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Franz Hohler ist als Erzähler ein Virtuose der Überraschung. In seinem Erzählungsband aus dem Jahr 1995, in dem tatsächlich eine blaue Amsel auftritt, allerdings sehr zum Missfallen der meisten schwarzen Amseln, stellt er seine ganz einzigartige Fähigkeit mit viel Witz, Ironie und Lust an grotesken Wendungen und absurden Pointen unter Beweis.
Wer wissen möchte, warum die Zahl 47 einmal in Tränen ausbrach und nicht mehr an sich halten konnte, der ist bei diesem Buch von Franz Hohler bestens aufgehoben.
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Seitenzahl: 91
btb
»Amseln sind schwarz. Normalerweise. Eines Tages aber saß auf einer Fernsehantenne eine blaue Amsel ...« Und Franz Hohler kommt in seinen 29 kürzeren und längeren Geschichten nicht nur auf verschiedenfarbige Amseln zu sprechen. Er hat ein weit darüberhinaus gehendes Gespür für die kleinen Ereignisse im Alltag, die alles andere als banal sind, und unter der Hand verwandelt sich dabei das Aufräumen der Wohnung bei ihm in eine Schlacht um Leben und Tod, und nach einem schlechten Kinofilm wird ihm plötzlich klar, dass er einen kostbaren Nachmittag herumgebracht, nein: umgebracht hat. Und wie stumpf erst viele Zeitgenossen sind, wie lange es dauert, bis sie etwas empfinden! Da müssen sich schon Jesus und der Teufel zusammentun, um dem Papst einen Schrecken einzujagen ...
Franz Hohler, 1943 in Biel, Schweiz geboren, lebt in Zürich. Er gilt als einer der bedeutendsten Erzähler seines Landes und wurde mit vielen Preisen ausgezeichnet, u.a. 2002 mit dem Kasseler Literaturpreis für grotesken Humor und 2005 mit dem Kunstpreis der Stadt Zürich.
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Die Torte (und andere Erzählungen) 73451 52 Wanderungen 73569
Den schafwollenen kleinen Teppich im Badezimmer, auf welchem der Hund über Nacht geschlafen hat, zusammenrollen und hinter den Wäschekorb stellen oder eher zwischen dem Wäschekorb und der Kommode einklemmen.
Nach dem Frühstück die Brosamen an den Tischrand wischen, in die Hand fallen lassen und auf den Fenstersims streuen, als Vogelfrühstück, der großen Kälte wegen.
Den Deckel der von einem Freund geschenkten Orangenkonfitüre wieder zuschrauben und zusammen mit der andern, auch geschenkten, aber nicht gebrauchten Johannisbeerkonfitüre und der Margarine wieder in den Kühlschrank stellen.
Das Kaffeefilterpapier mit dem feuchten, noch warmen Pulver in den kleinen Kompostkübel im ausziehbaren Abfallfach leeren, dann den Kaffeefilter kurz unters Wasser halten und umgekehrt auf den Geschirrabtropfer legen.
Das Streichholz, mit dem vor dem Frühstück die Kerze angezündet wurde, unter der Morgenzeitung entdecken und es in den offiziellen Kehrichtsack der Stadt Zürich werfen.
Die Zeitung von gestern und das Tagblatt von gestern, die immer noch auf dem Tisch liegen, zusammen mit der Zeitung von vorgestern und dem Tagblatt von vorgestern, die unter der Zeitung von gestern und dem Tagblatt von gestern liegen, sowie einige Bulletins von Organisationen, die unter der Zeitung und dem Tagblatt von vorgestern liegen, zum vor kurzem in einem Bürogeschäft gekauften Zeitungshalter unter dem Telefontischchen tragen und dort stapeln. Wurden nicht soeben zwei Packen alter Zeitungen aus ebendiesem Halter gehoben, umschnürt und in den Keller getragen, für die nächste Altpapierabfuhr? Nachdenklich den schon fast wieder vollen Halter betrachten.
Ins Badezimmer gehen und aufs Rasieren verzichten, denn heute soll ausschließlich aufgeräumt werden, jede Gepflegtheit wäre gelogen.
Das über Nacht getrocknete Seidenpyjama von den Bügeln nehmen und im Schlafzimmer unters Kopfkissen legen. Die Unterhose von gestern in den Wäschekorb schmeißen, und, da keine brauchbare neue mehr im Kasten liegt, ins Zimmer gehen, in welchem ein Haufen gewaschener, aber weder zusammengelegter noch geglätteter Kleider liegen, eine Unterhose heraussuchen und dabei denken, die Wäsche sollte man auch drannehmen.
Ein Umbau des Büroraums steht bevor. Die Gestelle des Büros müssen umgelagert werden, und zwar in den Archivraum, wozu erst der Boden dieses Raumes freigemacht werden muß, der schon lange überstellt ist mit allen möglichen Dingen, die einmal aus momentaner Verzweiflung ganz rasch dort deponiert wurden. Die Befreiungsaktion für den Boden kann aber nicht anders vor sich gehen als durch eine weitere Umlagerung eines Teils des Archivrauminhalts auf den Estrich, der seinerseits so überfüllt ist, daß dort mit der Bodengewinnung begonnen werden muß.
Also in den Estrich steigen und versuchen, die eine Ecke freizumachen, die mehr als eine Ecke ist, nämlich ein Dachvorsprung, der von den Kindern, als sie noch Kinder waren, hüttenartig genutzt wurde.
