Die Villa am Meer - Micaela Jary - E-Book

Die Villa am Meer E-Book

Micaela Jary

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Beschreibung

Rostock-Warnemünde 1897: Katharinas Hochzeit mit dem verwitweten, wesentlich älteren Manufakturbesitzer und Korbmacher Olaf Borchers steht unter einem schlechten Stern: Nicht nur, dass ihr Herz einem anderen gehört, Borchers halbwüchsiger Sohn ist nicht einverstanden mit der neuen Frau seines Vaters und torpediert die Ehe von Anfang an. Dennoch tut Katharina ihr Bestes, um mit ihrem Mann glücklich zu werden. Doch das ändert sich an dem Tag, an dem sie Pläne für ein eigenes Geschäft macht – einen Strandkorbverleih an der Ostsee ...

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Buch

Rostock-Warnemünde 1897: Katharinas Hochzeit mit dem verwitweten, wesentlich älteren Manufakturbesitzer und Korbmacher Olaf Borchers steht unter einem schlechten Stern: Nicht nur, dass ihr Herz einem anderen gehört, Borchers halbwüchsiger Sohn ist nicht einverstanden mit der neuen Frau seines Vaters und torpediert die Ehe von Anfang an. Dennoch tut Katharina ihr Bestes, um mit ihrem Mann glücklich zu werden. Doch das ändert sich an dem Tag, an dem sie Pläne für ein eigenes Geschäft macht – einen Strandkorbverleih an der Ostsee …

Micaela Jary stammt aus Hamburg und wuchs im Tessin auf. Sie arbeitete lange als Journalistin, bevor sie sich ganz dem Schreiben von Romanen widmete. Vor allem die Recherche über vergangene Zeiten und alte Geschichten haben es ihr angetan. Nach einem langjährigen Aufenthalt in Paris lebt sie heute mit Mann und Hund in Berlin und München, manchmal taucht sie aber auch zum Schreiben in einem kleinen Landhaus im Landkreis Rostock ab.

http://www.micaelajary.de

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Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Das Zitat von Thomas Mann erfolgt mit

freundlicher Genehmigung des S. Fischer Verlags.

Aus: Thomas Mann, »Anna Karenina«.

Aus: ders., Gesammelte Werke vol. IX., Reden und Aufsätze 1.

© S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main, 1960, 1974.

Originalausgabe April 2017

Copyright © 2017 by Wilhelm GoldmannVerlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Gestaltung des Umschlags und der Umschlaginnenseiten:

UNO Werbeagentur München

Umschlagfoto: © Trevillion Images/Ilina Simeonova

imageBROKER/Frank Sommariva

Redaktion: Marion Voigt

BH · Herstellung: kw

Satz: KompetenzCenter, Mönchengladbach

ISBN 978-3-641-20371-9V002

to www.penguin.de

Mein Arbeitsplatz, der herrlichste, den ich kenne, liegt einsam.

Aber wäre er auch belebter, das isolierende Getöse der Brandung,

die schützenden Seitenwände des Strandkorbes,

dieses von jung auf vertrauten und eigentümlich bergenden Sitzhäuschens,

würden keine Störung aufkommen lassen.

Geliebte, unvergleichlich befriedigende und angemessene Situation …

Thomas Mann

PROLOG

Die Hochzeit

1897

Auf dem Kirchplatz von Warnemünde hatten sich kleine Gruppen von Schaulustigen gebildet, die der Ankunft der Braut entgegenfieberten. Offenbar Touristen, die bei einem Spaziergang durch den Ort zufällig auf die Hochzeit aufmerksam wurden. Trotz der für die Badesaison üblichen Vielfalt an Veranstaltungen bot ein Fest wie dieses für die Fremden eine willkommene Abwechslung. Die vielen gut gekleideten Gäste, die durch das im gotischen Stil erbaute Portal des neuen Gotteshauses eilten, waren der Beweis für ein großes gesellschaftliches Ereignis, sogar drei Kutschen und ein Automobil parkten am Rand der angrenzenden Poststraße.

Warnemünde war einst ein unbedeutendes Fischerdorf an der Ostsee gewesen, dann wurde es zu einem bedeutenden Hafen der Segelschifffahrt, und seit der Adel und das vornehme Bürgertum eine gewisse Begeisterung für das sogenannte Luftbaden und die See gewonnen hatten, entwickelte sich der Fremdenverkehr. Inzwischen kamen auf die mehrere tausend Einwohner zählende Gemeinde mindestens ebenso viele Besucher, Hotels und Pensionen entstanden an der Seestraße mit Blick über den breiten, endlos wirkenden weißen Sandstrand und die Ostsee, an der Vorderreihe am Alten Strom wurden in den kleinen aneinandergeschmiegten Kapitänshäusern zahlreiche Ferienwohnungen mit dem Luxus einer eigenen Küche vermietet. Die hochherrschaftliche Eleganz des nahe gelegenen Heiligendamm suchte man hier vergebens, wohl aber Vornehmheit und sämtliche Genüsse eines Badeorts. Der Fremdenverkehr florierte und förderte auf diese und jene Weise den Wohlstand der Gemeinde. Man war stolz auf das Erreichte. Aber wenn eine junge Frau aus alteingesessener Handwerksfamilie einen wohlhabenden Manufakturbesitzer aus Rostock heiratete, war dies auch für die Einheimischen eine Attraktion.

Als die Braut am Arm ihres Vaters erschien, teilte sich die Menge, ein leises Getuschel setzte ein, und Blicke und Finger richteten sich auf die in der Sonne glitzernde Brautkrone der ansonsten in schlichtes Schwarz gekleideten jungen Frau. Nicht ihr hübsches ovales Gesicht mit den ein wenig schräg liegenden blaugrünen Augen war der Blickfang, sondern die schwere Kopfbedeckung, die aus Silberdrähten, bunten Glasperlen und Goldfäden gefertigt war und der Trägerin eine gerade Haltung und einen guten Gleichgewichtssinn abverlangte. Irgendjemand in der Menge klatschte, ein paar andere Neugierige fielen mit ein, und schließlich brandete Applaus auf wie nach einem gelungenen Kurkonzert.

Unwillkürlich fragte sich Katharina, ob der Beifall der kostbaren Handarbeit auf ihrem Haar galt oder ihrem Geschick, die Hochzeitstracht so gelassen zu tragen, als handelte es sich um ein einfaches Kostüm. Oder applaudierten manche Menschen ganz automatisch, wenn sie eine Einheimische auf dem Weg zum Altar beobachten durften? Wie eine lebendige Sehenswürdigkeit. Als wäre sie der neue Leuchtturm, dessen Fertigstellung ihr Vater als leitender Baumeister überwachte. Ein stiller Seufzer setzte sich in ihrer Kehle fest, zwang sie zu einem leisen Räuspern. Wenn der Leuchtturm eingeweiht wird, dachte sie, bin ich bereits seit einem Jahr die Frau von Olaf Borchers. Dann hatte sie wohl endlich Gewissheit, ob sie jetzt die richtige Entscheidung traf.

»Pass auf, dass du nicht krank wirst!«, warnte Baumeister Papenhagen. »Bei unserem wechselhaften Wetter wäre das zwar kein Wunder, aber du solltest deine Ehe nicht mit einem Husten beginnen. Und außerdem …«

»Außerdem ist die erste Frau Borchers an einer Lungenentzündung gestorben«, vollendete Katharina den begonnenen Satz.

Sie war sich nicht sicher, ob ihr Vater sie an den Tod ihrer Vorgängerin erinnern wollte. Vielleicht wollte sie selbst mit ihrer patzigen Antwort vielmehr einen Streit vom Zaun brechen, der eskalierte – und die Trauung verhinderte. Eine Braut, die sich vor der Kirche lautstark zankte, würde vom Pastor gewiss nicht freundlich empfangen werden. Vom Bräutigam ganz zu schweigen. Immerhin eine Möglichkeit, der Sache ein Ende zu bereiten.

Das Einsetzen des Glockenspiels und der Klang der Orgel, der bis auf den Vorplatz dröhnte, übertönten Papenhagens Antwort. Rasch drückte er ihre Hand. Aufmunterung und väterlicher Liebesbeweis zugleich, aber auch seine Art, ihr seine Zuversicht mitzuteilen.

Wenigstens einer, der überzeugt von meiner Wahl ist, sinnierte Katharina. Wieder stöhnte sie auf. Doch diesmal erstickte sie ihr Seufzen nicht – es hörte schließlich niemand.

Die Brautkrone zwang sie, ihren Kopf aufgerichtet und den Blick geradeaus zu halten. Nur aus den Augenwinkeln nahm sie die bis auf den letzten Platz gefüllten Bankreihen wahr, als sie langsam durch das Kirchenschiff schritt. Die Gesichter darin verschwammen zu einer bleichen Masse. Angehörige und Freunde der beteiligten Familien, Honoratioren und Kunden der Korbmacherwerkstatt Borchers. Katharinas zukünftiger Mann behauptete zwar stets bescheiden, er betreibe in Rostock nur einen kleinen Handwerksbetrieb, tatsächlich aber hatte sich dieser zu einer Manufaktur von beachtlicher Größe entwickelt. Spätestens seit er Sitzmöbel für den Strand herstellte, war er kein einfacher Arbeiter mehr. Die sogenannten Strandkörbe breiteten sich seit der Erfindung des Zweisitzers vor vierzehn Jahren an der Ostsee aus wie die Krabben. Olaf Borchers war gewiss nicht reich, aber er verdiente genug, um seiner jungen Frau ein sorgenfreies Leben zu bieten.

