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Am 9. September 1881 in einem kleinen Dorf hoch oben in den Schweizer Bergen: Die kleine Katharina wird zusammen mit ihrem jüngeren Bruder zu den Großeltern geschickt. Dort sollen beide die nächsten Tage verbringen, bis die Mutter ihr sechstes Kind zur Welt gebracht hat. Doch es kündigt sich noch ein anderes Ereignis an. Von einem Hang sind einige Felsbrocken ins Tal hinabgestürzt und der ganze Berghang könnte sich lösen und das Dorf unter sich begraben. Daran möchte niemand glauben, am allerwenigsten die Arbeiter im Schieferbruch, die mit ihren Händen ganze Familien ernähren. Aber der Berg führt in Franz Hohlers hochgelobter, in der Tradition der besten Schweizer Literatur stehenden Novelle sein Eigenleben …
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Seitenzahl: 206
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Am 9. September 1881 in einem kleinen Dorf hoch oben in den Schweizer Bergen: Die kleine Katharina wird zusammen mit ihrem jüngeren Bruder zu den Großeltern geschickt. Dort sollen beide die nächsten Tage verbringen, bis die Mutter ihr sechstes Kind zur Welt gebracht hat. Doch es kündigt sich noch ein anderes Ereignis an. Von einem Hang sind einige Felsbrocken ins Tal hinabgestürzt, und der ganze Berghang könnte sich lösen und das Dorf unter sich begraben. Daran möchte niemand glauben, am allerwenigsten die Arbeiter im Schieferbruch, die mit ihren Händen ganze Familien ernähren. Aber der Berg führt in Franz Hohler hochgelobter, in der Tradition der besten Schweizer Literatur stehenden Novelle sein Eigenleben …
»… von leidenschaftlichem, hinreißendem Engagement getragen …«
Charles Linsmayer, Der Bund
FRANZ HOHLER wurde 1943 in Biel geboren. Er lebt heute in Zürich und gilt als einer der bedeutendsten Erzähler seines Landes. Franz Hohler ist mit vielen Preisen ausgezeichnet worden, u. a. erhielt er 2002 den Kasseler Literaturpreis für grotesken Humor und 2005 den Kunstpreis der Stadt Zürich.
Als die siebenjährige Katharina Disch mit ihrem vierjährigen Bruder Kaspar am Freitag, dem 9. September 1881 das Haus ihrer Großmutter betrat, wußte sie nicht, daß sie erst wieder bei ihrer Hochzeit von hier weggehen würde.
Ihr Vater hatte sie für ein paar Tage weggeschickt, weil die Geburt eines Kindes bevorstand, und ohne Widerspruch hatte Katharina das Bündelchen mit den beiden Nachtgewändern und etwas Leibwäsche, das ihre älteste Schwester Anna bereitgemacht hatte, genommen, hatte noch ihre Holzpuppe Lisi so hineingesteckt, daß sie mit dem Kopf herausschaute, und war dann mit Kaspar an der Hand aufgebrochen. Sie war froh, daß sie nicht daheim bleiben mußte.
Wie verändert war ihr die Mutter beim Abschied vorgekommen! Sie lag im Schlafzimmer im oberen Stock, ihre Haare, die sie sonst immer aufgesteckt hatte, waren offen über das Kissen ausgebreitet und hingen sogar über den Bettrand hinunter, sie war bleich und schwitzte, von Zeit zu Zeit preßte sie die Lippen zusammen, kniff die Augen zu und drückte mit beiden Händen auf die Bettdecke, unter der sich ihr Bauch wölbte. Katharina wollte ihr nur schnell von der Türschwelle aus auf Wiedersehn sagen, aber die Mutter winkte sie zu sich heran, strich ihr mit ihrer Hand, die ganz kalt war, über die Haare und sagte leise, sie solle die Großmutter grüßen, und sobald ihr neues Geschwisterchen da sei, werde sie jemanden schikken. Dann drehte sie sich tief einatmend zur Seite, griff in die Schublade des Nachttischchens, holte einige gedörrte Zwetschgen heraus und gab sie ihrer Tochter mit, »für unterwegs, für dich und Kaspar«, fügte sie hinzu und versuchte zu lächeln. Katharina steckte sie schnell in die Tasche ihrer Schürze, blieb stumm stehen und suchte immer noch mit den Augen die Mutter, die sie kannte und die derjenigen, die dalag, so wenig glich. »Muesch ke Angscht ha«, flüsterte ihr die Frau aus dem Bett zu, legte sich wieder auf den Rücken und schloß ihre Augen.
