Das Kino am Jungfernstieg - Der Filmpalast - Micaela Jary - E-Book

Das Kino am Jungfernstieg - Der Filmpalast E-Book

Micaela Jary

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Beschreibung

1944: In den Babelsberger Filmstudios passiert ein Unglück mit fatalen Folgen. Sieben Jahre später: Der internationale Filmstar Thea von Middendorff kehrt zur Eröffnung der Berliner Filmfestspiele nach Deutschland zurück – jene Frau, die für das Unglück damals verantwortlich war, was sie aber zu verheimlichen wusste. Auf ihrer Spur befindet sich der britische Journalist John Fontaine, der Thea von Middendorff nun mit einem Interview kompromittiert. Das bringt wiederum die Hamburger Kinobesitzerin Lili Paal auf den Plan, die ebenfalls von der alten Geschichte weiß – und in die Fontaine hoffnungslos verliebt war...

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Buch

1944: In den Babelsberger Filmstudios passiert ein Unglück mit fatalen Folgen. Acht Jahre später: Der internationale Filmstar Thea von Middendorff kehrt zur Eröffnung der Berliner Filmfestspiele nach Deutschland zurück – jene Frau, die für das Unglück damals verantwortlich war, was sie aber zu verheimlichen wusste. Auf ihrer Spur befindet sich der britische Journalist John Fontaine, der Thea von Middendorff nun mit einem Interview kompromittiert. Das bringt wiederum die Hamburger Kinobesitzerin Lili Paal auf den Plan, die ebenfalls von der alten Geschichte weiß – und in die Fontaine hoffnungslos verliebt war …

Weitere Informationen zu Micaela Jary sowie zu lieferbaren Titeln der Autorin finden Sie am Ende des Buches.

Micaela Jary

Das Kino am

Jungfernstieg

Der Filmpalast

Roman

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Originalausgabe März 2021

Copyright © 2020 by Micaela Jary, Berlin/Laage/München,

vertreten durch Petra Hermanns Literaturagentur, Frankfurt am Main

Copyright dieser Ausgabe © 2020 by Wilhelm Goldmann Verlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Gestaltung des Umschlags und der Umschlaginnenseiten:

UNO Werbeagentur München

Umschlagfoto: Ildiko Neer/arcangel images

FinePic®, München

Julian Elliott Photography/getty images

Vintage Germany/Karin Schröder

Redaktion: Marion Voigt

BH • Herstellung: kw

Satz: KompetenzCenter, Mönchengladbach

ISBN: 978-3-641-22943-6V001

www.goldmann-verlag.de

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Irgendwo zwischen Lübeck und Hamburg

Dezember 1946

Prolog

»Ich blöder Idiot habe in deine blauen Augen gesehen und mein Gehirn komplett ausgeschaltet. Verdammt noch mal.« Er drosch auf das Lenkrad ein, und die Hupe sendete einen kläglichen Schmerzenslaut, der aus Lilis Seele zu kommen schien.

Obwohl die Autobahn geradeaus führte, kam es ihr vor, als würde er eine Kurve nach der anderen nehmen. Lag das an der Geschwindigkeit? Hielt er nicht die Spur? Ihr leerer Magen begann zu rebellieren, ihr wurde schwindelig, und die mattgraue Fahrbahn flimmerte vor ihren Augen. »Kannst du nicht langsamer fahren?«

»Von dir lasse ich mir nichts mehr sagen.« Er wandte den Kopf, sah sie an und polterte: »Du hast mit meinen Gefühlen gespielt, als wäre ich deine Marionette.«

Auf der Mittelfahrbahn tauchte ein entgegenkommendes Fahrzeug auf. Scheinwerfer blendeten sie. Der andere Wagen versuchte, einen Traktor zu überholen. Warum tuckert ein Ackerschlepper um diese Jahreszeit über die Schnellstraße?, dachte sie.

»Pass auf!«

»Warum, Lili, warum?« Er meinte nicht ihren Aufschrei.

»John!«

In diesem Moment erst wurde ihm die Gefahr bewusst. Er riss das Steuer herum und trat mehrmals hintereinander auf die Bremse. Doch die Reifen griffen nicht. Der VW-Käfer rutschte über die vereiste Straße, schlingerte, gewann dabei noch mehr an Geschwindigkeit, drehte sich im Kreis.

»Halt dich fest!« Mit einem Mal klang seine Stimme nicht mehr böse.

Eine Frau schrie. War sie das?

Lili wurde gegen die Seitentür geschleudert. Sie spürte den Schmerz in ihrer Schulter, aber sie dachte, dass das nicht so schlimm war, weil sie plötzlich fliegen konnte. Die Welt schien sich auf den Kopf zu drehen, der eisige Sturm war ihr von der Ostsee gefolgt und trug sie davon. Sie fühlte, wie sie aufschlug, vielleicht kam dieses seltsame knackende Geräusch von ihren brechenden Knochen. Aber es tat nicht so weh. Viel schlimmer war, dass sie nicht wusste, wie sie ihm erklären sollte, welchem Missverständnis er zum Opfer gefallen war.

Und Schnitt.

Die Worte glitten durch ihren Kopf wie bei Dreharbeiten. Wie bei einem Negativ, das sie bearbeiten sollte und auf Anweisung des Regisseurs genau an dieser Stelle schneiden musste. Dabei musste sie sehr gewissenhaft vorgehen, um nicht etwa einen Teil der Szene zu kürzen.

Dann wurde es still. Niemand schrie oder hupte mehr. Der Film war zu Ende.

Hamburg

Februar 1951

1

Ihre Augen brannten, ihre Lider waren schwer, und hinter ihren Schläfen zuckten Blitze wie Leuchtfeuer einer bevorstehenden Migräne. Es waren die typischen Zeichen von Überarbeitung, die Lili Paal zusetzten. Sie brauchte nicht auf die Uhr zu sehen, um zu wissen, dass ihre Abendschicht dem Morgengrauen entgegenging und sie längst Überstunden machte.

Zimperlich oder gar müde durfte eine Cutterin bei der Neuen Wochenschau nicht sein, ein pünktlicher Dienstschluss gehörte nicht zu den Gepflogenheiten ihres Berufs. Vor allem die Nacht vor der Abnahme der Beiträge war lang, nervenaufreibend, anstrengend – und häufig auch aufregend. Immerhin setzte Lili als Schnittmeisterin die neuesten Nachrichten und Reportagen aus aller Welt zu einem insgesamt etwa zwanzig Minuten langen Bericht zusammen, der wöchentlich aktualisiert vor dem Hauptfilm über die Leinwand der Kinos flimmerten. Auf zu viel Politik wurde dabei verzichtet, die Kontrolleure der Alliierten muteten den Deutschen nicht zu viel davon zu. Aber es gab genügend andere Berichte, sodass die Stunden am Schneidetisch für Lili dahinflossen wie Wasser durch Stromschnellen.

Meist wurde sie sogar von den Dokumentationen gefangen genommen wie eine Kinobesucherin, doch verbarg sie ihr persönliches Interesse hinter ihrer Professionalität. Trotz ihrer beginnenden Migräne starrte sie konzentriert auf den Bildschirm, lauschte der Tonspur, die neben dem Filmstreifen über den jeweiligen Metallteller lief, und stellte die Synchronisation zwischen Sprache und Lippenbewegungen her. Dann markierte sie die Szenen. Es war ein Bericht über den Koreakrieg, über die Besetzung Seouls durch das chinesische Militär, den Rückzug der UN-Streitkräfte und das eisige Wetter in Ostasien, das weitere Offensiven durch die unter amerikanischer Führung stehenden westlichen Truppen verhinderte. Die Erinnerung an den noch gar nicht so lange zurückliegenden Weltkrieg berührte Lili. Ihr Nacken schmerzte, weil sie angespannt und fast verbissen weiterarbeitete, während die Bilder sie fesselten. Dagegen war die sich anschließende Reportage über die prunkvolle Hochzeit des Schahs von Persien, Mohammad Reza Pahlavi, mit Soraya Esfandiary so aufmunternd wie das Stück Traubenzucker, das sie geistesabwesend aus dem Päckchen neben sich gegriffen hatte und auf der Zunge zergehen ließ.

»Lili!« Walter Bachmann, heute Nachtchef vom Dienst und für die aktuelle Redaktion zuständig, trat in den Schneideraum und schlug die Glastür mit übertriebener Munterkeit hinter sich ins Schloss, sodass es leise klirrte. »Aufwachen!« Er grinste sie an. »Gerade ist ein Bericht aus Berlin eingetroffen, den wir unbedingt noch unterbringen müssen. Der Fahrer brauchte so lange, weil sich ein VoPo an der Zonengrenze aufspielte, als wäre er Ulbricht höchstpersönlich.«

»Was sagt der Regisseur?« Während sie die Bedienungsknöpfe ausschaltete, gähnte sie verstohlen.

»Der kommt gleich. Wir müssen das Material erst mal sichten …«

Walter tätschelte in einer Mischung aus Freundschaftlichkeit und Verständnis kurz ihre Schulter. Sie ließ es sich gefallen, weil sie sicher war, dass er nicht mit ihr flirtete. Dabei war er ein netter Mann in ihrem Alter und nicht unattraktiv, Anfang dreißig, dunkelblonde Locken, braune Augen in einem markanten Gesicht. Er war als Kriegsreporter eingezogen worden, aber ziemlich bald in Gefangenschaft geraten. Zwar sprach er nie über seine Zeit als Soldat, wohl aber über die Möglichkeiten, die ihm die amerikanische Gefangenschaft eröffnet hatte, weil er auf diese Weise völlig neue Ansätze seines Jobs kennenlernte. Mit dem war er inzwischen wie verheiratet, eine Ehefrau gab es in Walters Leben nicht.