Er stand am Ende ihres Wegs, den Altar im Rücken. Ein hochgewachsener schlanker Mann in einem schwarzen Gehrock. Ihr Bräutigam war zweiundvierzig Jahre alt und damit mehr als zwanzig Jahre älter als Katharina, und er wirkte mit den silbernen Fäden in seinem braunen Haar und dem grauen Schnauzbart über seinem jetzt sanft lächelnden Mund keinen Tag jünger. Zwar strahlten seine grauen Augen eine fast jugendliche Lebendigkeit aus, aber auch Klugheit und Reife. Sie stand im Begriff, nicht den Helden ihrer Jungmädchenträume zu heiraten, sondern einen Herrn, dessen Alltag eine in sich abgeschlossene kleine Welt war, kein schwankendes Schiff. Eine Welt, die er ihr zu Füßen legen würde, wie er es versprochen hatte. Katharinas Bräutigam war ein Mensch, dessen Wort Gold wert war, daran bestand kein Zweifel. Er bot ihr neben seiner Zuneigung eine gewisse Sicherheit, nicht nur finanzieller Art. Und deshalb trat sie von ihrem Vater fort und an seine Seite.

Der Pastor eröffnete mit seiner Begrüßung den Traugottesdienst, ein Segenswunsch und ein Gebet schlossen sich an, dann ein Lied, das die Gemeinde enthusiastisch sang. Mit jedem Ton begann sich Katharina mehr zu entspannen. Es war ihre Hochzeit. Der glücklichste Tag in ihrem Leben …

Nein, dachte sie, erschrocken über die Gefühle, die sie plötzlich mit ungeahnter Macht überschwemmten. Der glücklichste Tag in meinem Leben war der, als ich Joachims Gesangbuch in den Händen hielt. Ein wunderschönes, in Leder gebundenes und mit silbernen Ankern geschmücktes kleines Buch. Er hatte es ihr schweigend überreicht, aber sie hatte ihn auch ohne Worte sofort verstanden. Seit Jahrhunderten machten die zuweilen recht stillen Männer in Warnemünde ihren Angebeteten auf diese Weise einen Antrag. Doch damit hatte es sich mit der Tradition. Nichts wurde so, wie von ihr erhofft.

Das Verlöbnis blieb ihr Geheimnis. Er hielt nicht bei ihrem Vater um ihre Hand an, und am nächsten Wochenende, an dem üblicherweise das Aufgebot bestellt wurde, saß sie allein in der Kirchenbank und lauschte der Bekanntmachung eines anderen Paares, das heiraten wollte.

»Eine zweijährige Fahrt auf Nord- und Ostsee ist die Voraussetzung für ein Schifferexamen«, rechtfertigte Joachim seinen Abschied. »Ich bin jetzt dreiundzwanzig, und wenn ich zurück bin, steht der Prüfung und dem Erhalt des Patents auf Große Fahrt nichts mehr entgegen. Dann kann ich als Steuermann arbeiten, ich verdiene genug Geld für meine Familie, und wenn ich erst Kapitän bin, darfst du mich gelegentlich begleiten. Wir werden gemeinsam Abenteuer erleben, Katharina! Oder ich werde Lotse und komme jeden Abend nach Hause. An unserer Hafeneinfahrt gibt es immer viel zu tun, wie du weißt, es ist die gefährlichste an der gesamten Ostseeküste. Gute Leute sind gesucht. Ich werde den Weg gehen, den du möchtest, damit wir für immer zusammen sein können. Aber bis dahin muss ich fort.«

Seine ungewöhnlich vielen Worte verbargen die Wahrheit. Katharina hatte keine Vorstellung davon, wie es war, tagein, tagaus zu warten, sich während der Herbststürme zu sorgen und eine Einsamkeit ertragen zu müssen, die manchmal schwerer wog als der Mast auf einem Segelschiff. Als sie sich kennenlernten, befand sich Joachim mitten in der Ausbildung an der Mecklenburger Seefahrtsschule in Rostock – er lebte den Alltag eines Studenten an Land. Natürlich kannte sie viele Familien, in denen der Vater manchmal monatelang abwesend war, die meisten Männer in ihrem Geburtsort wurden entweder Fischer oder Matrosen. Doch nie zuvor hatte sie so leidenschaftlich geliebt. Und diese Liebe verband sich mit der Sehnsucht nach seiner Nähe. Es verzehrte sie, wurde zur Obsession, schließlich fürchtete sie, gemütskrank zu werden. Das war der Moment, in dem sie sicher war, dass sie die bestehende Situation nicht ertrug. Sie war nicht zur Seemannsfrau geschaffen.

Ein Jahr nach Joachims Antrag stand sie im Begriff, einen anderen zu heiraten.

»Barmherzig und gnädig ist der HERR, geduldig und von großer Güte.«

Die Stimme des Pastors drang wie durch einen Nebel zu Katharina durch. Vielleicht dämpften die goldbestickten Ohrklappen der Brautkrone seine Worte. Oder sie war mit ihren Gedanken zu weit abgeschweift und noch nicht wieder in der Gegenwart angekommen. Jedenfalls hatte sie nichts von dem wahrgenommen, was der Geistliche offenbar zuvor aus der Heiligen Schrift rezitiert hatte.

Ihre Blicke flogen zu Olaf. Die Miene ihres Bräutigams drückte Zufriedenheit aus. Als er kurz ihren Augen begegnete, flackerte Besorgnis in seinem Ausdruck auf, erlosch aber rasch wieder. Er lächelte sie an. Freundlich und mit dem klugen Instinkt des Beschützers.

»Wir haben das Wort der Heiligen Schrift gehört«, fuhr der Pastor fort. »Jetzt frage ich dich vor Gott und dieser Gemeinde: Olaf Heinrich Borchers, willst du Katharina Elisabeth Papenhagen, die Gott dir anvertraut, als deine Ehefrau lieben und ehren, Freude und Leid mit ihr teilen und ihr die Treue halten, solange ihr lebt, so antworte: Ja, ich will.«

Olafs »Ja« hallte fest und deutlich durch das Kirchenschiff. »Ich will dich, Katharina Papenhagen, die Gott mir anvertraut hat, als meine Frau lieben und ehren. Mit Gottes Hilfe will ich die Ehe mit dir nach seinem Gebot und nach seiner Verheißung führen, in guten und in bösen Tagen, bis der Tod uns scheidet.«

Der Pastor nickte bekräftigend. Dann sah er Katharina fest in die Augen: »Und nun zu dir, Katharina Elisabeth Papenhagen: Willst du Olaf Heinrich Borchers, den Gott dir anvertraut, als deinen Ehemann lieben und ehren, Freude und Leid mit ihm teilen und ihm die Treue halten, solange ihr lebt, dann antworte: Ja, ich will.«

Es war wie ein zweiter Abschied von Joachim. Diesmal noch endgültiger als der Brief, den sie ihm geschrieben und dem sie das wunderschöne Gesangbuch beigelegt hatte. Tränen stiegen in ihr hoch. Wahrscheinlich würde sich der Geistliche über ihre Rührung freuen. Er wusste natürlich nichts von Joachim. Er wusste ebenso wenig wie Olaf, dass sie log, wenn sie ihrem Bräutigam gleich das Trauversprechen gab, das ihr der Pastor in einem Gespräch vorgeschlagen und sie auswendig gelernt hatte. Die Worte hatten sich in ihrem Gedächtnis festgesetzt, nicht jedoch in ihrem Herzen.

Sie schluckte, aber ihre Stimme zitterte trotzdem: »Ja. Ich bekenne mich vor Gott zu dir, Olaf Heinrich Borchers. Ich will dich achten und meine Liebe zu dir mit Gottes Hilfe in Ehren halten, in guten und in schweren Zeiten, solange ich lebe. Dazu helfe mir Gott.«

Irrte sie sich, oder ging ein Aufatmen durch die Gemeinde? Irgendjemand räusperte sich, ein Hüsteln folgte, dann ein ersticktes Schluchzen, ein leises Klappern, Füße scharrten über den Boden. Du lieber Himmel, warum sorgte ihr Ehegelöbnis für derartige Unruhe? Zweifelte auch nur einer der Gäste an, dass sie Olaf eine gute Frau sein wollte? Katharina bedauerte, sich nicht umdrehen zu können, um herauszufinden, wer ihr eine derartige Unbedachtheit unterstellte.

Der Pastor wandte sich von ihr ab und beugte sich vor, um nach dem kleinen Tablett mit den goldenen Eheringen zu greifen, das auf dem Altar wartete, hielt jedoch überrascht in der Bewegung inne. Er schnappte nach Luft, richtete sich wieder auf, starrte dabei auf etwas im Hintergrund.

»Was …?«, hob Olaf an, unterbrach sich jedoch, als er den Kopf drehte, um über seine Schulter zu sehen.

Einen Herzschlag lang wünschte sich Katharina, dass Joachim gekommen war, um ihre Heirat zu verhindern …

»Du bist ein Verräter!« Der Angriff schraubte sich zu einem unnatürlich hohen Kreischen empor. »Und ein Betrüger! Und ein Dieb!« Die Stimme drohte sich zu überschlagen, klang nach dem Schrei eines Kindes und gleichzeitig nach dem Gezänk einer Vettel. Es war der aufgeregte, etwas verschwommene Ton eines schluchzenden Jungen, der dem Stimmbruch noch nicht entwachsen war.

Katharina spürte Olafs Entsetzen neben sich. Er rang um Fassung.

Langsam drehte sie sich um.

Eine schmächtige Gestalt torkelte den Mittelgang entlang, ein wenig gebückt, als wäre die seelische Last nicht einmal körperlich zu tragen.

»Erik, dies ist nicht der rechte Ort …«, murmelte Olaf, behielt aber für sich, wofür die Kirche nicht der richtige Ort war. Er starrte den Jungen an, der mit zerzaustem Haar und sichtlich betrunken auf ihn zuzugehen versuchte, ohne ständig über seine eigenen Füße zu stolpern. Olaf brauste nicht auf, wie es vielleicht ein anderer Mann an seiner Stelle getan hätte, er wirkte verstört, offenbar zutiefst verletzt über diesen Auftritt. Die Scham darüber trieb rote Flecken auf seine bleichen Wangen.

