschulen von München und Paris geführt hatten. Ohne den Ausstellungskatalog in ihren Händen zu Rate ziehen zu müssen, erkannte sie hier eine Studie von Claude Monet, dort eine Landschaft von Alfred Sisley, eine Strandszene von Edouard Manet und ein Stillleben von Auguste Renoir. Scheinbar mit Leichtigkeit hingeworfene Pinselstriche auf Leinwand, Pastellfarben auf Zeichenpapier oder Pointillismus in Öl von Seurat, den man auch den »Star der zwanziger Jahre« nannte. Die Elite des französischen Impressionismus war an den Stellwänden der Kunsthandlung plaziert worden – und en vogue wie nie zuvor.
Werke von unschätzbarem Wert wurden einem Publikum vorgestellt, das vermutlich weit mehr an der Gästeliste als an den Bildern interessiert war. Dem Gastgeber war es gelungen, Glamour mit Kunstinteresse zu verbinden, jedenfalls sofern es darum ging, das in den letzten Jahren schnell erworbene Geld in Schönheit anzulegen. Nicht jeder investierte schließlich in eine Geliebte und deren Ambitionen beim Film. Die gesamte Kurfürstendamm-Gesellschaft hatte sich eingefunden, unter die sich – wie üblich als amüsanter Kontrapunkt – ausgehungerte Künstler mischten, die sich über die kalten Platten hermachten, unzählige Flaschen leerten und morgen früh von den Putzfrauen zusammen mit dem Unrat der Party hinausgekehrt werden würden.
Susanne blieb auf ihrem Rundgang vor einem Gemälde Vincent van Goghs stehen. Es hieß Nachtcafé, obwohl es wenig Nächtliches in sich vereinte – oder jedenfalls wenig von dem, was Susanne mit der Nacht verband. Das Bild war ihr zu bunt, die Farben leuchteten in ihren Augen zu grell, und die Szene mutete sie nicht besonders freundlich an. Allerdings gehörte van Gogh ohnehin nicht zu ihren Lieblingsmalern. Dabei wurden seine Bilder in Berlin zu astronomischen Preisen gehandelt, und Susanne besaß aus ihrer Erbschaft sogar selbst ein Original, das ihre raffinierte, geschäftstüchtige und sparsame Tante Amalie um die Jahrhundertwende angeschafft hatte, als das aufstrebende Großbürgertum den Charme eines kunstgeschmückten Privathauses entdeckt hatte.
Unwillkürlich fragte sich Susanne, ob sie ihren van Gogh zum Verkauf anbieten sollte. Ihre Eltern, denen das Bild jedoch nicht gehörte, würden über dieses Ansinnen entrüstet und erzürnt sein, aber das waren sie eigentlich über alles, was Susanne trieb. Sie hatten sich so reichlich über ihre Eskapaden mokiert, daß Papa ein Bild mehr oder weniger an der Wand von Tante Amalies Wohnung vermutlich gar nicht auffallen würde.
Galerist Wacker schien der richtige Partner für einen entsprechenden Handel zu sein. Nicht nur, daß er bedeutende impressionistische Werke anbot; diese Vernissage bewies, daß er die richtigen Leute kannte, denn tatsächlich war tout Berlin in seinen Räumen versammelt. Dabei war Otto Wacker eigentlich ein relativ unbeschriebenes Blatt und einer der neuesten Mitglieder des Vereins des Deutschen Kunst- und Antiquitätenhandels. Erst vor knapp einem Jahr hatte er seinen Laden an der feinen Viktoriastraße in unmittelbarer Nachbarschaft alteingesessener Kunsthändler eröffnet. Er war so plötzlich wie Phönix aus der Asche emporgestiegen, und man nannte ihn hinter vorgehaltener Hand eine große Konkurrenz für den seit Jahrzehnten bedeutendsten Kunsthändler Berlins, Paul Cassirer. Dessen Gattin, die große Theaterschauspielerin Tilla Durieux, die man mit der Duse oder Sarah Bernhardt verglich, war auch da. Die dunkle, exotisch wirkende Wienerin war wahrlich keine Schönheit, aber so berühmt, daß sie von Auguste Renoir und Max Liebermann porträtiert worden war. Dieser künstlerische Vorzug machte Susanne ein wenig neidisch, aber wenigstens war sie gerade dabei, der Durieux den Rang als bestangezogene Frau Berlins streitig zu machen. Vielleicht würde sich schon bald ihr attraktiveres Äußeres herumsprechen und zu einer Einladung in das Palais Max Liebermanns am Pariser Platz führen.
Abrupt blieb Susanne stehen. In Gedanken versunken war sie an den Ausstellungswänden entlanggeschritten, doch jetzt starrte sie auf ein Ölgemälde, das sie wachrüttelte wie das blecherne Klingeln eines Weckers. Das Bild zeigte den typischen provenzalischen Stuhl mit einer Sitzfläche aus Korbgeflecht, der auf einem ebenfalls mediterranen Fliesenboden stand. Susanne kannte das Stilleben. Sie hatte es schon einmal gesehen, doch fiel ihr partout nicht ein, wo.
