Das Jahrhundert der Toleranz - Richard David Precht - E-Book

Das Jahrhundert der Toleranz E-Book

Richard David Precht

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Beschreibung

Der Essay von Richard David Precht zur neuen Weltordnung

Die Welt befindet sich im Umbruch. Von einer von den USA dominierten zu einer multipolaren Weltordnung mit China und Indien als neuen Machtzentren. Das schleichende Ende der Pax Americana stellt die Europäer vor eine enorme Herausforderung: Wie gehen wir mit dem Aufstieg dieser Länder um? Die Gefahr wächst, dass wir es nicht schaffen, auf globaler Ebene auf neue Feindbilder zu verzichten. Auf die Schablonen »Christen gegen Heiden«, »Zivilisierte gegen Wilde«, »Freiheit gegen Kommunismus«, »Christlich-abendländische Kultur gegen den Islam« folgt nun »Demokratien gegen Autokratien«.

• Wer hat dieses Narrativ in die Welt gesetzt?

• Welche Interessen stehen dahinter?

• Warum ist es erfolgreich?

Dieser Essay möchte zeigen, dass die vermeintliche »systemische Rivalität« zu China und anderen Staaten zwar eine Rivalität ist, aber keine systemische. Die Aufgabe unseres Jahrhunderts besteht darin, aus diesen althergebrachten Freund-Feindmustern auszubrechen und unterschiedliche Entwicklungswege und kulturelle Eigenheiten zuzulassen. Denn die Menschenrechte, die keine »westlichen« Werte sind, werden wir nur dann schützen und bewahren, wenn wir ihnen voll und ganz entsprechen. Toleranz, Diversität und Offenheit lassen sich einfordern, wenn wir sie im Umgang mit anderen selbst praktizieren. Zum ersten Mal in der Geschichte der Menschheit versammelt das 21. Jahrhundert im Zeichen der globalen ökologischen Katastrophe alle im selben Boot. Meistern können wir sie nur, wenn wir auf das schauen, was alle Länder und Kulturen eint, nicht auf das, was sie trennt. Es wird kein Jahrhundert des »Entweder-oder« nach dem Zuschnitt einer Hegemonialmacht mehr sein, wie die vergangenen – sondern, will sich die menschliche Zivilisation nicht selbst vernichten: das Jahrhundert der Toleranz.

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Buch

Die Welt befindet sich im Umbruch. Von einer von den USA dominierten zu einer multipolaren Weltordnung mit China und Indien als neuen Machtzentren. Das schleichende Ende der Pax Americana stellt die Europäer vor eine enorme Herausforderung: Wie gehen wir mit dem Aufstieg dieser Länder um? Die Gefahr wächst, dass wir es nicht schaffen, auf globaler Ebene auf neue Feindbilder zu verzichten. Auf die Schablonen »Christen gegen Heiden«, »Zivilisierte gegen Wilde«, »Freiheit gegen Kommunismus«, »Christlich-abendländische Kultur gegen den Islam« folgt nun »Demokratien gegen Autokratien«.

• Wer hat dieses Narrativ in die Welt gesetzt?

• Welche Interessen stehen dahinter?

• Warum ist es erfolgreich?

Dieser Essay möchte zeigen, dass die vermeintliche »systemische Rivalität« zu China und anderen Staaten zwar eine Rivalität ist, aber keine systemische. Die Aufgabe unseres Jahrhunderts besteht darin, aus diesen althergebrachten Freund-Feind-Mustern auszubrechen und unterschiedliche Entwicklungswege und kulturelle Eigenheiten zuzulassen. Denn die Menschenrechte, die keine »westlichen« Werte sind, werden wir nur dann schützen und bewahren, wenn wir ihnen voll und ganz entsprechen. Toleranz, Diversität und Offenheit lassen sich einfordern, wenn wir sie im Umgang mit anderen selbst praktizieren. Zum ersten Mal in der Geschichte der Menschheit versammelt das 21. Jahrhundert im Zeichen der globalen ökologischen Katastrophe alle im selben Boot. Meistern können wir sie nur, wenn wir auf das schauen, was alle Länder und Kulturen eint, nicht auf das, was sie trennt. Es wird kein Jahrhundert des »Entweder-oder« nach dem Zuschnitt einer Hegemonialmacht mehr sein wie die vergangenen – sondern, will sich die menschliche Zivilisation nicht selbst vernichten: das Jahrhundert der Toleranz.

Autor

Richard David Precht, geboren 1964, ist Philosoph, Publizist und Autor und einer der profiliertesten Intellektuellen im deutschsprachigen Raum. Er ist Honorarprofessor für Philosophie und Ästhetik an der Hochschule für Musik Hanns Eisler in Berlin. Seit seinem sensationellen Erfolg mit Wer bin ich – und wenn ja, wie viele? waren alle seine Bücher zu philosophischen oder gesellschaftspolitischen Themen große Bestseller und wurden in mehr als 40 Sprachen übersetzt. Seit 2012 moderiert er die Philosophiesendung Precht im ZDF und diskutiert zusammen mit Markus Lanz im Nr. 1-Podcast LANZ & PRECHT im wöchentlichen Rhythmus gesellschaftliche, politische und philosophische Entwicklungen

