Das Kind in der Krippe - Annette Jantzen - E-Book

Das Kind in der Krippe E-Book

Annette Jantzen

0,0
13,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Annette Jantzen erkundet in ihrem Buch die altvertrauten biblischen Erzählungen von der Geburt Jesu und ordnet sie in den kulturellen Kontext ihrer Zeit ein. Was verstanden die Zeitgenossen Jesu unter den biblischen Bildern von Engeln, Stern und Hirten, Geburtsankündigung, Jungfrauengeburt und Gotteskindschaft? Wie werden Bilder und Hoffnungen des Ersten Testaments aufgegriffen? Und wie hat sich das Verständnis dieser Glaubenszeugnisse im Laufe der Zeit und Tradition verändert? Ihre Erkundungen werfen ein ganz neues Licht auf den Mensch-von-Gott, Jesus Christus, dessen Menschwerdung an Weihnachten gefeiert wird, und legen wieder frei, wie sich den frühen Jesus-Gläubigen in seinem Leben die Gegenwart Gottes gezeigt hat.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 145

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Annette Jantzen

Das Kind in der Krippe

Die Weihnachtsbotschaft – entstaubt, durchgelüftet, neuentdeckt

Die Bibeltexte sind entnommen aus: Einheitsübersetzung der Heiligen Schrift © 2016 Katholische Bibelanstalt GmbH, StuttgartAlle Rechte vorbehalten

© Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2024Alle Rechte vorbehaltenwww.herder.deUmschlaggestaltung: Gestaltungssaal, RohrdorfUmschlagmotiv: Oleksii Kondakov, Song of Angel, 2015E-Book-Konvertierung: SatzWeise, Bad WünnenbergISBN Print 978-3-451-39887-2ISBN E-Book (EPUB) 978-3-451-83467-7

Inhaltsverzeichnis

Zu diesem Buch

Was ist denn wahr?

In den Erzählungen seines Volkes

Die Geburtsgeschichten – kurz skizziert

Der Stammbaum Jesu

Jungfräulichkeit, das Einhorn der Antike

Gottes Erscheinen: Schatten und Glanz

Gabriel, viel beschäftigter Bote

Maria

Prophetin I: Die dem Kind einen Namen geben soll

Die mit dem Engel spricht

Prophetin II: Die von Gerechtigkeit singt

Es beginnt mit Solidarität: Ehrenrettung für den Wirt

Die Windeln Jesu

Ochse und Esel, Hirten und Schafe – und Engel

Von Königen zu Magiern und zurück: Hoher Besuch

Ägypten: Josef, Mose, Jesus

Weissagungen und ein Stern: „So erfüllte sich, was verheißen war“

Die Fülle der Zeit

Literatur

Zu diesem Buch

Dieses Buch ist kein klassisches Weihnachtsbuch. Ich möchte Wissen anbieten und es den Lesenden überlassen, ihre je eigenen spirituellen Folgerungen daraus zu ziehen. Dabei betrachte ich die Texte, die uns als Weihnachtsgeschichten bekannt sind, vor dem Hintergrund des Ersten Testaments und versuche, so zu einem Eindruck zu kommen, wie diese Texte für ihre ersten Leser:innen und Hörer:innen geklungen haben. (Ja, in diesem Buch wird gegendert. Ich finde das wichtig.)

Einiges ist vielleicht ein bisschen ungewohnt: Ich spreche vom Ersten und Zweiten Testament, nicht vom Alten und Neuen. Das klingt vielleicht nüchterner, aber es ist ja gerade das Anliegen dieses Buches, die geläufige, oft nicht bewusste Abwertung des Ersten Testaments nicht weiterzutragen. Gelegentlich spreche ich auch von der Hebräischen Bibel – damit meine ich dann diejenigen Schriften, die ursprünglich auf Hebräisch verfasst und später zum jüdischen Kanon wurden. Die spätesten Schriften, die in das christliche Erste Testament aufgenommen wurden, sind auf Griechisch entstanden, und sie sind nicht mehr Teil der jüdischen Bibel geworden.

