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Ein dringend notwendiger Weckruf von Deutschlands bekanntestem Philosophen
In den Jahren 2020 und 2021, der Zeit der Covid-19-Pandemie, ereignete sich ein bemerkenswertes Schauspiel. Während der weitaus größte Teil der Menschen Empathie mit den Schwachen und besonders Gefährdeten zeigte, entpflichtete sich eine Minderheit davon und rebellierte gegen die staatlichen Maßnahmen zum Schutz der Gesundheit aller Bürger.
Für Richard David Precht ein Anlass, darüber nachzudenken, was eigentlich die Pflicht des Fürsorge- und Vorsorgestaates gegenüber seinen Bürgern ist und was die Pflicht seiner Bürger. Was schulden wir dem Staat und was sind die Rechte der Anderen auf uns? Die Frage führt ein Dilemma vor Augen: Auf der einen Seite sind wir darauf konditioniert, egoistische Konsumenten zu sein. Und auf der anderen Seite braucht der Staat zu seinem Funktionieren genau das Gegenteil, nämlich solidarische Staatsbürger. Könnte es da nicht hilfreich sein, das Pflichtgefühl der Bürger in der liberalen Demokratie durch zwei Pflichtjahre zu stärken? Eines nach dem Schulabschluss und eines beim Eintritt in die Rente, um allen Bürgern die Möglichkeit zu geben, sich selbst in der Pflicht gegenüber dem Staat und auch gegenüber anderen zu erfahren?
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Seitenzahl: 131
Buch
In den Jahren 2020 und 2021, der Zeit der Covid-19-Pandemie, ereignete sich in Deutschland ein bemerkenswertes Schauspiel. Während der weitaus größte Teil der Menschen Empathie mit den Schwachen und besonders Gefährdeten zeigte, entpflichtete sich eine Minderheit davon und rebellierte gegen die staatlichen Maßnahmen zum Schutz der Gesundheit aller Bürger.
Für Richard David Precht ein Anlass, darüber nachzudenken, was eigentlich die Pflicht des Fürsorge- und Vorsorgestaates gegenüber seinen Bürgern ist und was die Pflicht seiner Bürger. Was schulden wir dem Staat, und was sind die Rechte der Anderen auf uns? Die Frage führt ein Dilemma vor Augen: Auf der einen Seite sind wir darauf konditioniert, egoistische Konsumenten zu sein. Und auf der anderen Seite braucht der Staat zu seinem Funktionieren genau das Gegenteil, nämlich solidarische Staatsbürger. Könnte es da nicht hilfreich sein, das Pflichtgefühl der Bürger in der liberalen Demokratie durch zwei Pflichtjahre zu stärken? Eines nach dem Schulabschluss und eines beim Eintritt in die Rente, um allen Bürgern die Möglichkeit zu geben, sich selbst in der Pflicht gegenüber dem Staat und auch gegenüber anderen zu erfahren?
Richard David Precht
Von der Pflicht
Eine Betrachtung
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ISBN 978-3-641-28119-9V004
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Ertragt einander und vergebt einander.
Kolosser 3,13
In den Jahren 2020 und 2021 wurde Deutschland Teil eines ungewöhnlichen und in vielerlei Hinsicht verstörenden, traurigen, aber auch beeindruckenden Geschehens. Die Covid-19-Pandemie, die weltweit bislang weit über zwei Millionen Tote im Zusammenhang mit dem Virus verzeichnet, ist die größte globale Epidemie seit mindestens fünfzig Jahren. Genauer seit 1968/1970, als die Hongkong-Grippe mutmaßlich zwischen einer und zwei Millionen Menschen tötete, davon möglicherweise 40 000 bis 50 000 Menschen in der Bundesrepublik und in der DDR.
Verstörend ist das Ereignis, weil der weitaus größte Teil der Menschen in Deutschland bislang keine Pandemie erlebt oder wie bei der Hongkong-Grippe oder der Asiatischen Grippe von 1957/1958, diese nicht bewusst wahrgenommen hat. Beide waren weder allgemein bekannt noch ein mediales Ereignis. Seuchen und gefährliche Infektionskrankheiten, so schien es, waren immer weit weg und betrafen das Leben der anderen. Oder sie ließen sich, wie im Fall der »Lustseuche« HIV, an der global bislang fünfunddreißig Millionen Menschen starben, durch Vorsicht und Umsicht so gut wie vollständig vermeiden. In der Ferne und Unsichtbarkeit anderer Gefährdungen und der Amnesie der Massenmedien erscheint die Covid-19-Pandemie deshalb heute als ein einmaliges Ereignis – aufschreckend und verwirrend in einer im historischen und globalen Maßstab einzigartig komfortablen und vergleichsweise friedlichen und friedfertigen Wohlfühlgesellschaft wie in Deutschland.