Es hieß Vincents Stuhl und war von van Gogh während seiner umfangreichen Schaffensperiode im südfranzösischen Arles gemalt worden. Diesen Hinweis entnahm sie dem Ausstellungskatalog, den sie in Händen hielt. Eine Information über die unmittelbare Herkunft des Bildes gab es dort jedoch nicht.
Während sich Susanne den Kopf darüber zerbrach, wo sie diesen van Gogh schon einmal gesehen hatte, trat Otto Wacker neben sie, bewaffnet mit zwei Gläsern Champagner.
»Darf ich Ihnen etwas anbieten, gnädige Frau?« erkundigte er sich mit seiner leisen, überaus sanften und sehr distinguierten Stimme. Er war ein gutaussehender Mann, eher der südländische Typ, gerade erst in den Dreißigern und damit überraschend jung für einen erfolgreichen Kunsthändler, groß, von athletischer Figur, mit geschmeidigen Bewegungen und vorbildlich gekleidet. Seine braunen Augen strahlten Lebhaftigkeit, Humor und Wärme aus. Damit wirkte er vertrauenerweckend, was in seinem Beruf sicher eine glückliche Fügung war.
Susanne nippte an dem Champagner. »Woher haben Sie all diese wunderbaren Bilder?«
Otto Wacker lächelte entwaffnend. »Selbstverständlich darf ich keine Namen nennen, aber ich kann Ihnen verraten, daß meine … äh … Lieferanten … hauptsächlich russische Emigranten sind. Sie wissen schon, diese armen Teufel, die mit ein paar Wertsachen vor den Kommunisten geflüchtet sind und hierzulande ihr letztes Hemd verkaufen. Da geht es ums blanke Überleben.« Er zupfte scheinbar verlegen an der weißen Nelke in seinem Knopfloch. »Irgendwie tue ich wohl ein gutes Werk, denn diese Leute brauchen jeden Pfennig.«
»Merkwürdig«, sinnierte Susanne. »Ich bilde mir ein, daß ich dieses Bild – Vincents Stuhl – schon einmal gesehen habe. Wo könnte das gewesen sein? Ich bin eigentlich nicht mit russischen Emigranten bekannt.«
Wacker legte seine Hand um Susannes Ellenbogen und schob sie sanft weiter. Dabei verfiel er in einen Plauderton: »Waren Sie vor der Revolution in Rußland? Nein, natürlich nicht – verzeihen Sie meine Dummheit, gnädige Frau. Sie sind ja viel zu jung, um Glanz und Eleganz des zaristischen Rußland kennengelernt zu haben. Mein Gott, dieser Luxus …«
Susanne murmelte einen höflichen Kommentar, doch Wacker war anscheinend nicht mehr zu bremsen oder hatte ihre Bemerkung in dem ansteigenden Geräuschpegel einfach nicht gehört. »Das alte Rußland wäre ein wunderschöner Rahmen für Sie gewesen. Überall dieser Glanz … Nun, es muß ja nicht unbedingt Rußland sein. Auf Stalins Sowjetrepublik kann man jedenfalls getrost verzichten, wie man hört. Das ›wahre Arbeiterreich‹ ist vermutlich nicht unser Stil, gnädige Frau, nicht wahr? Ich hörte, Sie reisen gern. Erzählen Sie mir etwas von Ihren Unternehmungen … bitte. Ich bin begierig darauf, alles über die Museen dieser Welt zu erfahren. Paris kennt man ja. Natürlich. Aber wie ist es in London? Ich hörte, Sie waren in England, bevor Sie sich an der Côte d’Azur niederließen, um …«
»Sie scheinen ja sehr viel über mich zu hören, mein lieber Herr Wacker. London ist …« Verblüfft unterbrach sich Susanne. Sie blickte den Kunsthändler an. London. Das war es.
Unbewußt drückte ihre Haltung nun blanken Hochmut aus, als sie ihren schlanken Hals zurückbog und ihre weit aufgerissenen, mit dunklem Lidstrich und viel Wimperntusche dramatisch geschminkten blauen Augen spöttisch glitzerten.
»Wollten Sie mich auf die Probe stellen? So leicht lasse ich mich nicht aufs Glatteis führen. Ich verstehe etwas von Kunst, Sie können mir nicht weismachen, daß Sie noch niemals in London waren.«
»Wie meinen?«
»Das Bild.« Susanne drehte sich um und deutete mit dem Champagnerglas in Richtung des provenzalischen Stilllebens. »Vincents Stuhl. Ich habe es in der Tate Gallery in London gesehen. Als vor zwei Jahren der neue Anbau eröffnet wurde, war ich dort.«
Wacker starrte sie begriffsstutzig an. Erst nach einer Weile verwandelten sich die ebenmäßigen, griechisch-römisch anmutenden Züge zu einem Ausdruck, den Susanne als zerknirscht identifizierte. Mit einem Räuspern neigte er sich zu ihr.