Wenn es mir auf die Bedeutung des Namens Jesu ankommt, der im Hebräischen ein sprechender Name ist, dann nenne ich ihn auch in der deutschen Umschrift des Hebräischen: Jeschua. Die übrigen Akteur:innen der Weihnachtsgeschichten behalten in diesem Buch die gewohnte deutsche Version ihres Namens.

Ich gehe in diesem Buch den wesentlichen Motiven nach, die unser Bild von Weihnachten prägen: Jungfrau und Engel, Ochse, Esel und Stall, Hirten und Könige. Darum folge ich den Weihnachtsgeschichten, wie sie im Matthäus- und im Lukasevangelium stehen, nicht streng kontinuierlich. Ich beschreibe zuerst die Funktion der Abstammungserzählungen in beiden Evangelien, folge dann den Motiven bei Lukas und danach denen bei Matthäus. Das entspricht dann grob auch unseren Hörgewohnheiten in der Weihnachtszeit: Erst das Kind in der Krippe, dann der königliche Besuch.

Der Prolog des Johannesevangeliums gehört zwar ebenfalls zu den Lesungen in den Weihnachtsgottesdiensten, aber er ist eigentlich eine erzählende Ausdeutung des Schöpfungsgesangs aus dem ersten Kapitel der Bibel, Genesis 1, und wäre ein eigenes Buch wert.

Die vielen ersttestamentlichen Zitate, die durch die Weihnachtstexte hindurchklingen, und auch die Evangelientexte selbst folgen im Wesentlichen der Einheitsübersetzung; wo ich davon abweiche, ist dies vermerkt. Gelegentlich ergibt sich, dass erst eine alternative Übersetzung die Bezüge zwischen Erstem und Zweitem Testament deutlich macht. Das liegt daran, dass Bibelübersetzungen aus verschiedenen Quellen schöpfen und verschiedene Kriterien berücksichtigen. Übersetzungen sind immer auch Kompromisse, manchmal muss man ein Kriterium, wie zum Beispiel die Gebräuchlichkeit eines Wortes, abwägen gegen einen Anklang, eine Wortverwandtschaft oder auch ein Zitat, die nur in der Ursprungssprache wirklich einsichtig sind. Zudem arbeiteten die Autor:innen des Zweiten Testaments ja bereits mit einer Übersetzung des hebräischen Textes ins Griechische. Hier können sich Textbezüge ergeben, die weniger augenfällig sind, wenn die deutsche Übersetzung des Ersten Testaments sich im Wesentlichen auf den hebräischen Ursprungstext stützt. An solchen Stellen weise ich die Übersetzungsalternativen aus. Ebenso habe ich bei der Übertragung des Gottesnamens Jhwh aus dem hebräischen Text durch die Einheitsübersetzung in das deutsche Herr die Chiffre Jhwh ergänzt – sie lenkt den Blick vom oft vereindeutigend verstandenen Herr zu Gottes Unfassbarkeit. So öffnet sich im Text ein Fenster hin zur Transzendenz, hin zur Anerkenntnis, dass sich der Name Gottes, also das Wesen Gottes selbst, unserem menschlichen Sprechen entzieht.

Was ist denn wahr?

Ein Weihnachtsbuch kann zur Annahme verführen, es würde zeigen, wie es denn nun wirklich war, als Jesus geboren wurde. War es in einem Stall, war Maria Jungfrau, waren die drei Magier wirklich in Betlehem? Diese Fragen könnte man auch einfach sehr knapp beantworten: Nein. Und wie es sich wirklich zugetragen hat bei Jesu Geburt: Wir wissen es nicht und können es auch nicht herausfinden. Es gibt keinerlei Quellen, mit denen sich diese historischen Fakten rekonstruieren ließen. Alles, was wir haben, sind Glaubensgeschichten. Und alle diese Ausschmückungen der Geburtsgeschichte sind Fiktion. Warum aber sollte man sich dann noch mit diesen Texten beschäftigen? Diese Frage stellte sich den Autor:innen der biblischen Texte und ihren ersten Leserinnen und Hörern nicht, denn für sie gab es dieses „nur“ nicht, das bei uns mitklingt, wenn wir feststellen: Es ist nur eine Geschichte. Sie gingen davon aus, dass sich auch in Bildererzählungen und Übertreibungen, in symbolischer Sprache und in Poesie eine Wahrheit mitteilen kann. Mehr noch: Sie gingen davon aus, dass sich manches, was von wirklicher Bedeutung ist, nur in solchen Erzählungen im übertragenen Sinne transportieren lässt.