Außerdem von Richard David Precht im Programm

Wer bin ich – und wenn ja, wie viele • Liebe • Die Kosmonauten • Warum gibt es alles und nicht nichts • Die Kunst, kein Egoist zu sein • Immer mehr ist immer weniger • Anna, die Schule und der liebe Gott • Lenin kam nur bis Lüdenscheid • Tiere denken • Jäger, Hirten, Kritiker • Künstliche Intelligenz und der Sinn des Lebens • Von der Pflicht • Freiheit für alle • Die vierte Gewalt • Wer bin ich – und wenn ja, wie viele – die Graphic Novel • Erkenne die Welt • Erkenne dich selbst • Sei du selbst • Mache die Welt

Richard David Precht

Das Jahrhundert der Toleranz

Plädoyer für eine wertegeleitete Außenpolitik

Aus Gründen der besseren Lesbarkeit wird im Folgenden auf die gleichzeitige Verwendung weiblicher und männlicher Sprachformen verzichtet und das generische Maskulinum verwendet. Diese Formulierungen umfassen gleichermaßen weibliche und männliche Personen mit ein; alle sind damit selbstverständlich gleichberechtigt angesprochen und mit gemeint.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Originalausgabe Mai 2024 

Copyright © 2024: Wilhelm Goldmann Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

Redaktion: Regina Carstensen

Umschlag: Uno Werbeagentur, München

Umschlagmotiv: ©FinePic, München

Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling

JE ∙ CF

ISBN 978-3-641-27186-2V001

www.goldmann-verlag.de

Europe has to grow out of the mindset that Europe’s problems are the world’s problems but the world’s problems are not Europe’s problems.

Subrahmanyam Jaishankar, Außenminister Indiens

Inhalt

Inhalt

I. Die Ohnmacht der Vernunft

II. Die Herausforderungen unseres Jahrhunderts

III. Warum die Geschichte nicht zu Ende ist

IV. Woran Gesellschaften scheitern

V. Die Sehnsucht nach einfachen Erzählungen und ihre fatalen gesellschaftlichen Folgen

VI. Unzeitgemäße Feindbilder

VII. Systemische Rivalität als bewusste Entscheidung, die Macht der Gefühle und die Mittel kognitiver Kriegsführung

VIII. Zwei Weltbilder: Identitätspolitik versus universalistischer Humanismus

IX. Was sind Werte? Und woran liegt es, dass man sie nicht besitzt?

X. Was sind Menschenrechte?

XI. Warum es mehr schadet als hilft, von westlichen Werten zu sprechen

XII. Die Fallstricke der bisherigen wertegeleiteten Außenpolitik

XIII. Werte verteidigen im 21. Jahrhundert

XIV. Das Jahrhundert der Toleranz

Anmerkungen

Danksagung

Personenregister

Sachregister

I. Die Ohnmacht der Vernunft

Dieser Essay betrachtet, welche große Herausforderung auf die Staaten der Welt im 21. Jahrhundert zukommt. Und er fragt, wie ein halbwegs friedliches Miteinander möglich sein könnte und wie es sich vermeiden lässt, dauerhaft in alte Muster der Feindschaft und Konfrontation zurückzufallen. Dabei nimmt er eine philosophische Perspektive ein. Der Autor bietet dem Leser keine schnellen »Lösungen«. Wie sollte er auch, wo die verhandelten Fragen keine »Probleme« sind. In der Mathematik und stärker noch in der Informatik, die heute mehr und mehr die Grammatik unseres Denkens bestimmen, sind Schwierigkeiten Probleme, die durch eine Lösung verschwinden. In Gesellschaft, in Politik und Kultur, schlicht: im wirklichen Leben, werden Herausforderungen und Krisen nicht durch Lösungen aus der Welt geschafft. Für welche Maßnahmen man auch immer sich entscheidet, stets werden Schwierigkeiten verlagert, überformt, in den Hintergrund gestellt oder durch andere Schwierigkeiten ersetzt.

Genau dies macht die hier verhandelte Frage philosophisch. Die richtigen handlungsleitenden Maximen und Reflexionen zur Rolle Deutschlands und Europas in einer sich rasant verändernden Welt sind keine Probleme der genannten Art. Sie sind keine binäre Programmierung einer KI, die nur Einsen kennt und Nullen. Und die Schwierigkeiten haben strukturell nicht entfernt etwas zu tun mit bahnbrechenden Ingenieursleistungen oder den Problemen der Mathematik. Im Gegensatz zur Sphäre, in der Probleme erkannt und gelöst werden, kann es für die großen gesellschaftlichen Fragen entsprechend auch keine »Experten« geben; ein Begriff, der sich sinnvollerweise nur im naturwissenschaftlich-technischen Kontext verwenden lässt sowie bei Fragen von empirischer Eindeutigkeit. Von einem Experten lässt sich erwarten, dass er Probleme nicht nur versteht, sondern möglichst zügig behebt. Doch die Erwartung einer politischen »Expertise«, dort, wo sie nicht leichtfertig gleichgesetzt ist mit der Anstellung bei einer einschlägigen politischen Organisation oder gar der Leitung eines politischen Ressorts bei einem überregionalen Massenmedium, kann, wenn überhaupt, nur in einer möglichst vorurteilsfreien Betrachtung, in Umsicht und Weitsicht eingelöst werden.