»Erzählen Sie das bloß niemandem«, flüsterte der Kunsthändler, und sein warmer Atem streichelte ihr Ohr, was eine eigenartig intime, fast erotische Atmosphäre schuf. »Ich mußte mich zu absolutem Stillschweigen verpflichten. Dem Direktor der Tate Gallery ist es verständlicherweise sehr peinlich, daß er einige Stücke aus seiner Kollektion verkaufen muß. Der Anbau, Sie verstehen, war zu teuer. Die Folgen des Krieges und der anderen Krisen haben auch die britischen Börsen nicht verschont.«
Nach einer kleinen Pause fügte er hinzu: »An Sotheby’s konnte er sich selbstverständlich nicht wenden. Die Angelegenheit wäre dann in ganz England publik geworden. Welch ein Skandal! Und ein Geschrei in der Öffentlichkeit kann sich unser Freund nicht leisten. Diskretion ist Ehrensache. Also kam ich ins Spiel.«
Für Susanne klangen diese Ausführungen plausibel. Sein heißer Atem brachte sie deutlich mehr aus der Fassung. Unwillkürlich trat sie einen Schritt zurück, um die gefährlich elektrisierende Situation durch ein wenig Distanz zu entschärfen.
»Die Tate Gallery ist ja hauptsächlich für ihre Sammlung britischer Maler bekannt. Vielleicht trennt man sich deshalb leichter von einem Holländer. Haben Sie den Sisley auch aus dieser Quelle?«
Er schüttelte bedauernd den Kopf. »Das, meine zauberhafte Dame, werde ich Ihnen nicht verraten. Und nun entschuldigen Sie mich bitte. Die anderen Gäste fordern meine Präsenz. Leider … Erlauben Sie mir eine Frage: Darf ich Sie in den nächsten Tagen anrufen? Ich würde unser Gespräch gerne fortsetzen.«
»Ja, natürlich, ich …«
»Ich werde Sie ins Romanische Café führen und Ihnen Max Liebermann und Max Slevogt vorstellen. Nach Ihrem langen Auslandsaufenthalt wird es Zeit, daß Sie die Berliner Kunstszene richtig kennenlernen.«
Mit diesem Versprechen machte Wacker auf den Absätzen seiner blankpolierten, zweifarbigen Lederschuhe kehrt und mischte sich unter eine Gruppe, die sich über eine Landschaft von Monet unterhielt.
Susannes Blicke folgten seinen geschmeidigen Bewegungen. Er besaß die Gestik eines Tänzers und die Raffinesse eines Gigolos, war aber dennoch ein geachteter Kunsthändler. Ein widersprüchlicher Mann also. Wollte sie wirklich mit ihm ausgehen? Er wäre nicht der erste Kavalier dem sie zwar erlaubte, sich telefonisch zu melden, den sie aber anschließend abwies. Ein Sinneswandel zur rechten Zeit gab dem Leben erst Würze, war ihre Devise, unter der eine Reihe junger oder weniger junger Männer bereits heftig gelitten hatte. Susanne haßte Langeweile, und deshalb war sie stets am Quell einer neuen Unterhaltung interessiert. Intellektuelle Genüsse bildeten hierbei keine Ausnahme, denn immerhin unterschieden sie sich von den oberflächlichen Vergnügungen, die man ihr normalerweise bot. Zweifellos war Otto Wacker ein attraktiver Mann – und ungebunden, wie man tuschelte. Ein perfekter Flirt, um sich in Berlin wieder heimisch zu fühlen und um den Schmerz der vergangenen Wochen und Marco de Michelangeli zu vergessen? Wahrscheinlich – und dennoch … Otto Wacker besaß etwas Unbestimmtes, das sie einerseits anzog, aber auch abstieß und sogar ängstigte.
Die ehrenwerten Herren hatten sich feingemacht. Es war zwar nicht unbedingt so, daß Nuckel-Paule oder Kledaschen-Hugo und ihre Freunde im dreiteiligen, dunklen Anzug adrett oder gar anständig aussahen, doch der Jahresfeier des Maßliebchen-Vereins mußte optisch Rechnung getragen werden. Schließlich waren die Mitglieder dieser Ganoven-Bruderschaft fast pedantisch darin, Stil zu zeigen und Werte zu demonstrieren. Tatsächlich besaßen die meisten von ihnen sogar einige Tugenden. Heute abend ging es auf gewisse Weise um ihre Ehre. Diese feucht-fröhliche Veranstaltung war dazu da, die Vereinszugehörigkeit von besonders erfolgreichen Ganoven zu feiern und selbige zu beschenken: Für die einjährige Mitgliedschaft gab es einen Siegelring mit dem Wappen des Vereins, wer zwei Jahre dabei war, konnte sich über eine goldene Sprungdeckeluhr freuen, und nach Vollendung des dritten Jahres wurde die Ehrung in Form eines Brillantrings vollzogen, der immerhin ein Karat besaß. Eine besondere Auszeichnung war schließlich der Zweikaräter, der für eine achtjährige Mitgliedschaft verliehen wurde.