Für heutige Leser:innen liegt manchmal eine gewisse Enttäuschung in der Feststellung: Die Geschichte berichtet nicht, wie es „in echt“ gewesen ist. Diese Enttäuschung erwächst aus der Annahme, dass die Glaubwürdigkeit des Erzählten davon abhängt, ob es der historischen Wirklichkeit entspricht. Aber eigentlich leben wir nicht aus den historischen Fakten der Vergangenheit, sondern wir rekonstruieren unsere Vergangenheit andauernd, sowohl individuell als auch als Gesellschaft. Auch Fakten der Vergangenheit haben für uns individuell nur dann Bedeutung, wenn wir ihnen Bedeutung geben, indem wir sie in unsere eigene oder unsere kollektive Geschichte einschreiben, und das heißt eben auch: erzählen. Und manchmal transportiert eine Geschichte, die offensichtlich kein historisches Faktum erzählt, wie etwa der Kindermord zu Betlehem, der so nicht stattgefunden hat, trotzdem eine Wahrheit, in diesem Fall über die Grausamkeit des Vasallenkönigs Herodes und seinen unbedingten Willen zur Macht.

Natürlich ist es ein Unterschied, ob ich ein Faktum der Vergangenheit deute, von dem allgemein bekannt ist, dass es das gegeben hat, oder ob ich eine Geschichte weitgehend ohne ein solches Faktum erzähle. Aber wenn es darum geht, wie ich mein Leben in einen größeren Sinnzusammenhang einordne, dann scheint mir der Unterschied mehr gradueller als qualitativer Natur zu sein: Wir ordnen unser Leben in größere Zusammenhänge ein, und wir stützen uns dabei weitgehend auf eine erzählte Wirklichkeit, auf die Geschichten, die uns vorgegeben sind, auf Erzählzusammenhänge, die wir plausibel finden. Wie viel das mit einer – unerreichbaren – objektiven Realität zu tun hat, ist in der Regel gar nicht so wichtig. Das mag mit unserem nachaufklärerischen Selbstbild kollidieren, dass wir total vernunftgesteuerte, rationale Wesen seien und für uns nur relevant sein müsse, was objektiv nachweisbar ist. Aber dieses Selbstbild ist wiederum in weiten Teilen eine Fiktion, wir sind weit weniger rational, als wir das gern annehmen möchten.

Beim Umgang mit Glaubensgeschichten kommt noch etwas hinzu: Menschen sind sich durchaus bewusst, dass sie aus und mit Geschichten leben. Zitate, Anklänge, Vorbilder und Wertsysteme aus fiktionalen Geschichten begleiten viele durch ihr Leben, von der Zahl 42 über Loriot-Zitate bis zu Motiven aus Streaming-Serien, von Narnia über Star Wars bis zum Herrn der Ringe, von Goethes Zauberlehrling bis zu Harry Potter.