Man kann das Hereingebrochene nicht deuten und nicht in einen passenden Rahmen einfrieden, der durch Interpretation ordentlich macht, was als außerordentlich empfunden wird. Gott als Strafender und als Ursache einer universalen Vergeltung für begangene Frevel, der so oft in der Geschichte als wohlmeinender Übeltäter hatte herhalten müssen, fällt im gemütssäkularisierten 21. Jahrhundert aus. Die Kirche, die in ihrer Geschichte mehr als einmal zu oft den Jüngsten Tag der Abrechnung, an dem nichts mehr vertagt werden kann, angekündigt hatte, bleibt demütig stumm. Metaphysische Erklärungen und Vergeltungsfantasien greifen ins Leere auch da, wo besorgte Ökologen in apostolischer Mission das Corona-Virus zur Rache der geschundenen Umwelt für die rücksichtslose globale Ausbeutung der Natur verklären. So richtig es ist, dass Menschen ihrer physikalischen und biologischen Umwelt heute größere Wunden schlagen als je zuvor in der Geschichte der Menschheit – ein neuartiges Virus erschafft die Natur deswegen nicht, allenfalls geschieht die Übertragung und Ausbreitung im Zeitalter schwindender Naturräume, dichter Bevölkerung sowie universaler Luftfahrt und Luftfracht schneller. Aber dafür sorgen immer noch Menschen und nicht die rachsüchtige Biosphäre oder die Tierwelt. Corona ist nicht die Antwort auf verletzte Rechte oder auf eine zertrümmerte alte Ordnung, und Umweltschützer tun gut daran, sich als Kryptometaphysiker nicht selbst misszuverstehen. Keine Verfehlung wird durch Covid-19 gerächt. Denn wen oder was rächten die Hongkong-Grippe, die Asiatische Grippe, die Spanische Grippe, die Pest, die Cholera, der Englische Schweiß oder Ebola?
Wie kann ein solches trauriges Ereignis, das auch in Deutschland vielen zehntausend Menschen das Leben gekostet hat, gleichwohl in bestimmter Hinsicht beeindruckend sein? Beeindruckend, ja sogar beruhigend ist es, weil der moderne Vorsorge- und Fürsorgestaat in Deutschland, anders als bei früheren Pandemien, in ständiger Neuabschätzung der Situation versucht, im Einklang mit seinen Bürgern das Ausmaß der Katastrophe einzuhegen und die Zahl der Opfer, die das Virus fordert, zu begrenzen. Das Vertrauen in den liberal-demokratischen Staat ist in den Zeiten der Pandemie mehrheitlich gestiegen – und mit ihm zugleich die Beliebtheitswerte verantwortungstragender Politiker. Beeindruckend aber ist vor allem die in zahlreichen Umfragen bestätigte große Mehrheit der Bundesbürger, die sich nicht nur selbst vor der Infektion schützen, sondern sich zugleich mit den Schwachen und durch das Virus besonders Gefährdeten solidarisieren.1 Sie halten sich in beeindruckender Zahl an die staatlichen Maßnahmen zum Schutz der Gesundheit, weil sie sie allgemein für richtig halten, was auch immer sie im Detail über die eine oder andere Verordnung denken.
In den Zeiten der Ausnahme, des Ausfalls gegen die kulturelle Norm, der Synkope in unserem Lebensrhythmus, in dem die alltägliche und automatisierte Geschmeidigkeit, mit der wir uns an unsere Umwelt und Mitwelt anpassen, empfindlich gestört ist, zeigt sich der Charakter. Und es fällt ein bezeichnendes Licht auf unsere Einstellungen, Haltungen und Befindlichkeiten, die nun schärfer vor Augen treten als in den Routinen. So zeigen die Ereignisse der Jahre 2020 und 2021 recht gut, wie es um unser Land bestellt ist. Soziologen, Sozial- und Individualpsychologen finden Arbeit in Fülle, und die Auguren der Massenmedien diagnostizieren schnell und allzu schnell Mentalitätswechsel und Strukturveränderungen, neue Normen und Normalitäten oder gar ganz neue Zeiten.