Man wird nicht behaupten wollen, dass es Menschen, die sich darum bemühen, in Deutschland nicht gibt. Aber deren Expertise, soweit an Universitäten und Forschungseinrichtungen vorhanden, bestimmt bei uns, nicht anders als in anderen Ländern, nur selten die politischen und medialen Debatten. Umsicht, Vorurteilsfreiheit und Abstand sind das nützlichste Kapital der Wahrheitsfindung. Aber es ist eines, das sich medial und politisch nur selten verzinst. Entsprechend werden große Fragen der Politik, Fragen nach Leit- und Richtwerten, strategischen Ausrichtungen, langfristigen Perspektiven, Freund-Feind-Linien und diplomatischen Schritten kaum irgendwo öffentlich sortiert wie Eisenspäne in einem Magnetfeld. Und noch weniger werden sie je vor einem neutralen Gerichtshof der Vernunft auf ihre Stichhaltigkeit, ihre Folgerichtigkeit und ihre ethische Stringenz verhandelt. Der Motor, der die Politik wie auch die Massenmedien vorantreibt, ist zumeist der Affekt. Und die Belohnungskultur der handelnden Protagonisten sind Schlagzeilen und Zustimmungswerte, mithin Markt-, Macht- und Karrierechancen.

Wer über die großen geostrategischen Herausforderungen des 21. Jahrhunderts nachdenkt, muss das wissen. Er muss unterscheiden zwischen dem, was Affekt und was Interesse ist. Und er muss die Erzählungen kennen, die aus der Kombination von beidem entstehen. Denn genau diese Narrative bestimmen die gesellschaftlichen Debatten in den Massenmedien. Politiker und Parteien wiederum suchen sich hiervon oft heraus, was zu ihnen passen soll und zumindest flüchtig positive Aufmerksamkeitsgewinne verspricht. Auf diese Weise wird die Komplexität des Weltgeschehens reduziert, habhaft gemacht durch das Einsortieren in einfache, oft allzu einfache Schablonen.

Schon der große Ernst Cassirer wusste in den Zwanzigerjahren: Menschen basteln sich ihre Erfahrungen nicht in einem unendlichen Abgleich mit der Welt zusammen, sondern sie basteln sie schlicht zu einer Welt zusammen. Kein Wunder, dass sowohl die Auswahl dessen, was im Fokus steht und Schlagzeilen verspricht, als auch die moralische Bewertung flatterhafte Gestalten des Zeitgeists sind, ausgespuckt von der medialen Maschinerie. Mit Grundsätzen und Grundsätzlichem haben sie zumeist nur rhetorisch zu tun; tatsächlich jedoch sind diese Grundsätze äußerst flexibel. Wenn ein Krieg in Europa wichtiger ist als ein ebenso grausamer Krieg im Jemen, Kriegstote in Europa dramatischer als Hungertote in Afrika und Überschwemmungen infolge des Klimawandels erst dann ernst genommen werden, wenn sie das Ahrtal und Dürren die brandenburgischen Wälder heimsuchen, dann entspricht nichts davon unseren moralischen Grundsätzen. Die Grundsätze unserer Verfassung und unsere Werte sehen die Menschenwürde als unüberbietbares Gut, als einen »Zweck an sich«, der nicht relativiert werden darf. Das Leben eines jeden Menschen ist gleich viel wert, egal welchen Geschlechts er ist, welche Hautfarbe er hat und wo auch immer in der Welt er lebt. Und doch stufen wir, wenn Europa wichtiger ist als Afrika, implizit die Menschenwürde ab in Wir, die anderen und die ganz anderen.

Solche emotionalen Relativierungen, so scheint es, gehören zu den Menschen dazu, seit es sie gibt. Und auch die bahnbrechenden Einsichten der Aufklärung – der Versuch einer universellen Ethik der Menschenwürde auf rationaler Grundlage – haben daran nicht genug geändert, als dass Instinkte und Affekte nicht heute noch handlungsleitend in der Politik wären. Unsere emotionale Grundausstattung und unsere Not, die Komplexität der Welt nach eigenen Vorstellungen reduzieren zu müssen, um sie in Begreifbares zu zerlegen, machen es rationalen Überlegungen zur Politik bis heute sehr schwer. Der Hang dazu, Denkwege abzukürzen, ist allemal weiter verbreitet als die Neigung, sich mit großer Komplexität auseinanderzusetzen; gar nicht zu reden von der unter Menschen so selten zu findenden Liebe zu nüchterner Wahrheit. Jeder praktisch denkende Mensch, sofern er nicht seine beruflichen Einkünfte daraus bezieht, weiß, dass eine solche Wahrheit ihm nichts bringt, außer vielleicht einen kleinen Freudensprung in seinem Gehirn. Abkürzungen, Vereinfachungen und Schablonisierungen dagegen geben der Seele ein weit festeres Fundament. Sie befeuern Zustimmungsgemeinschaften, die ihren kognitiven Schnellzement durch Zuspruch weiter verfestigen.

