Gleis 4 - Franz Hohler - E-Book
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Gleis 4 E-Book

Franz Hohler

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Beschreibung

Manchmal kommt alles ganz anders. Und das muss noch nicht einmal das Schlechteste sein.

Eigentlich will Isabelle nur für ein paar unbeschwerte Tage in den Urlaub nach Italien fliegen. Doch dann bricht der ältere Herr, der ihr am Bahnhof zum Flughafen freundlicherweise den Koffer zu den Gleisen hinaufträgt, plötzlich tot zusammen. Und damit gerät Isabelle in eine ebenso ungeheuerliche wie geheimnisvolle Geschichte, die ihr gewohntes Leben völlig durcheinanderrüttelt.

Eigentlich will Isabelle, die Abteilungsleiterin eines Altersheims, nur zum Flughafen, um einer Freundin in den Urlaub nach Stromboli nachzureisen. Doch dann geschieht etwas, das ihre Pläne und ihr Leben völlig aus den Fugen geraten lässt. Denn der höfliche ältere Herr, der ihr am Bahnhof zum Flughafen anbietet, ihren Koffer die Treppe zu den Gleisen hochzutragen, bricht, oben angekommen, plötzlich tot zusammen. Isabelle muss daraufhin ihren Abflug notgedrungen verschieben. Wieder zuhause in ihrer Wohnung angekommen, merkt sie allerdings, dass sie im Grunde gar nicht mehr verreisen möchte. Denn sie fühlt sich dem toten Mann verpflichtet, über den sie gerne mehr erfahren möchte. Überdies hat sie in ihrer Verwirrung am Bahnsteig versehentlich eine Mappe des Verstorbenen mitgenommen, in der sich das Handy des Toten befindet. Und während sie noch überlegt, ob sie das Telefon nicht schnellstens zur Polizei bringen sollte, fängt es plötzlich an zu klingeln … Nach seinem großen Erfolg Es klopft hat Franz Hohler mit Gleis 4 wieder einen höchst raffinierten Roman voller überraschender Kehren und Wendungen geschrieben – ein Lesevergnügen ersten Ranges.

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Seitenzahl: 200

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FRANZ HOHLER

Gleis 4

Roman

Luchterhand

1

»Darf ich Ihnen den Koffer tragen?«

Hätte sie geahnt, was dieser Satz für Folgen hatte, sie hätte abgelehnt, höflich, aber entschieden, sie wäre ihrer kleinen Stimme, die sie zu hören glaubte und die ihr zuraunte: »Nicht!« gefolgt, hätte rechtsum kehrtgemacht und schnellen Schrittes ihren Rollkoffer hinter sich hergezogen, bis ins Bahnhofscafé, um der unerwarteten Freundlichkeit eines fremden Mannes zu entgehen. Hinterher lässt sich so etwas gut denken, aber im Moment sprach nichts gegen die Annahme dieser Hilfe.

Isabelle war unterwegs zum Zürcher Flughafen. Sie wollte zwei Wochen in Stromboli verbringen und hatte einen Flug nach Neapel gebucht. Da sie in der Nähe des Bahnhofs Oerlikon wohnte, fuhr sie jeweils von dort aus mit der S-Bahn zum Flughafen. Vorher hatte sie noch in der Apotheke Medikamente geholt und stand nun in der Unterführung, von der aus die Treppen zu den Perrons hinaufführten. Zu spät hatte sie daran gedacht, ganz nach hinten zum Ende der Geleise zu gehen, wo es schräg ansteigende Auf- und Abgänge ohne Treppen gab, und erst als sie die Stufen vor sich sah, die ihr so steil und feindlich vorkamen wie noch nie, merkte sie, wie schwer ihr Koffer eigentlich war, und ärgerte sich, dass ein so stark frequentierter Bahnhof wie dieser immer noch nicht über Rolltreppen verfügte, sondern wie die Provinzstation behandelt wurde, die sie vor hundert Jahren einmal war. Sie hatte eine Operation hinter sich und wusste, dass sie mit dem Tragen von Lasten vorsichtig sein sollte.