Es war eine seltsame Gesellschaft, die sich im Hinterzimmer einer düsteren Kneipe im weniger vornehmen Teil von Charlottenburg zusammengefunden hatte. Die Unterwelt feierte sich in einer Form, wie es die oberen Zehntausend kaum imposanter tun konnten. Bunte Lampions sorgten ebenso für Stimmung wie das in Strömen fließende Bier, und der billige Taft der Abendkleider raschelte, wenn sich die Ehefrauen und Freundinnen der Gauner zu schwungvollen Melodien aus der Vorkriegszeit drehten. Die Stimmung war auf dem Siedepunkt angelangt, als Dr. Bernhard Weiß die Jule vom Vereinsvorsitzenden aufs Parkett schleppte. Das mochte in den gesellschaftlichen Kreisen, in denen der Herr normalerweise verkehrte, mindestens zu Verwirrung, ganz sicher aber zu Stirnrunzeln führen, denn der Kavalier war ein durch und durch respektabler Mann. Tatsächlich hatte der jüdische Vizepolizeipräsident Berlins gerade die Gattin eines Wettbetrügers aufgefordert.
Maßliebchen war der harmlose Name einer bekannten Ganovenorganisation, die sich, wie alle anderen Vereine ihrer Art, einer gewissen Achtung durch die Polizei erfreute. Im Jahr 1890 war der erste dieser Clubs in einer Kneipe namens Schnurrbartdiele in Berlin gegründet worden. Man nannte die Organisation »Ringverein«, weil sich die Mitglieder in ihrer Körperkraft maßen, und gab der Neueröffnung einen harmlosen Namen. Die anfängliche Zielsetzung war, die Muskeln der »Brüder« zu stärken oder zu erhalten. Daran hatte sich seit Kriegsende einiges geändert, denn nun wurde in den Ringvereinen nicht mehr gerungen, dafür aber hatten sich die Organisationen zu einer Reihe von Verbänden ausgeweitet, die wie ein dichtes Netz Berlin und die Provinz – den Rest des Deutschen Reiches also – überzogen.
In der Hauptstadt gab es sechzig Vereine, die ihre »Brüder« aus den Arbeitergegenden im Norden und Osten der Stadt rekrutierten. Hinter den Mauern der grauen Mietskasernen mit ihren tiefen Höfen, Nebengelassen und Gängen lebten nicht nur arme, aber ehrbare Familien mit ihren Kindern, die am Tag auf den schmutzigen Straßen spielten. Nach Mitternacht wurden die Gegenden um Lichtenberg, den Schlesischen Bahnhof, an der Jannowitzbrücke, hinter dem Alexanderplatz, in Moabit und Wedding zum Bezirk der Verbrecher. Dann erschienen die farbenfroh geschminkten Mädchen in ihren kurzen Röcken und sichtbaren Strapsen im faden Licht der Straßenlaternen, und Typen, die ihre Mützen so tief in die Stirn gezogen hatten, daß man ihre Gesichter kaum erkennen konnte, tauchten aus den unzähligen Hintereingängen auf.
Die Tatsache, daß ein Mann sich auf der schiefen Bahn bewegte, machte ihn nicht automatisch zum Mitglied eines Ringvereins. Die Aufnahmebedingungen waren streng: Er mußte mindestens 21 Jahre alt sein und über zwei vorbestrafte Bürgen verfügen. Selbstverständlich mußte der Kandidat ein »anständiger Gauner« sein, etwa ein Geldschrankknacker, Einbrecher, Taschendieb, Wettbetrüger, Heiratsschwindler oder Zuhälter. Es waren ausnahmslos Ganoven, die einem gewissen Ehrenkodex unterlagen. So wurde ein Zuhälter, der seine Hure verprügelte, gar nicht erst aufgenommen. Vergewaltiger oder Mörder galten als Abschaum. »Wir sind doch keine Verbrecher«, pflegten die Mitglieder der Ringvereine zu betonen.
Der eigentliche Zweck dieser Organisationen war eine Art Sozialdienst, der jedem in Not geratenen Ganoven oder seiner Familie offenstand. Man mußte einen Anteil seiner Beute in die Gemeinschaftskasse seines Vereins zahlen. Aus dieser wurden dann die Kosten für Rechtsanwälte beglichen, wenn ein Gauner vor Gericht juristischen Beistand brauchte. Oder die Familie eines Verurteilten wurde unterstützt, während sich dieser im Gefängnis befand. Auch Beerdigungen verstorbener Mitglieder wurden aus diesem Topf finanziert und eine Rente für die Hinterbliebenen ausgeschüttet.
Zu besagtem Ehrenkodex gehörte aber vor allem eine gute Zusammenarbeit zwischen der Unterwelt und der Polizei, die es sich wiederum nicht nehmen ließ, die Vereinstreffen zu besuchen. Tatsächlich ging es den Ordnungshütern darum, Kontakte zu pflegen und sich umzuhören.
