Glaubensworte, weiblich - Annette Jantzen - E-Book

Glaubensworte, weiblich E-Book

Annette Jantzen

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Beschreibung

Der Nachfolgeband von "Gotteswort, weiblich" legt unter den autoritär-hierarchischen Schichten, die sich im kirchlichen Sprechen vom Glauben angelagert haben, die umstürzende Erfahrung der Befreiung offen, die in den neutamentlichen Schriften noch durchklingt. Er versammelt Glaubensworte für heute, die sich aus dieser Erfahrung speisen, Gebete und Psalmen für einen Glauben in Freiheit und Vertrauen.  

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Annette Jantzen

Glaubensworte, weiblich

Biblische Auslegungen und Gebete für heute

Wenn nicht anders angegeben, sind die Bibeltexte entnommen aus: Bibel in gerechter Sprache © 2006, Gütersloher Verlagshaus, Gütersloh, in der Verlagsgruppe Random House GmbH.

© Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2023Alle Rechte vorbehaltenwww.herder.deUmschlaggestaltung: Verlag HerderUmschlagmotiv: © Illiya Vjestica via UnsplashSatz: SatzWeise, Bad WünnenbergHerstellung: GGP Media GmbH, PößneckPrinted in GermanyISBN Print 978-3-451-39602-1ISBN E-Book (EPUB) 978-3-451-84612-0ISBN E-Book (PDF) 978-3-451-84372-3

Inhaltsverzeichnis

Zu diesem Buch

Teil 1: Glaubensworte

Die letzte Instanz: eine Leerstelle oder ein Absolutheitsanspruch?

Geltung und Objektivität

Gebetet ohne zu beten. Über den Verlust des Gebets im katholischen Gottesdienst

Sprechen …

… und schweigen

Teil 2: Das Wort-von-Jesus in der Kirche

Jesus, der Messias

Eine Stimme ruft in der Wüste (Lk 3,1–6)

Fremde Bilder (Mk 1,7–11)

Menschen wie alle (Lk 10,38–42)

Der Messias, der Gekreuzigte I (1 Kor 2,1– 5)

Das Wort-von-Jesus in den frühen Gemeinden

Wer ist eigentlich ein Apostel?

Der Erstgeborene von vielen Geschwistern (Röm 8,28–30)

Streitbegabt (1 Kor 1,3–9)

Begabt und begnadet (1 Kor 12,4–11)

Wer schreibt, bleibt (1 Kor 15,1–11)

Die Schwerkraft ungerechter Strukturen (Phlm 8–16)

Übersetzungs-Verantwortung (Gal 4,4–7)

Kein Wort für heute (Eph 5,21–32)

Zur Freiheit hin (Phil 3,8–14)

Freiheit in der Gnade Gottes (Gal 5,1.13–18)

Das Haus Simons, des Gerbers: Ort einer umstürzenden Erfahrung (Apg 10,34–38)

Heute Teil der Kirche sein

Nervende alte Frauen (Lk 18,1–8)

Der Messias, der Gekreuzigte II

Der leidende Leib Christi (1 Kor 12,12–13.24–27)

Angstrosen-Hecken

Karsamstagskirche

Ein Lied, leise zu singen ( Joh 20,19–23)

Eine Antwort, leise zu geben ( Joh 21,15– 17)

Nur noch hohle Worte? ( Joh 17,1–11)