Endlich befreite sich der Pastor aus seiner Verwunderung. »Mein Sohn, bist du gekommen, um etwas gegen diese Heirat einzuwenden? Wenn ja, mögest du jetzt sprechen oder für immer schweigen.«

Die Unruhe unter den Hochzeitsgästen hatte sich längst verstärkt. Das Wispern schwoll zu offenen Diskussionen an. Manche Leute waren peinlich berührt, andere reagierten zornig auf die Störung, Verständnis konnte Katharina kaum ausmachen, hin und wieder mochte Sensationsgier von den Verwandten, Freunden und Bekannten Besitz ergreifen.

Von ihrer Familie kannte niemand Olafs Erstgeborenen; sie selbst war dem Jungen bisher nur wenige Male begegnet. Erik Borchers galt als verschlossen und lehnte den Wunsch seines Vaters, eine zweite Ehe einzugehen, ganz offensichtlich ab. Er war ein schwieriges Kind, das die höhere Schule nicht geschafft hatte und sich nun als Lehrling in der Manufaktur seines Vaters verdingte. Natürlich litt er unter dem viel zu frühen Tod seiner Mutter, aber vielleicht auch unter Olafs Nachsicht, wie Katharina vermutete. Strenge kannte der inzwischen Fünfzehnjährige wohl nicht – und es schien auch nicht so, als wollte Olaf heute etwas daran ändern.

Erik blieb dicht vor dem Brautpaar stehen. »Der Halblieger ist meine Erfindung.« Der Protest klang wie ein weinerliches Krähen. »Du stellst den Strandkorb unter deinem Namen her. Das ist Betrug!«

Obwohl sie nicht die geringste Ahnung hatte, wovon der Junge sprach, war Katharina sicher, dass er unter einem schweren seelischen Schaden litt. Jedenfalls klang er reichlich größenwahnsinnig. Was, um alles in der Welt, konnte ein Knabe in seinem Alter schon entwerfen?

»Du redest Unsinn«, stieß Olaf hervor und rang um Beherrschung.

»Ich würde vorschlagen …«, begann der Pastor.

Ein Mann mittleren Alters schob sich aus der zweiten Kirchenbank. Katharina kannte ihn nicht, aus den Augenwinkeln hatte sie jedoch beobachtet, wie unruhig er seit dem Auftauchen von Olafs Sohn war. Der Unbekannte hatte Mühe, sich an den anderen Gästen vorbei auf den Mittelgang zu drängen. Als er schließlich hinter Erik stand, wischte er sich mit seinem Taschentuch den Schweiß von der Stirn. Dann griff er nach dem Arm des Jungen. »Es ist genug«, versuchte er ihn zu besänftigen. »Wir können über alles später reden. Komm erst einmal mit mir nach Hause und schlaf deinen Rausch aus.«

Zu Katharinas größter Verwunderung gab Erik sofort nach. Er ließ sich von dem Mann hinausführen, als wäre er ein Hund, der ausgebüxt war und nun wohlerzogen an der Leine neben seinem Herrn heimwärts trottete.

Leise fragte sie: »Wer war das?«

Olafs Miene verdüsterte sich. »Johann Tarnow, mein früherer Schwager. Er besitzt eine Tischlerei und wird begeistert sein, wenn sich Erik ihm anvertraut.«

»Natürlich. Er ist sein Onkel.«

»Das verstehst du nicht. Johann will schon lange Strandkörbe von guter Qualität herstellen, es fehlt ihm jedoch das Wissen dafür, und da er ein schlechter Meister ist, bekommt er keine guten Gesellen.« Er schlug sich mit der Hand gegen die Stirn. »Dass ich daran nicht gedacht habe! Erik kennt die Arbeitsabläufe genau. Er ist ein Glücksgriff für Johann, um mir Konkurrenz zu machen.«

»Ach was. Das wird er gewiss nicht tun. Er weiß doch bestimmt, dass er gegen einen Mann wie dich nichts ausrichten kann.«

Olaf schüttelte stumm den Kopf.

Eine Familienfehde, stellte Katharina stumm fest. Ein Wespennest, in das sie gestoßen war. Ob sie unbeabsichtigt Schuld an der Situation trug? Sie kannte Olaf viel zu kurz, um hinter seine Fassade der bürgerlichen Wohlanständigkeit blicken zu können. Vielleicht hatte er sich ja mit den Leuten seiner verstorbenen Frau wegen seiner neuen Ehe entzweit. Eine Wiederverheiratung war für einen Witwer nicht ungewöhnlich, eine so viel jüngere Braut entsprach allerdings nicht den Konventionen. Die Verehrung des älteren Mannes schmeichelte Katharina, das Zuhause, das er ihr gab, entsprach ihrem Bedürfnis nach Geborgenheit. Kamen nun Probleme auf sie zu, mit denen sie nicht im Geringsten gerechnet hatte? Der Auftritt des Jungen war womöglich nur das Echo dessen, was ihm Onkel und Tanten einflüsterten.

»Können wir weitermachen?«, erkundigte sich der Pastor, fuhr jedoch sofort, und ohne eine Antwort abzuwarten, in salbungsvollem Ton fort: »Der HERR ist treu; er wird Euch Kraft geben und vor dem Bösen bewahren.«

Ach Joachim!, dachte Katharina beklommen.

ERSTER TEIL

Katharina

1902

1

Der Sturm drückte gegen die Fenster und toste bis in den Kamin hinein, wirbelte die Glut auf und ließ das Feuer zischen. Sein Klagen verband sich mit Gretas Stöhnen zu einer einzigen Melodie. Ihr Gehör konnte die Geräusche aus ihrer Kehle von denen im Schornstein kaum noch unterscheiden. Über dem Haus und in ihrem Körper tobten die Elemente wie Geister, die sich zu einem Tanz trafen. Klabautermänner, von denen Greta noch nicht wusste, ob sie in guter oder in böser Absicht eingedrungen waren. Der Gesang der Schiffskobolde verstärkte sich zu einem hohen Crescendo, und Greta wurde erst mit einiger Verzögerung bewusst, dass es ihre eigene Stimme war, die vor Schmerz anschwoll wie die Flut. Die Wehen waren nicht mehr auszuhalten, und wenn sie gewusst hätte, was sie erwartete, hätte sie wahrscheinlich niemals erwogen, ein Kind auf die Welt zu bringen.

»Es ist gleich geschafft«, versicherte ihr die alte Hebamme.

Greta Wittenburg schrie den Schmerz aus sich heraus. Mit jeder Wehe entlud sich ihre Qual in einem noch höheren Ton, der sogar in ihren eigenen Ohren unnatürlich schrill klang.

»Schrei nur, mein Kind, das ist das Recht der Gebärenden.«

Die Hebamme wollte ihr sicher Mut zusprechen, doch Greta erschrak. Sie hasste sich dafür, die Contenance zu verlieren. Ihrer Ansicht nach behielt eine vornehme Dame selbst bei einer Geburt Würde und Disziplin. Sie wollte sich nicht wie eine Frau unterer Klasse benehmen, die sich wegen jeder Unpässlichkeit gehen ließ. Es war Gretas größtes Bestreben, ihre Herkunft vergessen zu machen und in allen Lebenslagen jene Eleganz auszustrahlen, die bestimmte Herrschaften verkörperten, wenn sie in der Badesaison über die Bismarck-Promenade flanierten. Auf diese Weise versuchte Greta, an ihrem Geburtsrecht als höhere Tochter festzuhalten, das ihr Vater durch eine Fehlinvestition jedoch schon früh verspielt hatte. Greta konnte sich nicht mehr an das Leben in einem wohlhabenden Elternhaus erinnern, sondern nur an viele verschiedene Gutshäuser und Schlösser in Norddeutschland, durch die ihr verarmter Vater mit Frau und Töchtern als Privatlehrer zog. So wuchs sie nicht als Prinzessin auf, sondern auf dem Stand eines Dienstbotenkindes, begleitet von Geschichten, die so fern wie Märchen klangen.

Es war wie ein Trauma, das sie auf der Suche nach einem Ehemann begleitete. Sie sehnte sich nach einem gewissen gesellschaftlichen Umgang, doch nicht mit übermäßiger Schönheit gesegnet und ansonsten völlig mittellos verfügte sie über begrenzte Chancen, ihre – trotz allem – durch den Vater erworbene Bildung zählte auf dem Heiratsmarkt wenig. Ein angehender Kapitän kam ihr da gerade recht als Ehemann. Joachim Wittenburg bot ihr in jeder Hinsicht die beste Perspektive: Er wollte ihr ein eigenes Haus mit einem Klavier und einem Grammophon kaufen, sein Beruf gehörte zu den angesehensten an der Küste und versprach nicht nur dank seines guten Gehalts einen finanziellen, sondern auch einen gesellschaftlichen Aufstieg. Ihr Bräutigam war zwar mit achtundzwanzig Jahren noch jung, aber er stand am Beginn einer großen Karriere, und die allgemeine Wertschätzung seines künftigen Postens färbte zweifellos auf die Ehefrau ab.