»Natürlich wissen wir, daß es ein Netzwerk mit einem ständigen Nachrichtenaustausch unter den Ringvereinen gibt«, erklärte Kriminalrat Ernst Gennat gerade seinem neuen Assistenten Harry Bergmann. »Das erschwert die Fahndung, aber wir profitieren andererseits auch von diesen Organisationen, denn sie haben die Unterwelt äußerst übersichtlich geordnet.«
Ernst Gennat beobachtete die Tanzeinlage seines Chefs, des Vizepolizeipräsidenten, mit einem amüsierten Schmunzeln. Vermutlich hätte sich die Jule des Gastgebers sehr gefreut, wenn auch er sie im Walzerschritt über das Parkett geschoben hätte, er war jedoch kein Tänzer. Das lag nicht zuletzt an seiner Figur und an seiner zweitgrößten Leidenschaft. Er war ein Dreizentnermann um die Fünfzig, dessen Lebensinhalt die Kriminalistik war. Seine andere Leidenschaft waren Sahnetorten. Und da Gennat weder den Kuchen zu teilen, noch seine Zeit mit etwas anderem als Verbrechensaufklärung und -bekämpfung zu verbringen beabsichtigte, war er niemals verheiratet gewesen. Auch Tanzstunden waren zwischen Mord und Totschlag auf der Strecke geblieben, so daß die Jule des Vorsitzenden auf seine Aufwartung verzichten mußte.
»Ich fühle mich wie ein Spion im feindlichen Lager«, flüsterte Harry Bergmann, dem sichtlich flau im Magen war. Sein Gesicht hatte einen grauen Schimmer, was möglicherweise ebenso auf das fette Abendessen wie auf den hochprozentigen Schnaps danach zurückzuführen war. Der junge Kriminalbeamte brauchte unbedingt frische Luft.
Gennat grinste. Er neigte sich zu seinem Assistenten, und das vollmundige Spiel der Kapelle, die gerade eine Polka anstimmte, schluckte den Klang seiner Worte, so daß nur ein fast unverständliches Genuschel Harry Bergmanns Ohren erreichte.
»Auf gewisse Weise sind wir das auch, nicht wahr? Es kommt zuweilen vor, daß ein Coup platzt, weil die Polizei einen Tip erhält. Konkurrenzneid unter den Vereinsmitgliedern ist nur menschlich.«
»Was aber tun Sie hier?« flüsterte Harry zurück. »Mit Mord haben diese Jungens doch nichts am Hut, oder?«
Ernst Gennat, weltberühmter Chef des Berliner Morddezernats, lächelte. »Hoffentlich nicht«, erwiderte er leise, »aber ehrenwerte Gauner sind das beste Werkzeug, das sich die Polizei wünschen kann. Denken Sie an meine Worte. Ein Dieb mit Stil ist findiger als jeder Kriminalbeamte und strenger in seinem Urteil als jeder Staatsanwalt.«
»Man kann diesen Leuten also wirklich trauen, meinen Sie …« Die Worte des jungen Mannes verloren sich.
Er hatte bemerkt, daß ihn eine Blondine beobachtete, die mittels Wasserstoffsuperoxyd zu ihrer Haarfarbe gekommen war. Sie saß am Nebentisch und gehörte ganz offensichtlich zu dem vierschrötigen Mann an ihrer Seite. Auch Harry hätte gern einen Blick auf ihre Beine unter dem Rocksaum riskiert, der in der Mitte ihrer Oberschenkel endete, doch er wandte seine Augen aus Furcht ab, möglicherweise zur Zielscheibe der Eifersucht ihres Begleiters zu werden.
Sein Blick fiel auf einen gutaussehenden, kräftigen jungen Mann mit dunkelblondem zurückgekämmtem Haar über einer hohen Denkerstirn und wachen Augen. Er lehnte in der gelassenen Haltung eines Mannes, der mit sich zufrieden ist, auf der anderen Seite des geräumigen, in eine Art Ballsaal umfunktionierten Hinterzimmers an der Wand.
Harry kannte ihn nicht, hätte aber gern gewußt, warum ein Typ wie dieser keinen Blick auf die anwesenden Mädchen riskierte.
Doch Gustav Schulze genoß nur den Rauch seiner Zigarette und den Blick auf die goldene Sprungdeckeluhr, den er alle dreißig Sekunden wiederholte. Das Geschenk des Vereins machte ihn mächtig stolz, auch wenn es vielleicht gar kein richtiges Geschenk war, da er es sich doch auf gewisse Weise selbst verdient hatte. In den Deckel hatten die Kumpel sogar einen Text eingravieren lassen: Für Muskel-Gustav zum Zweijährigen.
Klar, daß sie seinen Spitznamen verwendet hatten. Niemand hier nannte ihn nur »Gustav«, alle waren sie beeindruckt von seinen Muckis, die er sich vor langer Zeit als Bierkutscher antrainiert hatte. Aus dem ehrlichen Arbeiter bei dem weniger seriösen Fuhrunternehmer Wacker war zwar über den Umweg einer Schlepper-Tätigkeit für einen verbotenen Tripot in der Friedrichstraße, einen Spielclub für reiche Herren mit nackten Mädchen als Tanzeinlage, ein Wettbetrüger geworden, doch die Muskeln waren ganz nützlich geblieben. Vor allem, um die Mädels zu beeindrucken. Auch seine Flora war immer ganz hin und weg, wenn er den Bizeps spielen ließ.