»Über welche Sensation wird denn berichtet?«, warf sie matt ein. Es musste sich schon um ein spektakuläres Ereignis handeln, wenn sie sich deshalb klaglos auch noch den Rest der Nacht um die Ohren schlagen sollte.

»Es geht um den Beschluss des West-Berliner Senats, einen Arbeitsausschuss zur Organisation von Filmfestspielen zu ernennen.« Walter ließ sich auf dem Stuhl neben ihr nieder und plauderte weiter, die Film- und Tonrollen in Dosen aus Metall auf den Knien. »Das Festival soll bereits diesen Juni stattfinden. Dazu haben wir ein paar Stimmen von Korrespondenten aus Paris, London und Los Angeles. Das ist eine runde Kulturreportage …«

Lili nickte geistesabwesend. Sie hatte in den vergangenen Monaten immer wieder davon gehört, dass Filmoffiziere der britischen und amerikanischen Besatzungsmächte sowie deutsche Produzenten und Journalisten eine sogenannte Film-Olympiade für West-Berlin forderten, die in der Tradition der Filmfestspiele von Venedig und Cannes stehen sollte. Diesen Nachrichten hatte sie allerdings keine besondere Bedeutung beigemessen, da sich die in vier Sektoren aufgeteilte alte Hauptstadt in einem ganz erbärmlichen Zustand befand, schlimmer noch als die zerbombten Städte in Westdeutschland, viel deprimierender als Hamburg, wo ein fast atemberaubender ehrgeiziger Wille zum Wiederaufbau herrschte. Es war für Lili, die den Krieg über in Berlin gelebt hatte, unvorstellbar, dass in einem der West-Sektoren der alte Glanz der Filmmetropole wiederauferstehen könnte. Allerdings pflegte sie Hintergrundinformationen über die Filmwelt grundsätzlich nicht so wichtig zu nehmen, die Erinnerung an ihre eigene Tätigkeit für die Ufa schmerzte noch immer zu sehr.

Seit etwa viereinhalb Jahren war sie raus aus der Branche. Da war zunächst der schwere Autounfall gewesen, den sie nur knapp überlebt hatte, die langwierigen gesundheitlichen Folgen, dann der Tod ihrer Mutter und schließlich die erzwungene Aufgabe des Kinos am Jungfernstieg, das einst ihr Vater gegründet hatte, die ihr Leben von Grund auf veränderten. Es war wie ein Puzzle, das ohne ihr Zutun mit dem letzten Teilchen zu einem Stoppsignal zusammengesetzt worden war. Obwohl sie es anfangs anders gewollt hatte, schien ihre Zeit als Cutterin von Spielfilmen seit jenem Dezembertag 1946 vorbei.

Ihre Hoffnung, sich als Fotografin eine berufliche Existenz aufzubauen, war von Anfang an zum Scheitern verurteilt, weil sie sich die technischen Mittel dafür nicht leisten konnte. Ihr Mann verdiente zwar als Musiker nicht schlecht, aber es war nicht so viel, dass er ihr damit eine moderne Ausrüstung hätte kaufen können; außerdem weigerte sich ihre Halbschwester Hilde, bei der sie wohnten, ihr einen Raum als Dunkelkammer zur Verfügung zu stellen. So verliefen Lilis Ambitionen im Sande.

Als die erste bundesdeutsche Nachkriegswochenschau »Blick in die Welt« in Hamburg gegründet wurde, war das wie ein Glücksfall. Sie konnte in ihrem erlernten Beruf arbeiten, ohne an die Vergangenheit anzuknüpfen. Deshalb unterschlug sie bei ihrer Bewerbung den Hinweis, dass es sich bei ihr um die durchaus angesehene und bekannte Cutterin Lili Wartenberg handelte, weil sie auch ihren Mädchennamen mit ihrer Mutter begraben hatte. Vielmehr behauptete sie, ihre persönlichen Dokumente wie etwa Arbeitszeugnisse seien in den Kriegswirren verloren gegangen, und hoffte darauf, ihren künftigen Arbeitgeber mit Leistung zu überzeugen. Da fehlerhafte oder mangelnde Papiere bei Bewerbungen heutzutage nicht ungewöhnlich waren, wurde sie eingestellt. Nach einer Probezeit fühlte sie sich inzwischen in dem neuen Metier ebenso zu Hause wie in dem alten. Nur manchmal, wenn die Rede auf die Filmwirtschaft kam, versetzte es ihr einen kleinen Stich. Zu sehr hatte ihr Herz einst daran gehangen.

»Lili? Hörst du mir eigentlich zu?«

»Nein …«, entfuhr es ihr. Sie nahm sich zusammen und korrigierte sich rasch. »Ja. Natürlich. Was denkst du von mir? Ich bin ganz Ohr.« Himmel, stöhnte sie in Gedanken auf, worüber hatte Walter Bachmann geredet? Deshalb fügte sie mit einem entschuldigenden Lächeln hinzu: »Ich habe nur nicht alles richtig mitbekommen.«

Er legte ein Blatt mit handschriftlichen Notizen, das zwischen den Filmdosen geklemmt hatte, auf den Schneidetisch. »Das Manuskript, das mitgeschickt wurde, ist ein bisschen provisorisch, aber wir kriegen das schon hin … Schau mal, wir haben hier O-Töne von dem amerikanischen Filmoffizier Oscar Martway und seinem britischen Kollegen George Turner, beide erzählen etwas über ein Schaufenster der westlichen Kultur, das die Filmfestspiele in Berlin werden sollen. Dazu haben wir Bilder vom Schöneberger Rathaus, dem Sitz des Senats von West-Berlin, und dem Amerika-Haus in der Kleiststraße, wo das neue Organisationskomitee tagen soll. Außerdem … warte mal«, er drehte das Papier wieder zu sich, beugte sich darüber und fuhr fort: »Außerdem haben wir die Erklärungen des künftigen Festivaldirektors Alfred Bauer und des Journalisten Manfred Barthel, der neben einigen anderen dem neu installierten Ausschuss angehört, sowie Kommentare des Korrespondenten der Los Angeles Times, der BBC, von Le Monde und Corriere della Sera …«

»Ich verstehe«, erwiderte Lili, die nun tatsächlich voll bei der Sache war.

»Wenn die Zeit nicht reicht, können wir das eine oder andere Interview kürzen oder streichen. Auf jeden Fall sollen wir den Kollegen aus London zu Wort kommen lassen. Hier stehen drei Ausrufezeichen neben seinem Namen. Er ist wichtig, weil sein Vater vor der Emigration nach England ein bekannter Filmproduzent in Berlin war und er selbst nach dem Krieg irgendeine Position in der Film Section bekleidete.« Er tippte auf die handschriftlichen Anweisungen. »Du findest John Fontaine im Material bei Sekunde vier…«

Lili erstarrte. »Wen?«

»Vierundvierzig«, vollendete der Redakteur seinen Satz. Dann besann er sich auf ihre Frage und erklärte: »Der Korrespondent der BBC heißt John Fontaine.«

»Hm«, machte sie nur. Mehr brachte sie nicht heraus. Ihre Kehle schien in Sekundenschnelle zuzuschwellen wie bei einer schweren Mandelentzündung, die Zunge wurde schwer, ihre Lippen trocken. Es war das erste Mal seit damals, dass sie den Namen John Fontaine hörte.

Er war ohne ein Wort aus ihrem Leben verschwunden, aber sie hatte niemals aufgehört, an diesen Mann zu denken. Heute war er wie ein Geist, der eine verschlossene Tür zu ihrer Vergangenheit öffnete, hinter die sie eigentlich nicht mehr schauen wollte. Häufig träumte sie sogar noch von ihm.

Ihn jemals im realen Leben wiederzusehen, damit hatte sie nicht gerechnet. Ihm dermaßen unvorbereitet zu begegnen überstieg ihre Kraft. Dabei traf sie ihn nicht einmal persönlich. Er war nur ein hingekritzelter Name auf einem Blatt Papier. Und eine Sequenz auf Zelluloid, die sie noch nicht einmal gesehen hatte.

Vielleicht ist es ein Irrtum, meldete sich eine innere Stimme, es könnte eine Verwechslung sein. Zwei Männer mit demselben Namen. So etwas kam vor.

Doch Lili wusste, bevor sie sein Bild sah, dass alles passte: die Geschichte seines Vaters ebenso wie seine militärische Stellung wie auch seine spätere Berufswahl. John hatte ihr selbst erzählt, dass er eigentlich hatte Filmkritiker werden wollen, bevor der Krieg seine Pläne durchkreuzte und er zur britischen Armee eingezogen wurde. Offenbar hatte er inzwischen seinen Dienst quittiert und war seiner zivilen Berufung gefolgt.

Warum hatte er sich niemals bei ihr gemeldet? Sich nie erkundigt, wie es ihr seit dem Autounfall ergangen war? Schließlich hatte er das Unglück verursacht. Oder sie. Oder sie beide. Es kam wahrscheinlich auf die Sichtweise an – und auf die Erinnerung. Lili fehlten bis heute ein paar Steinchen in dem Mosaik, das ihr eine Erklärung bieten könnte. Für den Unfall. Für sein Schweigen. Für all das, was ihr Leben grundlegend verändert hatte. Und sie konnte niemanden fragen, sich niemandem anvertrauen.