Das Einfallstor jeder philosophisch motivierten Argumentation ist deshalb nicht die Rationalität der Betrachtungsweise um ihrer selbst willen. Durchschlagskräftiger ist eine andere Frage, nämlich die, ob wir unsere Interessen selbst richtig verstehen. Jede Abkürzung in der politischen und außenpolitischen Debatte, jede Diskursverengung und jede einfache Schablonisierung ist interessengeleitet. Auch dies dürfte in der Geschichte der Menschheit nie anders gewesen sein. Die Frage ist nur, ob unser oft kurzsichtig und kurzfristig verstandenes Interesse auch tatsächlich unser wirklich langfristiges Interesse ist. Die Abstand nehmende Betrachtung appelliert also nicht an die Wahrheit, sondern an den wohlverstandenen Eigennutz. Brauchen wir nicht mehr Umsicht und mehr Abstand nehmende Reflexion, um die eigenen Interessen klarer zu sehen: die Interessen Deutschlands, die Interessen Europas und mithin die Interessen aller Menschen auf unserem immer kleiner erscheinenden Planeten? Werden wir es schaffen, uns vor den Fallstricken eines kurzsichtigen wishful thinking zu befreien, in denen die deutsche und europäische Außenpolitik derzeit so sehr gefangen zu sein scheint? Schaffen wir es, erfolgreich gegen die so mut- und perspektivlose Restauration anzudenken, die uns ein unabsehbares Ende der militärischen Konfrontation, gar einen Endkampf zwischen Demokratien und Autokratien im 21. Jahrhundert vorhersagt mit der potenziellen Gefahr eines Dritten Weltkriegs? Ist das das wohlverstandene Eigeninteresse Deutschlands, Europas oder gar der ganzen Welt?

Sollte dieser Essay auch nur einen winzigen Beitrag dazu leisten, dem zukunftsgerichteten Denken wieder zu seinem Recht zu verhelfen, realistische Perspektiven zu zeichnen, Fluchtpunkte zu markieren und etwas Wünschenswertes in den Sand der Geschichte zu zeichnen, so wäre sein Ziel erreicht.

II. Die Herausforderungen unseres Jahrhunderts

Kein Mensch und keine Zeit können ihre Gegenwart begreifen. Das Leben, sagt der dänische Philosoph Søren Kierkegaard, kann nur vorwärts gelebt, aber nur rückwärts begriffen werden. Unser Verstand hinkt unserem Tun und Handeln hinterher wie die Einsicht der Ansicht. In welche Richtung auch immer das menschliche Gehirn im Laufe der Evolution geformt wurde, die Abstand nehmende rationale Betrachtung bleibt dabei ein Sonderfall. Unser Fühlen und unser Denken gilt der Orientierung in einer zunehmend komplizierteren Lebenswelt. Und sich mit vielen einfachen Ansichten und schnelllebigen Einsichten zu begnügen, ist naheliegenderweise der Regelfall.

Und doch steht dieser Regelfall heute zur Diskussion. Nicht nur blicken wir schaudernd zurück auf eine Menschheitsgeschichte der Kriege und Ideologien, der Kurzsichtigkeit und der Verblendung. Wir sehen auch voraus in eine Zukunft, in der unser Leben zum ersten Mal von tatsächlich globalen Herausforderungen überschattet wird, die unsere Lebenswelt stark und oft negativ zu verändern drohen; Herausforderungen, bei denen es mit den gewohnt einfachen Antworten noch weniger getan ist als in früheren Zeiten. Vielmehr denn je erfordern die Aufgaben eine Abstand nehmende Perspektive, eine Draufschau, die unbeachtet eigener Voreingenommenheit, Vorlieben, Wünsche und Gedankenschranken den Blick für das große Ganze schärft.

An solchen Versuchen, die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts zu sortieren und zu gewichten, besteht von wissenschaftlicher Seite kein Mangel. Man denke an die vielen Rankings der größten Risiken für die Menschheit für die hier stellvertretend der Global Risks Perception Survey stehen soll, den das World Economic Forum, das Weltwirtschaftsforum (WEF), in den Jahren 2021 und 2022 erstellt hat.1 Danach sind die drei größten Risiken für die Menschheit Fragen der biologischen Umwelt: die Veränderung des Klimas auf der Erde mit einem Temperaturanstieg über 1,5 Grad Celsius; die damit einhergehenden Extremwetter wie Hitzewellen mit Dürren und Wassermangel, verheerende Stürme, Starkregen und Überflutungen und als Drittes der Verlust an Biodiversität. Was in manchen Ohren wie ein Hobby von Zoodirektoren klingt, die Sorge um das globale Artensterben ist ohne Zweifel eine katastrophale Entwicklung für die ganze Menschheit. Kaum einem Großstädter in Deutschland scheint heute noch bewusst, wie sehr wir Menschen der Natur einbehalten sind und ihr nicht etwa entgegenstehen wie in den Fantasien der Posthumanisten, die in uns nichts anderes sehen können als verbesserungsnotwendige Maschinen. Doch woher sonst nehmen wir unsere Nahrung, unser Wasser oder die Inhaltsstoffe unserer Medikamente? Von wo aus beziehen wir die Wärme, wenn nicht von der Sonne wie andere Lebewesen auch? Und doch haben Menschen es fertiggebracht, die natürlichen Kreisläufe, von denen unser Leben und Überleben abhängen, empfindlich zu stören. Man hat ein Insektensterben historischen Ausmaßes entfacht, jener Helfer der Natur, die mehr als Dreiviertel unserer Nutzpflanzen bestäuben. Man hat dieser Grundlage der Welternährung mit Pestiziden und Herbiziden bis zum Verschwinden oder bis zur Resistenz zugesetzt. Menschen haben die Wälder abgeholzt und die Meere überfischt und die natürlichen Biotope auf dem Planeten zerstört.