Literarische Weltdeutungsangebote sind uns nicht fremd, sie begleiten uns, weil wir erzählende Wesen sind. In Bezug auf die Bibel ist das erst ein Problem geworden, als sich die Idee einer objektivierbaren Wissenschaft als Konkurrenz zum Glauben etablieren konnte. Im Umgang mit dieser Konkurrenz aber wurde auch und gerade von kirchlichen Lehren die Fiktionalität der in der Bibel erzählten Geschichten massiv bestritten – das war die katholische Variante, die heute von evangelikalen Bewegungen weiterverfolgt wird. Oder es wurde mit dem Erweis, dass biblische Geschichten keine Fakten berichten, sondern Geschichten erzählen, auch die Bedeutsamkeit dieser Geschichten in Frage gestellt – das war der protestantische Angang, der dann auch die Leben-Jesu- Forschung groß gemacht hat: Denn wenn man wüsste, was der historische Jesus geglaubt, gesagt, gelehrt, getan habe, dann hätte man einen Grund des Glaubens, ein Faktum, auf das man sich stützen könne. Der Umstand, dass man hinter die erzählten Geschichten der Bibel nicht zurück kommt zu einem Punkt, „wie es eigentlich gewesen ist“, ist dann oft schwierig geblieben.

Der katholische Angang zeitigte seine Schwierigkeiten später, als die These, die Bibel transportiere objektive Wahrheiten, so gar nicht mehr haltbar war. Damit wurde ein Großteil der Glaubensskepsis selbstgemacht, wenn Menschen, die heute mit biblischen Geschichten in Kontakt kommen, diese übereinbringen müssen mit ihrem modernen Weltbild und dabei auf keinen grünen Zweig kommen. Denn erst mit dem Beharren darauf, dass die Bibel nur objektive Tatsachen enthalte, erzeugt man diesen Widerspruch zwischen Glaube und Vernunft. Natürlich können Menschen aus Geschichten leben, reine Fakten sind banal. Aber oft trauen sich Menschen nicht, von biblischen Geschichten nur die Bildebene zu hören, sie einfach als Geschichten zu hören, mit denen wir unser Leben deuten können, und die Bibel als Buch zu nehmen, dem wir Bedeutung geben. Daran ist ja nichts Magisches, das diesem Buch einen anderen Status geben würde als anderer antiker Literatur. Faszinierendes, ja – das lange Fortschreiben, die Integration so vieler Glaubensgeschichten, die Entwicklung eines tragenden Gottesbildes, aber mit dem allen sind wir es selbst, die dem Buch der Bücher Bedeutung geben oder eben auch nicht.

Wenn aber gerade in Bezug auf das Zweite Testament den Gläubigen über Jahrhunderte und in manchen Predigten bis heute eingeschärft wird, dass die Evangelien wahr seien in einem historisch-faktischen Sinn, und berichten würden, wie es wirklich gewesen sei, dann legen Menschen eher die Bibel als Ganze beiseite und damit auch oft genug ihren Glauben ab, weil das Gesamtpaket ihnen nicht glaubwürdig erscheint.

Ich möchte in diesem Buch den Geschichten und ihren Vorbildern auf die Spur kommen. Dieses Buch fragt also nicht, wie es wirklich gewesen ist mit der Geburt Jesu, sondern es fragt, warum die Geschichten so erzählt wurden, wie wir sie heute im Matthäus- und Lukasevangelium lesen können, in welchem Verstehenshorizont sie formuliert wurden, was die verwendeten Zitate den ersten Hörer:innen sagten, was die verwendeten Bilder damals bedeuteten und wie archäologische Erkenntnisse dabei helfen können, dem Verständnis der ersten Hörerinnen und Leser der Geschichten auf die Spur zu kommen. Gerade die Bezüge zwischen den einzelnen Büchern der christlichen Bibel sind für Christ:innen oft überraschend, weil die Texte der Hebräischen Bibel, unseres Ersten Testaments, uns weit weniger geläufig sind als den ersten Jesusgläubigen. Gerade aus diesen intertextuellen Bezügen ergeben sich dann auch Alternativen zu heute im Christentum gängigen Interpretationen dieser Geschichten.