Midrasch über den Kölner Dom

Teil 3: Sich eine Gebetssprache zuwachsen lassen

Jesus, den Gekreuzigten, ins Gebet nehmen

Christusrufe

Kreuzweg

Blicke und Schweigen

Eingangsgebet für heimatlose Katholik*innen

Psalm zum Christkönigfest

Jeder Herzschlag

Psalmgebet nach Ps 90

Psalm zur Erdbebenkatastrophe in Syrien und der Türkei 2023

Pfingstlied

Segen der Verwundbarkeit

Gesegnete Schritte

Segen nach einer schwierigen Woche

Pfingstsegen

Nachtgebet

Fallende Sterne

Psalm gegen den Krieg

Weihnachtspsalm

Von Aufgang zu Aufgang

Midrasch über den Stern von Betlehem

Zu diesem Buch

Dieses Buch hat als Vorgänger das Buch „Gotteswort, weiblich“, in dem ich vorgestellt habe, wie eine nichtpatriarchale Gottesrede begründet werden kann, und diese auf die Feier des Gottesdienstes angewandt habe. In dieser Bewegung gehe ich nun weiter – in meinem Nachdenken über Glauben und Kirche, über Gottesworte und Glaubensorte und in meinem Suchen nach Gebetsworten für heute, nach Worten auf Gott hin. Sprache ist mehr als das Gewand für einen unveränderlichen Glauben, sondern Sprache gibt dem Glauben eine Gestalt für die Gegenwart. Darum ist die Krise der katholischen Kirche nicht nur eine Gegenwartskrise, sondern auch wesentlich eine Sprachkrise. Wenn das autoritativ bewahrte und unverändert zu bewahrende, zu wiederholende, einzuschärfende Wort keinen Andockpunkt mehr im gelebten Leben findet, was passiert dann mit ihm? Was passiert dann mit der Wirklichkeit, von der es spricht? Und was mit den Menschen, deren Sehnsucht keinen Ausdruck mehr findet, so wie auch ihr Unbehagen oft diffus bleibt, weil alle Kritik an Machtanspruch, Ignoranz und Diskriminierung, denen sie in der Kirche begegnen, nicht recht erklären kann, wie es zu dieser Gegenwartskrise kommen konnte? Es muss hier mehr geben als die Alternativen der innerlichen oder auch äußeren Emigration aus dieser Kirche, wenn Akzeptanz nicht mehr möglich ist. Denn religiöse Muttersprachen lassen sich nicht so einfach ablegen, sie wirken nach und weiter und es tut gut, zu fassen zu bekommen, woraus sich die Krise speist und wohin ungefähr ein Weg hinaus führen könnte.

Ich schreibe dieses Buch nicht, um eine Idee einer Kirchenreform vorzulegen. Solche Ideen gibt es, sie sind klug und umsetzbar beschrieben worden und schon lange die Vision so vieler Katholik*innen, und ich habe sie in meiner Berufsbiographie mit Freude und Leidenschaft formuliert, für sie argumentiert, sie vertreten und in den jugendverbandlichen Strukturen, in denen ich arbeiten durfte, soweit wie möglich auch umgesetzt. In dieser Hinsicht ist, glaube ich, alles oder zumindest doch vorerst genug gesagt. Auch Wege zu einer Umsetzung sind vorgelegt worden, allein sie laufen ins Leere, weil die Institution der katholischen Kirche sich in eine Sackgasse manövriert hat.

Mein Anliegen ist, mit meiner religiösen Muttersprache umzugehen, durchzubuchstabieren, warum der Raum, in dem diese Sprache gesprochen wird, in einer so tiefen Krise ist, und dann noch einmal zurückzugehen dahin, wo diese Glaubenssprache ihre Ursprünge hat. Von da aus nähere ich mich noch einmal eher assoziativ der Glaubensgemeinschaft heute, bevor ich einen neuen Sprachraum aufmache, in dem ich meine religiöse Muttersprache neu zum Klingen bringe.

Das gliedert dieses Buch in drei Teile: Den Analysen im ersten Teil folgen Auslegungen biblischer Texte im zweiten und theopoetische Texte im dritten Teil.

