Der Stein - Franz Hohler - E-Book

Der Stein E-Book

Franz Hohler

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Beschreibung

In jedem Stein liegt eine eigene Geschichte

Manchmal ist das, was uns als Zufall erscheint, voller Zwangsläufigkeit. Im Rückblick betrachtet, zumindest. Oder auch umgekehrt kann das, was wir für Notwendigkeit halten, in Wahrheit nichts als Zufall sein. Enorm unterhaltsam und mit dem ihm eigenen Sinn für das, was sich unserem Alltag nicht fügen will, kreisen Franz Hohlers Erzählungen um das, womit niemand rechnet, das aber umso zielstrebiger geschieht.

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Seitenzahl: 146

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Inhaltsverzeichnis

DER PRÄSIDENTCopyright

Ich brauchte mich nur zu bücken, einen weißen Stein von der Landstraße aufzulesen und den Staub von ihm fortzublasen, um, ohne auch nur hinzusehen, sagen zu können, dass es ein von der Mittagsglut erhitzter, körniger Strandkiesel war, und traurig zu sein, dass man das Leben dieses Steins, das viele Jahrtausende währen mochte, nicht beschreiben konnte.

Konstantin Paustowskij,Die Zeit der großen Erwartungen

DER PRÄSIDENT

Es war morgens um sechs, als der Präsident seine Altstadtwohnung verließ und sich zu Fuß auf den Weg zum Regierungsgebäude machte.

Der Personenschutz war informiert, aber wie üblich hatte sich der Präsident eine Begleitung verbeten. Er bewegte sich gern wie ein normaler Mensch unter normalen Menschen und genoss es, in einem Land zu leben, in dem das möglich war, er genoss es, einer zu sein, der frühmorgens zur Arbeit ging und freundlich zurückgrüßte, wenn ihn jemand freundlich grüßte.

Der Weg zum Regierungsgebäude war kurz, er führte quer durch die Altstadt, welche um lange Straßen herum angelegt war. Die Straßen nannte man ihrer Breite zum Trotz Gassen, und sie waren durch verschiedenste Quergässchen miteinander verbunden, die zum Teil so eng waren, dass sich zwei Personen gerade noch kreuzen konnten, ohne sich zu berühren. Diese Gässchen mied der Präsident auf Anraten des Personenschutzes und wählte die größeren Querstraßen, welche ebenfalls Gassennamen trugen.

An der Ecke einer Quer- mit einer Längsgasse befand sich ein Café, das schon um sechs Uhr öffnete und in dem man sich bei mildem Wetter an eines der Tischchen unter einem Laubengang setzen konnte. Meistens versah Catherine, die Gerantin, den Frühdienst selbst, und wenn der Präsident, wie heute, dort Platz nahm, hatte er wenig später einen Café au lait mit einem Croissant vor sich.

»Bonjour, monsieur le président«, sagte Catherine, die stets eine rotweiß karierte Schürze trug und ihre Haare in zwei Zöpfen um den Kopf geschlungen hatte. Der Präsident antwortete mit »Bonjour, madame Catherine«, und wenn er sich fünf Minuten später erhob, sechs Franken auf den Tisch legte und weiterging, rief sie ihm unter der Türe »Au revoir, bonne journée!« nach, und er rief »Merci, pareillement!« zurück, und nach diesem Morgenritual konnte der Tag beginnen.

Heute blieb er etwas länger, denn kurz bevor er den Kaffee ausgetrunken hatte, hörte er vom Stuhl, auf den er seine Mappe gestellt hatte, ein Miauen und sah, dass eine junge Katze hinaufgehüpft war und ihn anblickte, erwartungsvoll, wie ihm schien. Der Präsident blickte sie auch an, hob dann die Augenbrauen und sagte: »Na, noch nicht gefrühstückt?«

Als die kleine Katze wieder ihr dünnes Miauen hören ließ, nahm er eine große Brosame seines Croissants, nässte sie mit einem Rest geschäumter Milch aus seiner Kaffeetasse und hielt sie der Katze hin. Diese musterte sie nur kurz, schnappte sie sich mit einer ebenso schnellen wie graziösen Bewegung und nahm dann wieder ihre erwartungsvolle Haltung ein.

Der Präsident, amüsiert, fütterte ihr noch zwei, drei Stücklein, kraulte sie auch ein bisschen am Brustlatz, und als die Wirtin heraustrat, fragte er sie, ob das ihre Katze sei. Nein, sagte diese, sie habe sie gestern schon gesehen, wisse aber nicht, wo sie herkomme, hoffentlich störe sie ihn nicht.

»Wir sind schon Freunde«, sagte der Präsident lächelnd, stand auf, nahm seine Mappe vom Stuhl und verabschiedete sich.