Die Tür klappte ein zweites Mal. Louis Rettler, der Regisseur, erschien im Schneideraum, und mit ihm zog eine dicke Rauchwolke herein. Er nickte Walter zu und zog sich den Stuhl heran, der an der Wand lehnte. »Können wir?«, fragte er knapp. Gesprächigkeit war noch nie seine wichtigste Eigenschaft gewesen, auch an Charme fehlte es ihm. Lili nahm an, dass ihn seine Sachlichkeit zu den Nachrichten geführt hatte – Filmregisseure bestachen in der Regel durch ihre Fantasie, Begeisterungsfähigkeit und durch leidenschaftliche Reden. Louis Rettler passte ganz sicher nicht in ein Atelier und dort hinter die Kamera. Bei dem Gedanken, wie unmöglich er sich in einem Studio mit seiner introvertierten Art ausnehmen würde, zuckten ihre Mundwinkel.

Als die Reportage über ihren Bildschirm lief, kehrten der kurz abgeflaute Druck in ihrem Magen und das rasche Pochen ihres Herzens zurück. Es war so stark, dass sie darüber ihre Kopfschmerzen vergaß. Ohne die Bilder vom Schöneberger Rathaus und vom Amerika-Haus wirklich wahrzunehmen, ohne die Männer zu beachten, die für die wichtige Entscheidung, Filmfestspiele in West-Berlin zu organisieren, verantwortlich waren, fieberte sie dem Moment entgegen, in dem sie John wiedersehen würde.

Vierundvierzig Sekunden erschienen ihr wie eine Ewigkeit. Und dann sah sie in sein Gesicht.

Ihre Hand flog an ihren Hals, ihr stockte der Atem.

Obwohl der Unfall auch bei ihm erhebliche Spuren hinterlassen haben musste, hatte er sich erstaunlich wenig verändert. Sein schmales, attraktives Gelehrtengesicht war reifer geworden, es wurde von einer Hornbrille betont, einer anderen als damals, aber das Modell war ähnlich, seine intelligenten Augen blickten ernst in die Kamera. Eine Strähne seines dichten dunklen Haares fiel ihm während des Sprechens in die Stirn und weckte in Lili die Erinnerung an eine Gelegenheit, als sie ihre Finger in seinem Haar vergrub. Im Gegensatz zu damals trug er einen Blazer, ein weißes Hemd und einen Schal um den Hals, als käme er gerade von einem Poloturnier oder einem Tennismatch. Lili hatte ihn nie anders als in seiner Uniform gesehen, doch er sah auch in Zivil blendend aus. Ein Filmkritiker, der durchaus das Zeug zu einem Filmstar besaß.

Da der Bildausschnitt nur sein Gesicht und seinen Oberkörper zeigte, blieben seine Hände verborgen. Der Ehering, der den Finger zieren konnte, war unsichtbar. Bestimmt war John aber seit Jahren verheiratet. Lili hatte lange nach dem Unfall erfahren, dass er bereits verlobt gewesen war, als sie sich in ihn verliebte – und er sich in sie. Für einen Augenblick hatten sie beide an die große Liebe geglaubt und eine ganz besondere Leidenschaft gelebt. Die Hoffnung auf eine gemeinsame Zukunft war zerstört worden, aber am Ende stand seine Verlobte – und ihr eigener Ehemann.

Lili knetete ihre Hände, als litte sie unter Rheuma. Der Trauring, den Albert Paal ihr verspätet als Zeichen der Hoffnung zur Gründung der Bundesrepublik Deutschland geschenkt hatte, lag in ihrer Handtasche. Zur Arbeit zog sie ihn ab, der schlichte Goldreif störte sie beim Hantieren am Schneidetisch. Vielleicht aber wollte sie ihren Mann auch ausschließen von einer Tätigkeit, die so gar nichts mit ihm zu tun hatte. Im Grunde ihres Herzens verband sie ihren Job noch immer mit der neunjährigen Lili Wartenberg. Einem kleinen Mädchen, das zum ersten Mal einen Tonfilm im damals neuen Kinosaal ihres Vaters sah und sich wünschte, selbst Filme machen zu dürfen. In ihrem Kopf hallte sogar noch seine Stimme, wenn sie daran dachte, wie er ihr den Beruf der Cutterin erklärt hatte.

Doch Robert Wartenberg war tot.

Albert Paal lebte.

Und John Fontaine war zurück in ihrem Leben.

2

»Was sind wir hier? Ein Bordell?«

Hilde sah ihren Mann vorwurfsvoll an. Sie hasste es, wenn Peter in seiner Gehässigkeit ausfällig wurde. Das passierte jedoch allzu oft – und seit der Abschaffung der Lebensmittelmarken vor einem Jahr immer öfter. Der neue freie Handel raubte ihm eine Einnahmequelle, seine heimlichen Schwarzmarktgeschäfte florierten zwar nach der Währungsreform nicht mehr ganz so gut wie davor, aber eben noch so gut, dass er – neben seiner eigentlichen Tätigkeit als Kinobetreiber – eine Menge Geld verdiente, die er dem jungen Staat an Steuergeldern entzog. Für ihn eine Frage der Ehre, wie er behauptete, und auch der Zukunftssicherung, da er die Aussichten der Bundesrepublik Deutschland auf Beständigkeit als nicht sonderlich gut einschätzte. Als Beweis führte er immer die hohe Zahl der Auswanderer an, die sich vor allem aus Flüchtlingen, Vertriebenen und hoffnungslosen Kriegsheimkehrern zusammensetzte. Diese Menschen gingen lieber nach Übersee, als in einem Land zu bleiben, das noch immer zu den ärmsten Ländern der Welt gehörte. Zudem hielt er Bundeskanzler Konrad Adenauer für nichts anderes als einen alten Drückeberger, der kein Potenzial in den Ideen Hitlers erkannt und statt im Krieg zu kämpfen in einem Kloster überlebt hatte. Er hielt ihn also für einen Schlappschwanz. Peter war so schlau, seine Ansichten nicht öffentlich hinauszuposaunen, schließlich war er nur durch gewisse Spitzfindigkeiten durch das Entnazifizierungsverfahren der Briten gekommen. Doch nach über zwanzig Jahren Ehe kannte Hilde ihn gut genug, um seine Gedanken lesen zu können – und häufig gab sie ihm sogar recht. Heute Morgen ging er mit seiner Wortwahl aber eindeutig zu weit.

Sie presste die Lippen aufeinander, um eine scharfe Antwort zu unterdrücken, und stellte das mit Bohnenkaffee, frischen Brötchen und allerlei Köstlichkeiten aus der nächstgelegenen Fleischerei beladene Frühstückstablett, mit dem sie das Zimmer betreten hatte, kommentarlos auf den kleinen Tisch in ihrem Schlafzimmer. Dann wandte sie sich dem Fenster zu, hinter dem ein trostloser Winterhimmel einen weiteren grauen, regnerischen Tag ankündigte. Typisches Schietwetter, das nicht dazu geeignet war, sie von ihrer schlechten Laune abzulenken.

»Deinen Herrn Schwager habe ich gerade erst nach Hause kommen hören, und wo sich deine Schwester herumtreibt …«

»Halbschwester!«, korrigierte Hilde automatisch, ohne sich nach ihrem Mann umzudrehen.

Peter hielt verblüfft inne. Er war es nicht gewohnt, in seinen Tiraden unterbrochen zu werden.

»Meinetwegen«, räumte er schließlich ein. Er blieb auf der Kante seines Betts sitzen, anstatt am Frühstückstisch Platz zu nehmen. Noch vor Kriegsende hatte er sich ausbedungen, seine erste Tasse Kaffee und sein reichlich belegtes Brötchen nicht im Esszimmer oder gar in der Küche zu sich zu nehmen, da er wenigstens bei dieser Mahlzeit der Gesellschaft der unerwünschten und vom Wohnungsamt zugeteilten Untermieter entgehen wollte. Anfangs waren dies seine ausgebombten Schwiegereltern gewesen, heute musste er mit der Aufdringlichkeit des Ehepaars Paal zurechtkommen. Damals hatte er seine – ungeachtet der Hungersnot – üppigen Rationen nicht mit den anderen Familienmitgliedern teilen wollen und deshalb heimlich gegessen, inzwischen war so etwas wie Gewohnheit daraus geworden, wobei sich seine Großzügigkeit natürlich noch immer in Grenzen hielt.

»Die Ehe deiner Halbschwester«, er betonte das Wort überdeutlich, »ist ein Skandal. Für Gesa ist diese Verbindung kein Vorbild. Ich möchte, dass meine Tochter eine gute Hausfrau und Mutter wird und keine Herumtreiberin wie deine Schw…, Halbschwester.«

Endlich wandte sich Hilde zu ihrem Gatten um. »Lili treibt sich nicht herum, Peter, sie arbeitet.«

»Was ist der Unterschied?«

»Sie ist beschäftigt und verdient gutes Geld.«

»Kann ihr Mann sie nicht ernähren?«, polterte Peter prompt und gab sich die Antwort gleich selbst: »Seine Kapelle soll doch ziemlich gut im Geschäft sein. Jazz ist zwar nicht mein Geschmack, aber es ist schon wichtig, dass hier nicht nur die Ausländer abkassieren, sondern auch deutsche Musiker Engagements finden. Umso mehr wundert mich, dass Albert seine Frau arbeiten gehen lässt. Abgesehen von ihrer Vorbildfunktion wirft ihre Tätigkeit ein schlechtes Licht auf uns als ihre Familie. Ich finde, das muss aufhören.« Wie um seinen Worten Nachdruck zu verleihen, sprang er auf.

Ohne darüber nachzudenken, schnappte sich Hilde wie selbstverständlich den seidenen Morgenmantel, den Peter gestern Abend über den Herrendiener geworfen hatte, und half ihm hinein.