Fast alle weiteren Risiken, die das Ranking des World Economic Forum auflistet, sind mehr oder weniger direkte Folgen der ersten drei. Dass weltweit die Spaltung von Arm und Reich zunimmt, wird mehr und mehr mit Klimaveränderungen zu tun haben, die die Ärmsten der Armen südlich der Sahara unverhältnismäßig mehr treffen als Schweden oder Japan. Das Gleiche gilt für das fünfte Risiko, den Verlust der Lebensgrundlagen. Der Lebensstil der Menschen, und hier vor allem das Leben der Menschen in Europa und den USA, hat die Abholzung der Regenwälder vorangetrieben, die Böden erodieren lassen, Meere und Küsten mit Plastik und Erdöl verseucht und das Klima durch das Verbrennen fossiler Energien belastet. Und wenn heute das Wasser in vielen Regionen der Welt zu knapp wird, Menschen und ihr Vieh verdursten, wenn anderenorts Böden durch Niederschläge versumpfen oder von Meerwasser überflutet und versalzen werden, so sind dies mehr und mehr Folgen der menschengemachten Klimakatastrophe.

Im Jahr 2023 hatte die Menschheit bereits am 2. August alle Ressourcen verbraucht, die ihr nach Berechnungen von Wissenschaftlern für das Jahr zur Verfügung stehen. Aber wer ist in diesem Fall schon die Menschheit? Tatsächlich ist die Schuldfrage innerhalb der sogenannten Menschheit höchst ungleich verteilt. Spitzenreiter im Ranking jener Staaten, die relativ zu ihrer Einwohnerzahl zu viele Ressourcen verbrauchen, sind Katar und Luxemburg, ihr Kontingent war bereits im Februar aufgezehrt, gefolgt von Australien, Belgien, Dänemark und Finnland im März. Deutschland überschritt die Belastungsgrenze am 4. Mai, am selben Tag wie Israel.2

Schuld an den Risiken, die die Zukunft aller Menschen auf der Erde bedrohen, ist also nicht die Menschheit im Allgemeinen. Und schon gar nicht ist es der Mensch. Es sind vornehmlich die reichsten Staaten der Erde, jene mit dem höchsten Lebensstandard. Von ihnen aus gehen Linien, die Hunger- und Flüchtlingskatastrophen in Afrika in Gang setzen und »Klimaflüchtlinge« nach Europa treiben. Migrationsbewegungen, die sich in den nächsten Jahrzehnten noch einmal dramatisch verstärken, werden nicht nur Millionen Menschen das Leben kosten, sie führen auch zu sozialen Konflikten in den Wohlstandsländern, die mindestens Mitverursacher dieser Migration sind. Der Kampf um die Teilhabe an den wirtschaftlichen Ressourcen wird mutmaßlich auch hier härter werden. Und die Kriminalität dürfte zunehmen – ein Thema, das reiche Gesellschaften meist mehr beschäftigt als deren Ursachen. Prügeleien in Freibädern irritieren die deutsche Öffentlichkeit oft stärker als Ertrinkende im Mittelmeer. Sozialleistungsverteilungen in Deutschland erregen mehr Unmut und Empörung als das soziale Desaster in den Hungerländern Sudan oder Niger. Doch die Probleme der anderen mögen weit weg sein, das 21. Jahrhundert verkettet sie untrennbar miteinander. Wer wirtschaftlich überall von der Welt profitiert, den finden auch die Sorgen der Welt.

Gegenüber den großen Themen der Umwelt- und damit Lebenszerstörung wirken alle anderen politischen Herausforderungen, so wichtig sie sind, deutlich kleiner. Die Schuldenkrise in Ländern wie Griechenland, Argentinien oder Venezuela schafft es gerade mal auf Platz neun des WEF-Rankings, die wachsenden geopolitischen Spannungen zwischen den USA und China sowie Russlands Krieg gegen die Ukraine auf Platz zehn. Die Folgerungen, die sich daraus für die Politik wie für die Außenpolitik ableiten, lassen an Eindeutigkeit nichts zu wünschen übrig: Oberstes Primat aller politischen Anstrengungen hat der Umwelt- und Klimaschutz. Die Treibhausgasemissionen müssen, gemäß des Klimaabkommens von Paris, im Jahr 2030 auf die Hälfte dessen reduziert werden, was 2010 ausgestoßen wurde. Wird dieses Ziel verfehlt, so die Prophezeiung der Global Challenges Foundation, drohen Katastrophen wie der Verlust von Landmasse, Welternährungskrisen, ein rasantes Anwachsen des Artensterbens und ein Wetterchaos mit desaströsen Folgen für die menschliche Zivilisation.3

Die Appelle der Wissenschaftler und Institute sind seit Jahren die gleichen: Soll die Menschheitsdämmerung verhindert werden und die Erde auch noch in vielen Jahrzehnten für Menschen bewohnbar sein, so muss der Klima- und Umweltschutz zu dem Hauptthema der Politik werden, hinter dem alles andere zurückfällt. Gefordert ist, dass die Staaten zu ihrem Wort stehen, das sie künftigen Generationen in Paris gegeben haben. Mit eindeutigen Worten: dass sie ihre Wirtschaft und ihren Lebensstil revolutionieren und dass sie all die genannten Krisen entschlossen angehen, um die Risiken für die Menschheit zu minimieren.