Als politisch interessierter Philosoph beschäftigt mich vor allem eines: Wie werden Rechte und Pflichten, seit jeher ein großes Thema der Philosophie, heute wahrgenommen? Wie sehen sich Menschen als Staatsbürger? Was denken sie, was ihnen zusteht, und worin sehen sie ihre staatsbürgerliche Pflicht? Wie gestaltet sich das Spannungsfeld von Pflicht und Recht, Gefahr und Maßnahme, Besonnenheit und Wahn, Leben und Tod? Und was verrät uns die Krise über den diesbezüglichen Zustand der Gesellschaft?
Der Begriff der »Pflicht«, so angestaubt und manchmal gar wie ein Wort aus einem anderen, dem »bürgerlichen« 19. Jahrhundert, etwas, wovon sich moderne Gesellschaften immer weiter entfernt haben, ist auch im 21. Jahrhundert nicht von gestern. Es gibt noch immer gute Gründe, warum er sich nicht auf die Pflicht von Steuern, Zahlungs- und Kreditverpflichtungen oder die versteckte Drohung durch Strafgesetze reduzieren lässt, wie manch einer zu glauben scheint. Das Wort »Pflicht«, in seinem alt- und mittelhochdeutschen Ursprung die Fürsorge und Obhut, die Teilnahme und der Dienst an der Gemeinschaft, bezeichnet ein hohes Gut der Gesellschaft. Die Pflicht ist, wie Friedrich Nietzsche sagt, »das Recht der anderen auf uns«. Und der Gedanke, die Pflicht jenseits von Steuern, Kauf und straffreiem Verhalten möglichst vollständig zu überwinden, der sich gerne als »liberal« oder »libertär« gebärdet, ist ein kurioses, mitunter ärgerliches Selbstmissverständnis derer, die ihn in die Welt tragen.
Pflichten zu haben und anderen verpflichtet zu sein ist kein Relikt einer vormodernen Zeit. Und es ist mitnichten ein persönliches und gesellschaftliches Übel, nicht nur eigene Rechte einzufordern, sondern auch das Recht anderer anzuerkennen, dass wir uns ihnen gegenüber angemessen verhalten. Dabei sind Pflichten keine Dinge, die man vor sich herträgt, sondern man trägt sie in sich als Teil einer Haltung; einer Haltung zu anderen Menschen und manchmal einer Institution, die Pflichten auferlegt, vor allem aber einer Haltung gegenüber sich selbst.
In Hinblick auf das Verhältnis zur Pflicht erscheint die Corona-Krise wie ein Brennglas. Sie erzeugt ein aufrechtes virtuelles Bild, welche Haltungen Menschen in unserer Gesellschaft heute im Angesicht von Unsicherheit und Ungewissheit einnehmen. Zurückgeworfen auf die biologische Verletzbarkeit und auf den medizinischen Schicksalszusammenhang, in dem wir mit anderen Menschen stehen, wird, wie Albert Camus in Die Pest schildert, unser Verhalten existenziell. Jede Haltung, die wir im Umgang mit dem Virus einnehmen, ist damit keine reine Privatangelegenheit mehr. Sie ist Teil nicht nur einer Ethik des Lebens, sondern auch des Zusammenlebens – und insofern eine Frage von Pflicht und Verpflichtung.
Für die meisten Menschen in Deutschland, die den Zweiten Weltkrieg nicht mehr erlebt haben, ist diese Ausnahmesituation völlig neu. Haben wir uns nicht durch Hygiene und Wohlstand gegen die meisten Unbilden der Natur immunisiert? Haben wir das Hereinbrechen massenhaften Sterbens nicht durch eine lange Friedenszeit vermieden? Ist der Tod, selbst wenn er sich durch allgemeine Phänomene wie Herz-Kreislauf-Erkrankungen oder Krebs in unser Leben schleicht, nicht eine Privatsache, weil meine Krankheit andere nicht gefährdet? Eine Gesellschaft wie unsere, die darauf konditioniert ist, »Probleme« durch Technik zu lösen, nötigt ihren Bürgern gemeinhin keine kollektiven Verhaltensänderungen ab – auch nicht in der Frage von Leben und Tod. Einzig die Anschnallpflicht in unseren Autos und das öffentliche Rauchverbot sind als Maßnahmen gesundheitlicher Erziehung noch schwach im Gedächtnis. So selbstverständlich inzwischen, dass der vormalige Aufschrei längst verhallt und kaum noch erinnert ist.