Es geht also in diesem Buch ausschließlich um die Erzählebene der Geburtsgeschichten in den Evangelien. Das heißt, ich nehme ernst, dass es keine einzige historische Notiz über die Geburt Jesu gibt und wir nur wissen, dass er geboren wurde. Es geht nicht darum, zu beschreiben, wie es nun wirklich gewesen sei. Das ist nicht nur nicht möglich, sondern auch nicht nötig. Denn wenn es bei den biblischen Texten nur um Korrektheit ginge, dann wären sie banal, denn erst aus den Deutungen können wir leben. Und Deutungen gibt es in den Geschichten jede Menge: Sie legen die Hebräische Bibel aus, sie erzählen vom Leben Jesu von Nazaret im Glauben an sein Lebendigsein, sie verwenden gängige Motive der umgebenden Kultur, um ihre Erfahrungen mit dem Glauben an Jesus als Mensch-von-Gott und Mensch-auf-Gott-hin auszudrücken.

In den Erzählungen seines Volkes

Für viele Menschen christlichen Bekenntnisses ist eine geläufige Lesart der Bibel, dass das Erste Testament etwas Vorläufiges sei, eine große Frage, Ausdruck einer Sehnsucht nach Rettung, und dass diese Frage im Zweiten Testament ihre Antwort gefunden habe. Die lange und intensive Debatte über das Verhältnis der beiden Testamente ist bis heute nicht beendet. Viele christlich-theologische Ansätze werten das Erste Testament als Offenbarungsschrift bis heute ab, indem sie postulieren, dass mit Jesus und mit den Schriften des Zweiten Testaments das Erste überboten worden sei, dass es in sich also keine Geltung mehr habe, sondern seine Sinnspitze außerhalb liege, nämlich im Zweiten Testament, und das Erste damit vom Zweiten abgelöst worden sei. Weniger theologisch als vielmehr von alten antijudaistischen Katechismuslehren geprägt ist das landläufige christliche Vorurteil, im „Alten“ Testament spräche ein Gott der Rache, im „Neuen“ hingegen offenbare sich ein Gott der Liebe. Warum dieser Gott der Liebe dann im gleichen religiösen Koordinatensystem das Opfer seines Sohnes fordern sollte, um der sündigen Menschheit vergeben zu können, lässt sich nicht schlüssig theologisch, eventuell aber psychologisch erklären.

Diese Überbietungstheologie hinter sich zu lassen, fällt vielen christlichen Theologien deutlich schwer. Für den katholischen Bereich lässt sich zeigen, dass die verlangsamte, widerwillige und lückenhafte Aufnahme neuer theologischer Ansätze und Erkenntnisse in das kirchliche und vor allem in das gottesdienstliche Sprechen hier gravierende Folgen hat. In der römisch-katholischen Leseordnung dient das Erste Testament nämlich immer noch weitgehend als Steinbruch für das Zweite: Ersttestamentliche Lesungen in den Sonntagsliturgien folgen nicht kontinuierlich den Schriften der Hebräischen Bibel, sondern werden immer mit Blick auf das jeweilige Sonntagsevangelium ausgesucht, während die Evangelienperikopen sich weitgehend an den Fluss des biblischen Textes halten. Auf diese Weise werden zwar intertextuelle Bezüge sichtbar, was ein Pluspunkt ist, aber das Framing ist dann automatisch eins von Ankündigung und Überbietung, Hoffnung und Erfüllung, Sehnsucht und Erlösung. Wo sich dieser Eindruck nicht von selber allein durch die Gegenüberstellung der ausgewählten Texte einstellt, wird dieses Verhältnis vom Ersten zum Zweiten Testament auch aktiv etwa von den einleitenden und kommentierenden Texten im Schott Messbuch hergestellt, welches viele Lektor:innen und Priester zur Gottesdienstvorbereitung heranziehen.

Die Textbeziehungen haben sich so im Laufe der Überlieferungsgeschichte umgekehrt. Denn die Autor:innen des Zweiten Testaments griffen immer wieder auf die Texte des Ersten Testaments zurück, um aufzuweisen, dass das, was sie schrieben, wahr sei. Spätere christliche Interpretationen hingegen betrachteten das Erste Testament nur noch insofern als wahr, als es vom Zweiten Testament bestätigt wurde.

