Das Kurze. Das Einfache. Das Kindliche. - Franz Hohler - E-Book

Das Kurze. Das Einfache. Das Kindliche. E-Book

Franz Hohler

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Beschreibung

Eine unterhaltsame, abwechslungsreiche und anregende Reise in die poetische Welt Franz Hohlers

Franz Hohlers kurzweilige und anregende Essays führen uns in »Das Kurze«, »Das Einfache« und »Das Kindliche« ein; kaum etwas kennzeichnet Franz Hohlers erfolgreiches Werk besser als diese Kategorien. Sie sind die Grundpfeiler seines Schreibens, bilden den poetischen Kosmos seines Werks. Und wir begegnen vielen seiner Geschichten und seiner Lieblingsautoren wie Georg Büchner, Daniil Charms oder Franz Kafka auf eine überraschende Weise neu.

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Seitenzahl: 202

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Inhaltsverzeichnis
Das Kurze
LERNERFOLG
EINE KURZE GESCHICHTE
FRÜHLINGSANFANG
EINE LIEBESGESCHICHTE
ZWEI BÜSCHE
DAS BLATT
DAS WIEDERSEHEN
DER WUNSCH
ABSCHIED FÜR IMMER
DIE SCHÖPFUNG
DER AUTOSTOPPER
DIE KONFERENZ
VON EINEM EIGENSINNIGEN KINDE
ZERSTREUTES HINAUSSCHAUN
DAS VERBOTENE ZIMMER
EKTISCH
DER SCHREI IN DER NACHT
DIE UNGLEICHEN REGENWÜRMER
SCHLÄFER
DAS BEFINDEN
DER GROSSE ZWERG
Das Einfache
DIE BEFREIUNG
DIE RIESEN IM PARKHAUS
LONDON
DIE NACHT VOM KELLNER
DAS ZIEL
NOCH EINE LIEBESGESCHICHTE
DER KNECHT
DER VERKÄUFER UND DER ELCH
DIE FABEL VOM VATER,
DER PRESSLUFTBOHRER UND DAS EI
HERBSCHTGEDICHT
KELCHES NEIGUNG
S LIED VOM CHÄS
Das Kindliche
WEIHNACHTEN – WIE ES WIRKLICH WAR
DER PFINGSTSPATZ
DER GRANITBLOCK IM KINO
DER OFFENE KÜHLSCHRANK
DER KÖNIG, GANZ FÜR SICH
DIE ZEICHNUNG
ZWEI BEINE
DIE KATZE UND DIE MAUS
MADE IN HONGKONG
DIE ARME MARKTFRAU
DER FREMDE
NORMAL
DIE FEE
DAS HUHN KRATZTE SICH
DIE TAUBE
Der Dialekt
Die Medizin
DER STERBENDE
Die Literatur
Die Kunst
Der Krieg
Die Anderen
Der Neger
Der Aufsatz
MURMELTIERE!
Der Anfang
Der Dank
Der Tod
Das Gebet
DIE SCHWIERIGE POSITION GOTTES
Der Weg
LERNERFOLG
Der Abschluss
DIE KREIDE UND DER SCHWAMM
DIE KREIDE
Copyright
Das Kurze
Da ging einmal ein Mann ins Büro und traf unterwegs einen anderen, der soeben ein französisches Weißbrot gekauft hatte und sich auf dem Heimweg befand.
Das ist eigentlich alles.
»Begegnung« heißt diese kurze Geschichte des russischen Surrealisten Daniil Charms.
Was will sie von uns? Möchte sie uns ärgern? Wieso wagt sie es, als Geschichte aufzutreten? Sie hat uns ja kaum etwas zu erzählen, sie liegt sozusagen unter dem Gefrierpunkt des Erzählbaren.
Gerade deshalb gehört sie zu meinen Lieblingsgeschichten. Sie hält einen Moment des Lebens fest und behauptet, dass dieser Moment etwas Besonderes sei. Und von dieser Behauptung gehen wir alle aus, die schreiben, dass jeder Moment des Lebens etwas Besonderes ist, das der Beschreibung würdig ist, wenn wir ihn genau anschauen. Jeder Moment ist ein Ausschnitt aus einer längeren Geschichte, und jeder Moment ist, für sich genommen, eine kurze Geschichte.
Was also wäre das Besondere am Moment, den sich Charms ausgewählt hat? Er beschreibt eine kleine Alltagstragödie, die wir alle schon erlebt haben: einer muss zur Arbeit und trifft einen, der auf dem Heimweg ist, der also die Arbeit schon hinter sich hat. Das ist schon schlimm genug, aber der andere trägt mit seinem französischen Weißbrot auch noch ein Stück Vorfreude unter dem Arm, es kommt ein Genuss auf ihn zu, und er hat offenbar genug verdient, damit er sich ein französisches Weißbrot kaufen kann.
Dieses Bild sollen wir mitnehmen, wünscht sich der Dichter, dieses Bild ist eine Geschichte. Vielleicht kommt sie uns wieder in den Sinn, wenn wir selbst mit einer Baguette unter dem Arm die Bäckerei verlassen oder wenn wir leicht nervös mit Papier in den Händen einen Raum betreten, aus dem soeben zufrieden ein anderer herauskommt, der seine Papiere noch im Weggehen ordnet oder der sie ungeordnet in seine Mappe steckt. Eine Momentaufnahme ist es, und wenn ich selbst einer der beiden Männer bin, sagt sie mir entweder: »Jetzt bist du dran« oder »Du hast Glück, du kannst nach Hause«.
Die Zeitgenossen des Autors im Russland der Dreißigerjahre könnten die Geschichte auch anders gelesen haben, denn ich vermute, ein französisches Weißbrot sei nicht einfach zu bekommen gewesen; es könnte durchaus ein Zeichen dafür gewesen sein, dass zwischen den zweien ein unheilvoller Rang- und Privilegienunterschied bestand, und wenn wir uns das grausame Ende von Daniil Charms vergegenwärtigen, der mehr oder weniger im Gefängnis von St.Petersburg verhungert ist, bekommt das Weißbrot unter dem Arm des Höhergestellten etwas höhnisch Unerreichbares. Ein Rettungsboot gleitet am Ertrinkenden vorbei, ohne ihn aufzunehmen.
Ist das zu viel gesagt?
Nein, die Geschichte ist so kurz, dass sie uns zwingt, etwas dazu zu denken. Im Roman können wir immer die nächste Seite aufschlagen und uns vornehmen, am Ende darüber nachzusinnen, aber die kurze Geschichte lässt dies nicht zu. Sie will weitergedacht werden.
Ich möchte mit einer eigenen Geschichte weiterfahren, in welcher sich auch zwei Menschen begegnen.