Vor diesem Hintergrund wirken die staatlich verordneten Maßnahmen zu Verhaltensänderungen in der Covid-19-Krise auf manche Menschen geradezu brachial und verstörend. Angemessenen Anstand und abgemessenen Abstand zu wahren nötigt einem der liberal-demokratische Staat gemeinhin nicht ab, sondern überlässt es jedem Einzelnen, mehr oder weniger anständig zu sein. Hat er überhaupt das Recht dazu, auf diese Weise ins Privatleben seiner Bürger einzugreifen? Steht es ihm zu, an die Tugend zu appellieren und eine Ethik des Zusammenlebens anzumahnen?
Verhaltensaufforderungen treiben Widerspruch hervor, schon bei Kindern und noch mehr bei Erwachsenen, deren Selbstverständnis darauf gründet, stets selbst zu wissen, was das Richtige ist. Kein Wunder, dass staatliche Appelle zur Solidarisierung sich nicht nur der Einsicht der Mehrheit, sondern auch des Widerspruchs einer lautstarken Minderheit sicher sein können. Wer Solidarisierung mit den Schwachen fordert, kann ebenso mit einem gehörigen Quantum an Entsolidarisierung rechnen. Beweggründe, echte und vorgeschobene, gibt es viele. Güterabwägungen und Fragen der Verhältnismäßigkeit sind in der Tat nicht leicht zu beantworten. Wie viel Leiden verursachen die wirtschaftlichen Konsequenzen? Welche Nebenfolgen gilt es zu berücksichtigen? Und natürlich haben Menschen in Altenheimen das Recht, für sich selbst zu entscheiden, sie stürben lieber an Corona als an Einsamkeit. Aber sie sind eben nicht allein in ihrem Heim und riskieren mit ihrer Entscheidung das Leben vieler anderer. Zweifel sind das eine, eine vollständige Entsolidarisierung etwas anderes. Welches Argument ist so stark, dass es tatsächlich eine Entpflichtung rechtfertigt? Denn was immer die Entscheidungsmotive im Einzelnen sein mögen, die Scheidelinie in der Covid-19-Frage verläuft letzten Endes zwischen Leben und Tod: so viel Leben wie möglich zu retten gegen ungehinderte Auslese, dem fahrlässigen Sterbenlassen der besonders Gefährdeten.
Während die meisten Einsicht in die Lage zeigen, allgemeines Verständnis für viele (wenn auch nicht notwendig für alle) Maßnahmen aufbringen und Rücksicht praktizieren, treiben Unverständnis, fehlende Empathie und mangelnde Rücksicht die völlig Trotzigen ins trübe Gewässer fundamental alternativer Deutungen. Dabei überwiegen gewiss die Unterschwelligen, jene, die jede staatliche Maßnahme grundsätzlich nörgelnd zur Kenntnis nehmen. Auffälliger dagegen ist die kleinere Gruppe der Lauten: Die Pflicht ruft – wir skandieren zurück! Nicht mein Verhalten soll sich ändern, sondern lieber die Realität. Die Verschiebung der Perspektive stuft sich in der Weise ab, wie stark die Wirklichkeit verschoben werden muss, damit man mit sich und seinem Trotz im Reinen bleiben kann. Da sich kaum jemand selbst als egoistisch oder unsolidarisch wahrnimmt, müssen Egoismus und Solidaritätsbruch der anderen Partei zugeschrieben werden. Diese wird im gleichen Maße dämonischer, wie der eigene Teufel einen reitet. Nimmt man jene kleine Gruppe von Demonstranten aus, die »Lieber an Corona sterben, als mit den Maßnahmen leben!« plakatiert und sich damit bewusst zum Sterbenlassen der Schwachen bekennt, muss die Realität dessen, was die überwältigende Zahl der Epidemiologen erklärt, angezweifelt und durch eine andere Realität ersetzt werden. Das Benennen von real vorhandenen Unsicherheiten und Ungereimtheiten im Wissen über das Virus, seine Herkunft, Wirkung und Übertragung, bildet dann den Ausgangspunkt einer psychischen Entwicklung, die nach einem Widerlager im Imaginären fahndet, das dem eigene Spekulationskonstrukt festen Halt geben soll.