Lautlos schlich sich Katharina aus dem Zimmer und sprang dann die Treppe hinunter in die Wirtsstube, wo Kaspar, schon im Regenschutz, mit seinem älteren Bruder Jakob kreischend um die leeren Tische herumrannte, während Anna mit Gläsern und Tellern am Spültrog stand. Als Katharina ihre Pelerine anzog, die über einem Stuhl bereit hing, schmiegte sich die Katze an ihre Beine und schaute laut schnurrend zu ihr hinauf. Katharina hob sie hoch, wiegte sie in ihren Armen und fragte sie, ob sie mitkommen wolle. Dann warf sie das Tier auf den Boden der Gaststube, nahm den Kleinen entschlossen an der Hand und sagte ihren Geschwistern Jakob und Anna ade. »Grüß das Grosi!« rief ihr Anna nach, und nun traten die beiden Kinder aus der Tür des Wirtshauses »Zur Meur« in den trüben Nachmittag hinaus. Die Katze folgte ihnen ein paar Schritte und blieb dann miauend stehen, den Schwanz steil in die Höhe gerichtet. Als sich Katharina nach ihrem Vater umschaute, der eben noch dagewesen war, sah sie ihn etwas weiter oben vor dem Heustadel stehen, der zu ihrer Wiese gehörte. Er hatte eine Sense in der Hand, mit dem Stiel nach unten, und winkte den Kindern zum Abschied zu, da kam Katharina in den Sinn, daß er gesagt hatte, er wolle dengeln gehen.
Das Mädchen blickte zum Abhang hoch, zur »Bleiggen«, wo der Hof ihrer Großmutter lag, obwohl es wußte, daß er von hier aus nicht zu sehen war. Der Weg, der hinter dem Dorf den Hang hinauf ging, verschwand in den Wolken, als führte er geradewegs in den Himmel. Kaum hatten sie ein paar Schritte gemacht, erschütterte ein Krachen die Luft, und Kaspar, der sich vor Gewittern fürchtete, blickte ängstlich zur Schwester.
»Will umkehren«, sagte er und blieb stehen.
Seine Schwester beruhigte ihn. »Das ist kein Gewitter«, sagte sie, »nur ein Felsblock«, und zog ihn weiter.
Katharinas Elternhaus lag am östlichen Dorfausgang von Elm, dem hintersten Dorf im Glarner Sernftal. Der Ortsteil hieß Untertal, und wenn Katharina zur Schule oder zur Kirche ging, mußte sie über die eiserne Brücke unterhalb des Dorfes. Wenn man nicht über einen der Pässe oder auf eine der Alpen auf ihrer Seite wollte, führte eigentlich jeder Weg zuerst über die eiserne Brücke, und von dort ging auch der Pfad zur »Bleiggen« hoch. Katharina war das recht so. Sie wollte möglichst rasch vom Plattenberg weg, der sich hinter der »Meur« erhob, denn aus seiner Wand waren in der letzten Zeit immer wieder Steinbrocken heruntergestürzt. In der Wirtsstube ihrer Eltern wurde kaum mehr von etwas anderem gesprochen. Unten am Plattenberg grub man nach Schiefer, und oft kehrten die Männer, die dort arbeiteten, in der »Meur« ein. Katharina saß gern in der Ecke der Gaststube, neben dem großen Ofen, schrieb Buchstaben und Zahlen auf ihre Schiefertafel und hörte zu, was geredet wurde. Anna, die schon sechzehn war, servierte, und hinter dem Buffet, wo die Getränke eingeschenkt wurden, stand entweder ihre Mutter oder ihr Vater. Da sie auch einen Bauernbetrieb hatten, war die Mutter häufiger da als der Vater. Jetzt, wo noch ein Säugling dazukam, würde wohl ihre Schwester Regula aushelfen müssen, die zwölf war, oder auch Jakob, der war dreizehn. Aber die Männer hatten lieber, wenn ihnen Mädchen die Getränke hinstellten. Vielleicht, dachte Katharina, geht Anna hinter das Buffet, und Regula serviert. Der Vater würde bestimmt nicht viel Zeit haben, und er hatte auch schon gesagt, das Kind käme im dümmsten Augenblick. Er sollte noch emden und kam, wie die meisten Bauern, nicht dazu, weil es schon so lange regnete. Alle warteten auf besseres Wetter.