Wie der Vorgängerband speist sich auch dieses Buch aus meiner Arbeit am Blog „Gotteswort, weiblich“, den ich als Frauenseelsorgerin fülle, um für jeden Sonntag einen Text für Menschen bereitzustellen, die Wort-Gottes-Feiern vorbereiten. Mein Schwerpunkt liegt dabei in diesem Band auf der Auslegung neutestamentlicher Lesungen mit dem Fokus auf Texten, von denen aus die Rolle von Frauen in den Gemeinden der neutestamentlichen Zeit betrachtet werden kann oder die heute verwendet werden, um bestimmte Rollenerwartungen zu formulieren und zu sakralisieren. Ausgehend von neutestamentlichen Lesungen gehe ich dabei den Fragen nach, wie von der Zeit mit Jesus erzählt wurde und wie sich dann Glauben und Kirchengestalt ausbildeten, und was das heute sagen könnte zum eigenen Sein oder Nichtsein in dieser Kirche. Weil meine Hauptanliegen (Neu-)Aneignung und Empowerment (Stärkung eigener innerer Ressourcen) sind, nehmen diese Auslegungen nach einigen Überlegungen zum Umgang mit dem Glauben in der Kirche den größten Teil des Buches ein. Aus ihnen erwachsen dann theopoetische Texte, darunter auch zwei, die mit der Form des Midrasch, der aus einem Motiv oder einem Vers entwickelten erzählenden Theologie, eine weitere Anleihe beim Judentum macht.

Ich wähle diesen Zugang der Zusammenstellung von essayistischen und poetischen Angängen, weil sich daraus eine neue Perspektive ergibt. Denn nicht die säkularisierte Gesellschaft oder die Reformkräfte in der Kirche haben eine Gotteskrise, sondern die Kirche steckt in einer Gegenwartskrise. Diese Gegenwartskrise ist innerhalb und für den Geltungsbereich der Ämterhierarchie nur von den Amtsträgern her durch eine deutliche Abkehr von den Entscheidungen zu lösen, die in diese Sackgasse geführt haben. Dass diese Gruppe das (noch) nicht als ihre Aufgabe sieht, hat der Synodale Weg einmal mehr gezeigt. Alle entsprechenden Angänge bleiben (noch) in der Logik der monarchischen Letztentscheidung und des Gehorsams, der Widerspruch diskreditiert und von der Vernunft ihr eigenes Selbstopfer glaubt fordern zu können. Damit sich diejenigen, die entsprechende Änderungen erhoffen, sie aber nicht umsetzen und selbstverständlich auch nicht einklagen können, nicht weiter wund reiben an diesem für sie unlösbaren Konflikt, wähle ich den Weg der neuen Aneignung und Formulierung des neutestamentlichen Glaubens. Mir geht es um eine neue Einwurzelung Gottes in unsere Gegenwart, in unser Leben.

Und: Auch wenn die Verbrechen der sexuellen und sexualisierten Gewalt und deren Vertuschung in der Kirche nur vereinzelt zur Sprache kommen, bilden doch beide den ersten und letzten Grund, die Selbstüberhöhung der Institution und deren Folgen ins Wort zu bringen und nach neuen, nicht kompromittierten Zugängen und Ausdrücken des Glaubens zu suchen. Es steht dabei deutlich mehr auf dem Spiel als gesellschaftliche Anschlussfähigkeit, geschweige denn gesellschaftlicher Einfluss.

Teil 1: Glaubensworte

Die letzte Instanz: eine Leerstelle oder ein Absolutheitsanspruch?