Die Folge: Während gläubige Christ:innen zumindest im Wesentlichen einen Überblick über die bekanntesten Texte des Zweiten Testaments haben, bleibt das Erste Testament für viele eine black box. Man kennt dann die Erzählungen der Genesis und die bekanntesten prophetischen Texte, die deswegen am bekanntesten sind, weil sie in den Evangelien zitiert werden, womit dann auch gleich das Verständnis gegeben ist, dass sie sich darin erfüllt hätten. Aber die vielen Psalmzitate in den Evangelien und die Hintergründe für die intensiven Debatten über die Geltung der Tora in den Gemeinden der Jesusgläubigen, zu denen auch nichtjüdische Menschen gehörten, bleiben weitgehend ungehört und unverstanden.

Daraus ergibt sich wiederum die unterschwellige Annahme, dass wer „nur“ das Erste Testament als Offenbarungsschrift kennt, also heutige Jüdinnen und Juden, irgendwie defizitär sei: keine „richtige“ Erlösung kenne und vom Gotteswort nur die Ouvertüre gehört habe. Innerhalb der römisch-katholischen Kirche haben Theolog:innen während des Zweiten Vatikanischen Konzils und danach versucht, Alternativen zu dieser defizitorientierten Betrachtungsweise aufzuweisen und vor allem zu etablieren. Dieses Bemühen bleibt weitgehend fruchtlos, weil dem gefühlten Defizit schwer beizukommen ist: Wozu bräuchte es ein Zweites Testament, wenn das Erste auch ausreichen würde? An dieser Grundfrage scheiden sich auch über 50 Jahre nach dem ersten Besuch einer Synagoge durch einen römisch-katholischen Papst der Neuzeit immer noch die Geister, und auch innerhalb einer Kirche fallen die Antworten mitunter unterschiedlich aus. Traditionalistische römisch-katholische Kreise dürfen wieder die Karfreitagsfürbitte der vorkonziliaren Liturgie für die „verstockten Juden“, die „perfidis judaios“ beten, und tun das natürlich auch. Andere Katholik:innen bemühen sich um das christlich-jüdische Gespräch, aber die Ergebnisse dieser Gespräche werden in weiten Teilen der Gesamtkirche nicht in die liturgischen Texte und in der Folge auch nicht in das Glaubenswissen integriert. Landläufig gibt es immer noch eingeschliffene antijüdische Vorurteile in der Lektüre des Zweiten Testaments: Jesus habe die Tora durch das Liebesgebot abgelöst, die Spitzenthesen der Bergpredigt „Ihr habt gehört … ich aber sage euch“ seien Antithesen, als würden sich die jeweiligen Satzteile ausschließend gegenüberstehen, die Lehrgespräche mit „den“ Pharisäern seien von Vorwürfen, Unterstellungen und unlauteren Absichten geprägt gewesen, und schließlich, „die Juden“ hätten Jesus umbringen lassen und sich dann der Botschaft von seiner Auferstehung verweigert.

Noch gröber wird das Missverständnis, wenn man die Überzeugung dazunimmt, dass die Menschen des Ersten Testaments keinen Glauben an das Bewahrtsein des Lebens über das Sterben hinaus gekannt hätten – und dass seit der Auferstehung Jesu alle, die sich nicht zu ihm als Sohn Gottes bekennen wollten, im Tod bleiben oder sogar in eine Hölle kommen.

Ich weiß, dass sich das wie eine Karikatur anhört; als Seelsorgerin bin ich solchen Auffassungen aber leider schon in den Ängsten und Skrupeln von Menschen begegnet. In diesem Vorurteils-Klangteppich gehen aber wesentliche Töne des gesamten Liedes verloren, das die Schriften des Zweiten Testaments anstimmen. Er absorbiert nahezu alle Töne aus dem Ersten Testament, die auch im Zweiten klingen, und übrig bleibt ein Text ohne Tiefenschichten, mit unverständlichen Pointen, der als ein in sich vollständiger Text gelesen wird, weil die heute Lesenden gar nicht mehr wissen, was an Klängen alles fehlt.

Ohne die lange Hoffnungsgeschichte der Menschen, in deren Überlieferung sich der Glaube an eine