Katharina verstand auch nicht, weshalb das Kind ausgerechnet jetzt kam. Genau genommen wußte sie überhaupt nicht, woran es lag, daß eine Frau ein Kind bekam. Es gehörte ein Mann dazu, soviel stand fest, das war ja bei den Tieren auch so, und sie dachte daran, wie sich Rhyners Stier diesen Sommer brüllend auf Vaters Kuh gestürzt hatte, als man ihn zu ihr ließ, aber daß sich Vater auf diese Weise an Mutter heranmachte, konnte ja im Ernst nicht sein, und da müßte Katharina auch etwas gehört haben, von einem solchen Gebrüll, denn sie schlief mit Kaspar, Regula und Jakob neben dem Zimmer der Eltern. Auf einmal entdeckte sie eine schmerzliche Lücke in dem, was sie über das Leben wußte, und sie nahm sich vor, Anna zu fragen, wenn sie wieder zu Hause wäre. Anna war schon eine Frau, und die wußte sicher Bescheid über die Männer, denn da gab es einen, der kehrte nur wegen ihr ein, ein Schieferarbeiter, er wohnte auch in der »Bleiggen«, im hinteren Hof, Hans-Kaspar hieß er, und kürzlich, als Katharina beim Eindunkeln zur alten Elsbeth geschickt wurde, um Eier zu holen, hatte sie gesehen, wie sich die beiden hinter dem Haus küßten. Und wenn nun, dachte Katharina, wenn nun so ein Kuß dazu führt, daß es ein Kind gibt? Dann bekäme vielleicht Anna auch eins. Aber das ging ja gar nicht, denn sie war noch ledig, und damit man ein Kind bekam, mußte man verheiratet sein. Sie mußte ihre Schwester unbedingt danach fragen. Oder sollte sie beim Grosi Auskunft holen? Nein, lieber nicht. Die Großmutter war zwar lieb zu ihr und gab ihr manchmal ein Stück Zucker, aber auf die Frage, warum Großvater gestorben sei, hatte sie gesagt, an einem Kropf, und auf Katharinas nächste Frage, wie man denn an einem Kropf sterbe, hatte sie zur Antwort gegeben, dafür sei sie noch zu klein. Dieser Satz war Katharina zuwider, und sie wollte ihn nicht noch einmal hören.
»Kathrinli! Kasper!« Über die eiserne Brücke, welche die beiden jetzt erreicht hatten, kam ihnen ihre Schwester Regula entgegen.
»Die Verena kommt heute zur Mutter«, sagte sie. Man hatte sie ausgeschickt, die Hebamme zu holen, die in der Müsliweid wohnte, nahe dem Dorfausgang. Seit die alte Maria aus Steinibach gestorben war, ließ man für die Geburten Verena Elmer kommen, obwohl sie ziemlich jung war, sie hatte einen Buben, der noch nicht zur Schule ging. Ihr Mann kam oft in die »Meur«, Katharina kannte ihn, er war Bergführer, und im Herbst erzählte er immer von der Gemsjagd, aber sie fand seine Geschichten meistens übertrieben und dachte bei sich, vielleicht ist etwa die Hälfte davon wahr. Die Verena kannte sie weniger gut, Frauen kehrten kaum in der Wirtschaft ein. Aber sie hatte ihren Zopf immer mit einem roten Bändel zusammengebunden, und das gefiel Katharina. Wieso wohl Frauen nicht in die Wirtsstube kamen? Hebammengeschichten hätten Katharina viel mehr interessiert als Gemsjägergeschwätz.
»Am Sonntag gibt es eine Taufe«, sagte Regula, »ich habe das Kind gesehen.«
»Wo?« fragte Katharina.
»Bei der Kleophea in den Müslihäusern.«
»Und wie sieht es aus?« fragte Katharina.
Regula lachte. »Winzig«, sagte sie, »winzig klein, fast wie eine Puppe.«
»Bub oder Mädchen?« fragte Katharina weiter.
»Bub«, sagte Regula.
»So klein?« fragte Kaspar. Er hatte Katharinas Lisi hervorgezogen.