Nichts tötet den Glauben so effektiv, wie der Anspruch, ihn endgültig festzuschreiben. Natürlich kann man dem Glauben auch auf andere Weise zu Leibe rücken: Man kann ihn anderen Menschen aufzuzwingen versuchen, mit ihm Kontrolle über andere Menschen ausüben, Druck aufbauen und ihn auf so eine Art und Weise für eigene Zwecke dienstbar machen, dass er von einer Ideologie nicht mehr zu unterscheiden ist. Aber bei allen diesen Angängen bleibt der Gegenstand des Glaubens zumindest als ein Gegenbild zum Behaupteten, als Ideal, als Hoffnung jenseits der von Alltagslügen gepflasterten Realität eine Instanz, die Geltung hat. Der Anspruch, den Glauben endgültig – man könnte auch sagen: unfehlbar – festzuschreiben, wirkt anders: Er trennt den Glauben vom Subjekt. Er behauptet, dass eine Idee, die dem Subjekt, das sich um das Heranreichen an ein je Größeres müht, als externer Anspruch gegenübersteht, sich für dieses Subjekt auch ohne dessen je eigene Aneignung als unbedingt gültig erweisen könne. Noch deutlicher wird dies, wenn dieser externe Anspruch als Glaubenswahrheit formuliert, was allenfalls Gegenstand einer Debatte sein kann, weil es eine von mehreren möglichen Folgerungen aus einem bestimmten Wissensbestand ist. Wenn eine Folgerung aus einem bestimmten Wissensbestand, erhoben zu einer bestimmten Zeit und von bestimmten Menschen mit ihren Standpunkten und Begrenzungen, innerhalb eines bestimmten Horizonts des Denkmöglichen und des Glaubwürdigen, in einer bestimmten Formulierung als endgültige Glaubenswahrheit festgeschrieben wird, und noch dazu, ohne dass die eigene Standortgebundenheit offengelegt, geschweige denn reflektiert würde, dann wird das Wesen des Glaubens selbst negiert.

Für Menschen, die ein geschärftes Gehör für die Klänge des Katholischen haben, ist ein Beispiel dafür schnell bei der Hand, nämlich die – päpstlicherseits vergeblich verbotene – Debatte um die Gleichberechtigung der Frauen in der römisch-katholischen Kirche. Fragen der Emanzipation oder, von der anderen Seite aus betrachtet, Fragen der Disziplin zu Glaubensfragen zu machen, ist zwar einerseits ein innerhalb des Systems wirksames Mittel, die Debatte zu beenden – und zugleich ein Instrument, ein System, das den Glauben zum Inhalt hat, nachhaltig und unumkehrbar in sich zu schließen. Es hat aber andererseits im gleichen Zuge aushöhlende Wirkung auf genau diesen Glauben.

In sich geschlossen, aber hohl: Wenn die letzte Instanz in Glaubensfragen benutzt wird, um disziplinarische Entscheidungen durchzusetzen, dann wird damit gleichzeitig der Glaube nicht als je unverfügbare Bewegung auf Gott hin begriffen, sondern der Glaube wird dargestellt als etwas, in dem es eine menschlich gesetzte, letzte Entscheidungsinstanz geben kann. Wenn aber die letzte Instanz nicht eine Frage, ein Immer-je-Größeres ist, sondern in endgültiger Weise behauptet wird, dann wird der Glaube dadurch banalisiert. So wie in der Rechtsprechung auch die Idee der Gerechtigkeit immer ein Je-Größeres gegenüber den konkreten Rechtsurteilen bleibt, so könnte, ja sollte auch im Bereich der Religion die letzte Instanz ein Je-Größeres sein, eine Frage, eine zutiefst persönliche Anfrage, ein Nicht-Wissen, und auch: ein Schweigen, das ins Schweigen Gottes hineinführt. Wie sollte man noch anders sprechen können von der Wirklichkeit Gottes, die im christlichen Glauben als glühende Liebe besungen wird, als Leidenschaft für diese Schöpfung, deren tiefster Grund eben der unbedingte Wille Gottes sei, dass es sie gebe – eine Schöpfung, die auch ganz ohne Zutun des Menschen ein von Schmerz und Leid durchzogenes Dasein durchlebt? Wie sollte man noch anders sprechen können von der Wirklichkeit Gottes, deren Wunsch und Wille diese Welt im Dasein hält, auf der Menschen einander das Leben zur Hölle und zu Schlimmerem machen können? Von Gott sprechen muss in einer leidgeprüften Schöpfung immer auch heißen, von Gott zu schweigen. Mit dem Schweigen ist es aber so eine Sache. Wenn jüdische Mystik davon spricht, dass die gesamte Tora vor der Schöpfung der Welt schon war, aber als ein Text ohne Leerstellen, der darum unentzifferbar blieb, und dass das Schöpfungswerk Gottes darin bestand, die Lücken, die Zwischenräume im Text freizulegen, das Schweigen in die Wirklichkeit zu holen, mit dem es erst eine Unterscheidung von Gott und Welt geben kann, dann ist das eine Vorstellung, die römisch-katholischer Wirklichkeitsdeutung sehr fremd ist. Hier wird in vielen Worten und auf hunderten Seiten des Katechismus festgelegt, was und wie zu glauben ist – das Schweigen scheint hier keine Option zu sein.