So weit die Idee. Und bis auf jene Verirrte, die die Klimakatastrophe bis heute entweder abstreiten oder nicht für menschengemacht halten, wird dem Gesagten auch jeder zustimmen und in sich gehen müssen. Doch weit gefehlt. Tatsächlich nämlich werden die Warnungen aus den Schweizer Bergen, aus Stockholm, wo die Global Challenges Foundation ihren Sitz hat, und die Appelle der ungezählten Umweltorganisationen nicht für das angesehen, was sie sind: nüchterne Fakten und realistische Prognosen, die sich jedes Jahr ein kleines Stück mehr bewahrheiten. Stattdessen ist die ökologische Sonntagspredigt längst dort angekommen, wo die religiöse Sonntagspredigt immer schon war: in der Sphäre des Als-ob. Für einen flüchtigen Moment, eine Tagesschau-Minute, eine Schlagzeile, eine Mahnung stellen wir uns die Realität einmal kurz so vor, wie sie tatsächlich ist. Und einer Andacht gleich, gehen wir nur kurz in uns und versichern uns, zu den Guten gehören zu wollen. Doch der Augenblick verweht, und die eindringlichen Worte der Ökologen verflüchtigen sich wie jene des Pfarrers nach dem Verlassen des Kirchenportals. Der teilnahmslose Blick kommt zurück, die Gedankenlosigkeit hat uns wieder, der Realitätsverlust treibt uns weiter voran im alten Trott. Der verstörende Inhalt, »Du musst dein Leben ändern, wir müssen unsere Politik verändern«, wandert wie in einem gut verschlossenen Gefäß in ein entferntes Regal unseres Bewusstseins, und andere Fragen treiben das Handeln voran. Am Ende bleibt allenfalls Hilflosigkeit zurück. Auf der individuellen Ebene lässt sich – allen anderslautenden Appellen zum Trotz – die ökologische Katastrophe ohnehin nicht verhindern. Denn auch wenn ich kein Auto fahre, kein Fleisch esse und keine Plastiktüten benutze, ändert sich ja nichts an der Dynamik, die den Kollaps weiter vorantreibt. Auf große globale Probleme braucht es politische Antworten. Der Einzelne hingegen steht ihnen ziemlich ratlos gegenüber. Kein Wunder also, dass wir so oft Zuflucht in der Verdrängung suchen. Auf diese Weise gelingt, wozu Menschen allem Anschein nach hochbegabt sind: Wir begegnen der nüchternen Grammatik unschöner Fakten mit deren Formalisierung. Die Umweltfrage wird zu einer politischen Frage unter vielen, das Ranking zerfällt im Handumdrehen, und anderes schiebt sich in den Mittelpunkt: Aufregendes und Empörendes ebenso wie Erfreuliches, Banales und Zerstreuendes.

Wissen und Information, so die Pointe, schützen nicht vor Realitätsverlust. Man denke in diesem Zusammenhang nur an die Wahlkampfthemen in Deutschland, die deutlich machen, dass wir den drohenden Untergang des Menschengeschlechts, trotz eigener Kinder, mitunter Enkelkinder, so im Bewusstsein speichern, dass er dort nicht mit unserem Handeln zusammentrifft. Unser Wissen um die Perspektivlosigkeit unseres Wirtschaftens und unsere alltägliche Besorgnis scheinen gleichsam auf zwei verschiedene kortikale Regionen verteilt zu sein. Die wichtigsten Wahlkampfthemen der letzten Zeit waren der Kampf um die Lkw-Maut für vornehmlich Österreicher auf überwiegend bayerischen Straßen, gelegentlich das Thema Klimaschutz, etwa gleichrangig mit innerer Sicherheit und bezahlbarem Wohnraum. Im letzten Bundestagswahlkampf 2021 plakatierte die SPD am häufigsten »Respekt für Dich« und »Kompetenz für Deutschland«, die CDU setzte ebenso inhaltsleer auf »Gemeinsam für ein modernes Deutschland«, »Entschlossen für Deutschland« und »Damit Deutschland stark bleibt«. Die FDP gab philosophisch aus: »Wie es ist, darf es nicht bleiben«, »Nie gab es mehr zu tun« und »Aus Liebe zur Freiheit«. Inhaltlich wichtigstes Thema der Liberalen war: »Steuererhöhungen sind Sabotage am Aufschwung«. Und die Grünen boten vergleichbar gehaltslos auf: »Zuhören und Zutrauen« und »Unser Land kann viel, wenn man es lässt«. Neben dem formalhaften Bekenntnis zum Klimaschutz blieb ansonsten noch der eisern unverrückbare Grundsatz übrig: »Keine Waffen und Rüstungsgüter in Kriegsgebiete«.