Regula lachte noch mehr. »Kannst denken«, sagte sie, »soo klein«, und sie zeigte mit den Händen das Maß des Säuglings.
Kaspar war enttäuscht. Zuerst hatte sie gesagt, wie eine Puppe, und nun war es gar nicht wahr.
Katharina nahm ihm die Puppe weg und steckte sie wieder in das Bündelchen. »Gell, die Verena ist gut?« fragte sie ihre Schwester.
»Gewiß«, sagte diese, »die hat Kraft. Die zieht sogar Kinder mit den Füßen voran aus dem Bauch.«
»Wir gehen jetzt«, sagte Katharina und nahm ihren kleinen Bruder an der Hand, »ade.«
»Ade zusammen«, sagte Regula und setzte ihren Rückweg fort.
Katharina ging mit Kaspar über die eiserne Brücke. In der Mitte blieb sie stehen und schaute zwischen dem Geländer auf den Sernf, der unten durchfloß. Vom vielen Regen hatte er hohe braune Wellen, es fehlte nicht viel, und er würde überlaufen. An seinem Grund hörte sie die Steine rumpeln. Oder kam das Geräusch vom Plattenberg? Es war nicht nur ein Rumpeln, es war auch ein Rieseln.
»Will weiter«, sagte Kaspar und zog sie an der Hand.
»Nein, wart doch«, sagte Katharina, »hörst du die Steine rumpeln am Boden des Bachs?«
»Komm«, sagte Kaspar und zog stärker.
»Brauchst keine Angst zu haben«, sagte seine Schwester, »die Brücke hält.« Gerade trieb ein Erlenbusch unter ihnen hindurch und tanzte talwärts, an den Kartoffeläckern und den Pflanzgärten vorbei, auf denen einzelne Menschen gebückt umhergingen, den Weiden und Sträuchern entgegen, zwischen denen der Bach verschwand.
Gerne hätte Katharina gewartet, bis der Busch nicht mehr zu sehen gewesen wäre, aber die Furcht ihres Bruders war stärker.
»Angsthase«, murmelte Katharina, als sie mit dem Kleinen weiterging.
Ein Pferd wieherte so stark, daß sie erschrak. In der Schmitte gleich neben dem Bach nagelte der Schmied einem Roß neue Hufeisen an. Kaspar, der sich wieder sicherer fühlte, blieb stehen und wollte zuschauen. Der Schmied, ein breitschultriger Mann in einer schwarzen Schürze, drehte seinen geröteten Kopf einen Moment lang zu ihnen und lachte den beiden zu. Bei ihm stand der Kutscher der Pferdepost in einer blauen Bluse und einem Strohhut und hielt das Pferd am Zaumzeug fest. »Ruhig, Hassan«, sagte er zu ihm, »nur ruhig – nicht daß du mir am Sonntag mit den Engländern in den Bach fällst.« Der Schmied nickte und hämmerte weiter, das Pferd hörte nicht auf zu wiehern, und der Kutscher fuhr fort, besänftigend auf das Tier einzusprechen.
Kaspar wollte wissen, warum der Mann dem Roß auf den Fuß haue, und Katharina sagte ihm, ohne Hufeisen könnten die Pferde nicht laufen.
»So, Kinder, soll ich euch auch eins an den Fuß nageln?« rief der Schmied herüber und schwenkte mit einer Zange ein dampfendes Hufeisen. Dazu grinste er, und der Kutscher bleckte seine gelben Zähne.
Kaspar lief erschrocken davon, der Landstraße zu, und seine Schwester folgte ihm schnell. Die Erwachsenen machten gern solche Späße, und Katharina haßte sie dafür. In der Wirtsstube hatte sie schon oft betrunkene Männer gesehen, und in diesem Zustand traute sie ihnen alles zu, sogar daß sie einem Kind ein Hufeisen an die Fersen nageln würden, warum nicht.
Wäre Katharina unterwegs zur Schule gewesen, wäre sie auf der Landstraße nach links abgebogen, ins Dorf, aber nun schlug sie den Weg nach rechts ein, auf dem in der Ferne ein hoch beladenes Fuhrwerk talauswärts holperte.