LERNERFOLG

»Siehst du«, sagte die Logopädin strahlend zu ihrem 7jährigen Schüler, nachdem er erstmals und mehrmals das »sch« richtig ausgesprochen hatte, »siehst du, du musst nur die Zunge etwas nach hinten nehmen, und schon geht es.«
»Ja«, sagte der Schüler und nickte. Und dann fügte er hinzu: »Ich habe sie eben lieber vorne.«
Hier treffen nicht nur zwei Menschen aufeinander, sondern zwei Welten. Die Welt der Erwachsenen mit ihren Normen, die unerbittlich, freudlos und rätselhaft sind, und die Welt der Kinder, deren oberstes Gesetz das ist, was Spaß macht.
Der Kontrast, der in dem kleinen Dialog sichtbar wird, genügt, damit es eine Geschichte ist, oder vielleicht eben ein Ausschnitt, ein Wendepunkt einer größeren Geschichte, denn wir ahnen das vorausgegangene lange Leiden der Logopädin, die alle Register ihres Könnens gezogen hat, bis es ihr gelang, den Kleinkinderlaut ihres Schülers zu besiegen, und wir ahnen auch, dass der Erfolg kein dauerhafter ist, denn nun gilt es, dem Kleinen das endgültig auszutreiben, was er gern macht, ihm etwas wegzunehmen, was ihn mit der glücklicheren Zeit seines Lebens verband, als noch kein Schatten einer Schule auf ihn fiel.
Dazu noch eine kurze Geschichte, der ich den Titel »Eine kurze Geschichte« gegeben habe.