Es ist schon eine lehrreiche Betrachtung, sich vorzustellen, was wohl Bewohner eines anderen Planeten, die mit unbestechlichem Blick auf die Erde schauen, über den Geisteszustand und die Zivilisation des Homo sapiens denken müssen. Je unerbittlicher die ökologische Katastrophe voranschreitet und je lauter die Wissenschaftler warnen und ein radikales Umdenken einfordern, umso sedierender wird die Politik. Ruhe und Optimismus verbreiten, scheint ihre oberste Maxime. Die alltägliche Aufregung, die in den reichsten Ländern der Welt immer heißer aufkocht, betrifft Kinkerlitzchen und Skandale um Personen. Verstöße gegen die Correctness nehmen weit mehr medialen Raum ein als die Klimakatastrophe und die Zerstörung der Lebensgrundlagen. Die Entrüstung im Namen des Guten lenkt so Tag für Tag von den großen Katastrophen der Welt ab. Selbstverständlich besteht Politik nicht darin, sich nur um das Allerwichtigste zu kümmern und alle anderen gesellschaftlichen Herausforderungen zu ignorieren. Und doch lässt sich kaum übersehen, mit welcher Macht heute die Erste-Welt-Probleme in den Vordergrund drängen und die wirklichen Weltprobleme dahinter verschwinden, in den Hintergrund gerückt von Menschen, die sich oft selbst missverständlich für »links« halten, so als wäre »links« ein Spartenprogramm hipper Großstädter statt einer Verantwortung für das Schicksal der Abgehängten, der Rechtlosen und Verhungernden auf der ganzen Welt.4 Die Blase der Klein- und Scheinprobleme, so scheint es, schwillt umso stärker an, je verheerender der Lebensstil der Bewohner dieser Blasen zur Zerstörung der Welt beiträgt.

Als die Europäische Kommission im Jahr 2017 Menschen in allen Ländern der EU bat, eine Liste der größten Probleme der Welt anzulegen, kamen Armut sowie Mangel an Nahrung und Trinkwasser verständlicherweise auf den ersten Platz.5 Doch schon auf dem zweiten Platz wurde es interessant. Danach war der internationale Terrorismus das zweitgrößte Problem der Menschheit, von 24 Prozent der Befragten genannt. Der Klimawandel an dritter Stelle schaffte es dagegen gerade mal auf die Hälfte der Nennungen. Nur zwölf Prozent, jeder achte EU-Bürger, hielt die sich anbahnende Klimakatastrophe für ein großes Menschheitsproblem.

Man wird, nüchtern und rational betrachtet, nicht lange darüber streiten müssen, was die Aufgabe der Politik im 21. Jahrhundert sein müsste. Die katastrophale Weltlage erfordert eine unbestechliche Realpolitik. Die wichtigsten Themen von Innen- wie Außenpolitik sind der Klimawandel, die Ressourcenausbeutung, das Artensterben, der Kampf ums Wasser, die Migrationswellen und der weltweite Kontrast zwischen Arm und Reich mit seinen dramatischen Folgen. Eine globale Perspektive einzunehmen bedeutet, sich aus den festgefahrenen Sichtweisen zu lösen, die von (vermeintlichen), aber oft kurzsichtigen Eigeninteressen ausgehen und die im Regelfall damit beginnen, dass man sich selbst grundsätzlich erstens für die Guten und zweitens für das Wichtigste hält.

Doch der implizite Narzissmus ist leider auch im 21. Jahrhundert ein beharrlicher Faktor. Und so verwundert es nicht, dass in der Außenpolitik oft kurzsichtige nationale Interessen in einem solchen Ausmaß dominieren, dass die großen Probleme der Welt als Nebensächlichkeiten dahinter verblassen. Dass in einer immer kleiner werdenden Welt diese globalen Probleme viel mehr unsere wohlverstandenen nationalen Interessen berühren, kommt, wenn überhaupt, bei Klimakonferenzen in den Blick, nicht aber in der tagtäglichen Außenpolitik. So etwa rückt der afrikanische Kontinent gegenwärtig nicht deshalb in den Fokus, weil die Klimakatastrophe dort Fürchterliches anrichtet, das unseren Humanismus herausfordert. Vielmehr wird Afrika heute deshalb »wichtig«, weil der Kontinent über von den Industrieländern dringend benötigte Rohstoffe verfügt, die nicht in die Hand Chinas fallen sollen, sondern in jene der USA und Europas.

Wohlgemerkt: Dass Länder sich außenpolitisch an ihren nationalen Interessen orientieren, ist weder befremdlich noch verwerflich. Bedrückend ist etwas anderes, nämlich, dass diese verständlichen nationalen Interessen nicht im Kontext des großen Ganzen gesehen werden; Wirtschaftsfragen erscheinen seltsam dekontextualisiert von ökologischen, sozialen und politischen Folgeschäden, die am Ende heftig auf uns zurückschlagen. Und die Vorstellung, dass unsere nationalen Interessen ihre moralische Legitimität daraus ziehen, dass wir ja schließlich die Guten sind, ist ein eklatanter Selbstbetrug. Im Hinblick auf die Folgen unserer Lebensweise, unseren ökologischen Fußabdruck, sind die westlichen Industrieländer nicht einmal ansatzweise die Guten, sondern, ganz nüchtern festgestellt, die Schlechten schlechthin. Dass seit dem Jahr 1971 die »Menschheit« über ihre Verhältnisse lebt, dass sie mehr natürliche Ressourcen verbraucht, als Ressourcen sich regenerieren können, ist, wie erklärt, gewiss nicht allen Menschen anzulasten.6»Wenn alle Menschen so lebten wie die Europäer«, folgert das Global Footprint Network, »wären fast drei Erden notwendig, um den Ressourcenverbrauch nachhaltig zu ermöglichen. Wenn alle Menschen so lebten wie die Nordamerikaner, wären es sogar knapp fünf Erden.«7