Die Schule hatte erst diese Woche wieder begonnen, vorher waren die großen Sommerferien. Lehrer Wyss unterrichtete die erste bis vierte Klasse, und Katharina besuchte die zweite Klasse. Gewöhnlich waren am Morgen die Dritt- und Viertkläßler dran, und am Nachmittag die erste und die zweite Klasse, außer am Freitag, da war es umgekehrt. Gemeinsam mit den Großen hatten sie nur Heimatkunde und Singen, am Dienstag und am Samstag, denn alle vier Klassen zusammen fanden kaum Platz im Schulzimmer, in eine Schulbank für zwei mußten sich drei hineindrücken, und dann standen immer noch ein paar Kinder an den Wänden.
Heute vormittag hatte Katharina dem Lehrer gesagt, daß sie zu ihrer Großmutter mußte, wegen der Geburt, und daß sie am Montag wiederkomme. Der Lehrer hatte nur genickt und »Alles Gute« gebrummt. Ihm war es, so schien es Katharina, ziemlich gleichgültig, wer zur Schule kam und wer nicht. Wer zu Hause helfen mußte, konnte sowieso jederzeit wegbleiben. Während des Emdens waren die Klassen manchmal nur noch halb so groß, wie beim Heuet auch. Darauf freute sich Katharina, sie hoffte, daß sie dann der Lehrer öfters aufrufen würde. Sie langweilte sich im Unterricht, der ihr viel zu langsam vorwärts ging. Alles, was die Zweitkläßler können mußten, hatte sie schon in der ersten Klasse gelernt, sie kannte alle Buchstaben, konnte jedes Wort lesen, und auch mit den Zahlen hatte sie keine Mühe. In der ersten Klasse lernte man zusammenzählen, in der zweiten abziehen, in der dritten vermehren, in der vierten teilen. Katharina verstand nicht, wieso man zusammenzählen und abziehen nicht gleichzeitig lernte. Wenn zwei und drei fünf gab, dann gab fünf weniger drei zwei, das war doch klar.
Anna Elmer, die neben ihr saß, hatte das noch immer nicht begriffen, obwohl sie auch eine Zweitkläßlerin war. Manchmal mußten sich die zwei, die in derselben Bank saßen, gegenseitig abfragen, und heute morgen hatte Anna Elmer Katharina gefragt, wieviel fünf und eins gebe, und Katharina hatte gesagt sechs, und dann hatte Katharina Anna gefragt, wieviel sechs weniger fünf gebe, und Anna hatte es nicht gewußt und war sogar wütend geworden, als Katharina gesagt hatte, eins. Sie hatte sie angezischt, sie könne ruhig etwas länger warten, bis sie fertig nachgedacht habe, doch für Katharina war es unbegreiflich, daß jemand, der wußte, daß fünf und eins sechs gibt, nicht auch weiß, daß sechs weniger fünf eins gibt. Aber vielleicht wußte Anna nicht einmal, daß fünf und eins sechs gab. Katharina hatte sich noch überlegt, ob sie Anna zuerst fragen wolle, wieviel sechs weniger eins gibt, das wäre einfacher gewesen, aber sie fand es dann klüger, zu schweigen. Anna hatte sie schon einmal an den Haaren gerissen, als ihr Katharina das Wort »Herbst« vorgelesen hatte, das Anna einfach nicht buchstabieren konnte, sie hatte gemeint, es heiße »Erbs«. Sollte sie halt dumm bleiben, wenn sie sich von ihr nicht helfen lassen wollte.
Jakob hatte Katharina auch das Vermehren schon beigebracht. Dreimal zwei Kinder gab sechs Kinder. Mit dem neuen Kind wären sie jetzt dann sechs Kinder, Anna und Regula, Jakob und sie selbst, Kaspar und das neue, macht sechs. Und wenn man sechs Kinder durch zwei Kinder teilte, dann – das war ihr noch nicht ganz klar, wie man Kinder durch Kinder teilte, aber das kam ja auch erst in der vierten Klasse.