Wieso also nicht ja sagen, wenn ein gut gekleideter graumelierter Herr mit einem Bärtchen, der ihr Aufseufzen bemerkt haben musste, sich anerbot, ihren Koffer die Treppe hochzutragen? Sie war knapp dran, wie meistens, wenn sie auf Reisen ging, ihr Zug fuhr in drei oder vier Minuten, und da stand dieser Herr da wie ein Gentleman der alten Schule, dem Hilfsbereitschaft ein nobles und selbstverständliches Gesetz war – kein Grund also, abzulehnen, nichts Falsches, wenn sie »Oh, danke!« sagte.

Und als er die kleine Mappe, die er bei sich trug, von der rechten in die linke Hand wechselte, den Koffergriff anfasste und das Gepäckstück mit einem leichten Ruck hochhob (war er doch etwas erstaunt über das Gewicht?), dabei ein bisschen mit dem herausragenden Zugbügel zu kämpfen hatte, der sich ihm unter die Achsel schob, fragte sich Isabelle, ob sie ihn schon irgendwo gesehen hatte, oder an wen er sie erinnerte.

Aber es kam ihr nur jener Mann in den Sinn, welcher sie und ihre Freundin, die als junge Frauen nach London gereist waren und am Morgen mit einem Stadtplan vor ihrer Hotelpension standen, gefragt hatte: »Can I help you?« Er hatte ihnen den kürzesten Weg zur Westminster Abbey erklärt und war dann weitergegangen.

Diese Freundin erwartete sie jetzt in Stromboli. Sie hatten dort für drei Wochen ein kleines Haus gemietet, in dem sie zusammen ihre Ferien verbringen wollten, doch dann war der Spitalaufenthalt dazwischengekommen, und nun reichte es Isabelle noch für zwei Wochen; die waren ihr zur Erholung von der Operation sehr willkommen.

Gallensteine hatte sie sich entfernen lassen, als die Koliken immer unerträglicher wurden und die medikamentöse Behandlung wirkungslos blieb. Alles war gut verlaufen. Die entfernten Steine hatte man ihr in einem Gläschen überreicht, etwa ein Dutzend waren es, kantige, runde, zentimeterdick vielleicht, sie könne sich ja, hatte Isabelle mit der Krankenpflegerin gescherzt, eine Halskette daraus machen lassen, aus Gallenperlen, das wäre doch etwas Neues. Natürlich war sie froh gewesen, dass beim Eingriff nichts Bedrohliches entdeckt worden war, und nach einer schonend verbrachten Woche zu Hause fühlte sie sich der Reise gewachsen und freute sich darauf.

Sie stieg hinter dem unverhofften Helfer die Treppe hoch, öffnete dazu die Handtasche, um sich zu versichern, dass die Fahrkarte und der Beleg für ihre Buchung darin waren und nickte, als sich der Herr umdrehte und sie fragte: »Zum Flughafen?« Auf Gleis 5 war die S-Bahn nach Rapperswil angekündigt, auf Gleis 4 diejenige nach Effretikon via Flughafen.

Der Mann rollte den Koffer zum Rand des Bahnsteigs, ließ ihn stehen und machte eine galante Geste zu Isabelle hin. »Vielen Dank«, sagte sie, »das war aber sehr nett.« Der Angesprochene nickte lächelnd, doch anstatt den Kopf wieder hochzuheben, ließ er ihn auf die Brust sinken, hielt sich einen Moment am Kofferbügel fest und fiel dann der Länge nach hin. Sein Schädel schlug mit einem bösen Geräusch auf dem Boden auf, und er blieb mit geöffnetem Mund und geschlossenen Augen liegen. Der eine Arm ragte ein bisschen über die Bahnsteigkante hinaus, auch die Mappe wäre beinahe auf das Geleise hinuntergefallen.