Denüberraschenderweise vorgefundenen Rücksitz des längst aufgegebenen Citroens auf den obersten Absatz des Treppenhauses hinuntertragen, ebenso wie die zwei kleinen Zusatzsitze aus dem Laderaum des Kombis.
Die riesigen Flugzeuge bewundern, welche die Kinder aus Karton und Klebeband hergestellt hatten, es nicht übers Herz bringen, sie in Stücke zu reißen, und sie auf die andere Seite des Estrichs tragen, wo weitere Welten aus Karton von anderen Zeiten und anderen Wesen künden. Ein Carthago, dessen Schicksal es von Anfang an war, einmal zerstört zu werden. Beschließen, die Auswahl des zu zerstörenden der Frau zu überlassen, die in Kürze nachzukommen versprach. Matratzen aufeinanderstapeln, die bei unvorhergesehenem Einfall von Gästescharen hinuntergebracht werden können, und alte Schlafsäcke darüber ausbreiten.
Für die nun einsetzende Zerstörung Carthagos, oder Vinetas eher, eine Schachtel holen für die Kartontrümmer. Immer wieder neue Kartonstücke hineinschieben und sich wundern, wieviel noch hineingehen, auch nachdem sie schon gefüllt ist. Die volle Schachtel auf den obersten Treppenabsatz tragen und eine neue Schachtel holen. Beim Öffnen des Schachtelvorratsräumchens unter der Estrichtreppe zu verhindern versuchen, daß mehrere Schachteln aus der Türe stürzen. Sich ärgern über die schlechte, wohl zu hastige Stapelung, sich freuen, weil die Schachteln endlich wegkommen.
Zwischen Büchern und alten Kopfhörern eines Sohnes zwei Batterien finden. In die Wohnung hinuntergehen und aus dem Körbchen mit den Veloklammern, Sonnenbrillen und den Handschuhen den Batterieprüfer herausklauben. Sehen, daß beide Batterien noch Ladung anzeigen, also beide zu den Batterievorräten legen und sich vornehmen, bei Bedarf diese Batterien zuerst zu gebrauchen, obwohl sonst im Haushalt vor allem mit wiederaufladbaren Batterien gearbeitet wird, wenn überhaupt.
Dann angesichts der Küchennähe einen Schluck eines Gemüsesaftes trinken. Da es der letzte Rest ist, die Flasche ausspülen, den metallenen Halskragen mit einem Küchenmesser aufschlitzen und im Abfallfach in den kleinen Behälter legen, der scherzhaft mit »Heavy Metal« angeschrieben ist. Danach die Flasche auf den Balkon stellen, zu den andern leeren Flaschen, die einmal jemand in den Keller tragen und dort in bereitstehende Kisten, nach Farbe geordnet, stellen wird. Vermuten, daß dieser Jemand der Aufräumende selbst sein wird.
Kaum im Estrich oben, wieder hinuntergehen, weil eine Zange vonnöten ist, um verschiedene Nägel aus dem Boden und aus den Balken zu ziehen. Die krummen Nägel nicht in den Abfallsack fallen lassen, sondern im Schachtelräumchen, aus dem beim Öffnen sofort wieder die vorhin provisorisch zurückgestoßenen Kartons herauspurzeln, ganz zuunterst ein geflochtenes, gerecht bezahltes indisches Teeschächtelchen herausgrübeln, in das die krummen Nägel gelegt werden, bis sie später im »Heavy Metal«-Behälter enden werden.
Dann in den Archivraum hinuntergehen und eine Schachtel, die schon lange mitten im Raum Platz versperrt, hervorzerren, eine Schachtel mit Manuskriptentwürfen, genau die Art von Dingen, die in die äußerste Ecke eines Estrichs gehören und damit nochmals die Gnadenfrist einer weiteren Generation erhalten.
Ein altes Vortragspult, vor 25 Jahren aus dem Fundus des Stadttheaters Olten zum Aufräumenden gekommen, den langen Treppenweg bis in die Garage hinuntertragen. In der Garage, in welcher statt eines Autos ein Handwagen, Velos, Wintersportgeräte, Möbel und Bühnenrequisiten stehen, eine freie Ecke suchen und schließlich auch finden.
Die Garage abschließen, nach oben gehen und dort einen Freund antreffen, der gestern um Mithilfe gebeten wurde und der heute Zeit hat. Er wird die soeben vom Aufräumenden gesichteten Harassen aus der Garage hervorholen und nach oben tragen, um Ordner darin zu verstauen, in denen Leute ihre Ablehnung oder Zustimmung zur Arbeit des Aufräumenden äußern, Ordner mit erloschenen Verträgen und abgegoltenen Leistungen, und der Freund wird helfen, diese Ordner auf den Estrich zu tragen, in die neugewonnene Ecke, die bedenklich rasch aufgefüllt wird, mit aufbewahrten Zeitungen auch, die alte Neuigkeiten enthalten, welche bedeutsam waren, die Berliner Mauer sei gefallen, die UdSSR sei aufgelöst, Dürrenmatt sei gestorben, am Golf sei Krieg, und Frisch sei auch gestorben, und Niklaus Meienberg, und ein »Corriere della Sera« fällt aus einer Mappe, ein Interview von Oriana
1. Auflage Genehmigte Taschenbuchausgabe Juli 2007
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