Katharina hörte Rufe und Schreie und sah, daß eine Gruppe von Kindern zwischen dem Schützenhaus und dem Brunnen Blindekuh spielte. Sie ging näher und blieb mit Kaspar am Straßenrand stehen, um ein bißchen zuzuschauen. Fridolin war dabei, der Bub der Hebamme, Burkhard, der in ihrer Klasse war, Anna, die in der Schule neben ihr saß, mit ihren jüngeren Geschwistern Matthias und Gretli. Ihr älterer Bruder Oswald, der in die dritte Klasse ging, hatte das Tuch um den Kopf gebunden und tappte zwischen den kichernden Kindern herum, die alle möglichst nahe zu ihm kamen und ihn mit lauten Rufen foppten, um gleich danach wieder zurückzuhüpfen. »Osi, da bin ich!« rief Anna, »siehst du mich nicht?« Als Anna davonsprang, rannte ihr Oswald nach, Anna versteckte sich rasch hinter Katharina am Straßenrand, und Oswald stolperte in sie hinein, daß sie hinfiel. »Paßt doch auf!« rief Katharina wütend, aber Anna lachte nur, und Oswald nahm die Binde von den Augen, hielt sie Katharina hin und sagte: »Jetzt bist du die blinde Kuh!« »Ich spiele gar nicht mit«, sagte Katharina und versuchte sich den Dreck von der Pelerine zu wischen, aber diese war so naß, daß die Flecken nur noch schlimmer wurden. »Schon zu spät!« rief Burkhard und band ihr von hinten das Tuch um die Augen.
Vergeblich versuchte sich Katharina zu wehren, der Knoten saß fest, und wenn sie das Tuch abgerissen hätte, hätte es Schläge gegeben, die Buben waren stärker als sie, vor allem Oswald, der ein Jahr älter war. Die beiden nahmen sie nun an der Hand, führten sie etwas von der Straße weg, drehten sie dann ein paarmal um sie selbst und traten zurück. Als es losging mit den Zurufen, blieb Katharina zuerst einfach stehen. Sonst machte sie gerne mit bei der Blindenkuh, aber jetzt wollte sie so schnell wie möglich weg. Nach den ersten ungeschickten Schritten wurde sie sofort ausgelacht – »Kathrine, Latrine!« neckte Oswalds Stimme – dann drehte sie sich blitzschnell um und traf mit ihrer ausgestreckten Hand den Spötter mitten im Gesicht. Zufrieden nahm sie die Binde ab, warf sie ihm hin und ging ruhig zum Straßenrand, wo ihr kleiner Bruder auf sie wartete. Osi wollte ihr nachrennen, aber dann besann er sich und streckte ihr nur die Zunge hinaus, und zu Burkhard, der vor Vergnügen gluckste, sagte er: »Lach nicht so blöd.« Dann band er sich das Tuch um, und das ganze Grüppchen um ihn trat ein paar Schritte zurück.
Katharina kämpfte mit den Tränen. Ihre Schwester Anna hatte ihr den schwarzen Sonntagsrock aus dem Kasten genommen für den Besuch bei der Großmutter, und nun war der Saum, der unter der Pelerine hervorschaute, schon schmutzig geworden, nur wegen Oswald und seiner Schwester. Dabei sollte Oswald in der Schule sein, aber alle wußten, daß er häufig schwänzte. Weil seine Eltern einen großen Kartoffelacker hatten, sagte Osi immer, er müsse auf den Acker, obwohl ihn Katharina noch nie dort gesehen hatte.
»Wo gehst du hin?« rief ihr Oswalds Schwester nach.
»Zum Grosi in die ›Bleiggen‹!« antwortete Katharina unwillig. Das hatte sie ihr schon heute morgen gesagt, aber wenn man nicht rechnen konnte, konnte man wohl auch sonst nichts im Kopf behalten.
»Erwischt!« hörte sie Oswald noch schreien, und »Gar nicht wahr!« kreischte ein Bub, doch sie drehte sich nicht mehr um. Oswald spielte gern mit den kleineren Kindern und war dann der größte. Einem Mädchen wüste Worte nachrufen, das konnte er. Katharina mochte ihn nicht.
»Hast die Binde wieder ab?« fragte eine Männerstimme.
»Ja«, sagte Katharina, bevor sie wußte, woher diese kam. Dann erst sah sie den alten Mann am offenen Fenster des Hauses sitzen. Er trug eine dicke Mütze mit Ohrenklappen und blickte mit weißen Augen ins Leere. Es war der blinde Meinrad. »Ja, ja, die bösen Buben!« sagte er und kicherte vor sich hin.
Heulend kam Fridolin vom Schützenhaus her.
»Was hast du?« fragte Katharina.
»Osi!« schluchzte der Kleine, und »Mutti!«, und rannte
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