Isabelle entfuhr ein Schreckenslaut, sofort eilten einige Leute herbei, Isabelle kniete neben dem Mann nieder und beugte sich zu seinem Gesicht. »Hallo, hören Sie mich?« fragte sie ihn. Er öffnete seine Augen, die irgendwohin ins Weite schauten, und als er auf ihren Blick traf, sagte er leise: »Bitte …« Der einfahrende Zug pfiff, als erschrecke er selbst, und jemand ergriff schnell die Hand des Mannes und legte sie ihm auf seine Brust. Eine Frau nahm die Mappe von der Perronkante auf und stellte sie auf Isabelles Koffer.

Ein junger Mann mit pomadisierten Haaren rief auf seinem Handy die Ambulanz. Ein anderer rannte die Treppe hinunter zum Bahnhofsgebäude hinüber. Zwei asiatische Touristen hasteten am Verletzten vorbei auf die S-Bahn, die ungerührt und pünktlich abfuhr.

Isabelle erkannte den Tod sofort. Sie war Stationsleiterin in der Pflegeabteilung eines Altersheims und hatte schon viele Menschen beim Sterben begleitet. Sie suchte den Puls des Unbekannten, fühlte keinen mehr, hielt ihr Gesicht so nahe wie möglich an seinen Mund, ohne einen Atemzug zu spüren, öffnete ihm dann unverzüglich das Hemd und versuchte es mit einer Herzmassage, aber sie merkte, dass sie keine Chance hatte, ihn zurückzuholen.

Zwei Bahnangestellte kamen mit einem weißen Zelt, fragten in die Runde, ob jemand die Ambulanz benachrichtigt habe. Der junge Mann bejahte, und dann fragten sie Isabelle, ob sie fachkundig sei. »Ausgebildete Pflegefachfrau«, sagte sie kurz, während sie mit der Massage fortfuhr, und die Bahnangestellten richteten ihr Zelt über ihr und dem Liegenden auf und baten die Leute, weiterzugehen.

Die Rettungssanitäter, die nach zehn Minuten eintrafen, hatten einen Defibrillator, einen Beatmungsbeutel mit Sauerstoff und ein Infusionsbesteck dabei, aber Isabelle winkte ab, sie hatte die Massage schon abgebrochen. Eine Ärztin aus der Permanence-Praxis gleich beim Bahnhof, die ebenfalls von jemandem gerufen worden war, stellte den Tod des Mannes fest. Sie sagte zu Isabelle, dass es ihr sehr leidtue und fragte sie, wie es denn genau passiert sei. Er habe ihr den Koffer die Treppe hochgetragen und sei dann kollabiert, sagte sie. Ob er Herz- oder Kreislaufbeschwerden gehabt habe, fragte die Ärztin weiter, und war etwas erstaunt, als Isabelle zur Antwort gab, sie habe keine Ahnung, und dann erst hinzufügte, dass sie sich gar nicht kannten.

Nun betraten zwei junge Streifenpolizisten das Zelt und ließen sich über das Geschehene informieren. Draußen ging der Normalbetrieb weiter, Züge hielten an, Leute stiegen aus und ein, manche blieben neben dem Zelt stehen und versuchten einen Blick ins Innere zu werfen. »Sicher ein Selbstmord«, war einmal zu hören, oder »Nein, es ist einer zusammengebrochen«, Mutmaßungen, die sich über das Geräusch der aufsetzenden Schuhe legten, das bei der Ankunft eines Zuges dem Trampeln einer Schafherde glich, Durchsagen ertönten, »Achtung, Zugdurchfahrt auf Gleis 5!«, gefolgt vom Lärm eines vorbeibrausenden Schnellzuges, der jedes Gespräch zudröhnte.