Die Zeit, in der Gustav allzu großzügig in die Kasse seines Ringvereins Beiträge und Spenden einzahlen konnte, lief langsam ab. Er mußte daran denken, die eine oder andere Mark auf die hohe Kante zu legen. Immerhin zog er die Gründung einer Familie in Erwägung. Das war aber auch in anderer Hinsicht schwieriger, als er erwartet hatte: Seine Flora erwies sich als ziemlich verwöhnt. Seit sie mit ihrer Gnädigen, einer für eine Millionenerbin sehr jungen Frau namens Susanne Delius, aus Frankreich zurück war, hatte sie nur noch Flausen im Kopf. Das ehrenvolle, aber bescheidene Leben an der Seite eines Wettbetrügers schien nicht mehr gut genug für sie.
Andererseits vermittelte Flora ihrem Gustav ein Gefühl von großer, weiter Welt – das war schon faszinierend. Er bewunderte und liebte sie von ganzem Herzen. Letzteres hatte er bereits getan, als sie noch ein unerfahrenes, kleines Mädchen aus der Mark Brandenburg gewesen und in Berlin über ihre eigenen Füße gestolpert war. Und er tat es noch heute, da sie sich in seinen Augen zur großen Dame gemausert hatte, die kein Verständnis dafür hatte, daß ein Mann einmal seiner eigenen Wege gehen mußte – so wie heute abend. Sie hatte ihm sogar damit gedroht, sich einen anderen Schatz anzulachen. Pah!
Er würde sie heiraten. Das war klar. Zum nächsten Vereinstreffen würde er sie als seine Verlobte mitnehmen; kurzlebige Freundschaften brachte man nicht mit zu Veranstaltungen wie dieser. Gustav kam nicht in den Sinn, daß Flora ihre Drohung ernst gemeint haben könnte. Und wenn, so hätte er den anderen mit seiner Muskelkraft beeindruckt und sonstwohin geschickt. Und Flora gleich hinterher.
Als es fast drei Uhr war und es auf die gesetzliche Sperrstunde zuging, fuhr Susanne nach Hause. Da sie keinem ihrer alten wie neuen Verehrer erlaubt hatte, sie nach Hause zu bringen, hatte sie sich einem Taxichauffeur anvertraut. Als der Wagen vom lichterfüllten Kurfürstendamm in die Uhlandstraße einbog, dachte sie darüber nach, daß die Uhrzeit keine Rolle spielte, denn es wartete niemand auf sie. Keine Vorwürfe. Keine Sorgen. Sie war frei und ungebunden. Selbst ihr Personal hatte heute abend Ausgang, und wenn sie Flora richtig einschätzte, trieb die sich noch auf irgendeinem Tanzboden herum.
Susanne Delius hatte außer einem mehr als beachtlichen Bankkonto und dem echten van Gogh die Wohnung ihrer Patentante geerbt. Das war eine überaus glückliche Fügung, denn ihrem Vater, einem vermögenden Kaufmann und Großgrundbesitzer aus Schlesien, der sein Geld überwiegend mit Ölmühlen, Apfelmostereien und einer Gurkenfabrik verdiente, war es nicht so ohne weiteres klarzumachen gewesen, daß für seine einzige Tochter eine Wohnung in der aufregendsten Stadt der Welt lebenswichtig war. Das Pensionat in der Schweiz, sogar die Studienzeit im Ausland – das hatte Papa eingeleuchtet, aber eine eigene Wohnung im Sündenbabel Berlin, in der Susanne noch dazu allein sein und tun und lassen konnte, was ihr beliebte, hatte bei ihm ganz erhebliche Bedenken ausgelöst. Doch die kluge Tante Amalie hatte gewußt, was junge Mädchen brauchten. Und sie hatte ihrem verständnislosen, meist nur in nüchternen Bilanzen denkenden Bruder eins auswischen können, sozusagen posthum. Denn Papa hatte glücklicherweise nichts gegen die Erbschaft einwenden und, seit Susanne fünfundzwanzig Jahre alt war, nicht einmal die Hand auf ihrem Geld halten können, was ihm zunächst als Testamentsvollstrecker und Treuhänder möglich gewesen war.