»Heutzutage arbeiten viele Frauen«, hörte sie sich sagen und wunderte sich über die plötzlich milde Stimmung, die sie hinsichtlich ihrer Halbschwester erfasste. Das war nicht immer so. Sie hatten dieselbe Mutter, doch Lili stammte aus Sophies zweiter Ehe – einer Ehe, die Hilde trotz Robert Wartenbergs Bemühungen, auch ihr ein guter Vater zu sein, niemals anerkannt hatte. Dass ihr eigener Vater kein Teil ihres Lebens war, spielte dabei für Hilde keine Rolle. Sein Fehlen schuf sogar Raum für Fantasie und einen höheren Anspruch an die Zuwendung der Mutter. Hilde war zehn Jahre älter als Lili und hatte dem kleinen Mädchen die Kindheit verdorben, aber was machte das schon? Jeder musste mit dem zurechtkommen, was ihm zufiel. Den Ruf der Familie Westphal hatte Lili jedoch nie beschädigt, das musste Hilde ihr zugestehen. Außerdem hatte ihre Halbschwester manchmal einen ganz guten Einfluss auf die aufmüpfige Gesa. Und irgendwie schwang in Peters Kritik ein Vorwurf mit, den Hilde nicht auf sich sitzen lassen wollte. »Lili geht einem anständigen Beruf nach«, fügte sie deshalb hinzu. »Das möchte ich doch betonen. Andernfalls würde ich ihren Kontakt zu Gesa sofort unterbinden.«

»Es wird Zeit, dass sie und Albert Nachwuchs bekommen«, behauptete Peter, während er sich setzte und darauf wartete, dass Hilde ihm den Kaffee aus der neuen Thermoskanne einschenkte. »Mit einem Kind dürfte sie genug Beschäftigung haben. Ich wundere mich sowieso, warum es bei den beiden nicht klappt. Aber wenn sich beide die Nächte um die Ohren schlagen, ist es wohl nicht so weit her mit den ehelichen Pflichten. Wie lange ist Albert aus der Gefangenschaft zurück?« Er wartete nicht darauf, dass Hilde es ihm sagte, sondern fuhr fort: »Vier Jahre, oder? Wenn er sie ordentlich rannehmen würde, hätte sie in dieser Zeit mindestens drei Kinder bekommen können.«

Hilde erinnerte ihn nicht daran, dass sie beide trotz ihrer langen Ehe nur eine Tochter hatten. Sie wies ihn auch nicht darauf hin, dass Lilis schwere Verletzungen bei dem Autounfall einen Kinderwunsch fast unmöglich machten. Stattdessen sagte sie: »Sei froh, dass Lili und Albert kinderlos geblieben sind. Du würdest die beiden in unserer Wohnung mit einer Schar schreiender Bälger noch schwerer ertragen.«

Er nickte. »Gut, dass du es sagst. Sehr gut. Ich wollte ohnehin mit dir über unsere Wohnsituation reden. Komm, setz dich hin und steh nicht am Fenster. Da draußen gibt es nichts zu sehen, was dich interessieren dürfte.«

»Ja, Peter«, zwitscherte Hilde und tat, wie ihr geheißen.

»Du solltest dich um das Grundstück kümmern, auf dem dein Elternhaus stand …«

»Das Haus von Robert Wartenberg«, korrigierte Hilde ebenso automatisch wie den Hinweis auf ihre Schwester, die sie stets nur als Halbschwester bezeichnete.

»Unterbrich mich nicht dauernd!« Peter setzte seine Kaffeetasse so fest auf, dass der Unterteller klirrte. »Kannst du nicht einmal in Ruhe zuhören?«

»Ja, Peter«, wiederholte sie. Diesmal klang ihre Stimme entnervt. Hin und wieder erlaubte sie sich diese Nuancen in ihrem Tonfall. In den zwanzig gemeinsamen Jahren hatten sich nicht nur die äußeren Umstände verändert, sondern auch die Art ihrer Unterwürfigkeit.

Stumm maß er sie.

Was sieht er?, fragte sich Hilde. Eine einst schmale, inzwischen zu Fülligkeit neigende Frau, die ihre besten Jahre hinter sich hatte? Wahrscheinlich war es Peter sogar recht, dass selbst ihre neue Garderobe ein wenig um die Taille spannte. Auf diese Weise sahen schließlich alle Leute, mit denen sie Kontakt pflegten, dass es bei Westphals mehr als genug und auf jeden Fall mehr als anderswo zu essen gab. Der Ernährer sorgte eben ganz hervorragend für seine Familie. Allerdings sollte sie Peter erklären, dass sie dringend einen Zuschuss zum Haushaltsgeld brauchte, um einen Friseurtermin zu vereinbaren. Obwohl sie gerade erst vierzig Jahre alt war, konnte sie die grauen Strähnen nicht mehr durch eine geschickte Frisur kaschieren, sondern benötigte ein Färbemittel. Unwillkürlich flog ihre Hand an ihren Kopf. Damit unterbrach sie den stummen Blick.

Peter sah von ihr fort auf seinen Frühstücksteller, begann, das von ihr in der Küche aufgeschnittene Brötchen reichlich mit Butter zu bestreichen. Nach einer Weile hob er an: »Es ist vollkommen gleichgültig, ob das Grundstück Robert Wartenberg gehörte. Dein Elternhaus stand darauf, Hilde, deines. Du hast ein Anrecht darauf, weil es deiner Mutter gehörte. Es ist auch dein Erbe, keinesfalls nur das von Lili.«

»Ich habe mich nie dafür interessiert. Und du bislang auch nicht. Hattest du mir nicht schon vor Jahren erklärt, dass es ein Bombengrundstück ist, das nur Kosten verursacht? Die Enttrümmerung kostet Geld, weil kostenlose Arbeitskräfte aus den Lagern dafür nicht mehr rekrutiert …«

»Was redest du da für einen Unsinn!«, herrschte er sie unerwartet scharf an. »Die Kosten spielen doch keine Rolle, wenn es darum geht, dein Elternhaus wieder aufzubauen.« Sein Gesichtsausdruck verwandelte sich von unverhohlenem Ärger in Listigkeit. »Es gibt einen enormen Bedarf an Wohnraum. Ein eigenes Grundstück ist jetzt Gold wert.«

Hilde riss die Augen auf. Natürlich hatte auch sie beobachtet, dass in der Stadt an allen Ecken in unfassbar kurzer Zeit neu gebaut wurde, moderne Mehrfamilienhäuser wurden relativ schnell hochgezogen, Bauzäune und Gerüste zeugten von der Rettung einiger zerstörter alter Gebäude. Es fehlten in der Hansestadt Hunderttausende Wohnungen, das hatte sie in der Zeitung gelesen, aber sie hatte diese Missstände nie mit ihrem eigenen Leben verbunden. Schließlich wohnten sie in einer geräumigen Altbauwohnung, die ohne große Schäden den Krieg überstanden hatte. Irgendwann würde die Zwangswohnraumbewirtschaftung ein Ende haben, würden Lili und Albert ausziehen, und dann hätten sie ihr Zuhause endlich wieder für sich. Mehr wollte sie eigentlich nicht, obwohl sie nur in einer Mietwohnung lebten. An das verlassene Grundstück am Uhlenhorst hatte sie nie gedacht, es gehörte irgendwie nicht einmal zu ihrem Leben.

»Robert Wartenbergs Villengrundstück ist auch dein Erbe«, stellte Peter sachlich klar. »Es gehört nicht nur deiner Halbschwester, sondern euch beiden zu gleichen Teilen. Da sich Lili nicht darum kümmert und ihr Ehemann ebenso wenig, werden wir es ab sofort tun. Oder besser: Ich werde es tun, da ein Ehemann natürlich über das Vermögen seiner Frau bestimmt. Noch mal, Hilde: Es geht um dein Elternhaus. Haben wir uns verstanden?«

Nein, sie verstand gar nichts. »Aber Lili …«, hob sie an.

»Wenn ich Lili eine Rechnung über die Kosten für die Enttrümmerung und einen Wiederaufbau vorlege, wird sie dir ihren Anteil ohne Wenn und Aber überschreiben. Oder Albert wird es tun. Den kann man leicht überreden. Das habe ich ja schon mit dem Kino bewiesen. Mach dir darüber keinen Kopf, und lass das meine Sorge sein. Es ist ein wasserdichtes Geschäft.«

Staunend nickte Hilde. Ihre milde Stimmung war verflogen. Hilde war überzeugt davon, dass Lili die Aufmerksamkeit und Liebe ihrer gemeinsamen Mutter halbiert hatte. Deshalb mochte sie sie nicht. Gerade bei der Eröffnung war es ihr seinerzeit vorgekommen, als wäre das Kino am Jungfernstieg eine Sache zwischen ihrer Mutter, ihrem Stiefvater und ihrer Halbschwester, bei der sie außen vor war. Daher war es ihr Bestreben gewesen, dass Lili eines Tages nichts mehr im Filmtheater ihres Vaters zu sagen hatte. Als die Jüngere nach dem Unfall mit verlorenem Gedächtnis im Krankenhaus lag und Albert Paal heimkehrte, ersann Peter mit der Hilfe seines ahnungslosen Schwagers ein Komplott, das nach Sophies Tod problemlos umzusetzen war. Ein i-Tüpfelchen hatte Peter dem Ganzen aufgesetzt, als er im Ballsaal des Hotels Esplanade einen richtigen Filmpalast einrichtete, in dem Hilde als Frau Direktor das Sagen hatte.

Dass Lili nun auch noch ihren Anteil an dem in bester Lage befindlichen Grundstück in wirtschaftlicher Blindheit aufgeben könnte, war mehr, als Hilde je erwartet hatte, um für sich Gerechtigkeit zu erlangen. Wie klug Peter war …!

3

Ob John sie bei einer zufälligen Begegnung wiedererkennen würde?

Diese stille Frage stellte sich Lili nun schon zum x-ten Mal, als sie im Toilettenraum der Redaktion stand und sich in dem kleinen Spiegel über dem Handwaschbecken betrachtete. Sie fühlte sich wie gelähmt. Konzentration und Übermüdung forderten ihren Tribut, aber auch das Wiedersehen setzte ihr unverändert zu.