Der eine der Polizisten kniete nun nieder und griff dem Toten in die Jacke seines Anzugs, auf der Suche nach einer Brieftasche oder einem Kreditkartenetui oder sonst etwas, aus dem sich seine Identität ablesen ließe. »Seltsam«, sagte er, nachdem er alle Taschen abgesucht hatte, »gar nichts, kein Ausweis«. Er bat die Sanitäter, den Mann etwas zur Seite zu drehen, sodass er ihm sein Portemonnaie aus der Gesäßtasche ziehen konnte, doch da war auch kein Portemonnaie. In der rechten Hosentasche fand sich ein kleiner Schlüssel und ein weißes Taschentuch mit einem blauen Rand und den Initialen M B. »Das ist nicht gerade viel«, sagte er, während sein Kollege, dem er den Schlüssel gegeben hatte, sagte, »kopierfähig«. Ein Allerweltsschlüssel also. Ob er nichts bei sich gehabt habe, Gepäck oder so, fragte er, doch Isabelle war nicht in der Lage, wirklich hinzuhören, und von den Zufallspassanten war niemand mehr da.

Und sie habe ihn also nicht gekannt, wandte sich einer der Polizisten nun an Isabelle. Nein, sagte diese und musste nochmals erzählen, was vorgefallen war, und obwohl sie beteuerte, sie habe mit dem Verstorbenen nicht das geringste zu tun, wollte er ihre Personalien, ihre Adresse mit E-Mail, Telefon und Handy-Nummer sowie die Nummer ihres Arbeitgebers wissen und bat sie, sich noch für eine Befragung zur Verfügung zu halten.

Dann sprachen fast alle gleichzeitig. Die Sanitäter fragten, ob sie aufbrechen konnten oder ob sie den Toten gleich in die Gerichtsmedizin bringen sollten, die Ärztin wollte wissen, ob der Totenschein vom Amtsarzt erstellt werde, der eine der Polizisten versuchte diesen zu erreichen, der andere informierte die Fahndungsabteilung und fragte nach einem Bezirksanwalt, und als auf Gleis 5 wieder ein Schnellzug durchdonnerte und alle ihre Stimmen anhoben und sich die telefonierenden Polizisten mit einer Hand das freie Ohr zuhielten, nahm Isabelle ihren Rollkoffer und verließ unbemerkt und ohne sich zu verabschieden das Zelt.

Auf Gleis 4 war der nächste Zug zum Flughafen angekündigt, er kam zwei Minuten später, und Isabelle stieg ein. Erst als sie drin war, merkte sie, dass die kleine Mappe noch auf ihrem Koffer lag. Unmut stieg in ihr auf, und da sie ihren Flug nicht verpassen wollte, ging sie nicht nochmals zurück ins Zelt, sondern öffnete den Reißverschluss ihres Koffers und schob die Mappe hinein.

Wie viel Zeit sie mit dem Zwischenfall verloren hatte, wurde ihr erst klar, als man ihr am Check-in-Schalter bedauernd sagte, ihre Maschine sei bereits gestartet.

2

Isabelle saß an ihrem Küchentisch, hob das Säcklein mit dem Verveinetee aus der Tasse, wusste nicht, wohin damit, stand auf und legte es auf das Abtropfbrett der Spüle, setzte sich, sah die Tropfspur auf dem Tisch, stand wieder auf und riss ein Haushaltpapier von der Rolle, wischte die Tropfen auf, zerknüllte es und legte es neben sich, rührte mit dem Löffel den Zucker um und nahm dann einen Schluck.

Eigentlich müsste sie jetzt in Neapel sein, unterwegs zum Hafen, wo die Aliscafi nach den Liparischen Inseln anlegten. Am Schalter der Airline hatte sich herausgestellt, dass die nächsten möglichen Flüge alle entweder über Frankfurt, Amsterdam oder Paris gingen, mit langen Wartezeiten, und Neapel so spät erreichten, dass sie dort übernachten müsste und erst tags darauf ein Boot nehmen könnte. Dazu fühlte sie sich nicht in der Lage und hatte sich von einem Taxi nach Hause bringen lassen. Schon nur der Gedanke, zuerst nordwärts fliegen zu müssen, um in den Süden zu gelangen, hatte sie entmutigt.

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