Nun liegen zwei Einwände nahe: Erstens, warum direkt mit der Glaubenswahrheit einsteigen? Ist das nicht ein bisschen steil? Fehlen hier nicht grundlegende hermeneutische Überlegungen über die Fähigkeit zur Erkenntnis und die Relativität allen Erkennens? Und zweitens: Ist das nicht ein Zerrbild des römisch- katholischen Kircheseins, wenn nicht mit den Quellen ihrer Mystik, mit dem Schweigen ihrer Kirchenlehrer*innen, mit den klugen und redlichen Debatten ihrer Theologie argumentiert wird, sondern ausgerechnet mit dem Katechismus? Das Problem beim zweiten Einwand ist, dass er natürlich richtig ist, dass aber die letzte Instanz des römisch-katholischen Kircheseins aus der nach außen nicht mehr vermittelbaren Innenperspektive der römisch-katholischen Kirchenhierarchie eben das unfehlbare Lehramt in Person des Papstes und des Bischofskollegiums ist und dass diese letzte Instanz den zweiten Einwand nicht gelten lässt. Genauer: Alles, was es an Mystik, an Schweigen, an eigener Einsicht in die Unvollkommenheit jeden Erkennens und Glaubens in der kirchlichen Tradition gibt, ist nur eine vorletzte Instanz. Das letzte Wort in Glaubensfragen hat der Katechismus, der den Anspruch hat, den authentischen Glauben der Gesamtkirche vorzulegen. Das ist umso tragischer, als er nicht nur vom Standpunkt eines uneinlösbaren Anspruchs aus formuliert, also formal fraglich, sondern an vielen Stellen auch inhaltlich, also von seinem Gehalt her, nicht besonders klug ist. Das ist leider kein gutes Beispiel für die Rechtfertigung des Glaubens vor der Vernunft, und es ist eine eigene Frage, warum ausgerechnet Joseph Kardinal Ratzinger den aktuellen Weltkatechismus aus der Taufe gehoben hat, mit einer sicheren Antwort auf jede Glaubensfrage.