Dass Industrieländer wie Deutschland sich unter solchen Voraussetzungen ohne Einschränkung zu den »Guten« in der Welt zählen, ist also nur mit einer gehörigen Dosis an Realitätsverlust denkbar. Zudem bringt die Selbstklassifizierung als »gut« niemandem einen Moralvorsprung. Für die »Guten« halten sich bekanntlich alle Länder der Welt, einschließlich ihrer Politiker, nicht anders als die allermeisten Menschen sich für die »Guten« halten. Unter Kritik von außen verstört zu sein und sich nicht für »gut« halten zu können, ist ein Zustand, den die meisten nicht lange aushalten. Sozialpsychologen sprechen hier von einer »kognitiven Dissonanz«. Konfrontiert mit Kritik, behelfen wir uns mit einem ganzen Arsenal an Tricks, um unser Selbstbild wieder zu harmonisieren: Wir qualifizieren den Menschen, der uns kritisiert, ab, halten uns in der betreffenden Sache nicht für zuständig oder verweisen auf andere, die es ja schließlich auch nicht besser machen, sondern viel schlechter. Diese Spielchen mit sich selbst dürften so alt sein wie die Menschheit und produzieren bis heute fast nur gute Menschen, gute Gruppen, gute Gesellschaften, gute Völker usw. und keine schlechten.

Den außenpolitischen Ankerpunkt so anzusetzen, dass man selbst ganz unhinterfragt zu den Guten gehört, befriedigt zwar ein wichtiges psychologisches Bedürfnis, führt aber in keiner Sache weiter, schon gar nicht dort, wo es um globale Herausforderungen geht. Es lenkt viel zu stark davon ab, wie sehr die Menschen aller Kulturen im 21. Jahrhundert eine Schicksalsgemeinschaft bilden, die alle Fantasie und alle Kräfte benötigt, um die Erde langfristig bewohnbar zu halten. Die Folge daraus ist enorm. So wie die Menschen früherer Jahrhunderte sich ihres Standes, ihres Glaubens, ihrer Nation oder ihrer Klasse bewusst waren, so müssen Menschen sich heute vor allem anderen ihres Platzes in der Natur bewusst werden. Entscheidend wird dabei – und das ist der große Unterschied –, dass die Menschen, ihre Politiker und Staaten sich auf das besinnen, was sie gerade nicht von anderen Menschen und Kulturen unterscheidet, sondern auf das, was wir alle teilen: die fragile Existenz auf einem Planeten, der sich, durch Menschenwerk verursacht, rasant verändert zur Unwirtlichkeit für unsere Spezies.

All das hat wichtige Folgen für die Hierarchie unserer Werte. Nähmen wir die Realität ernst, so stünde im Mittelpunkt unseres Wertebewusstseins zum ersten Mal in der Menschheitsgeschichte das Überleben auf einem in jeder Hinsicht immer enger geteilten Planeten. Und wie klein und unbedeutend würde aus solcher Realperspektive das, was uns trennt – Grenzen, Sprachen, Religionen, Sitten, Normen, Herrschaftsformen und Gebräuche –, gegenüber dem, was wir miteinander teilen. All dies gießt keinen Zuckerguss über das aus, was uns heute zu Recht außenpolitisch beschäftigt, die vielen Konflikte in der Welt, Kriege und Bürgerkriege, Revolten und Massaker, die unsere hohe Aufmerksamkeit verlangen. Und doch ändern all diese überkommenen, gleichsam »altmodischen« Konflikte nichts an der genannten realpolitischen Hierarchie der Menschheitskrisen.

Kein Zweifel: Der Blick auf das große Ganze ist ungeübt und ein Paradigmenwechsel, der weder in der linken noch gar in der rechten Politik verfängt. In der linken nicht, weil ihr erschöpfender Verbrauch an Moral gegenwärtig weder Aufschub noch Kompromisse in der Frage von Erste-Welt-Problemen duldet; und in der rechten nicht, weil »rechts« zu sein naturgegeben das Wohl des eigenen Landes über die Probleme der Welt stellt, nicht wahrhaben wollend, dass die Probleme der Welt uns am Ende erschlagen werden, solange wir so denken. Gemeinsam hingegen ist dem gesamten politischen Spektrum, um nichts in der Welt darauf verzichten zu wollen, sich selbst unhinterfragt für die »Guten« zu halten. In diesem Punkt gibt es zwischen links und rechts keinen Unterschied. Denn reißt uns dieser Perspektivwechsel nicht aus unserem westlichen Schlummer, der niemals zu der Erkenntnis erwachen darf, dass das objektiv größte Risiko für die Menschheit nichts anderes ist als das: unsere Art zu leben?