Störende Details wie etwa Liebe ließ Greta bei diesen Überlegungen außer Acht. Auch die Frage, warum ein attraktiver Mann mit seinen Aussichten ausgerechnet sie erwählte, stellte sie sich nicht. Da Joachim ohnehin die meisten Monate eines Jahres auf See verbrachte, erwartete sie keine traute Zweisamkeit, war sogar dankbar für die vielen Stunden, die sie ohne Rücksichtnahme auf einen Mann verbringen durfte. Umso erstaunter war sie, als sich das Zusammenleben mit ihm als ausgesprochen angenehm herausstellte. Joachim Wittenburg besaß Attribute, die sie schätzte: Höflichkeit und Rücksichtnahme, Bildung, Humor und Großzügigkeit. Nach der Hochzeit zogen sie in ein hübsches Häuschen mit einer Stube, einer großen Küche, einem kleinen Arbeits- und zwei Schlafzimmern, der Frischvermählte schenkte seiner Angetrauten tatsächlich sogar ein Grammophon. Gretas erstes eigenes Heim lag zwar nicht an der Vorderreihe, aber in dem Viertel hinter der Alexandrinenstraße, und besaß sogar Annehmlichkeiten wie elektrischen Strom und fließendes Wasser. Als sie ihrem Gatten nach gut drei Jahren Ehe in einem Brief mitteilte, dass sie guter Hoffnung sei, kabelte er zurück: »Zur Geburt bekommst du ein Klavier.«

War ein Piano diese Schmerzen wert?

Greta wusste nicht, ob sie schon wieder oder noch immer schrie. Sie hörte sich nicht einmal mehr selbst. Ihr Körper schien zu zerreißen, und das trieb ein Rauschen in ihre Ohren, das ihr einen Atemzug lang die Sinne raubte.

Als sie wieder zu sich kam, drang eine Kakophonie zu ihr durch, die lauter und lauter wurde: ein hoher, seltsam zarter Ton, das unverständliche Gemurmel der Hebamme und ihrer Helferin, der heulende Sturm, Regen, der gegen die Fenster klatschte, das Zischen im Kamin und ein wütendes Hämmern. Nur ihre eigene Stimme erstarb.

»Es ist ein Mädchen!«, rief die Hebamme.

»Da ist jemand an der Tür.« Luise, Gretas Schwester, stand unerwartet im Raum.

»Unsinn!«, widersprach die Hebamme. »Kein Mensch, der bei Verstand ist, wagt sich bei diesem Wetter nach draußen. Das ist nur der Sturm.«

Luise insistierte, die Hebamme antwortete, beide Frauen stritten sich, bis die Geburtshelferin entnervt ausrief: »Dann machen Sie doch endlich auf und lassen Sie mich meine Arbeit tun! Sehen Sie nicht, dass ich beschäftigt bin?«

Greta interessierte sich nicht dafür, ob ein Besucher Einlass begehrte, wer dies sein mochte oder ob eine Böe die Tür eindrückte. Nicht einmal das Kind erregte ihre Aufmerksamkeit, geschweige denn so etwas wie Mutterliebe. Alles tat ihr weh, sie fühlte sich überall wund. Ihre Gedanken waren nur bei sich und dem Nachklang des Geburtsschmerzes, bei der Hilflosigkeit, der sie sich ausgesetzt fühlte. Es war das schrecklichste Erlebnis ihres Lebens. »Wie konnte mir Joachim das antun …?«, presste sie hervor. Doch niemand beachtete ihr Wimmern.

Wie hielten andere Frauen eine Geburt aus? Wahrscheinlich werden sie dazu gezwungen, resümierte Greta. Niemand mutete sich diese Prozedur freiwillig zu. Davon war sie nun überzeugt. Freilich erzählte einem auch kein Mensch vorher, was eine Schwangere erwartete. Und im entscheidenden Moment war es für einen Rückzieher zu spät. Allerdings krönte Nachwuchs eine gute Ehe, und Greta plagte tatsächlich hin und wieder die Angst, Joachim könnte sich in einem anderen Hafen eine Braut suchen. Nicht dass sie ihm Anlass dazu bot oder er ihre Furcht durch sein Verhalten bestärkte. Sie war eine vorbildliche Gemahlin, daran bestand kein Zweifel, und sie gab ihm keinen Grund zur Untreue. Joachim musste nichts vermissen. Höchstens Innigkeit und Liebe. Manchmal beschlich sie deshalb der beunruhigende Gedanke, dass er die Zuneigung, die sie nicht für ihn empfand, anderswo finden könnte. Außerdem nährten die vielen Seemannslieder, die die Treue der Matrosen besangen, ihre Eifersucht.

Nein, ein Kind krönt keine Ehe, fuhr es ihr durch den Kopf, aber es hält sie zusammen. Das ist eine Frage der Ehre. Jetzt kann er mich nicht mehr verlassen. Niemals. Einerlei, was geschieht.

Durch diesen Gedanken beruhigt spürte Greta eine lähmende Müdigkeit über sich hereinbrechen. Sie wünschte, die Schallplatte, die Joachim ihr von seiner letzten Reise mitgebracht hatte, würde erklingen. Aber ihr fehlte die Kraft, um eine der fremden helfenden Hände in ihrem Haus zu bitten, das Grammophon aufzuziehen.

»Greta, Greta …«, Luise erschien wieder auf der Bildfläche. Diesmal atemloser als zuvor. »Greta, da ist ein Schiffsjunge. Er bringt Nachricht von deinem Mann.«

Sie war gerade eingenickt. Noch umarmt von der Seligkeit des Schlafs murmelte sie: »Später. Erzähl es mir später.« Dann sackte sie wieder weg, wurde jedoch wieder aufgeweckt:

»Greta!!!«

»Nun lassen Sie doch die Wöchnerin in Ruhe!«, polterte die Hebamme. »Der frischgebackene Vater kommt hoffentlich bald heim. Das ist gut für die Mutter und für die kleine Deern hier.«

Mit giftiger Stimme entgegnete Luise: »Es gab einen Unfall. Joachim schwebt in Lebensgefahr!«

Der jungen Lernschwester entfuhr ein entsetztes: »Himmel, hilf! Was ist passiert?«

Danach herrschte für ein paar Atemzüge erschrockenes Schweigen, bevor die ältere Geburtshelferin grummelte: »Sei still, Mädchen.« Und an Luise gewandt: »Es wäre für den Moment besser, Sie würden solche Hiobsbotschaften für sich behalten. Die tun nicht wohl. Frau Wittenburg hier kann ohnehin gerade nichts für ihren Mann ausrichten. Wenn sein Leben in Gottes Hand liegt, wird es der Herr schon richten.«

Greta nahm die neuerliche Diskussion der Frauen wie durch einen Schleier aus Watte wahr. Dennoch begannen die Worte, irgendwie zu ihrem Hirn durchzudringen. Nein, dachte Greta plötzlich, das ergibt keinen Sinn. Joachim konnte nicht verunglückt sein. Er befand sich auf See. Sie erwartete ihn nicht vor nächstem Monat zurück.

Vorsichtig richtete sie sich auf. »Was ist los?«

Die Hebamme warf einen warnenden Blick zu der frischgebackenen Tante. »Nichts, Frau Wittenburg, gar nichts. Lassen Sie sich nicht beunruhigen. Nichts ist geschehen.« Sie legte Greta ein in Leintücher gewickeltes Bündel in den Arm. »Sehen Sie sich nur die Lütte an. Es ist ein sehr hübsches und ganz gesundes kleines Mädchen. Auf diese große Schwester wird Ihr Stammhalter einmal sehr stolz sein.«

Erstaunt sah Greta in das Gesichtchen ihrer Tochter. Wie zart sie war. Die Lider des Säuglings waren geschlossen, aber irgendwo hatte Greta gelesen, dass alle Neugeborenen blaue Augen besaßen. Das Köpfchen bedeckte ein zarter, sich im Nacken leicht kringelnder heller Flaum. Und wie leicht sie sich anfühlte. So zerbrechlich und doch seltsam stark. Wie Gretas Mutter. Die war auch sehr zart gewesen, allerdings niemals kräftig genug, um den Anfeindungen nach der Pleite ihres Mannes entgegenzutreten. Vor Gram war sie gestorben.

»Wie soll sie denn heißen?«, fragte die Hebamme.

»Joachim wird vielleicht sterben. Das muss seine Frau doch wissen«, protestierte Luise im Hintergrund.

Greta war so von dem Anblick des Neugeborenen gefangen, dass sie die Worte ihrer Schwester gar nicht erst zu verstehen versuchte. Für einen Moment wunderte sie sich, wo der Schmerz geblieben war. Ihre raue Kehle erinnerte sie jedoch an ihre Schreie. Sie wollte antworten, dass sie geglaubt habe, einen Jungen zu erwarten. Nicht zuletzt hatte die Hebamme verschiedene Anzeichen der Schwangerschaft – die Form ihres Bauchs etwa – so gedeutet. Deshalb hatte sich Greta keinen Mädchennamen ausgedacht und auch Joachim in keinem ihrer Briefe danach gefragt. Sie räusperte sich, suchte in ihrer Erinnerung nach einem passenden Namen, runzelte die Stirn.

»Friederike«, warf Luise resolut ein. »Sie heißt natürlich Friederike wie unsere Mutter. Etwas anderes kommt nicht infrage.« Sie trat neben das Bett ihrer Schwester, blickte rasch auf das Neugeborene, nickte kurz, als würde sie eine entfernte Bekannte begrüßen. Dann stemmte sie die Hände in die Hüften und drängte mit erhobener Stimme: »Greta, bitte, hör mir zu! Es ist etwas Schreckliches passiert!«

»Ich lege die Deern man besser in die Wiege«, meinte die Hebamme verärgert. »Dann können Sie sich mit Ihrer Schwester unterhalten … Also, so was …« Der Rest verhallte in einem grimmigen Murmeln, während sie das Baby aus Gretas Arm hob und in die andere Ecke des Zimmers trug. »In das Geburtsregister lasse ich den Namen Friederike Wittenburg eintragen.«

Luise sah ihr kurz nach, als wollte sie sichergehen, dass die Hebamme vor ihr kapituliert hatte. Einen Moment später raffte sie ihren Rock und ließ sich vorsichtig auf der Bettkante nieder. Mit überraschender Zärtlichkeit strich sie Greta das schweißnasse Haar aus der Stirn, bevor sie anhob: »Auf See wütet ein schwerer Sturm, und Joachims Schiff ist leckgeschlagen. Ein anderes Boot konnte die meisten Mitglieder der Mannschaft retten, nur wenige sind ertrunken. Joachim hat schwer verletzt überlebt, aber dennoch musst du mit dem Schlimmsten rechnen. Es tut mir sehr leid, Greta.«

Es dauerte eine Weile, bis Greta dämmerte, was die Schwester ihr mitteilte. Was erzählte sie da? Das war doch alles blanker Unsinn. Seemannsgarn der übelsten Sorte. War die kinderlose Luise etwa neidisch, weil die Geburt Gretas Familie vervollständigte? Luise, die in Hamburg mit einem Lehrer verheiratet und kinderlos war und es finanziell und gesellschaftlich deutlich schlechter getroffen hatte als Greta in Warnemünde. Aber Luise war immer die liebevollste unter ihren Schwestern gewesen. Als Greta sie am Ende der Schwangerschaft um Unterstützung bat, zögerte Luise nicht einen Moment mit ihrem Besuch. Was war nur in die Ältere gefahren, derartige Schreckensnachrichten zu verbreiten?