In einer anderen Zeit und damit auch in einer anderen Welt wäre das weniger problematisch gewesen. Die Diskrepanz zwischen Glaube und Vernunft und die Unmöglichkeit, die Vernunft durch Glaubensautorität von etwas zu überzeugen, was ihr nicht einleuchtet, diese Diskrepanz ergibt sich erst, wenn allgemeines Weltwissen und der Glaubenshorizont der Menschen, die über die Inhalte des Katechismus entscheiden, auseinanderdriften. Noch schwieriger wird es, wenn es nicht nur um die Frage nach dem Göttlichen hinter, in, über dieser Welt geht, sondern wenn die behaupteten Glaubenswahrheiten ganz konkrete ungerechte Aussagen gegen Menschen und Menschengruppen enthalten – Diskriminierungen, Abwertungen, Einschätzungen, die der Vernunft zuwiderlaufen, mehr von Ressentiment gegen aktuelle Wissenschaften getragene als klug argumentierte Aussagen. Beispiele gibt es leider viele: Der abwertende, verletzende, nichtende Umgang mit Menschen, deren Geschlechtsidentität und/oder deren Begehren nicht in die heteronormative Norm passt, die diskriminierenden Aussagen über Frauen und ihr vermeintlich gottgegebenes Wesen, die Abwehr gegenüber den Gendertheorien, die doch ein nützliches Instrument sein könnten, das zu tun, was Aufgabe der Theologie ist, nämlich über die Selbstverständlichkeiten konkreter Realitäten hinauszudenken. Dass ausgerechnet der Vatikan den öffentlichen Diskurs durch die Prägung des diffamierenden Begriffs der „Gender-Ideologie“ nachhaltig vergiftet hat, ist eine bittere Pille nicht nur für katholische Feministinnen. Hier zündelt eine weltweit beachtete Instanz an der Freiheit der Wissenschaften, genauso wie sie auch demokratieverachtenden und massiv demokratiegefährdenden Bewegungen Vorschub leistet durch die immer wieder vorgetragene Abwertung der Demokratie, die für die Kirche keine Option sein könne. Das gilt natürlich nur für eine Kirche, die monarchisch verfasst ist. Monarchen, die aus eigenem Antrieb zugunsten der Demokratie abdanken, sind selten, und im Bereich der Religion kaum vorstellbar, da ihr Amt dort auch noch sakralisiert ist und jede Bewegung, die das in Frage stellt, als religiöser Verstoß begriffen werden kann. Die tiefsitzenden Ängste davor zu überwinden, ist für Menschen in religiösen Systemen und Strukturen ausgesprochen schwer, was schade ist, sollte Religion den Menschen doch eigentlich auf das Göttliche hin frei machen.

Gültige Glaubenswahrheiten in einem Buch festzuschreiben, ist paradox in einer Welt, in der Menschen sich der Standortgebundenheit jeder Erkenntnis, jeden Wissens bewusst geworden sind. Das Auseinanderdriften von Katechismus und theologischem Nachdenken, von lehramtlich gesetzter Glaubenswahrheit und Durchbuchstabieren des Glaubens in einer vieldeutigen, nie von einem absoluten Standpunkt aus überblickbaren Welt ist eine Quelle der Gegenwartskrise der römisch-katholischen Kirche. Die mittlerweile allgemein anerkannte Partikularität allen Wissens hat an ihrer Spitze nur zu einem kurzen Innehalten in Bezug auf die Ausübung des unfehlbaren Lehramtes geführt. Ein Ausweg aus dem Dilemma wurde von vielen Instanzen in der Kirche gesucht, nicht aber von der Behörde, die an der Spitze dieser Kirche steht – und man merkt es den offiziellen Äußerungen der obersten Kirchenleitung leider an, dass an ihrer Spitze eine dysfunktionale Bürokratie steht. Diese setzt weitgehend auf das Autoritätsargument und darauf, dass lehramtlich endgültig entschieden sei, was so vielen Menschen offene, drängende, grundstürzende Fragen sind im Bemühen, vom Gottesgeheimnis in dieser Welt zu sprechen. Und dieses Gottesgeheimnis wird sowohl durch den potentiell möglichen Anspruch der Unfehlbarkeit als auch durch die Verwaltung des Göttlichen durch eine Bürokratie höchst wirkungsvoll getötet: Nicht nur indem es verbogen, entstellt, verzerrt würde, weil es mit den Mitteln und Horizonten lange vergangener Zeiten ausgesagt werden soll – das auch, aber das wäre reparabel. Nicht mehr reparabel ist die weit größere Tragik des Gottesgeheimnisses, vermeintlich bewahrt in der römisch-katholischen Kirche, die so großen Wert darauf legt, sich nicht ändern zu können, weil sie keine Vollmacht dazu hätte, sondern von Gott selbst an ihre jetzige Struktur gebunden sei. Diese Struktur ist ein Käfig der Unfehlbarkeit, in der das Gottesgeheimnis schlicht verhungert – an Irrelevanz.