EINE KURZE GESCHICHTE

Kommst du den Kindern noch gute Nacht sagen? rief die Frau ihrem Mann zu, als sie um acht Uhr aus dem Kinderzimmer kam.
Ja, rief der Mann aus seinem Arbeitszimmer, ich muss nur noch den Brief zu Ende schreiben.
Er kommt gleich, sagte die Mutter zu den Kindern, die beide noch aufgerichtet in ihren Betten saßen, weil sie dem Vater zeigen wollten, wie sie die Stofftiere angeordnet hatten.
Als der Vater mit dem Brief fertig war und ins Kinderzimmer trat, schliefen die Kinder schon.
Auch da sollte spürbar werden, wie die Welten der Kinder und der Erwachsenen verschiedenen Gesetzen gehorchen. Dem Vater fehlen vielleicht noch zwei oder drei Sätze, und dann könnte er die Tür zu seiner Welt abschließen und zu den Kindern gehen, doch er merkt nicht, dass seine Minuten in der Welt der Kinder Stunden zählen. Sein System, an dem er festhalten will, taugt nicht für das kindliche System.
Eine andere kurze Geschichte – Sie sehen, ich spreche nicht über die Kurzgeschichte, sondern über die kurze Geschichte. Unter Kurzgeschichte verstehe ich eine längere Geschichte, eine zwischen 2 und 10 Seiten, die nächstlängere Form ist die Erzählung, von 10 bis 50 Seiten, ab dann erwartet uns die Novelle, und ganz zuletzt die ausschweifendste Erzählform, der Roman. Nach dieser zugegebenermaßen rein quantitativen Abgrenzung zurück zur kurzen Geschichte, obwohl da noch andere Begriffe herumstehen und uns zuwinken, Kurzprosa, Kürzestgeschichte, Miniatur – aber zurück zur kurzen Geschichte:

FRÜHLINGSANFANG

Mit den Taschen des Abendeinkaufs stand er vor seiner Haustüre und suchte den Schlüssel, da hörte er zum erstenmal in diesem Jahr eine Amsel singen. Wie schön, dachte er, jetzt bringe ich schnell die Taschen hinein, stelle dann den Kehrichtsack für morgen früh vors Haus und höre noch ein bisschen dem Vogel zu.
Als er mit dem verschnürten Sack vor die Türe trat, war der Gesang verstummt.
Auch diese Geschichte handelt von der Inkompatibilität zweier Systeme. Es stoßen zwei Kräfte aufeinander, die ordnende Kraft des Menschen, die in Kategorien von erstens, zweitens, drittens denkt, und die Kraft der Natur, die überhaupt nicht denkt.
Die zweite Kraft ist stärker. Wer seinem Plan folgt, ist verloren.
Ich möchte hier auf eine Eigenheit der kurzen Geschichte hinweisen.
Sie beschreibt fast immer die Aktion und nicht die Akteure. In keiner der vier Geschichten haben wir etwas über das Aussehen oder die Kleidung, geschweige denn die Herkunft der Menschen erfahren. Diese wurden nur in einem Kräftefeld platziert, in welchem sie ihren kurzen Auftritt hatten. Trotzdem stelle ich mir die beiden Männer in der Geschichte von Charms vor, in meinem Kopf tragen sie z. B. beide einen Hut, und natürlich hoffe ich, dass Sie auch die Figuren meiner Geschichten »gesehen« haben. Die einzige Ausschmückung, die ich mir gestattet habe, ist das Partizip »strahlend«, das ich der Logopädin zugestand, und auch dieses bezieht sich nicht auf das Aussehen, sondern auf den Gemütszustand der Frau. Aus ihm sollte der quälende Prozess abzulesen sein, der diesem Moment vorausging.
Diese Technik des Weglassens werden Sie auch erkennen, wenn Sie die kurzen Geschichten von Kafka oder Brecht lesen. Wir erfahren nie, ob Herr K. groß oder klein, dünn oder dick ist, wir erfahren nur, was er tut oder sagt. Kafka erzählt uns in seiner Geschichte »Der Aufbruch« nicht, wie Herr und Diener gekleidet sind, er erzählt uns nur, dass sie Herr und Diener sind. Und gerade das gehört zum Anregenden, Stimulierenden der kurzen Geschichte: Sie verlangt die Mitarbeit unserer Vorstellungskraft, wir sind zum Ergänzen aufgefordert. Der Autor legt uns sein Skript vor, und wir, die wir es lesen, sind seine Produzenten, wir entscheiden über Casting, Kostüm, Maske, Frisur, Licht und Ton.
Ich erlaube mir, einen Gegensatz zu zitieren:
Graf Prittwitz war das, was man unter Frauen, damals wie heute, einen »interessanten Mann« zu nennen pflegt. Sein schmales, dunkles Gesicht, das schon mit vierzehn etwas müde und lebenskühl gewirkt haben mochte, zeigte jene Mischung aus Weichheit und eigensüchtiger Härte, die immer eine dunkle, gefährlich verhaltene Hintergründigkeit, eine leidenschaftliche Unruhe des Gefühls auszudrücken scheint, auch wenn sich nichts dergleichen dahinter verbirgt.
So beschreibt Carl Zuckmayer in seiner Erzählung »Eine Liebesgeschichte« den männlichen Hauptdarsteller. Es ist viel, was wir in diesen zwei Sätzen erfahren, der Mann ist schmal, dunkel, müde, lebenskühl, weich, hart, eigensüchtig, hintergründig, gefährlich, verhalten, leidenschaftlich, unruhig.
Die weibliche Hauptdarstellerin wird uns nicht weniger wort- und andeutungsreich vorgestellt:
Von Natur aus zu leichter Fülle neigend, blieb doch ihr Körper stets straff und nervig gespannt, und um Fesseln und Kniekehlen, vor allem aber von den Hüften aufwärts zu Schultern und Nacken hin hatte sie etwas von der wendigen Biegsamkeit eines Reitpferdes aus guter Zucht.
Wir können uns also auf einiges gefasst machen, wenn der hintergründige, unruhige und gefährlich leidenschaftliche Graf dieses wendige Reitpferd auf den nächsten 40 Seiten bändigen will.
Ich mache nun etwas Gefährliches: ich lese Ihnen eine meiner kurzen Geschichten, die genau denselben Titel trägt, und ich lese sie nicht, um in Konkurrenz mit Zuckmayer oder mit längeren Liebesgeschichten zu treten. Die Liebe ist wohl eine der dauerhaftesten Gäste der Literatur und bedient sich all ihrer Erscheinungsformen, von der Lyrik über das Drama bis zum Roman, und wir mögen ihrer Laune und ihren Irrungen und Wirrungen ohne weiteres über Hunderte von Seiten folgen, wenn uns die Liebenden oder Abweisenden interessieren. Aber natürlich tritt sie auch in der kurzen Geschichte auf und möchte uns dort ohne jedes Beiwerk mitten ins Herz treffen.