Greta fühlte sich nicht stark genug für eine Auseinandersetzung. Sie wünschte sich nichts als Ruhe. Deshalb beschloss sie, die Information fürs Erste zu ignorieren.

»Ich bin so müde.« Ihre Stimme war belegt, die Zunge pelzig und schwer. »Wir reden später über alles, Luise. Kannst du mir bitte ein Glas Wasser reichen? Und dann möchte ich schlafen.«

»Aber … du … du kannst doch … nicht …«

»Hören Sie endlich auf, die Wöchnerin zu bedrängen«, mahnte die Hebamme. Die war wieder neben das Bett getreten und füllte das Glas auf dem Nachttisch aus der danebenstehenden Karaffe. »Hier«, sie schob eine Hand unter Gretas Kopf, um diesen leicht anzuheben, und setzte mit der anderen das Getränk an ihre Lippen.

Seufzend erhob sich Luise von ihrem Platz. Während sie ihren Rock mit langsamen Bewegungen glatt strich, schien sie angestrengt nachzudenken. Schließlich hielt sie inne, sah die Geburtshelferin an und fragte herausfordernd: »Und? Was soll ich dem Schiffsjungen sagen, der in der Diele auf Antwort wartet? Dass sich Frau Wittenburg nicht um das Schicksal ihres Mannes schert? Dass sie sich nicht einmal dafür interessiert, was mit ihm geschehen ist und wohin man ihn gebracht hat?«

Die Hebamme richtete sich auf, stellte das Glas ab. »Sorgen Sie dafür, dass Steuermann Wittenburg von der Niederkunft erfährt. Wenn es so ist, wie Sie sagen, erhält ihn vielleicht der Gedanke an seine Tochter am Leben.«

Greta hörte die Worte wohl, aber sie verinnerlichte sie nicht. Erschöpft sank sie in einen tiefen, traumlosen Schlaf.

2

Katharina stand auf dem Absatz der schmalen Treppe, die die beiden oberen Stockwerke mit dem Erdgeschoss und der Werkstatt sowie dem Lagerraum verband, und lauschte dem Orkan, der die Fensterläden und Dachgiebel des alten Backsteinhauses erzittern ließ. Es roch wie immer nach bearbeiteten Hölzern, Leim und Ölfarbe, doch die sonst üblichen Geräusche wie Hämmern, Sägen und das Rattern der Nähmaschine waren verstummt. Stattdessen dröhnte das Klappern, Prasseln und Sausen des unwirtlichen Wetters durch alle Ritzen und Schlote. Die Frühjahrsstürme fegten in diesem Jahr schon lange vor Ostern über die Ostsee und griffen mit kalter Hand selbst nach Rostocks sturmerprobten mittelalterlichen Handwerkshäusern. Das waren keine guten Vorzeichen für den Sommer. Hoffentlich würde es nicht so bleiben. Eine verregnete Saison bedeutete auch einen geringeren Absatz für Strandkörbe – und damit Einbußen für Korbmacher Borchers.

»Hofkorbmacher«, korrigierte sich Katharina leise.

Sie lächelte beim Gedanken an die Ernennung, die sie mit Stolz erfüllte. Ihr fleißiger Mann hatte diese Ehrung durch den jungen Großherzog Friedrich Franz von Mecklenburg-Schwerin so sehr verdient.

Obwohl sich Olaf noch immer Handwerker nannte, war er längst nicht einmal mehr der Besitzer einer Manufaktur, sondern eigentlich ein Fabrikant. Er beschäftigte fast zehn Angestellte, undan Geld mangelte es ihm nicht. Deshalb bedeutete es für ihn sicher keinen wirtschaftlichen Engpass, wenn er im April oder Mai ein paar Strandkörbe weniger auslieferte. Das deutlich größere Problem stellte auch in finanzieller Hinsicht sein Sohn Erik dar, dessen Eskapaden immer kostspieliger wurden. Doch nicht nur das: Sein Verhalten belastete zunehmend die zweite Ehe des Vaters. Die Nachsicht, die Olaf an dieser Stelle walten ließ, brachte seinen Betrieb nach Katharinas Auffassung viel mehr ins Wanken, als dies ein paar Regenschauer vermochten. Und davor verblasste sogar die Ernennung zum Hofkorbmacher.

Katharina hatte ihrem Gemahl zwei weitere Söhne geschenkt, doch Olaf war wie vernarrt in Erik. Möglicherweise trieb ihn ein schlechtes Gewissen an, dessen Grund Katharina jedoch auch nach fünf Jahren Ehe nicht kannte. Olaf entschuldigte und erduldete, was sich der inzwischen Zwanzigjährige erlaubte. Eriks Verhalten schwankte zwischen der totalen Ablehnung, mit der er bereits ihre Hochzeit gestört hatte, und der Unterwürfigkeit einer Katze, die blitzschnell ihre Krallen ausfuhr, wenn ihr etwas nicht passte, hinzu kam ein gewisser Größenwahn. Für eine Weile hatte Erik bei seinem Onkel gewohnt und in dessen Tischlerei gearbeitet, dann war er wieder in das Borchers’sche Haus am Kröpeliner Tor gezogen. Erik tyrannisierte Katharina und die Lehrlinge, die unter dem Dach wohnten, er schwang sich sogar gelegentlich zu einer Befehlsgewalt auf, die ihm nicht zustand. Aber der Hausherr und Meister wollte keine Beschwerden über seinen Ältesten hören.

Olaf tolerierte sogar, dass Johann Tarnow plötzlich Strandkörbe baute, die dem Borchers-Strandkorb verdächtig ähnelten. Da dies erst nach Eriks Einzug bei seinem Onkel begann, fand Katharina den Zusammenhang offensichtlich. Sie erinnerte Olaf an seine Befürchtungen, die er bei dem Eklat auf ihrer Hochzeit geäußert hatte. Doch er schüttelte den Kopf. »Es gibt kein Patent auf den Strandkorb. Und selbst wenn, wäre dieses inzwischen für die ursprüngliche Form wohl ausgelaufen.«

Statt ein eindringliches Gespräch mit Erik zu führen, schwieg er und freute sich, als sich der Sohn wieder im väterlichen Betrieb einbrachte. Dort entwarf Erik nun die erstaunlichsten Modelle, für Katharina die »Abenteuer eines Hitzkopfes«, aber Olaf erlaubte Erik sogar, diese haarsträubenden Ideen umzusetzen und etwa einen schiffbaren Strandkorb zu bauen. Der ging prompt bei seinem Stapellauf vor Warnemünde unter.

Nachdenklich strich Katharina über das aus dunklem Eichenholz gefertigte Geländer der Stiege, das von unzähligen Händen blank poliert war. Trotz aller Probleme und Niederlagen wohnte sie gern in diesem Haus. Die Wände hatten jahrhundertelang Fleiß, Lebendigkeit, Freude und Trauer eingesogen, die Geschichte Mecklenburgs und die Geschichten der Familie Borchers flirrten durch die Luft. Katharina fühlte sich als Teil davon. Nach etlichen Umbauten verfügten Wohnung und Werkstatt inzwischen auch über elektrischen Strom und fließendes Wasser. Die Leitungsrohre hatte Olaf erst kurz vor ihrem Einzug einbauen lassen. Aber jetzt genügte ihm das alles nicht mehr.

Olaf wollte unbedingt in eine Villa umziehen, in der seine Familie und die dann notwendigen Hausangestellten leben sollten. Jede andere Frau wäre entzückt über den damit verbundenen gesellschaftlichen Aufstieg, das sah Katharina sehr wohl. Olaf argumentierte mit einem gewissen Platzmangel und wünschte sich natürlich nur das Beste für seine Familie, aber ihr widerstrebte der Gedanke an einen Umzug. Dies war ein Handwerkshaus – was sollte sie in einem herrschaftlicheren Gebäude? Das passte nicht zu ihr.

Manchmal fragte sie sich, warum sie eigentlich nie mit dem zufrieden war, was sie besaß. Joachim hatte sie geliebt, das wusste sie, aber es genügte ihr nicht. Sie war nicht bereit gewesen, die Ehefrau eines Seemannes zu sein. Olaf wollte mit ihr an seiner Seite ein vornehmes gesellschaftliches Leben führen – und das passte ihr anscheinend auch nicht. Der bald fünfjährige Christian und der dreijährige Ulrich waren zwei wundervolle Burschen und füllten ihr Leben doch nicht aus. Katharina seufzte. Irgendwo in ihrem Innersten fühlte sie eine seltsame Leere. Vielleicht hätte sie erst einmal in sich hineinhorchen und herausfinden müssen, was sie sich wirklich ersehnte, bevor sie ihre heimliche Verlobung überstürzt löste und ebenso eilig eine Ehe einging, die auch nicht ihren Träumen entsprach.