Unter ihren tiefblauen Augen bildeten sich dunkle Schatten, das Make-up von gestern war längst verschmiert oder hatte sich in Luft aufgelöst. Ihr akkurat halblang geschnittenes honigblondes Haar legte sich in der Dauerwelle unnatürlich und wie ein Panzer um ihr abgespanntes schmales Gesicht, ihr Mund wirkte darin doppelt so groß wie sonst.

Sie streckte sich die Zunge heraus, aber das verbesserte ihr Aussehen nicht. Im Gegenteil: Ihr Spiegelbild grinste ihr nicht in fröhlicher Albernheit entgegen, sondern eher wie ein bemitleidenswerter trauriger Clown. Mit ein paar Tropfen kaltem Wasser wischte sie die Spuren der verlaufenen Wimperntusche von ihren Lidern, aber viel half das nicht. Also starrte sie sich an und überlegte, was John wohl zu ihrer seit damals trotz allem verbesserten Optik sagen würde.

Etliche Male hatte sie sich das Interview mit ihm angesehen und angehört. Der Klang seiner tiefen Stimme hatte seine vertrauten Züge erst wirklich zum Leben erweckt. Es war, als wäre ein Teil ihrer Vergangenheit zurückkehrt – machtvoll und fordernd. Denn mit John war all das wieder da, was vor dem Unfall für Lili von Bedeutung gewesen war: das Kino, der Nachlass ihres Vaters, die Geheimnisse ihrer Mutter, ihre eigene Berufung als Cutterin. Alles hing irgendwie zusammen. Inzwischen hatte sie dafür gesorgt, dass die Erinnerungen – oder das, was davon noch übrig war – ihre Gegenwart nicht störten. Aber nun war alles wieder so präsent wie damals, nachdem sie aus dem Krankenhaus in Reinbek entlassen worden war.

Ihr geschenktes Leben kam ihr wie eine zweite Geburt vor. Fast zwanghaft hatte sie daran gearbeitet, neu anzufangen, alles Vergangene hinter sich zu lassen. Sie war zufrieden gewesen mit dem, was sie noch hatte. Andere Menschen hatten viel mehr verloren als sie. Sie hatte ihr Leben retten können, mit ihrem gesund aus französischer Kriegsgefangenschaft heimgekehrten Ehemann die Zukunft planen dürfen. Über kurz oder lang erwies sich die neue Zeitrechnung für Albert jedoch als vorteilhafter als für sie. Er schien die Erlebnisse leichter abzuschütteln, stürzte sich in seine Engagements und in den Umbau des Kinos am Jungfernstieg in ein Musiklokal. Lili tat so, als ginge sie das alles nichts mehr an. In den Momenten des Zweifelns ermahnte sie sich, wie gut es ihr ging, und dass sie sich glücklich schätzen konnte, überlebt zu haben. Doch auf ihr lastete ein Schatten, den sie in den vergangenen vier Jahren nie hatte abschütteln können. War die Zufallsbegegnung via Zelluloid ein Zeichen, dass sie sich endlich mit ihrer Vergangenheit auseinandersetzen sollte? Dass sie die Bruchstücke, die sie in ihrem Hirn verloren glaubte, wieder aufnehmen und zusammensetzen musste wie die Bauarbeiter ein von Bomben zerstörtes Haus? Angesichts der Reportage, die sie vorhin geschnitten hatte, schien es fast, als wollte es das Schicksal so.

Sie hielt ihre Handgelenke unter den kalten Strahl, der aus dem Wasserhahn floss, und hoffte, dass die klaren Tropfen auch ihr Hirn erreichten. Es fehlten so viele Antworten.

Im Moment würde ihr freilich genügen, wenn ihr Kreislauf wieder entsprechend auf Touren käme, dass sie die Kraft aufbrachte, nach Hause zu gehen. Schließlich konnte sie nicht den ganzen Morgen in diesem Waschraum mit ihrer Grübelei verbringen. Nach ein paar Stunden Schlaf würde sie über alles nachdenken. Dann gelang es ihr sicher besser, sich mit den Gegebenheiten auseinanderzusetzen. Sie musste sich auf den Weg zu der Wohnung in der Rothenbaumchaussee machen, in der sie und Albert das Zimmer bewohnten, in dem ihre Mutter gestorben war.

Sie sollte losgehen. Jetzt. Sofort.

Bestimmt machte sich irgendwer in ihrer Wohngemeinschaft Sorgen. Hilde und deren Mann Peter Westphal wohl weniger, aber womöglich hatte ihre Nichte Gesa festgestellt, dass sie nicht heimgekommen war, und Albert bemerkte natürlich, dass die Bettseite neben ihm unberührt blieb. Zwar wussten alle, dass Lili häufig sehr lange arbeitete, aber so spät – oder früh – wie heute wurde es selten.

Ja, es wurde Zeit, dass sie sich aufraffte. Letztlich wollte sie den jungen Frauen von der Frühschicht nicht begegnen. Deren perfektes Äußeres und die ungetrübte Lebensfreude der Jüngeren würden sie nach der Betrachtung ihres eigenen Spiegelbilds und dem Ansturm ihrer Gefühle nur noch mehr deprimieren.

Endlich drehte sie den Hahn zu.

Aus dem Schlafzimmer drang Peter Westphals Stimme auf den Flur, doch Lili konnte nicht verstehen, was hinter der geschlossenen Tür gesprochen wurde. Es interessierte sie auch nicht, welche halbseidenen Ideen ihr Schwager ausbrütete. Als sie vorbeischlich, dachte sie, dass er vielleicht einmal ein ganz vernünftiger Kerl gewesen war, der mit der Zeit zu einem skrupellosen Gesellen wurde. Hilde hatte einen ehrgeizigen jungen Mann geheiratet, der jedoch auf die Schnelle mit legalen Mitteln damals nicht nach oben gelangen konnte. Nach der Wirtschaftskrise war eine steile Karriere selbst für einen strebsamen Hotelangestellten nicht so einfach gewesen. Das war Lili erst später bewusst geworden: Ohne die Unterstützung durch die Partei hätte er wohl nicht so rasch zum Alleinherrscher in einem der elegantesten Hotels Hamburgs werden können.

Vor allem die NSDAP machte es möglich, dass Hilde an der Seite ihres Gatten Prominente aus Politik, Sport und Kultur empfing und ihre Mutter zu der einen oder anderen Veranstaltung bei dem Hamburger Gauleiter Karl Kaufmann mitnahm. Sophie hatte diese Art von Prominenz genossen – und sich damit sowohl von Lili als auch deren Vater immer weiter entfernt. Aber diese Verbindungen hatte Peter bei seiner Entnazifizierung wohl verschwiegen – oder den Engländern so verkauft, dass es eher nach Zwang aussah. Er schaffte es, aus jeder Situation das Beste für sich zu machen. Das hatte Lili durch die Auflösung des Kinos, an dem ihr Herz hing, schmerzlich erfahren. Die hochwertige Technik, die einst von Robert Wartenberg erworben und ständig erneuert worden war, hatte Peter genutzt, um einen eigenen Filmpalast zu eröffnen, in dem Hilde nun bei den Premieren Hof hielt. Wie die bösen Gegenspieler in einer Leinwandklamotte, fuhr es Lili verbittert durch den Kopf. Dass sie ihr das Kino genommen hatten, würde sie Peter und Hilde nie vergessen – und es belastete ihre Ehe mit Albert mehr als die Tatsache, dass sie ihren Mann nicht liebte. Wobei er an dem einen eigentlich ebenso wenig schuld war wie an dem anderen.

Vorsichtig öffnete sie die Tür zu ihrem Zimmer. Leises Schnarchen empfing sie. Es roch nach Alkohol, Schweiß und Rauch. Offenbar war Albert betrunken nach Hause gekommen und hatte sich, ohne zu lüften, auf das Bett geworfen.

Er war ein netter Kerl, sogar ein wirklich angenehmer Mann, aber oftmals wünschte sich Lili einen etwas rücksichtsvolleren Partner. Je besser er beschäftigt war, desto mehr lebte Albert Paal wie ein Junggeselle, er geriet zunehmend außer Rand und Band. Dabei schien er zu vergessen, dass er nicht mehr der junge Swingmusiker von einst war, der nun endlich auf keine Zwänge mehr Rücksicht nehmen musste. Ihr kam es vor, als wüsste er manchmal nicht, dass es auch andere Gründe gab, die eigene Freiheit nicht ungehindert auszuleben, als staatliche Verbote. Sie machte ihm keine Vorwürfe deswegen. Sie verstand, wie großartig es für ihn war, keine Angst mehr vor Willkür, Gestapo-Verhören und Lagerhaft haben zu müssen. Er war spät eingezogen worden und dann in Frankreich ziemlich schnell in Gefangenschaft geraten, was ihm wahrscheinlich das Leben gerettet hatte. Der berühmte Leiter der Tanzkapelle Heinz Wehner etwa war von der Truppenbetreuung in Polen niemals zurückgekommen, ein Jazzgeiger war bei Kriegsende in Prag von einem wütenden Mob umgebracht worden. Musiker, die sich allein durch die Liebe zum Swing zu Gegnern der Nazis gemacht hatten. Das einte auch Lili und Albert. Er hatte zu ihrer Clique gehört, und sie heiratete ihn am Tag vor seiner Einberufung, weil er keine Familie besaß, die ihm im Feld ein Trost hätte sein können, und sie ihm eine Art Rückhalt in der Heimat sein wollte. Wenn sie es recht bedachte, hatte sie damals nicht an die Zukunft gedacht und daran, was es bedeutete, in Friedenszeiten ein Paar zu sein. Nun ja, von den neun Jahren ihrer Ehe lebten sie seit nicht einmal vier Jahren zusammen, und die erste Zeit war stark geprägt gewesen von den körperlichen und seelischen Folgen ihres Unfalls.