Als er wenig später an einem Fußgängerstreifen anhielt, um nach links und rechts zu schauen, bemerkte er neben seinem rechten Fuß die junge Katze.

»Ssst!«, zischte er ihr zu und schüttelte dazu drohend seine Mappe, »geh nach Hause!«

Dann überquerte er die Straße, und hinter ihm her, zierlich und unbeirrbar, ging die kleine Katze.

Der Präsident blieb auf der andern Straßenseite stehen, zusammen mit dem Kätzchen, dachte einen Augenblick nach, drehte sich dann um und ging wieder zurück, gefolgt vom Kätzchen. Drüben angekommen, beugte er sich nieder, packte die junge Katze am Nacken und warf sie in die Richtung, aus der er vorher gekommen war. Dann betrat er den Fußgängerstreifen so schnell, dass ein Lieferwagen scharf abbremsen musste, und strebte mit schnellem Schritt dem nahen Regierungsgebäude zu.

Der Sicherheitsbeamte am Eingang grüßte ihn respektvoll, als er ihm die Pforte neben der Schleuse für die Parlamentarier öffnete, und fragte ihn: »Alles in Ordnung, Herr Präsident?«

»Danke, Herr Schmid«, sagte der Präsident und wunderte sich erst im Weitergehen ein bisschen über die Frage, die ihm so noch nie gestellt worden war. Auch hatte er das Gefühl, im Blick des trockenen Schmid sei ein leichtes Erstaunen gelegen.

Er stieg die große Treppe hoch und bog dann in den Korridor ab, der zu seinem Büro führte. Erst als er vor der Tür stand und seinen Schlüssel aus der Tasche zog, sah er das Kätzchen. Es hatte sich vor die Türschwelle gesetzt und blickte zu ihm hinauf. Einen Moment lang war er fassungslos. Dann schaute er sich um. Es war noch früh, er war allein. Er bückte sich, hob das Kätzchen auf und ging mit ihm zum Ende des Ganges. Dort öffnete er das Fenster und schaute hinunter. Katzen haben sieben Leben, dachte er und maß mit den Augen die Höhe bis zum Hof. Das Kätzchen miaute.

»Du Lauskerl«, sagte er, schloss das Fenster, ging zurück zu seiner Tür und setzte es vor die Schwelle. Dann schloss er die Tür auf, und das Kätzchen spazierte hinein, noch bevor er selbst sein Büro betrat.

Als er sich an sein Pult setzte, setzte sich die junge Katze neben seinen Bürostuhl und begann sich die Pfoten zu schlecken.

Ihr Fell war grau und hellbraun getigert, unter dem Kopf hatte sie einen großen weißen Fleck, der sich bis zu ihrer Schnauze fortsetzte; in ihrem Gesicht dominierte die braune Farbe, nur die Ohren waren grau, mit feinen hellbraunen Rändern.

»Bald kommt Frau Ehrismann, dann kannst du zu ihr«, sagte der Präsident zum Kätzchen. Danach entnahm er der Mappe seine Agenda und das Dossier zur Krankenkassenfrage, über dem er gestern Nacht eingeschlafen war.

Vor sich auf dem Schreibtisch sah er das Blatt mit dem heutigen Tagesablauf, das ihm Frau Ehrismann gestern Abend hingelegt hatte, und ein Blick darauf bestätigte ihm, dass, wie eigentlich immer, ein unerbittlicher Stundenplan bevorstand.

Gleich um acht kam eine Delegation der Rüstungsindustrie, die mit ihm über die Bewilligungspraxis für Waffenexporte sprechen wollte. Der Termin war neu und ärgerlich, er vertrat dabei die Wirtschaftsministerin, die gestern Hals über Kopf in die Vereinigten Staaten geflogen war, um dort der größten Bank ihres Landes erneut die politische Rückendeckung zu geben, die sie gar nicht verdient hatte. Ihre Meinung zu den Fragen lag in einem Sichtmäppchen unter dem Tagesplan, sie hatte auf einer A4-Seite Platz. Ihr Departementschef würde auch dabei sein, der wusste Bescheid und sollte schon vorher zu einer kurzen Vorbesprechung kommen. Um neun wollte ihm die Kommission für Kinder- und Jugendfragen die Studie zur Jugendsexualität im Wandel vorstellen, ein Thema, von dem er überhaupt nichts wusste und eigentlich auch nichts wissen wollte. Darauf gab es bis zum Mittag Besprechungen mit Direktoren seiner Abteilungen, von Suchtprävention über Lebensmittelkontrolle bis zu Pensionskassen, Briefing, Coaching, Wording, las er auf seinem Tagesblatt und fragte sich, ob eigentlich Englisch die Amtssprache sei. Zum Mittagessen traf er sich mit dem Protokollchef und dem schwedischen Botschafter, um den bevorstehenden Besuch des schwedischen Königspaares zu besprechen, und am Nachmittag war das große Hearing zu den Krankenkassenprämien angesagt, mit Vertretern der Kassen, der Ärzte und der Spitäler, dann warteten zwei Journalisten einer Sonntagszeitung auf ein großes Interview, und was noch bleiben würde, war für das vorgesehen, was er Signierstunde nannte, nämlich dem Unterschreiben amtlicher Dokumente und Briefe, doch der Abend war, als einziger dieser Woche, frei. Zwar wusste er, dass er zu Hause seine Jubiläumsansprache an die Verbände der Freiwilligenhilfe fertig schreiben musste, aber dennoch gab ihm das ein kleines Gefühl von Freiheit zurück, das er so oft vermisste, und er öffnete mit Schwung den Krankenkassenordner, um mit dessen Studium dort weiterzufahren, wo er gestern eingenickt war.