Genau genommen hatte sie insgeheim jedoch eine gewisse Vorstellung von ihrer Zukunft. Sie wollte nicht die verwöhnte junge Gattin eines wohlhabenden älteren Mannes sein, auf die die Leute mit dem Finger zeigten. Eine Schmarotzerin, die es sich auf Kosten ihres hart arbeitenden Gatten gut gehen ließ, war sie nie gewesen. Als sie Olaf erlaubte, ihr den Hof zu machen, hatte sie nicht damit gerechnet, dass ihr seine Bekannten bis heute mit einer gewissen Skepsis begegnen würden. Der große Altersunterschied stand wie eine wehende Fahne zwischen ihr und Olaf. Dabei wollte sie anpacken und mithelfen, ihren Gemahl unterstützen. Schließlich langweilte sie sich mit der Haushaltsführung selbst nach der Geburt ihres zweiten Kindes fast zu Tode.

Es machte sie daher sehr froh, wenn Olaf sie in seine Arbeit mit einbezog. Wenn er etwa ihren Rat bei der Stoffauswahl für die Polsterung der Strandkörbe suchte. Obwohl sie selbst nicht besonders gut mit Nadel und Faden umzugehen verstand, hielt sie sich gern in der Nähstube auf, um den wetterfesten Markisenstoff auszuwählen. Auch verfolgte sie als tatkräftige junge Ehefrau des Patrons eigene Pläne. Die waren zwar nicht so spektakulär wie etwa Eriks Entwürfe, aber auch nicht so bodenständig und auf Sicherheit bedacht wie Olafs Betriebsleitung. Sie wünschte, ihr Mann würde sich mit näherliegenden Fragen befassen als mit der Suche nach einem neuen Heim. Ihrer Ansicht nach musste er auf anderer Ebene mit der Zeit gehen, um gegen die vielen Nachahmer und Konkurrenten zu bestehen. Und sie wollte diejenige sein, die ihn bei seiner vernünftigen Expansion unterstützte.

Heute Abend hatte sie ihn darauf ansprechen wollen. Leider musste Olaf das von ihr liebevoll geplante Fest anlässlich seiner Ernennung zum Hofkorbmacher absagen. Seine Freunde waren nicht enttäuscht. Bei diesem Wetter wagte sich ohnehin niemand auf die Straße. Katharina konnte das verstehen, aber sie war betrübt. Sie hatte geplant, Olaf in der erwartungsgemäß guten Stimmung einige Vorschläge zu unterbreiten.

Sie wollte ihren Mann beiseitenehmen und ihm unter dem Eindruck des Erfolgs einen Geschäftszweig abtrotzen. Doch statt sich mit ihm vor den feiernden Gästen zurückzuziehen, war sie allein durch die Kinderzimmer und Schlafräume im ersten Stock gegangen, um die Fenster gegen den Sturm zu sichern. Diese Maßnahmen überließ sie ungern dem Hausmädchen. Und Olaf erledigte die gleiche Aufgabe im Erdgeschoss, während die Lehrlinge im Dachstuhl nach dem Rechten sahen. Alles war in Ordnung – und doch irgendwie nicht.

Katharina seufzte noch einmal. Sie sollte zu Olaf gehen und zur Feier des Tages ein Glas Moselwein mit ihm trinken, nicht auf der Treppe stehen und Trübsal blasen. Die Ernennung zum Hofkorbmacher war ihrem Mann nicht zu nehmen, auch wenn der Wind seine Gäste fortgeweht hatte. Außerdem gab es noch einen anderen Gesprächsgrund als ihren beruflichen Ehrgeiz.

Langsam schritt sie abwärts. Sie setzte vorsichtig einen Fuß vor den anderen, die hohen geschwungenen Absätze zwangen sie zu besonderer Aufmerksamkeit. Das enge Korsett, das den Bauch rein, das Hinterteil vor und die Brust nach oben drückte, brachte zudem ihre Figur in S-Form, was das Laufen auf der schmalen Stiege erschwerte.

Obwohl keine Besucher erwartet wurden, hatte sie sich angekleidet wie für den festlichen Empfang. Olaf liebte es, sie in den eleganten Roben zu sehen, die er ihr kaufte, die sie aber aus Mangel an Gelegenheit selten trug. Zu dem elfenbeinweißen Seidenkleid hatte sie spitz zulaufende Schuhe angezogen, deren Spitzen sich leicht im Saum oder in der Schleppe verfingen. Sie fand ihre Garderobe zwar reichlich übertrieben, vor allem den hohen Spitzenkragen, aber um Olaf eine Freude zu machen, sollte ihr das recht sein.

Ein Hämmern ließ die Wände plötzlich erbeben.

Katharina war so überrascht, dass sie auf der untersten Stufe strauchelte. Ehe sie sich fangen konnte, verlor sie das Gleichgewicht und fiel auf die Knie. Das Ratschen zerreißender Seide mischte sich mit ihrem erstickten Schrei. Im selben Moment heulte der Sturm laut auf, sodass niemand im Haus ihren Unfall bemerkte.

Ihr Herz raste.

Für einen Moment wurde ihr schwarz vor Augen.

Dann erst merkte sie, wie verrenkt sie auf dem Dielenboden am Fuß der Stiege lag. Sie hatte die Hände schützend auf ihren Bauch gepresst, ein Knöchel schmerzte und beide Knie ebenso. Tränen rannen ihr über die Wangen – und sie konnte nichts dagegen tun, obwohl sie gar nicht weinen wollte.

Auf allen vieren robbte sie zum Treppengeländer zurück, zog sich daran hoch. Ihre Beine zitterten, sie konnte sich kaum aufrecht halten.

Sie biss die Zähne aufeinander, wagte einen Schritt und dann noch einen. Laufen konnte sie. Sie hatte sich nichts gebrochen, vielleicht nicht einmal den Fuß verstaucht. Einzig der Schreck wirkte anscheinend wie eine Bremse auf ihre Gliedmaßen. Und das Pochen ihres Herzens normalisierte sich nicht.

Vorsichtig tastete sie über ihren Bauch, der sich ungewöhnlich hart anfühlte. Nervös, aber auch ratlos, strich sie das Kleid glatt. Sollte sie sich Sorgen machen? Katharina beschloss, das ungute Gefühl, das sie beschlich, auf ihr Erschrecken zu schieben und ansonsten zu ignorieren. Sie war kein Dämchen, das von einem kleinen Sturz aus der Fassung gebracht wurde!

Sie blickte über die Schulter, hob die Schleppe an und fand den Riss im Saum. Nun, eine gute Schneiderin würde den Schaden sicher beheben können.

Wieder erscholl das Hämmern. Trotz ihrer bebenden Glieder folgte sie dem Geräusch und öffnete die Tür zum Arbeitszimmer des Meisters.

Olaf stand hinter seinem Schreibtisch, in der rechten Hand einen Hammer, die linke am Rahmen eines Bildes, das er an der Wand auszurichten versuchte. Er hatte den Rock abgelegt und die Halsbinde gelockert. Als er sie eintreten hörte, wandte er sich um. Seine Augen leuchteten auf.

»Katharina, wie schön. Du kommst gerade recht. Findest du, dass die Ernennungsurkunde an diesen Platz passt?« Er deutete hinter sich zur Wand.

»Solltest du sie nicht in der Manufaktur aufhängen, wo deine Kunden sehen, wie sehr der Großherzog deine Arbeit schätzt?«, fragte sie mit dem schwachen Lächeln, das ihr schwankender, schmerzender Körper ihr erlaubte.

»Das Wappen auf dem Firmenschild sollte genügen«, erwiderte Olaf bescheiden. »Außerdem bin ich lediglich Hoflieferant für Spazierstöcke aus Rohr. Das macht nicht so viel her, finde ich.«

»Es war eine gute Entscheidung, dass du trotz des Umsatzes mit den Strandkörben diese traditionellen Waren weiterhin herstellst.« Katharina sank – wegen des Korsetts ein wenig vornübergebeugt – auf den Armlehnstuhl auf der anderen Seite von Olafs Schreibtisch. »Ich bin sehr stolz auf dich, Olaf. Es ist mir egal, ob du nun Hoflieferant für Strandkörbe, Schiffsmatten oder Rohrstöcke geworden bist.«

Versonnen wog ihr Mann den Hammer in seinen Händen. »Eigentlich wollte ich die Urkunde gemeinsam mit unseren Gästen aufhängen …«

Wie zur Antwort zischte das Feuer im Kamin nach einem heftigen Windstoß, der in den Schlot fuhr.

»Ich bin eben ein Handwerker«, fuhr Olaf fast entschuldigend fort. »Für einen wie mich macht erst der Nagel in der Wand, an dem ich die Auszeichnung anbringe, die Sache komplett.«

»Es wird nicht deine letzte Ehrung sein«, versicherte Katharina rasch.

»Das will ich hoffen.« Olaf legte den Hammer auf die Schreibtischplatte, suchte unter den hier liegenden Papieren offenbar nach einem bestimmten Blatt. Gedankenverloren murmelte er dabei: »Wo ist denn nur die Skizze …?« Er sah flüchtig auf, schenkte Katharina ein Lächeln. »Hab bitte einen Moment Geduld mit mir – ich möchte dir etwas zeigen.« Dann senkte er die Augen wieder auf seinen trotz der vielen Schriftstücke erstaunlich aufgeräumt wirkenden Sekretär.

Katharina wartete geduldig. Jetzt mit der Tür ins Haus zu fallen war gewiss keine gute Idee. Ihre Unruhe wuchs dennoch. Nicht zuletzt wegen des starken Grummelns in ihrem Bauch. Olafs Suche stellte ihre Geduld auf eine harte Probe.

»Es gibt noch so viel zu tun – und … ich würde dir gern dabei helfen«, entfuhr es ihr unbeabsichtigt.

»Wo sind denn nur die neuen Entwürfe von Erik?«, sagte Olaf vor sich hin. Ihren Einwand hatte er anscheinend nicht gehört.