Während sie in sein schlafendes Gesicht mit den langen Wimpern blickte, die verwuschelten sandfarbenen Haare ansah, fragte sie sich plötzlich, wo John Fontaine wohl diese Nacht verbrachte. Lebte er ständig in West-Berlin? In wessen Armen würde er dort aufwachen? War seine Frau auf der Insel geblieben, oder hatte sie ihn nach Deutschland begleitet? Lili hatte den Namen seiner Verlobten nie erfahren, aber sie glaubte sicher, dass die Frau Engländerin war. Er hatte sich so bemüht, von seiner deutsch-jüdischen Herkunft in die Rolle eines echten Briten zu schlüpfen, dass er garantiert mit einer Londonerin zusammen war. Obwohl er deutsche Literatur im Original las, zweifelte Lili anfangs nicht an seiner angelsächsischen Abstammung. Schließlich hatte er sogar ein Studium in Oxford vorzuweisen.

Ein Lächeln umspielte Lilis Lippen. Für einen Moment fühlte sie sich John näher als vorhin am Schneidetisch, als sie in sein Gesicht geblickt und seine Stimme gehört hatte. Die auf Zelluloid wahrgenommene Realität verschwamm mit ihren Erinnerungen. Diesmal wurden sie nicht begleitet von der Angst, die sie gespürt hatte beim Anblick des entgegenkommenden Wagens. Da waren nicht die dunklen Schatten, die ihr Gedächtnis zerstört hatten. Zum ersten Mal seit Langem fühlte sie sich mit dem Gedanken an John eingehüllt wie in einen schützenden Kokon.

Alberts Schnauben unterbrach ihre Tagträume.

Sie bückte sich und klaubte seine Sachen auf, die er auf dem Weg zum Bett achtlos fallen gelassen hatte. Kopfschüttelnd registrierte sie einen Lippenstiftfleck auf dem Hemdkragen. Seine Verehrerinnen übertrieben es manchmal wirklich mit ihrer Begeisterung für seine Musik. Albert besaß nur drei gute weiße Hemden, er sollte besser darauf achten, weil sie ein Teil seiner Berufskleidung waren. Bei den Veranstaltungen, auf denen seine Band spielte, wurde auch von den Musikern eine akkurate Garderobe verlangt. Zwar gab es Hemden aus Baumwolle wieder zu kaufen, aber die waren zu teuer für die Anschaffung einer größeren Menge. Außerdem waren das natürlich nicht die modischen Varianten aus Polyester, die aus Amerika kamen und der letzte Schrei waren. Darauf sparte Albert; er wies Lili gern darauf hin, dass die Kunstfaser bügelfrei war, wenn sie ihm vorschlug, doch ein Baumwollhemd mehr zu erwerben, damit sie nicht in so kurzen Abständen waschen musste. Sie würde ihm sagen, dass er sich seine weiblichen Fans im wahrsten Sinn des Wortes etwas energischer vom Hals halten musste.

Mit einem Gähnen legte sie seine Kleidung auf den Sessel. Dann zog sie sich ebenfalls aus und streifte ihr Nachthemd über. Keine zehn Minuten später war sie zusammengerollt auf ihrer Seite des Betts eingeschlafen.

4

Das Hotel Esplanade hatte den Krieg ohne größere Schäden überstanden. Es war ein klassizistischer Prachtbau mit weißen Säulen an einer fünfstöckigen Fassade, hinter den großen Sprossenfenstern verbargen sich seit Anfang des Jahrhunderts elegante Gästezimmer und prunkvolle Gesellschaftsräume. Lange Zeit war Peter Westphal der Direktor des Hotels gewesen, bis die britischen Besatzer hier eine Entnazifizierungsstelle für die Bevölkerung untergebracht hatten. Als das Haus nach der Währungsreform wiedereröffnen durfte, verzichtete der alte Geschäftsführer zugunsten eines Neuanfangs auf seine Stellung. Peter behielt aber die Leitung des inzwischen im ehemaligen Ballsaal untergebrachten Filmpalasts als Pächter. Dem gesamten Betrieb blieb er als eine Art graue Eminenz erhalten, der hinter vorgehaltener Hand das Sagen hatte. Deshalb setzte er auch ohne großes Federlesen die Schaffung einer Lehrstelle für seine Tochter durch.

Obwohl ihr nichts so fern lag wie eine Ausbildung in einem Hotel, fügte sich Gesa. In einem Jahr, wenn sie volljährig würde, konnte sie sich endlich um die Aufnahme an einer Schauspielschule bewerben und die Leinwandkarriere starten, von der sie schon so lange träumte. Bis dahin hatte sie auch genug Geld gespart, um unabhängig zu sein. Jedenfalls war das ihr Plan. Ob sie ihn tatsächlich verwirklichen konnte, würde sich zeigen. Denn auch wenn sie volljährig war, brauchte sie als Frau für viele Entscheidungen die Zustimmung ihres Vaters – oder des Ehemannes. Aber da ihr Vater grundsätzlich am meisten Interesse an einer Sache zeigte, wenn die Finanzen stimmten, hoffte sie, ihn damit zu überzeugen, dass ihre wirtschaftlichen Mittel ausreichten, ohne dass er etwas zur Umsetzung ihrer Pläne beitragen musste.

Gedankenverloren strich sie über den dunkelblauen Faltenrock, den sie zu einer weißen Bluse und einem dunkelblauen eng anliegenden Mieder trug. Wenn sie an ihren bevorstehenden Ruhm als Filmstar dachte, geriet sie schnell ins Träumen. Das lenkte sie wenigstens von der üblen Blase am rechten Fuß ab. Sie hatte sich die Ferse in den neuen Pumps aufgeschürft. Die waren etwas zu knapp, aber schick, und in der Tauschbörse nur in dieser Größe zu haben. Schuhgeschäfte, wie Gesa sie aus ihrer Kindheit vor dem Krieg kannte, gab es noch keine, aber eine Freundin hatte ihr verraten, dass demnächst wieder richtige Läden öffnen würden, sodass der Mangel an Schuhen bald vorbei sein sollte. Wenigstens hatte Gesa von der Hausdame gelernt, auf jeder Absatzhöhe ordentlich zu laufen und bei zu hohen Stöckelschuhen nicht die Knie einzuknicken und dadurch zu staksen. Der neue Hoteldirektor legte Wert darauf, dass die weiblichen Angestellten eine gewisse Haltung an den Tag legten.

Das Klingeln des Telefons riss sie aus ihren Gedanken. Sie blickte sich um, doch der Empfangschef und auch der zweite Portier waren gerade anderweitig beschäftigt. Also hob sie den Hörer ab und meldete sich bemüht professionell: »Hotel Esplanade, guten Tag, Gesa Westphal am Apparat.«

»Roolfs-Film«, antwortete eine gehetzt wirkende Männerstimme am anderen Ende der Leitung. »Aufnahmeleitung, Klaus …« Er stockte, stutzte, zögerte. Nach einer kurzen Pause fragte er: »Gesa Westphal? Die Gesa Westphal?«

Obwohl der Anrufer sie nicht sehen konnte, war es ihr peinlich, mit ihrem Namen angesprochen zu werden, sodass sie errötete. Sie spürte die Hitze auf ihren Wangen, an ihrem Hals und auf ihrem Rücken. »Ich weiß nicht«, murmelte sie verlegen.

»Ich glaube, wir kennen uns«, behauptete der Mann, um in einem vertraulichen Tonfall fortzufahren: »Erinnerst du dich denn nicht mehr an mich? Ich bin’s, Klaus. Wir sind damals ein paar Mal spazieren gegangen. Es war in dem eisig kalten Winter, als Leon Caspari den ersten Nachkriegsfilm in Hamburg drehte und du die Dreharbeiten aufgemischt hast. Das waren ziemlich aufregende Zeiten, nicht wahr?«

Gesas Wangen wurden noch eine Spur röter. »Natürlich erinnere ich mich.« Ihr lag auf der Zunge, Klaus vorzuwerfen, dass er sich damals nicht mehr gemeldet hatte, einfach so. Aber sie hielt sich zurück, nicht nur, weil sie ihr Wiederhören nicht mit einem Vorwurf beginnen wollte. Letztlich hatten sie in jenen Tagen andere Sorgen umgetrieben.

Und natürlich waren Privatgespräche während der Arbeitszeit verboten. Aus den Augenwinkeln bemerkte Gesa, dass der zweite Portier, der im hinteren Büro irgendetwas suchte, sie bereits beobachtete. Sie schluckte und fragte: »Was kann ich für dich tun?«

»Hmmm … Ja … Ich bin jetzt Aufnahmeleiter bei der Roolfs-Film in Bendestorf. Hast du meinen Chef damals nicht auch kennengelernt? Ich glaube, Michael Roolfs war ein alter Bekannter deiner Tante Lili. Wie geht es ihr? Hat sie den schrecklichen Unfall gut überstanden?«

Er rief sicher nicht an, um sich nach Lili zu erkundigen. Er hatte ja nicht einmal gewusst, dass Gesa am Empfang des Hotels arbeitete. Insgeheim freute es Gesa, dass er sich, ohne nachzudenken, an das Drama seinerzeit erinnerte. Und darüber hinaus gab es einiges zu erzählen, in den vergangenen vier Jahren war viel passiert. Aber es waren der falsche Zeitpunkt und der falsche Ort, um Erinnerungen aufzufrischen.