Die ererbte Wohnung lag in einem wilhelminischen Prachtbau in der Uhlandstraße, der noch an die Zeiten um die Jahrhundertwende erinnerte, als die Gegend um den Kurfürstendamm nur das Quartier der Reichen gewesen war. Nach dem Krieg aber hatte sich das Nachtleben Berlins von der Friedrichstraße hierher verlagert. Immer mehr Kinos öffneten ihre Tore, vor denen sich abends endlos scheinende Menschenschlangen bildeten, elegante Vergnügungslokale warteten mit wechselnden Programmen und immer leichter bekleideten Serviererinnen auf, bis diese schließlich nur noch ein gehäkeltes Feigenblatt trugen, und die Restaurants stellten in diesem Herbst erstmals kleine, leicht zu beheizende Koksöfen auf, um ihren Gästen den Aufenthalt auf der Terrasse auch bei kühler Witterung zu ermöglichen. Die vormals elegante Wohngegend hatte sich in einen glitzernden, sektprickelnden, jazzerfüllten, überlauten und überquellenden Ameisenhaufen verwandelt, auf den die blinkenden Reklameschilder bunte Lichtfontänen warfen, und wenn die Berliner vom Ku’damm sprachen, nannten sie ihn in ihrer Begeisterung für alles Amerikanische stolz »Broadway«.
Immerhin hatten sich wenigstens die Seitenstraßen einen gewissen Teil bürgerlicher Wohnqualität erhalten. Zwar spazierten in den frühen Abendstunden Damen um die Ecken, die leichter bekleidet und aufgeschlossener waren als die Anwohnerinnen, aber die Nutten paßten sich der Gegend an und waren zweifellos teurer und eleganter als ihre Kolleginnen, die hinter dem Alexanderplatz anschaffen gingen. Um diese nächtliche Zeit jedoch lag die Uhlandstraße ruhig und verlassen da. Nicht ein Fenster hinter den Jugendstilfassaden war beleuchtet. Etwas Licht spendeten lediglich die Straßenlaternen und die Scheinwerfer des Taxis, denn auch der Mond hatte sich nach dem milden Abend hinter einer dunklen Wolkendecke verzogen, als müsse er sich vor dem Glanz der Stadt verstecken.
Susanne bezahlte den Chauffeur und stieg aus. Einen Moment lang blieb sie schwankend am Straßenrand stehen.
Es war wohl doch etwas zuviel Champagner gewesen heute abend. Dann klapperten die Absätze ihrer französischen Spangenschuhe über das Pflaster des Bürgersteigs, stiegen über die Hinterlassenschaft des Nachbarhundes, der am späten Abend noch ausgeführt worden war.
Der Taxifahrer, der die elegante Kundin einen Augenblick lang beobachtet hatte, trat das Gaspedal durch und fuhr an. Es sah nicht so aus, als würde sie Hilfe brauchen. Sie würde es wohlbehalten in ihre Wohnung schaffen, auch wenn sie nicht mehr so richtig gut zu Fuß war. Er hingegen würde sich in einer Kneipe seine Thermoskanne mit Kaffee auffüllen lassen und vor der Casanova-Bar an der Gedächtniskirche auf neue Kundschaft warten, denn schließlich wußten die feinen Leute, daß sie, wenn ihnen ihr Hab und Gut lieb und teuer war, besser nicht die Straßenbahn benutzten – und die sichere U-Bahn fuhr um diese Zeit nicht mehr.
Susanne hörte das Motorengeräusch, nahm es aber kaum wahr. Gähnend und mühsam darauf konzentriert, die Augen offenzuhalten, kramte sie in ihrem Handtäschchen nach dem Hausschlüssel. Puderdose, Parfümzerstäuber, Taschentuch, Geldbörse … Während sie suchte, torkelte sie weiter auf die Haustür zu, hielt ihren Blick dabei nicht auf den Bürgersteig und auf ihre Füße gerichtet, sondern auf den Inhalt ihrer Handtasche, den sie im diffusen Nachtlicht kaum erkennen konnte. Irgendwo mußte doch der Hausschlüssel sein …
Ihre Schuhspitze stieß gegen etwas Weiches, dann blieb sie mit dem Absatz irgendwo hängen und wäre beinahe vornübergekippt. Trotz des reichlich genossenen Champagners fand sie ihr Gleichgewicht überraschend schnell wieder.
Dann blieb sie wie angewurzelt stehen.
Ihr Absatz hatte sich im zarten Chiffon eines weißen Kleides verfangen. Das Gewand lag in verschwenderischer Stoffülle ausgebreitet auf dem Trottoir und halb auf den beiden Stufen, die hinauf zum Hauseingang führten. Zu diesem Kleid gehörte eine Glocke aus lackiertem Stroh. Der Hut war weggeworfen worden oder heruntergefallen und schwamm in einer Pfütze.
Es dauerte eine Weile, bis Susanne begriff, daß in dem Kleid ein Körper steckte. Sie hatte noch nie eine Tote gesehen. Wahrscheinlich drang deshalb zu ihrem Bewußtsein zuerst die Erkenntnis durch, daß sie dieses Kleid kannte. Es gab diesen Traum aus Chiffon nur ein einziges Mal – er war von Madame Jeanne Lanvin angefertigt worden. Und er gehörte ihr selbst.
Dann bemerkte sie das honigblonde Haar, das, vormals im modischen Pagenschnitt zum Bubikopf frisiert, jetzt vollkommen zerstrubbelt war. Sie erkannte die Frisur, denn es war jene Perücke, die sie sich hatte anfertigen lassen, um selbst bei einem kurzfristig angesetzten Rendezvous perfekt auszusehen.