Sie stöhnte innerlich auf. Trotzig hob sie an: »Ich habe da ein paar Vorschläge …«

Er lachte kurz. Dann ließ er das Suchen sein, kam um das wuchtige, aus Eichenholz gefertigte Möbelstück herum und trat neben sie. Er sah auf sie nieder. Fast bedauernd und als höre sie ihm nicht zu, murmelte er: »So ist das mit einer jungen Frau – sie hat Pläne, während man selbst zufrieden auf ein gelebtes Leben zurückblickt.«

»Unsinn!«, widersprach Katharina. »Du stehst mittendrin in deinem Leben. Wir haben zwei kleine Söhne, denen du noch lange Vater und nicht Großvater sein sollst. Denk an Christian und Ulrich.«

»Und an Erik …«

»Ja natürlich«, beeilte sich Katharina zuzustimmen, obwohl sie fand, dass es einen großen Unterschied gab zwischen einem verwöhnten, nach den Regeln des neuen Bürgerlichen Gesetzbuchs bald volljährigen Zwanzigjährigen und der Verantwortung gegenüber zwei Kindern, die noch nicht einmal schulpflichtig waren. Aber sie wollte Olaf nicht verärgern. Außerdem regte sich eine leichte Übelkeit in ihrem Körper, die sie daran erinnerte, sich besser nicht aufzuregen.

Liebevoll tätschelte Olaf ihre Schulter. »Zerbrich dir nicht meinen Kopf, Liebste. Es ist alles gut, wie es ist, und es macht mich glücklich, dass du ein wenig stolz auf deinen alten Mann sein kannst. Wenn wir erst in einer vornehmen Villa leben …«

»Ach Olaf.« Katharina schüttelte ihn entnervt ab. Um einer Debatte über den möglichen Umzug zuvorzukommen, entschloss sie sich zur Flucht nach vorn. »Ich möchte einen Strandkorbverleih aufbauen. In Warnemünde. Am besten gleich unter dem Leuchtturm.«

»Was willst du?«

Der Schmerz in ihrem Unterleib zog mit plötzlicher Heftigkeit in ihren Rücken und von dort zurück in den Bauch. Unwillkürlich versteifte sich Katharina. Vielleicht war einer der Fischbeinstäbe in ihrem Korsett gebrochen und drückte ihr nun in den Leib. Aber tat das dermaßen weh?

Mit zusammengebissenen Zähnen wiederholte sie: »Ich möchte mich um einen Strandkorbverleih zu Hause in Warnemünde kümmern. Ferien an der See werden immer beliebter …«

»Natürlich. Deshalb verkaufe ich ja auch immer mehr Strandkörbe. Ich verstehe nicht, worauf du hinauswillst, Katharina.«

Lag ein Vorwurf in seiner Stimme? Der Wind zerrte an den Fensterläden, als kündigte er einen noch heftigeren Sturm an, der jedoch im Inneren des Hauses aufzuziehen drohte.

»Es ist nicht sinnvoll, dass du den Verleih anderen überlässt«, platzte sie heraus. »Ich habe meinen Vater gebeten, sich umzuhören. Die Strandkorbvermietung ist ein gutes Geschäft. Du solltest das nicht mehr aus der Hand geben. Es ist verschenktes Geld. Ich möchte mich persönlich darum kümmern.«

»Katharina, bist du von Sinnen? Du erschienst mir immer so vernünftig!«

Sie lachte. Die Heiterkeit nahm ihr sogar das Gefühl des regelmäßig wiederkehrenden und sich langsam verstärkenden Schmerzes. »Gerade deshalb mache ich dir diesen Vorschlag. Dass die Vermietung in unseren Händen bleibt, erscheint mir äußerst vernünftig.« Sie kam nicht umhin, seine Stimme zu imitieren.

»Du hast keine Ahnung von Geschäften.« Offenbar musste Olaf an sich halten, um nicht laut loszupoltern.

Ich wünschte, er würde diesen Ton auch einmal Erik gegenüber anschlagen, dachte sie grimmig.

Seine Reaktion stachelte ihren Widerspruch an. »Man kann alles lernen. Außerdem geht es anfangs wohl eher um Aufbau und Organisation. Darin sind Hausfrauen eigentlich stets Meister, nicht wahr?«

»Bist du nicht ausgefüllt mit der Führung dieses Haushalts und der Betreuung unserer Söhne? Sorge ich nicht gut genug für dich?«

»Lass es mich versuchen, Olaf«, insistierte sie. Vorsichtshalber erwähnte sie nicht, dass es ihr eben nicht genügte, seine Frau und die Mutter seiner Kinder zu sein. Ihre Beweggründe würde er nicht verstehen, das wusste sie. Allerdings halfen viele Handwerksfrauen ihren Männern in den Betrieben, lediglich in den oberen Gesellschaftsschichten saßen die Damen tatenlos herum, sofern sie sich nicht für wohltätige Zwecke engagierten. »Zu deinem Schaden soll es nicht sein«, nuschelte sie trotzig.

Offensichtlich verärgert über ihren Widerstand widersprach er ungewöhnlich heftig: »Das ist Dummschnack, Katharina. Ich lasse nicht zu, dass meine Frau arbeitet. Strandkorbverleih! Das ist die Aufgabe von Gastwirten und Kioskbetreibern. Was sollen meine Kunden von uns denken?!«

»Sie werden denken, dass du ein umsichtiger und geschäftstüchtiger Mann bist«, erwiderte sie schlicht.

Wieder wallte dieser seltsame Schmerz in ihrem Bauch auf. Wenn sie es nicht besser wüsste, würde sie meinen, in den Wehen zu liegen. Als Mutter von zwei Kindern kannte sie die Anzeichen. Sie befand sich aber erst am Anfang einer neuen Schwangerschaft, und von frühzeitigen Wehen in diesem Stadium hatte sie noch nie gehört. Also doch das Korsett …

Eine Weile schwiegen beide. Jeder schien mit den eigenen Gedanken beschäftigt. Olaf begann, nachdenklich auf und ab zu laufen. Als er schließlich zu ihrem Stuhl zurückkehrte, meinte er gutmütig: »Vielleicht hast du ja recht, Katharina, und ich sollte einen neuen Geschäftszweig eröffnen. Der Strandkorbverleih ist wohl eine gute Sache. Erik sollte sich darum kümmern …«

In wildem Zorn sprang sie auf. »Ich möchte mich darum kümmern. Ich habe dir meine Idee nicht vorgetragen, damit sich Erik wieder …«

»Katharina! Um Himmels willen!« Olaf umfasste ihre Arme, hielt sie fest. »Was ist mit dir? Wo hast du dich verletzt?«

Zuerst fiel ihr das Entsetzen in seiner Miene auf, dann die Besorgnis in seinen Augen. Erst mit einiger Verzögerung begriff sie, dass er auf ihren Rücken starrte – nein, tiefer. Sie machte sich von ihm los, blickte über die Schulter, zerrte an ihrem Rock. Endlich sah auch sie den tellergroßen Blutfleck, der sich dort ausgebreitet hatte, wo sie gesessen hatte. Darauf konzentriert spürte sie die Feuchtigkeit zwischen ihren Beinen. Im selben Moment fuhr ihr der Schmerz derart stechend durch den Unterleib, dass ihr die Knie einzuknicken drohten. Ihre Hände fuhren hoch, und sie hielt sich wankend an Olaf fest.

»Das Kind«, flüsterte sie. »Es muss etwas mit dem Kind sein.«

»Welches Kind?«

»Dein Kind. Unser Kind. Ich bin wieder schwanger, Olaf. Und ich hoffe so sehr, dass du endlich die Tochter bekommst, die du dir wünschst. Heute Abend wollte ich es dir …«

»Oh mein Gott!« Olaf schloss sie in die Arme, hielt sie, drängte sie sacht zurück auf den Stuhl. Seine Stimme verriet die Panik, die in ihm aufkeimte, als er sie aufforderte: »Setz dich, Katharina. Ich rufe einen Arzt. Oder die Hebamme. Irgendjemanden, der dir helfen kann.«

Sofern bei diesem Wetter überhaupt jemand kommt, fuhr es ihr durch den Kopf. Ihre Sicht wurde durch einen Tränenschleier verhüllt. Schwindel erfasste sie. Sie glaubte zu spüren, wie das Leben in ihr erstarb. Dann verlor sie das Bewusstsein.

3

»Haben Sie schon gehört …?« Ein unverständliches Flüstern folgte und darauf der ebenso sensationsgierig wie schadenfroh klingende Ausruf: »Die arme Frau!«

In den ersten Wochen nach dem Schiffsunglück hatte Greta niemals daran gedacht, der Klatsch könnte ihr gelten. Erst mit der Zeit bemerkte sie, dass die Leute auf sie zeigten, wenn sie zu tuscheln begannen. Auf der Bismarck-Promenade etwa, über die sie ihre kleine Tochter in dem neuen Kinderwagen schob. Es war eine Fabrikation von E. A. Naether in Zeitz, und Greta war mächtig stolz auf ihre Errungenschaft, die sich sonst vor allem Damen der besseren Gesellschaft leisteten. Als junge Mutter fühlte sich Greta endlich vollkommen. Sie hatte jedoch nicht damit gerechnet, wie zerbrechlich ihr Glück war.

Als ihre Schwester Luise ihr am Tag nach Friederikes Geburt noch einmal mitteilte, dass es ein Unglück gegeben hatte, mochte sie dies anfangs wieder nicht glauben geschweige denn, dass sie sich erinnerte, bereits davon gehört zu haben. Es überstieg ihr Vorstellungsvermögen, Joachim unter Lebensgefahr im Krankenhaus zu wissen und nicht auf der Brücke eines Schiffs. Er war ein großer, kräftiger Mann und sah so gut aus in der blauen Uniform, deren Farbe sich in seinen Augen spiegelte. Aber jetzt, schwebend zwischen Leben und Sterben? War er überhaupt bei Bewusstsein? Die Furcht vor dem, was sie im Klinikum der Universität Rostock erwartete, ließ sie ihren Besuch immer weiter hinausschieben – bis sie Luises Drängen nichts mehr entgegenzusetzen hatte.