Geltung und Objektivität

Interessanterweise ist die Entwicklung der Kirche zu einer Struktur, in der es eine mit absolutistischer Macht ausgestattete Führung und in der Folge ein wirkungsvolles Durchregieren von oben nach unten gibt, verhältnismäßig jung. Hubert Wolf hat in überzeugend recherchierten Veröffentlichungen dargelegt, wie Papst Pius IX. mit dem Dogma der Unfehlbarkeit des päpstlichen Lehramts durch das Erste Vatikanische Konzil 1870/71 die römisch-katholischen Kirche geradezu neu erfunden hat.

Diese Entwicklung ist die römisch-katholische Antwort auf die Aufklärung. Ein schillernder Begriff, unter dem vieles subsummiert wird – an dieser Stelle geht es mir um den Anspruch der autonomen Vernunft auf Welterkenntnis. Mit der Aufklärung beginnt in diesem Sinn auch die moderne Naturwissenschaft: eine auf Objektivität abzielende Suchbewegung, die auf Evidenz, Nachprüfbarkeit und Reproduzierbarkeit des erlangten Wissens setzt und die metaphysische Erklärungen für unerklärliche Phänomene nicht mehr gelten lässt, sondern zu Lückenbüßern degradiert. Parallel dazu kommt das Herrschaftssystem des Absolutismus an sein Ende, was erst einmal nicht als zwei miteinander kausal verbundene Entwicklungen erklärt, sondern als interessantes Zusammentreffen betrachtet werden soll.

Das gesammelte Weltwissen der sich emanzipierenden Naturwissenschaft war von vorneherein nach vorne, zur neuen Erkenntnis hin offen. Aber erst in einem weiteren Schritt erwachte auch das Wissen um die Standortgebundenheit jeder Erkenntnis. Das betraf vor allem die Geisteswissenschaften – erst herrschte der Anspruch, beispielsweise der historischen Wissenschaften, zu beschreiben, „wie es eigentlich gewesen ist“, ohne heilsgeschichtliche Deutung, aber mit dem Anspruch einer historischen Wahrheit ausgestattet. Erst in einem weiteren Schritt wurde die Erkenntnis gewonnen, dass jede Beschreibung einer gesellschaftlichen Wirklichkeit immer nur eine von einer bestimmten Perspektive aus getätigte Rekonstruktion ist, gefolgt wiederum von der Einsicht, dass schon die Weltwahrnehmung an sich eine Konstruktion ist, sodass es keine Ausnahme, sondern die Regel ist, dass sich Gesellschaften auf eine geteilte Wirklichkeit erst einigen müssen, weil diese nicht als vorgegebene zur Verfügung steht.

Aber auch die Naturwissenschaften und vor allem die Humanwissenschaften standen vor dieser Aufgabe der Einsicht in die eigene Begrenztheit. So wird erst heute das Ausmaß des inhärenten Kolonialismus, Rassismus und Frauenhasses ansatzweise realisiert, der die geographischen, biologischen, ethnologischen Erkenntnisse prägte und ihr Framing bestimmte. Was die Humanwissenschaften angeht, hat sich diese Einsicht immer noch nicht final durchgesetzt, anders sind die Überschreitungen des eigenen Wissenschaftsbereichs nicht erklärbar, mit denen beispielsweise Neurowissenschaftler*innen Erkenntnisse über den in ihrer Vermutung nicht vorhandenen freien Willen beanspruchen.

Die modernen Wissenschaften haben also zwei grundlegende Wenden hinter sich: die kopernikanische, mit der die Erde nicht mehr als Zentrum des Universums erkannt wurde, und die Einsicht in die Relativität allen Wissen, mit der anerkannt wurde, dass es keinen Standort außerhalb des je eigenen Universums gibt, mit dem etwas objektiv beschrieben werden könnte: Denn Objektivität ist das Je-Größere, das Ideal, das immer ein Korrektiv ist, aber selbst schon prinzipiell nie erreicht werden kann.