EINE LIEBESGESCHICHTE

Man dürfe nicht einfach sagen, die Deutschen hätten hier gewütet, sagt die 70-jährige Frau in Kiew, sondern die deutschen Faschisten. Es habe nämlich auch andere gegeben.
Und sie erzählt die Geschichte von Sonja. Sie sei das schönste Mädchen der Schule gewesen, so schön sei sie gewesen, dass die Jungen am Morgen vor dem Eingang gewartet hätten, nur um sie hineingehen zu sehen. Sie sei Jüdin gewesen, und als die Nazis gekommen seien, habe sie für sie übersetzen müssen. Während dieser Zeit habe sich ein deutscher Soldat in sie verliebt. Als dann nach und nach die jüdische Bevölkerung ausgerottet wurde, zuerst die Alten, dann die Kinder, dann die mittlere Generation, sei die Reihe auch an sie gekommen, und es wurde der Befehl erteilt, sie umzubringen. Da habe der Soldat seinen Vorgesetzten gefragt, ob er das tun dürfe. Das sei ihm zugestanden worden. Er sei dann mit ihr auf einen Liebesspaziergang in den Wald gegangen, habe sie dort von hinten erschossen und habe gleich darauf auch sich selbst getötet und sei neben ihr hingefallen, und so habe man die beiden am Tag darauf gefunden.
Dies ist nun mehr als ein Moment, dies ist eine Tragödie auf knappstem Raum, und ich habe sie so aufgeschrieben, wie sie mir die Frau in Kiew erzählt hat. Ich kann mir durchaus vorstellen, dass man dieser wahren Geschichte mit Recherchen nachginge und herausbekäme, wer der Soldat gewesen war, aus welcher Gegend in Deutschland er kam und aus welcher Familie, und auch wer das Mädchen gewesen war, und dass man dann eine Erzählung oder eine Novelle oder sogar einen Roman aus der Geschichte machen würde. Ich hatte dieses Bedürfnis nicht, ich wollte diesem Romeo-und-Julia-Paar einen einfachen Gedenkstein setzen, und dafür brauchte ich nicht mehr von den beiden zu wissen.
Eine andere Geschichte kommt mir in den Sinn, die möchte ich Ihnen vorlesen:

ZWEI BÜSCHE

Im Sommer kam der Gärtner und sägte im Auftrag des Kantons unsern großen Cotoneasterbusch um, da dieser, wie uns auf einem Informationsblatt mitgeteilt wurde, den Feuerbrand auf die Obstbäume weiterverbreite.
Erst als er am Boden lag, merkten wir, wie sehr er mit dem alten Fliederbusch verwachsen gewesen war, von dessen ganz im Efeu verborgenem Stamm die Äste nun nackt und hilfesuchend im Wind ruderten, wenn es stürmte.
Im Winter dann, beim ersten großen Schnee, stürzte der Flieder um.
Die Bruchstelle verriet: er war so morsch gewesen, dass er schon längst zusammengebrochen wäre, hätte ihn der Cotoneaster in seinen letzten Jahren nicht sanft umarmt.
Zu dieser Geschichte möchte ich nichts sagen. Dafür lese ich Ihnen noch eine Geschichte, die heißt

DAS BLATT

Eine Ameise schleppt mit Mühe ein Blatt von weither zu ihrem Ameisenhaufen.
Wie sinnlos, denkst du, direkt beim Ameisenhaufen ist der Boden doch voll von solchen Blättern.
Was du nicht weißt: dieses Blatt ist ein Liebesbrief, den die Ameise einer andern bringt, und würde sie einfach neben dem Haufen ein Blatt auflesen, wäre es kein Liebesbrief, denn die wirkliche Liebe kommt von weither.
Das waren also drei Liebesgeschichten, die beiden letzten kamen als Metaphern daher, die Liebe hat sich eigentlich in den Text eingeschlichen. Im Text von den Büschen wird sie nicht einmal erwähnt, aber es ist offensichtlich, dass er von ihr handelt.
Die kurze Geschichte bedient sich gewöhnlich nur einer einzigen Metapher, so wie sie sich auch nur eine einzige Situation oder Konstellation herausgreift. Und das ist auch ihre Chance, in unser geistiges Gepäck aufgenommen zu werden, sie muss nicht im Koffer mitgeschickt werden, sie findet im Handgepäck Platz.
Ich lese Ihnen eine Geschichte von Bertolt Brecht, die ich nie vergessen habe und bestimmt nie vergessen werde:

DAS WIEDERSEHEN

Ein Mann, der Herrn K. lange nicht gesehen hatte, begrüßte ihn mit den Worten: »Sie haben sich gar nicht verändert.«
»Oh!« sagte Herr K. und erbleichte.
Im Übrigen gehört der Witz auch zur Gattung der kurzen Geschichte. Ich gehöre zu den Menschen, die gerne Witze hören, der Witz ist sozusagen das Kleingeld der geistigen Währung. Und er trägt die Kennzeichen der kurzen Geschichte: Er lebt von einer Situation, von einem Kräftefeld, von einer Erwartung, aus der er meistens in der Pointe ausschert. Er spielt mit inkompatiblen Systemen, schematische Denkvorstellungen prallen an lebendigen ab, und das ist es, was uns zum Lachen bringt, oder wie es Henri Bergson in seinem Buch »Le rire« ausgedrückt hat: »Le mécanisme planqué sur le vivant.«
Der letzte Witz, den ich gehört habe:
Wissen Sie, wie man in der Schweiz Rundflüge bucht?
Nehmen Sie einen Linienflug, der Kloten am Samstagmorgen anfliegt.
Und der letzte gute Witz, den ich gehört habe:
Der katholische und der reformierte Pfarrer eines Städtchens unterhalten sich über die Fledermäuse in ihrer Kirche.
Es sei furchtbar, sagt der katholische, bei ihm hausen sie in der Kuppel des Chors, und manchmal, wenn der Messdiener zur Wandlung klingle, kämen alle heruntergeflattert. Ob das in seiner Kirche auch so sei?
Tatsächlich, sagt der reformierte, auch in seiner Kirche gebe es immer wieder welche, aber eigentlich sei das für ihn kein Problem.
Was er denn dagegen tue, fragt ihn der katholische, und der reformierte sagt:
»Ich konfirmiere sie einfach, und dann kommen sie nie wieder in die Kirche.«
Witze sind für mich ein Rätsel.
Ich schreibe Texte, die man durchaus als witzig taxieren kann, ich schreibe kabarettistische Bühnenprogramme, die eine relativ hohe Dichte von Pointen haben, welche wiederum einen relativ hohen Dezibelgrad von Gelächter erzeugen, einige meiner erfundenen berndeutschen Ausdrücke in der Geschichte vom »Totemügerli« und vom »Blindeli« sind sogar in die berndeutsche Umgangssprache eingeflossen, aber noch nie ist es mir gelungen, einen Witz zu erfinden und in Umlauf zu setzen. Ich weiß auch nicht, wo sich die Münzpräganstalt des geistigen Kleingelds befindet, es ist der Volksmund, sagt man, aber ich bin ihm nie auf die Spur gekommen. Oft bin ich in fröhlichen und geistreichen Gesellschaften gesessen, aber nie habe ich der Geburt eines Witzes beigewohnt. Der Witz hat ja auch keinen Autor, so wie das Volkslied in der Regel auch keinen hat.
Zum Trost wenigstens eine Geschichte über einen Witz:

DER WUNSCH

»Haben Sie noch einen Wunsch?« fragte der Kellner den Gast, als er den Teller und das Besteck abräumte.

ENDE DER LESEPROBE

1. Auflage
© 2010 Luchterhand Literaturverlag GmbH, München in der Verlagsgruppe Random House GmbH
eISBN 978-3-641- 05105-1
www.luchterhand-literaturverlag.de

www.randomhouse.de

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