»Es geht ihr gut«, erwiderte sie knapp. »Aber du rufst doch bestimmt nicht hier an, um nach Tante Lili zu fragen.«

»Nein. Natürlich nicht. Klar.« Er lachte leise. »Da soll ich ein paar Hotelzimmer reservieren und treffe auf eine alte Freundin – was sagt man dazu?«

Gesa schlug das dicke Reservierungsbuch auf. Ihre freie Hand zitterte dabei ein wenig, die Bezeichnung Freundin irritierte sie. Klaus konnte nicht wissen, dass er ihre erste heimliche Liebe gewesen war. Sie hatte es ihm nie gesagt, nicht einmal angedeutet – und würde es auch jetzt nicht tun. Tief durchatmend erkundigte sie sich in fast geschäftsmäßigem Ton: »Um wie viele Zimmer handelt es sich? Und für welchen Zeitraum?«

Seine Stimme klang wieder so gehetzt wie zuvor, wahrscheinlich war das sein Anstrich von Professionalität: »Wir brauchen die Zimmer den April und Mai hindurch und wohl noch Anfang Juni. Am besten, wir erhalten eine Option auf zwei Monate. Drei Räume für Thea von Middendorff …«

»Oh!«, entfuhr es Gesa. »Kommt sie endlich zurück nach Deutschland?«

»Diskretion, meine Liebe, Diskretion. Gib bitte noch nicht an die Presse, dass der größte Star der Ufa nach sieben Jahren Exil in der Schweiz endlich wieder einen Film in Deutschland dreht. Der Regisseur wird Leon Caspari sein, der auch ihren letzten Ufa-Streifen inszeniert hat, diese Geschichte, die in den Kriegswirren verloren ging. Das wird ein ziemliches Spektakel …«

»Fräulein Westphal«, der zweite Portier tauchte plötzlich neben ihr auf, »mit wem sprechen Sie denn da?«

Gesa legte die Hand über die Sprechmuschel, während Klaus von dem Drehbuch erzählte, das auf Thea von Middendorff zugeschnitten war und in den Ateliers in Bendestorf realisiert werden sollte.

»Da ist jemand von der Roolfs-Film«, flüsterte sie. »Der Herr möchte mehrere Gästezimmer für die Monate Mai und Juni buchen …«

»Auf jeden Fall ist das eine Reservierung, die ich besser vornehmen sollte«, unterbrach ihr Chef. Er streckte die Hand aus. »Bitte, Fräulein Westphal, ich warte!«

»Einen Moment«, sagte Gesa ins Telefon und fügte zögernd hinzu: »Ich übergebe das Gespräch an den zweiten Empfangschef.« Den bedauernden Seufzer konnte sie nicht unterdrücken.

Gesa übergab den Hörer nur ungern ihrem Vorgesetzten. Als wäre es nicht schon aufregend genug, wieder von Klaus zu hören, fand sie seine Informationen atemberaubend. Die in großem Stil arbeitende Filmindustrie, die nach dem Krieg in Hamburg Fuß gefasst hatte, war an sich schon erstaunlich, aber wenn eine Schauspielerin von dem Format einer Thea von Middendorff und ein preisgekrönter Regisseur wie Leon Caspari wieder in der Hansestadt drehten, hielt hier tatsächlich ein Hauch von Hollywood Einzug. Und dieses Hotel würde das Zuhause der Stars sein. Das waren feine Aussichten. Sie musste unbedingt Tante Lili davon erzählen, die hatte als Einzige in der Familie Verständnis für Gesas Träume, obwohl sie nichts tat, um Gesa darin zu unterstützen. Außerdem kannte sie Leon Caspari. Vielleicht, resümierte Gesa, war ihr Job am Empfang doch nützlicher für ihre Zukunftspläne, als sie bislang angenommen hatte.

5

»Ich habe eine ganze Zimmerflucht für die Roolfs-Film reserviert«, berichtete Gesa und senkte die Stimme, als gäbe es Lauscher in dem Zimmer, das Lili und Albert Paal bewohnten. »Es darf natürlich alles noch nicht an die große Glocke gehängt werden, aber stell dir vor: Thea von Middendorff und Leon Caspari kommen für eine Produktion nach Hamburg.«

Verwirrt blickte Lili von ihrer Hausarbeit auf. Sie stand über den kleinen Tisch in ihrem Zimmer gebeugt, über den sie eine Decke ausgebreitet hatte, sodass eine Art Bügelbrett entstand. Glücklicherweise war Hilde heute gnädig gestimmt und hatte Lili das Bügeleisen ausgeliehen, damit sie Alberts weiße Hemden bügeln konnte. Vor allem das mit dem Lippenstiftfleck hatte sie waschen müssen, während er im Pulli zu irgendwelchen Proben entschwunden war.

Die Namen Thea von Middendorff und Leon Caspari stießen Bruchstücke einer Erinnerung an, die Lili verschüttet geglaubt hatte. Nach dem Unfall hatte sie den Faden wiederaufzugreifen versucht, dann aber verlor sie ihn in ihrem Gehirn und legte die Fragen schließlich ab wie einen alten Ordner im Aktenschrank. Ihr war klar, dass zwischen diesen beiden Menschen und ihr eine geheimnisvolle Verbindung bestand. Sie wusste auch, dass sich im Wagen damals eine Dose mit den Materialien von Thea von Middendorffs letztem Streifen für die Ufa befunden haben musste. Aber der Film war verschwunden, und Lili hatte keine Ahnung, warum sie daran interessiert gewesen war. Ja, sie hatte nach Kriegsende in Berlin alte Negative aufgetrieben und zusammengesetzt, daran erinnerte sie sich sehr gut, aber darum ging es nicht nur, das war ihr bewusst. Es war wie eine Mauer, die sich vor ihren Gedanken auftürmte. Manchmal dachte sie, die Steine wären brüchig, doch dann erwiesen sie sich als so undurchlässig wie stets seit jenem verhängnisvollen Tag. Eigentlich hatte sie vor ihrer eigenen Unfähigkeit, sich zu erinnern, kapituliert, doch seit sie John Fontaine »wiedergesehen« hatte, fragte sie sich erneut, warum diese Sache so eine große Bedeutung für sie gehabt haben mochte. Dass die Protagonisten ihrer Gedächtnisstörung nun unvermittelt auftauchten, brachte sie vollends durcheinander.

»Pass auf! Pass auf!«

Eine Frau schrie. Doch diesmal klang es nicht nach ihrer Stimme.

Zuerst war da stinkender Rauch, dann der Geruch von versengtem Stoff. Schließlich die energischen Hände, die Lili zur Seite schoben und das Bügeleisen hochrissen.

»Meine Güte, Tante Lili«, rief Gesa aus, »ich finde ja auch, dass die Rückkehr der Middendorff ein Ding ist. Aber dass dich das so aus der Fassung bringt, habe ich nicht gedacht.«

»Ich auch nicht«, murmelte Lili geistesabwesend.

Die Gedanken stürmten auf sie ein. Unkontrollierbar. Völlig unverständlich. Zerstreut massierte sie sich mit den Fingerspitzen die Stirn, als könnte sie auf diese Weise Ordnung in die Gehirnströme dahinter bringen. Es war wichtig, dass sie die Zusammenhänge verstand. Aber wie sollte sie das Chaos sortieren? Wo anfangen? Sie hatte vieles von dem vergessen, was unmittelbar vor dem Unfall geschehen war. Sie wusste nur noch mit absoluter Sicherheit, dass sie John Fontaine geliebt hatte, dass seine Küsse wundervoll waren und sein Körper wie für ihren Körper geschaffen war. Ansonsten überwogen die Lücken in ihrem Gedächtnis – und die betrafen niemand Geringeren als einen der größten Filmstars der Nazizeit.

»Onkel Albert wird ein neues Hemd brauchen«, stellte Gesa neben Lili sachlich fest. »Dieses hier kann er nicht mehr anziehen.«

Lili starrte auf das Hemd, dessen Vorderseite nun der schwarzbraune Abdruck des Bügeleisens wie der einer spitz zulaufenden Schuhsohle zierte. Sie hatte es tatsächlich ruiniert. Vielleicht taugten die Rückseite und die Ärmel noch zum Umarbeiten, aber Lili konnte nicht gut mit Nadel und Faden umgehen, sodass sie den Stoff wahrscheinlich zu Putzlappen zerreißen würde. Albert würde entsetzt sein. Und eigentlich war sie es auch.

»Sei so gut und zieh den Stecker aus der Dose, bevor es einen Kurzschluss gibt«, bat sie ihre Nichte. Wahrscheinlich war es für diese Maßnahme zu spät, aber sicher war sicher. Hilde würde ihr das Bügeleisen nicht mehr überlassen, wenn sie erfuhr, dass Lili damit einen Schaden angerichtet hatte. Überdies hatte sie keine Lust weiterzubügeln.

Seufzend sank sie auf den Stuhl, den sie vorhin von dem Tisch fortgeschoben hatte, um sich Platz zu verschaffen. »Ach, Gesa, wenn ich nur wüsste …«, hob sie an, biss sich aber auf die Unterlippe, weil sie nicht zugeben wollte, wie stark ihr die Amnesie zusetzte. Sie hatte mit ihrer Familie niemals über ihre Gedächtnislücken gesprochen – und es hatte auch niemand danach gefragt.