In diesem Augenblick begann Susanne zu schreien. Nicht nur, weil die Erkenntnis sie wie ein Peitschenhieb traf, daß sie beinahe über eine Tote gestolpert wäre.
Die Person in ihrem Kleid, mit ihrer Perücke auf dem Kopf stellte ein makabres Spiegelbild ihrer selbst dar. Susanne hatte das Gefühl, als sehe sie ihre eigene Leiche.
Fremde Hände umfaßten ihre Schultern, schüttelten ihren zitternden Körper. Die unvermutete Berührung erschreckte sie so sehr, daß ihr Geschrei zu einem schrillen Crescendo anschwoll. Sie versuchte, sich dem Griff zu entziehen. Aber je mehr sie sich bewegte, desto fester wurde die Umklammerung.
»Seien Sie still!« mahnte eine tiefe Stimme, die seltsamerweise gar nicht bedrohlich klang. »Sie wecken ja die ganze Nachbarschaft auf.«
Prompt ging irgendwo ein Licht an. Ein Fenster klappte, und eine Frau aus dem obersten Stockwerk des Hauses rief: »Unverschämtheit! Ruhe!«
Dann ein verschlafener Mann in einer anderen Etage: »Was ist denn da los?«
»Polizei!« wollte Susanne schreien. »Rufen Sie die Polizei!«
Doch als sie gerade Luft holen und zum Hilferuf ansetzen wollte, preßte sich die Hand des Fremden brutal auf ihren Mund. Kühl, hart und unerbittlich. Ihr Schrei blieb ungehört.
»Es ist alles in Ordnung«, rief er mit erzwungener Fröhlichkeit hinauf zu den Nachbarn, die im Schlaf gestört worden waren. »Entschuldigen Sie, es war nur ein Spaß.«
»Was fällt Ihnen ein, anständige Leute zu stören?« pöbelte die Frau und knallte das Fenster zu.
Der Mann kommentierte die Szene mit kaum hörbarem Seufzen: »Diese Jugend von heute!« Dann schloß auch er die Außenwelt und die Störenfriede von seiner Nachtruhe aus.
Susanne hatte sich noch nie in ihrem Leben so einsam gefühlt. Da hing sie auf der dunklen Straße in den Armen eines Wildfremden wie eine hölzerne Statue in einem Schraubstock, konnte kaum atmen und hatte Todesangst.
Sie war dem Unbekannten ausgeliefert. Allein – mit einer Frauenleiche zu ihren Füßen. Vielleicht war dieser Mann der Mörder, ein Totschläger …
Susanne wurde übel.
Die Kohlensäure des Champagners sprudelte in ihrem Magen. Flüchtig erinnerte sie sich daran, daß sie außer ein paar Lachshäppchen, die in der Galerie Wacker gereicht worden waren, nichts gegessen hatte. Fast gleichzeitig spürte sie einen Druck auf der Brust, ein Gurgeln in der Kehle … Sie würgte.
Der Mann hielt sie zu fest, um nicht die Rebellion ihres Magens wahrzunehmen. Erschrocken ließ er sie los.
Sekunden später erbrach sie sich auf sein schwarzes Abendsakko.
Nachdem sie sich übergeben hatte, hob sie verstört den Kopf. Schweißperlen rannen ihre Schläfen hinab, und der Pony klebte an ihrer Stirn. Die Wimperntusche hatte sich inzwischen selbständig gemacht und unregelmäßige Flecken auf ihren Wangen hinterlassen.
Der gelbe Glanz der Straßenlaternen tauchte sie gnädigerweise in weiches Licht, so daß die Spuren des Entsetzens nicht allzu hart in ihrem Gesicht geschrieben standen.
Der schale Nachgeschmack der Übelkeit nahm ihr fast den Atem. Um eine neue Revolte ihres Magens zu unterdrücken, biß sie sich auf die Lippen und konzentrierte sich auf ihr Gegenüber. Sie blickte in ein Paar sanfte graue Augen, die sie aufmerksam beobachteten.
Diese Augen schienen sie in Sicherheit zu wiegen. Trügerisch?
Mattigkeit übermannte sie. Ihre Angst war nicht mehr so groß, sie fühlte sich unendlich elend und hilflos. Sie beschloß, sich ihrem Schicksal zu ergeben. Auch wenn es bedeutete, daß dieser Mann sie vielleicht ebenso umbringen würde wie die andere dort auf den Steinen. Hatte sie eine Wahl? Oder träumte sie die Horrorvision eines Wechselspiels? Erlebte diese Situation gar ganz falsch und war längst tot und lag dort selbst auf der Straße? Es war vielleicht gar kein Double, und sie war nur ein Geist, der beobachten durfte, was noch geschehen würde.
Überraschenderweise begann plötzlich ihr Verstand zu arbeiten. Das brachte sie auf eine logische Frage: »Wer sind Sie?«