Als Frau Ehrismann anklopfte, um einen guten Tag zu wünschen und ihn zu fragen, ob sie etwas für ihn tun könne, sagte er lächelnd, er habe einen Gast mitgebracht und er wäre froh, wenn sie sich um ihn kümmern würde. Seine Sekretärin war ebenso verwundert wie gerührt, als sie das Kätzchen sah, das immer noch neben dem Bürostuhl saß und schüttelte ungläubig den Kopf über die kleine Morgengeschichte des Präsidenten.

Als sie jedoch hinter das Pult kam, um die junge Katze zu ergreifen, rannte diese unter dem Pult durch und sprang auf die Polster der Besuchersitzgruppe.

»Moment«, sagte der Präsident, »lassen Sie mich das machen«, erhob sich und ging auf das Sofa zu, auf dem sich die kleine Katze inzwischen rekelte. Doch als er sie nehmen wollte, hüpfte sie hinunter und war sofort auf der andern Seite des Büros, kletterte an einem Vorhang hinauf und stand auf dem Fenstersims.

»Kann ich helfen?« fragte der Departementschef, der nun unter der Türe stand.

»Das erste Exportproblem«, sagte der Präsident, »die kleine Katze sollte ins Vorzimmer, Lösungsvorschläge sind willkommen.«

»Mach ich«, sagte der Departementschef, legte seinen Ordner auf das Pult, ging langsam zum Vorhang hinüber, nahm die Kordel und ließ sie über dem Kätzchen hin und her pendeln.

Tatsächlich folgte die junge Katze mit dem Blick gespannt den Bewegungen, und sowie sie sich auf die Hinterpfoten stellte, um nach der Quaste zu greifen, packte er sie am Nacken und trug sie trotz ihres empörten Zappelns und Miauens ins Vorzimmer, gefolgt von Frau Ehrismann, welche die Tür hinter sich zuzog.

Als der Departementschef nach ein paar Minuten das Präsidialzimmer wieder betrat, hatte er ein dickes Pflaster auf dem linken Handrücken.

»Oh«, sagte der Präsident, »ein leidenschaftliches Tierchen. «

»Kann man sagen«, antwortete der Departementschef säuerlich und begann dann mit dem Briefing.

Bald traten die vier Herren von der Rüstungsindustrie ein. Man nahm auf der Sitzgruppe Platz, der Präsident erläuterte ihnen, weshalb Pakistan als Exportland nicht mehr in Frage kommen dürfte, der CEO der größten Waffenschmiede betonte, es handle sich nur um Luftabwehrsysteme, die ja wohl kaum gegen die Taliban eingesetzt werden könnten, worauf der Departementschef eine vertrauliche amerikanische Information bekannt gab, aus der hervorging, dass die Taliban schon seit einiger Zeit Flugzeuge gegen afghanische Stellungen einsetzten.

An dieser Stelle hüpfte die kleine Katze, die sich offenbar mit der Delegation eingeschlichen hatte, dem Präsidenten auf die Knie. Die Herren von der Rüstung waren perplex.

»Ihr neues Haustier?«, fragte der CEO schließlich, halb im Scherz.

»Ja«, sagte der Präsident und kraulte der Katze den Kopf, »ist sie nicht hübsch?«

»Und wie heißt sie?« fragte ein Panzerwagenfabrikant.

»Smeralda«, sagte der Präsident zu seiner eigenen Überraschung. Die Katze schnurrte leise.

Der Departementschef funktionierte sein Prusten in ein Husten um, das er mit seiner gepflasterten Hand abdeckte.

Von dem Moment an verlief die Sitzung jedoch bedeutend

1. Auflage

© 2011 Luchterhand Literaturverlag, München in der Verlagsgruppe Random House GmbH Satz: Greiner & Reichel, Köln

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eISBN 978-3-641-08136-2

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