»Was sollen die Leute von dir denken?!«, schalt die Ältere. »Eine Frau, die ihrem todkranken Gatten nicht beistehen will, ist eine miserable Ehefrau. Pflichtvergessen und gefühlskalt. Willst du wirklich mit diesem Makel weiterleben, Greta?«

Es blieb ihr nichts anderes übrig, als die Rolle der duldsamen, hoffenden Ehefrau einzunehmen. Glücklicherweise beanspruchten das Baby und die Haushaltsführung sie dermaßen, dass Greta höchstens zwei Mal in der Woche nach Rostock fahren musste, um ihr Gesicht zu wahren. Doch die einstündige Reise mit dem Motorboot stromaufwärts auf der Warnow war stets geprägt von ihrer Angst vor Joachims Zustand. Manchmal dachte sie, dass sie diese Situation nicht mehr ertrug und es für alle Beteiligten besser wäre, wenn Gott ihn zu sich holte. Nicht nur, weil sie als junge Witwe mit einer Rente aus der Seemannskasse gut dastand. Tatsächlich erschreckte und berührte sie das Wiedersehen tief, sofern man überhaupt von Wiedersehen sprechen konnte.

Joachim steckte von Kopf bis Fuß in einem dicken Verband, in den Schlitze für seine Augen, die Nasenöffnung und den Mund geschnitten waren. Die teilweise nur oberflächlichen, an manchen Stellen jedoch auch stärkeren Verbrennungen betrafen etwa die Hälfte seines Körpers, vor allem Brust, Bauch und Oberschenkel, am wenigsten sein Gesicht. Wie Greta aus den bruchstückhaften Berichten der behandelnden Ärzte erfuhr, war Joachim heißem Dampf ausgesetzt gewesen. Sein Schiff war während des schweren Sturms in Seenot geraten und leckgeschlagen, Wasser drang in den Rumpf und damit in den Maschinenraum. Als Joachim dort nach dem Rechten sah, erlosch zwar gerade das Feuer in den Kesseln, der austretende Dampf verbrühte ihn jedoch.

»Es hätte noch schlimmer kommen können«, tröstete eine der Krankenschwestern.

Greta half das wenig. Zuversicht sah anders aus, fand sie, zumal sie auch erfuhr, dass Joachims Herz und sein Kreislauf einen erbitterten Kampf gegen die Verletzungen ausfochten, der noch lange nicht gewonnen war.

Er selbst konnte nicht mit ihr sprechen, befand sich in einem Dämmerzustand. Deshalb wusste sie nicht einmal, ob er ihre Besuche überhaupt wahrnahm. Wenn sie ihn niedergeschlagen verließ, dachte sie wieder daran, dass es besser wäre, Joachims Leiden würde ein rasches Ende finden. Aber im nächsten Moment schämte sie sich für den Gedanken so sehr, dass sie nach ihrer Rückkehr in Warnemünde sofort in die Kirche eilte, um vor dem Schrein des heiligen Christopherus für die Gesundheit ihres Mannes zu beten.

Obwohl sie als Ehefrau eines schwer kranken Schiffsoffiziers Achtung zu erfahren hoffte, fand sie in ihrer neuen Rolle nicht das Märtyrertum, von dem sie sich anfangs eine gewisse Aufwertung versprochen hatte. Ihr Alltag erwies sich als düster, private Einladungen von Bekannten blieben aus. Angesichts der Todesopfer, die das Unglück ebenfalls gefordert hatte, überschüttete sie niemand mit Mitgefühl. Schließlich bereiteten ihr allein die Spaziergänge mit dem Kinderwagen ein wenig Freude in ihrem Alltag.

Leider besserte sich das Wetter nur insofern, als der Sturm zwar nachließ, aber es blieb ein regnerisches, wolkenverhangenes Frühjahr mit kräftigen Böen, manchmal spritzte die Gischt sogar bis auf die Mole. Die Tage, an denen Greta ihr Haus verlassen konnte, um auf der Promenade zu flanieren, waren selten. Die vornehmen Touristinnen, die sie in den vergangenen Jahren vor dem erstklassigen Hotel Hübner an der Seestraße oder im Damenbad beobachtet hatte, reisten deshalb wohl gar nicht erst an. Nicht einmal ins Warmbad kamen die Fremden in ähnlich hoher Zahl wie in den vergangenen Jahren. Statt der eleganten Kleider, die sie so gerne bestaunte, geriet Greta plötzlich selbst in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit.

Inzwischen machten immer neue Gerüchte über die Havarie die Runde. Greta erreichten nur Halbwahrheiten, aus denen sie sich heraussuchen durfte, was ihr plausibel erschien. Sie wagte nicht, in der Reederei vorzusprechen, um sich zu erkundigen, was tatsächlich geschehen war. Ihren Mann konnte sie natürlich nicht fragen. Jedenfalls noch nicht. So musste sie sich mit dem begnügen, was der Klatsch ihr zutrug: dass Joachim einen Befehl des Kapitäns missachtet hatte, dass er die Brücke nicht hätte verlassen dürfen, dass seinetwegen die Schotten des Maschinenraums zu spät geschlossen wurden, dass allein der Steuermann durch eine Reihe von Fehlentscheidungen den Tod der Matrosen zu verantworten hatte.

Greta lebte lange genug an der Küste, sie wusste, was diese Anschuldigungen bedeuteten: Sobald Joachim genesen war, würde man ihn vor Gericht zur Verantwortung ziehen. Doch selbst wenn ihm Gnade widerfuhr, war seine Karriere beendet. Derartige Vorwürfe, auch unbewiesene, besaßen eine furchtbare Lebensdauer. Die goldene Zukunft als Kapitänsfrau hatte Greta verloren. Es war eine erschreckende Wiederholung der Ehe ihrer Eltern: Ihre Mutter hatte einen vermögenden Mann geheiratet und auf ein gutes Leben an seiner Seite vertraut, am Ende war sie an seinen leichtsinnigen Investitionen, der daraus resultierenden Pleite und dem gesellschaftlichen Abstieg zugrunde gegangen. Das, schwor sich Greta, würde ihr nicht passieren. Nicht so jedenfalls.

Hoch erhobenen Hauptes schob sie die kleine Friederike die Bismarck-Promenade entlang, vorbei an den Grünflächen, die den Spazierweg von der Seestraße mit den feinen Hotels, Pensionen, Restaurants und Kaffeehäusern trennten, und an dem weiß gestrichenen Holzzaun auf der anderen Seite, hin zu den Dünen und den Badeanstalten am Strand.

Unter den weißen und rauchgrauen Wolken, die über den lichtblauen Himmel zogen, herrschte wieder nur wenig Betrieb. Auf dem breiten Sandstreifen spielten Kinder Fangen, und ihre Mütter, älteren Schwestern und Gouvernanten suchten in Strandkörben Zuflucht vor der gelegentlich herausblitzenden Sonne. Nur eine Handvoll Sitzmöbel waren am Meeressaum aufgestellt, die meisten Badehäuser waren vermutlich unbenutzt.

Greta überlegte, ob sie es sich an einem schönen Tag vielleicht einmal in einem Strandkorb bequem machen sollte. Aber dann schüttelte sie still den Kopf. Sie konnte mit dem Kinderwagen nicht durch den Sand fahren. Außerdem: Was nützte es, sich in einem Korbsessel vor Wind und Sonne zu verkriechen? Sehen und gesehen werden schienen nicht die vorrangigsten Ziele der Strandkorbbesitzer, wohl aber ihre eigenen.

Sie hielt nach einer freien Parkbank an der Promenade Ausschau. Da nicht viel los war, fand sie rasch einen Sitzplatz. In Sichtweite des Leuchtturms stellte sie den Wagen mit der schlafenden Friederike so, dass die Sonne nicht auf das Gesichtchen der Kleinen schien, und setzte sich. Nachdem sie ihren Rock zurechtgezupft hatte, spannte sie den Spitzenschirm auf. Die Leute sollten nur nicht denken, dass es ihr an den Attributen eines gutbürgerlichen Lebens mangelte.

Eigentlich war es ein herrlicher Tag. Ein Tag, um alle Sorgen zu vergessen. Greta begann, sich zu entspannen und den Blick über die weite Ostsee zu genießen. Am Horizont machte sie einen Dampfer aus. Vielleicht das Fährschiff, das im regelmäßigen Fahrdienst binnen zwei Stunden Gedser an der südlichen Spitze der dänischen Insel Falster erreichte.

»Hast du schon gehört …?«

»Ja, die Arme!«

Schon wieder dieses Getratsche! Verärgert wandte Greta den Kopf in Richtung der Sprechenden. Konnten die Klatschbasen sie nicht wenigstens einmal in Ruhe lassen?

Offensichtlich hatten sich zwei Freundinnen zufällig unterwegs zu Besorgungen getroffen. Es waren jüngere Frauen etwa ihres Alters, die beide einen Korb am Arm trugen. Greta konnte nicht erkennen, was sich darin befand. Kleinere Einkäufe vermutlich. Sie hatte die Personen nie zuvor gesehen, aber das war letztlich bedeutungslos. Wenn es darum ging, irgendwelchen Schnack auszutauschen, waren Leute, die man nicht kannte, immer am lautesten dabei.

»Es heißt, sie verliere langsam den Verstand«, flüsterte die eine in einer Lautstärke, die das Rauschen der Brandung übertönte.

Diese Behauptung ging zu weit. Gretas Kinn klappte herunter. Sie konnte nicht verhindern, dass sie die beiden Frauen mit offenem Mund anstarrte.