Meinungsmacher mit höchst unterschiedlichen Beweggründen haben daran ihren Spaß. Detektiv zu spielen und Ungereimtheiten zu entdecken ist eigentlich unschuldig und kann sich als Aufklärung verstehen. Sorgt diese vielfache Skepsis im Detail jedoch für harte Verdächtigungen, erzeugt allgemeines Misstrauen und streut Gerüchte, ist der Schritt von der Aufklärung zur Denunziation getan. Das dankbare Publikum solcher Beeinflusser nimmt die Wahl zwischen den Deutungsangeboten zur Pandemie gerne an, die einen die weicheren und die anderen die härteren. Auf einfachster Stufe ist Covid-19 dann nur eine Grippe – als sei das Benennen des Wortes »Grippe« bereits die Rute, die den Dämon auf immer austreibt. Zwar haben Covid-19- und Influenza-Viren tatsächlich viele Übereinstimmungen, was den Vergleich nicht abwegig macht, aber sie sind damit trotzdem nicht dasselbe. Menschen, die mit Unsicherheit nicht gut umgehen können, scheint das Wort »Grippe« einen provisorischen Halt zu geben, allerdings versehen mit dem Fragezeichen, aus welchem Grund der Staat eine Grippe nicht als Grippe einschätzt. Das Motiv kann, da dem Staat und seinen Gesundheitsexperten keine flächendeckende Naivität unterstellt werden kann, nur ein bizarres und finsteres sein.
Das Tor in die Unterwelt der Verschwörungserzählungen steht damit sperrangelweit offen. In der Kulturgeschichte der Menschheit sind solche Erzählungen ein stets verlässlicher Begleiter von Umbruchsituationen und Katastrophen. Ihr erstes Kapitel handelt immer vom geheimen Verursacher. Und tatsächlich erschienen schon im März 2020 wahlweise der vermeintliche Impfoligarch Bill Gates, die Wall Street, das World Economic Forum in Davos, die chinesische Staatsführung oder gar die unheilige Allianz aus allen vieren als die Teufel der Moderne. Besonders originell ist auch die Variante, das Virus schlichtweg als nicht existent zu definieren und ihm den Status einer Fiktion zu verleihen. Oder man verweist auf frühere Corona-Viren, die weniger tödlich waren als Covid-19 und setzt das neue Virus leichterhand mit früheren gleich – als sei es gerade nicht die Eigenschaft von Viren, sich stark zu verändern.
Menschen, die ihre Abneigung gegen Mitbürger zum Gemeinschaftsgefühl steigern und sich in Deutschland 2020/2021 auf Entsolidarisierungskundgebungen solidarisieren, sind stolz auf ihr feines Gespür für Ungereimtheiten bei Expertisen und staatlichen Maßnahmen. Doch als hätten sie ihr Kapital an feinsinnigen Differenzierungen damit verbraucht, überkommen sie offensichtlich keine Skrupel, im Einklang mit Mitdemonstranten zu marschieren, die die Existenz des Virus entweder leugnen oder es Bill Gates zuschreiben oder es für ungefährlich halten. Bunte und wilde Erklärungen werden wie gut verschlossene Gefäße mit markigen Aufschriften weitergereicht, in die man lieber nicht hineinsieht. Wie Gates’ vermeintliche Leistung, in seiner Hexenküche in Seattle mithilfe oder gegen die Chinesen ein nicht existentes oder ungefährliches Virus gepanscht zu haben gleichwohl teuflisch sein kann, offenbart sich allein von keinerlei Selbstzweifel geplagten Gehirnen. Und wie sich ausgerechnet ein Virus dazu eignen könnte, dass Gates der Menschheit Mikrochips einpflanzen kann, bleibt ebenso dunkel. In der öffentlichen Echokammer einer Demonstration besiegt das eingehakte Rechthaben nonchalant jeden Reflexionsanspruch eines gehobenen Selbstwertgefühls. Und unbestreitbare Wahrheit erfüllt das Bewusstsein, einfach dadurch, weil alle anderen bekanntlich lügen.