»Freut es dich denn nicht, dass du Leon Caspari wiedersehen wirst?«

»Wie bitte?«

»Du kanntest ihn doch ganz gut.« Gesa richtete sich von der Steckdose auf, schwang das Kabel des elektrischen Bügeleisens wie ein Lasso, mit dem sie Lilis Erinnerungen einfangen wollte. »Jedenfalls hatte ich auf dem Weihnachtsmarkt damals diesen Eindruck.«

»W…«, das Wort blieb Lili im Halse stecken. In ihrem Kopf lichtete sich der Nebel etwas. Vor ihr geistiges Auge trat ein gutaussehender, leicht nervöser Mann. Oder war das eines der Bilder, die sie in der Wochenschau oder einer Zeitung gesehen hatte? Vermischten sich hier Erinnerungen und Informationen? Leon Caspari hatte in den vergangenen Jahren für viel Aufsehen gesorgt, seine Filme wurden mit internationalen Preisen überhäuft, aber Lili hatte die Nachrichten darüber ebenso ad acta gelegt wie alles andere, was die Filmindustrie betraf. Es war eben vorbei, warum sollte sie sich darüber Gedanken machen? Wenn sie es jetzt recht bedachte, hatte sie bislang aber als selbstverständlich angenommen, dass sie Caspari irgendwo begegnet war. Vielleicht damals bei der Ufa. Vielleicht auch später. Er hatte seinen ersten Nachkriegsfilm in Hamburg gedreht, möglicherweise hatte sie ihn getroffen, nachdem sie aus Berlin zurückgekommen war. Doch es war ihr nie wichtig erschienen, diesen Fragen nachzugehen. Plötzlich tauchten Bilder in ihrem Innersten auf, die sie mit Leon Caspari verband: das Kino ihres Vaters, ein Glühweinstand auf der Moorweide, ein altes Hausboot – und John Fontaine. Immer wieder John.

»Geht es dir nicht gut, Tante Lili?«

Der besorgte Ton holte Lili zurück in die Gegenwart. Sie sah sich im Zimmer um und wunderte sich für einen Moment, dass ihre kranke Mutter nicht in dem Doppelbett lag, das den Raum beherrschte. Zu ihrer größten Überraschung fiel ihr plötzlich ein, dass zwischen Sophie Wartenberg und Leon Caspari eine Verbindung bestand. Sie hatte nie erfahren, worum es sich dabei handelte, aber es war sicher, dass ihre Mutter und der Regisseur sich gekannt hatten. Lili hatte es vergessen, und wahrscheinlich war es auch nicht wichtig, ebenso wenig wie ihre eigene Beziehung zu Caspari. Damals hatte sie einige Regisseure gekannt. Durch ihre Arbeit natürlich oder – ganz simpel – aus der Kantine in Babelsberg. Man kannte sich, wenn auch nur vom Sehen und von einem knappen Gruß. Ihre Mutter war die Besitzerin eines Lichtspielhauses gewesen, die kannte natürlich auch viele Leute vom Film. Doch Lili wusste, dass diese Erkenntnis eine Fehleinschätzung war. Sie wusste es ganz genau – und wusste gleichzeitig, dass zu vergessen besser wäre.

Sie sah zu Gesa auf. Ihre Nichte stand vor ihr, die Augen weit vor Sorge. Ganz sicher liebte Lili niemanden so sehr wie diese junge Frau. Nicht einmal Albert. Oder ganz sicher nicht Albert. Ihre Ehe war auf Freundschaft gegründet, nicht auf Liebe.

Fröhlicher, als ihr zumute war, behauptete Lili: »Mein Kreislauf macht mir zu schaffen. Ich habe in der letzten Zeit zu viel gearbeitet und zu wenig geschlafen. Hast du Lust auf einen Kaffee? Ich müsste noch einen Rest Bohnenkaffee haben.« Sie stand auf und griff nach dem Hemd, das sie achtlos zusammenknüllte.

»Ich dachte ja nur, du könntest ein gutes Wort für mich bei Herrn Caspari einlegen«, insistierte Gesa. »Unsere Begegnungen damals waren nicht so erfreulich, auch wenn Captain Fontaine auf dem Weihnachtsmarkt zu vermitteln versuchte.«

»So? Hat er das?«, entfuhr es Lili.

Verdammt! Warum erinnerte sie sich nicht?

»Weißt du das nicht mehr?«, fragte Gesa prompt.

»Doch, doch.«

Lili drehte Gesa den Rücken zu, um das Hemd in den Schrank zu werfen. Natürlich war ihr bewusst, dass ihre Nichte schon immer Schauspielerin sein wollte. Als Kind hatte sie für Shirley Temple geschwärmt, später für Thea von Middendorff, und inzwischen verehrte sie Hildegard Knef. Die Filmkarriere war für Gesa fast wie eine Obsession. Lili hätte sie gern unterstützt, doch da sie selbst kein Interesse mehr am Film und dadurch auch keine Kontakte mehr besaß, konnte sie ihr keine Türen öffnen. Im Übrigen teilte sie die Auffassung ihres Schwagers, dass eine ordentliche Ausbildung nicht schadete. Inzwischen gab es fast so viele junge Frauen wie in der Vorkriegszeit, die über Jobs als Tänzerin in der letzten Reihe, Chormädchen oder Komparsin nach oben wollten, manche versuchten als Mannequin, auf sich aufmerksam zu machen, oder seit vorigem Jahr durch die Bewerbung bei der Wahl zur Miss Germany. Ein eigener Revuefilm war über die Hoffnung der Aspirantinnen und deren kriminelle Ausnutzung gedreht worden, und Lili fand, dass allein der Titel Die Dritte von rechtsziemlich viel über die Aussichtslosigkeit der Elevinnen aussagte. Gesa hatte noch Zeit, eine davon zu werden.

Sie wandte sich mit einem verschlossenen Gesichtsausdruck um. »Du solltest nicht so viel Aufsehen um die Reservierung der Roolfs-Film machen, sonst bekommst du noch Ärger mit deinem Chef. Warte einfach mal ab, wie sich der Aufenthalt der hohen Gäste entwickelt. Allerdings weiß ich wirklich nicht, wozu es gut sein sollte, Leon Caspari wiederzusehen.«

»Für meine Karriere«, erwiderte Gesa prompt.

Lili legte den Arm um die Schultern ihrer Nichte. »Mach dir keine Hoffnungen. Sicher weiß er nicht einmal mehr, wer ich bin.« Als sie den Schatten über Gesas Augen ziehen sah, zog sie sie näher zu sich heran und drückte ihr einen Kuss auf die Wange. »Es wird alles gut«, hörte sich Lili sagen. Dabei glaubte sie selbst nicht daran.

Locarno-Muralto

1

Thea von Middendorff schob die Sonnenbrille hoch in ihr blondiertes Haar. Sie trug die dunklen Gläser trotz eines wolkenverhangenen Himmels und hatte sie auch aufbehalten, als sie das Grand Hotel betrat und sich in der Ecke der Halle auf einem der mit königsblauem Samt bezogenen Sessel niederließ.

»Du hast dir viel Zeit gelassen, dich bei mir zu melden«, tadelte sie, senkte jedoch die Stimme um einige Oktaven und lächelte ihr Gegenüber charmant an. »Dabei habe ich gelesen, dass du hier seit Jahren Stammgast bei den Filmfestspielen bist.«

»Du hättest mich treffen können«, erwiderte Leon Caspari. »Ich habe mich nicht versteckt.«

»Liebling«, der spielerische Tadel verstärkte sich in ihrem Ton, »glaubst du wirklich, ich laufe einem Mann hinterher?«

»Gott sei Dank hast du es nicht getan. Sonst wäre ich nicht hier. Ich brauchte die Ruhe in all den Jahren, um mich von dir zu erholen.«

Sie setzte die Brille wieder auf ihre schmale, wohlgeformte Nase, weil sie nicht riskieren wollte, dass Caspari die in ihrem Blick aufflackernde Sehnsucht bemerkte. Glücklicherweise sah er nicht, wie stark ihr Herz klopfte. Nach sechseinhalb Jahren ohne jedes Engagement schien ihr Können als Schauspielerin nachgelassen zu haben. Sie ließ ihre persönlichen Gefühle zu, statt sich auf ihre Rolle zu konzentrieren. Schuld war daran sicher die Aufregung, die sie begleitete. Schließlich handelte es sich nicht um irgendein Gespräch mit irgendeinem Regisseur. Die Tatsache, dass sie endlich wieder arbeiten und nach Deutschland heimkehren durfte, gepaart damit, dass sie ihrem einstigen Geliebten gegenübersaß, setzte ihr mehr zu, als ihr lieb war.

Als Theresia Müller vor rund zwanzig Jahren den wesentlich älteren deutsch-schweizerischen Multimillionär Manfred von Middendorff, einen der wenigen Gewinner der Weltwirtschaftskrise, heiratete, ging es ihr vor allem um sein Geld, die Förderung ihrer Zukunftspläne und seinen klangvollen Namen. Liebe war nicht im Spiel, und die wachsende Eifersucht ihres Gatten trug nicht zu einer harmonischen Ehe bei. Allerdings machte sie als Thea von Middendorff die ganz große Karriere bei der Ufa, sie war sogar angeblich die Lieblingsschauspielerin von Propagandaminister Goebbels. Berühmt und protegiert, genoss sie Freiheiten wie etwa die ungenierte Wahl jugendlicher Liebhaber, ihre leidenschaftlichen Vorlieben mussten zwar geheim bleiben, aber sie konnte im Verborgenen einen lockeren Lebensstil führen.

Dann verliebte sie sich bei einer Zusammenarbeit in den damals jungen, wilden Leon Caspari. Für diese Liebe war sie bereit, alles aufzugeben. Oder fast alles. Jedenfalls mehr als die wertvolle Vase, die Leon in seinem Jähzorn in ihrer Villa zerbrochen hatte. Doch ihr Mann wollte nicht auf sie verzichten. Der Gehörnte drohte, sie umzubringen – oder den Nebenbuhler. Am Ende starb er selbst, während der Dreharbeiten und in den Kulissen. Ein dramatischer Abgang, den sie mit einer würdevollen Beerdigung krönte. Für die trauernde Witwe war jedoch plötzlich kein Platz mehr in Babelsberg – und auch